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Heftarchiv – Themen und Debatten

Kennen wir uns? - Vom Glück des Wiederlesens.

Was tun, wenn nichts Neues zur Hand ist? Wenn man die Bücher schon gelesen, die Filme schon gesehen, die Aufnahmen schon gehört hat? Kann die Wiederbegegnung mit dem vermeintlich längst Bekannten auch zur Neuentdeckung werden? Der französische Schriftsteller Marc Fumaroli ist sich in seinem Essay "Beim Wiederlesen von Mario Praz" (Heft 1/2010) sicher, daß "der alte Text der Natur und der Geschichte zäher als seine Zerstörer ist und es noch genug zu lesen und wiederzulesen gibt, jedenfalls für den, der zu lesen versteht". Denn das "Erinnern ist auch ein Weg der Entdeckung und der Überraschung". So bedeutete Reisen im 19. Jahrhundert, "das Glück des Lesens zu verlängern: Man reiste zu Orten, von denen Bücher erzählten und die man dadurch schon kannte."

In "Aleksander Wats Erinnerungen, nach Jahren wiedergelesen" fragt sich Adam Zagajewski in Heft 6/2014, was die Lektüre dieses Buches zu einer so anregenden Wiederbegegnung macht: "'Mein Jahrhundert' ist auch deshalb lebendig geblieben, weil es nie als historisches Werk, als Synthese des Wissens über den Kommunismus gedacht war (wenngleich Wat gelegentlich von einer solchen summa träumte); natürlich ist der Kommunismus ein Thema, aber mehr in der Art, wie es für Jonathan Swift die Länder sind, die sein Protagonist in 'Gullivers Reisen' besucht. Wat schreibt über sich, über seine Erfahrungen, sein Leben und 'sein Jahrhundert'."

Kurt Eissler, der eminente Literaturkenner und Psychoanalytiker, macht in seinem Aufsatz "Über das Wiederlesen großer Werke" (Heft 4/2008) die immer wieder mögliche Lektüre und Deutung eines Textes sogar zum entscheidenden Kriterium für dessen Bedeutung: "Einzig und allein Werke, die durch Wiederholung nicht ruiniert werden – ja eher gewinnen –, sind wahrhaft große Kunst." Und so wie man nie sicher sein könne, mit einer Analyse sämtliche Bedeutungen eines Traums erfaßt zu haben, seien auch große Kunstwerke nie ganz zu ergründen. Und die Gefahr bestehe nicht darin, daß "man in ein Stück etwas hineininterpretiert, sondern daß man aus ihm zuwenig herausholt".

KURT R. EISSLER Über das Wiederlesen großer Werke
Es dauert Generationen, ehe die Bedeutung eines Kunstwerks auch nur annähernd erkannt ist, da jede Epoche sie neu zu entdecken scheint. Wahrhaft große Kunst ist womöglich unergründlich, so daß ihre Interpretation nie ein natürliches Ende hat. Die Bedeutung eines Werkes läßt sich schon an der Wirkung bemessen, die mehrere Begegnungen mit ihm haben. Ich jedenfalls glaube, daß die Wirkung einer einzelnen künstlerischen Erfahrung noch nichts besagt.
4/2008 | zum Text

MARC FUMAROLI Beim Wiederlesen von Mario Praz
In Italien sind Einsamkeit und Melancholie, wie Praz sie empfand, eher ungewöhnlich, dagegen sind Spleen und Exzentrik, die darauf beruhen, Grundzüge der englischen Kultur. Es bedurfte des ganzen Ansehens, das ihm die grenzenlose Bewunderung der anglo-amerikanischen Welt für seine Bücher und die Freundschaft etwa eines T.S.Eliot oder Edmund Wilson eintrugen, um die öffentlich bezeugte Abneigung Benedetto Croces zu kompensieren, des italienischen Literaturpapstes der Zwischenkriegszeit, der kein Buch von Praz in seiner Bibliothek duldete und sich bekreuzigte, wenn man ihn erwähnte.
1/2010 | zum Text

ADAM ZAGAJEWSKI Aleksander Wats Erinnerungen, nach Jahren wiedergelesen
Wats Buch war eine Sensation; zugänglich nur in einer kleinen Anzahl von Exemplaren (bis es im Samisdat in weniger eleganter, aber zugänglicherer Form erschien), wurde es von Hand zu Hand weitergereicht, nachts verschlungen, eilig und in angespannter Konzentration; in unterschiedlichen Städten bildeten sich Schlangen von Menschen, die auf das Buch warteten und darüber diskutierten … Neben den Erinnerungen Nadeschda Mandelstams, die mit "Jahrhundert der Wölfe" gleichsam den Tod Ossip Mandelstams rächen wollte, neben Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag" und Gustaw Herling-Grudzińskis "Welt ohne Erbarmen" war Wats Buch unverzichtbar für jeden, der Aufklärung suchte, der sich von den sowjetischen Lügen befreien wollte.
6/2014 | zum Text