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Heftarchiv – Themen und Debatten

Amerika

Franz Kafkas Faszination für Amerika war immer verbunden mit dem Gefühl, im engen Europa eingesperrt oder im inneren Exil zu sein. Wenige Jahre vor seinem Tod wünscht er sich beim Anblick einer Auswanderergruppe in Prag, als »kleiner ostjüdischer Junge« dazuzugehören – »... und in paar Wochen wird man in Amerika sein«. Aber er machte sich, wie Mark Harman in Heft 6/2008 am Beispiel des Romans »Der Verschollene« und seines Helden Karl Roßmann zeigte, auch keinerlei Illusionen: »Daß Amerika für Karl ein Land ist, in dem man auf Mitleid nicht hoffen darf und wo nur die Glücklichen ›ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen‹ scheinen, bestätigt ihm alles, was er über die Vereinigten Staaten gelesen hat.«

Die polnische Dichterin Julia Hartwig wird in den siebziger Jahren Gastprofessorin in den USA, hier entstehen ihr »Amerikanisches Tagebuch« und ihre »Amerikanischen Gedichte« (Heft 2/2014). Die Begegnung mit der Natur, der Gesellschaft, den Menschen führt dabei zur Frage nach der eigenen Zugehörigkeit: »Ich aber / wohin gehöre ich.« Die Gedichte erzählen vom »aufmerksam studierten Polizeibericht« und der »Schießerei in der Bar«, aber auch von der beneidenswerten Unabhängigkeit der von ihr übersetzten Dichter: »Wie großartig wenn man frei ist sein Land zu betrachten / wie einen Menschen dessen Vorzüge und Schwächen man ohne Furcht / erörtern kann.«

Bereits in den fünfziger Jahren hat sich Wolfgang Koeppen auf »Amerikafahrt« begeben. Auf den Spuren dieser Reise entwickelt Claus Leggewie in Heft 1/2020 ein »Bewußtsein für den Anfang und das Ende des Vorbilds, das ›Amerika‹ nicht nur in unseren Breiten darstellte«. Koeppen, der sich Kafkas Karl Roßmann als Guide genommen hat, »war kein Bewunderer der Vereinigten Staaten. Er steckte tief im Erfahrungsraum zweier Weltkriegskatastrophen und im Erwartungshorizont einer atomaren Konfrontation zwischen den Supermächten, die er gleich zu Beginn aufruft. Koeppen schaut weder auf die USA herab, wie viele seiner Generation, noch bewundert er sie, wie viele meiner und späterer Generationen. ›Hier war ich Europäer, und ich wollte es bleiben.‹«

MARK HARMAN Wie Kafka sich Amerika vorstellte
Wie Kafkas Tagebücher und Briefe bezeugen, erwuchs seine Faszination für Amerika aus dem Gefühl, eingesperrt oder im inneren Exil zu sein. Seine Geburtsstadt Prag, von der er sagte: »Dieses Mütterchen hat Krallen«, war ihm nie »Heimat«. Am 20. August 1911 schreibt er von dem Wunsch, sich »in alle Weltrichtungen auszubreiten«. Dieser Drang, sich von Prag loszureißen, und sei es auch nur in der Phantasie, hat ihn nie verlassen.
6/2008
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JULIA HARTWIG


WIE DEN ORT EHREN
Ein Schriftzug markiert die hier verlaufende Wasserscheide
zwischen Pazifik und Atlantik
Ein Fluß der in dieser Gegend entspringt
muß sich gut überlegen
welchem der beiden Ozeane er angehören will
zu welcher Mutter er sich bekennt
in wessen Schlund er für immer verschwinden
und seinen Namen verlieren will

Wie diesen einzigartigen Ort ehren
mit einem Schrei mit Stille
Ich stehe auf der Wasserscheide
wie auf dem Rücken eines breitbeinigen Bisons
den die Sonne blendet Die Fluten des Regens
fließen an seinen zwei glänzenden Seiten hinab

Ich aber
wohin gehöre ich

(1979)

2/2014 | zum Text


CLAUS LEGGEWIE Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington
Was für ein Eröffnungssatz! Der sich dann im gleichbleibenden Stakkato über zwei weitere Seiten erstreckt und, noch ganz unter dem Eindruck eines amerikanisch besetzten und beglückten Landes, den Bericht von einer Reise durch das Land der »Weltherrschaftsaspiranten« und des »guten Gelds des Marshallplans« einleitet. Liest man Wolfgang Koeppens »Amerikafahrt« von 1959 heute wieder, bekommt man ein Bewußtsein für den Anfang und das Ende des Vorbilds, das »Amerika« nicht nur in unseren Breiten darstellte.
1/2020 | zum Text