Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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D’Orléans, Charles
- 3/2015 | Balladen
Da Fonseca, Manuel
- 2/1976 | Maria Altinha
da Vinci, Leonardo
- 2/1952 | Von den Menschen und von der Kunst
Dąbrowska, Krystyna
Dąbrowski, Tadeusz
- 4/2020 | Das Keimen neuer Wörter. Gedichte
Dadié, Bernard B.
Daglarca, Fazil Hüsnü
- 2/1982 | Gedichte
Dahlke, Günther
- 2/1964 | »Geteilter Himmel« und geteilte Kritik. Über die Dialektik von Glück und Unglück und einige andere Fragen
Dahne, Gerhard
- 4/1979 | Magdalena oder die Rache der Muse
- 4/1981 | Schnauzer oder der Mann, der durch den Spiegel geht. Manfred Pieske: »Schnauzer«, Roman. Hinstorff Verlag Rostock, 1980
Dähnert, Gudrun
- 2/2009 | Wie Nelly Sachs 1940 aus Deutschland entkam. Mit einem Brief an Ruth Mövius
Dahnke, Hans-Dietrich
- 5/1973 | Sozialismus und deutsche Klassik
Dahrendorf, Ralf
- 4/1995 | Gespräch mit József Bayer
Daix, Pierre
- 1/1966 | Alexander Twardowski über seine Arbeit
Dalembert, Louis-Philippe
- 4/2019 | Wo ich herkomme. Gedicht
Dallmann, Jonas-Philipp
- 5/2023 | Etwas Staub
Daltschew, Atanas
- 3/1972 | Begegnung
Damerius, Helmut
- 6/1989 | Neun Kapitel über Lebensverlauf und Geschichtsverlauf
Damm, Sigrid
- 5/1987 | Cornelia Goethe
- 1/1988 | Unruhe
- 2/1993 | Am liebsten tät ich auf die Straße gehn und brüllen. Zu Franz Fühmanns »Im Berg«
- 3/1994 | Mörike-Preisrede. »...und möchte mein Schicksal mit Füßen zertreten«
- 4/2002 | Gespräch mit Andreas Nentwich
- 3/2011 | Dank an Gotha
- 3/2014 | »Er hat den alten Ekhof zu Gaste gehabt und mit dem alten Wein regaliert«. Goethe und der Gothaer Fürstenhof
- 4/2015 | Gerettete Lebenstage sind Schreibtage. Erinnerungen an Eva und Erwin Strittmatter
- 3/2017 | For Sigrid Ever Max
Danto, Arthur C.
- 3/2014 | Man muß immer nach der Wahrheit suchen, wird sie aber nicht überall finden. Ein Gespräch über Kunst und Philosophie mit Robert Kudielka (2002)
Darsow, Kurt
- 3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Peter Rühmkorf 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow, S. 372 Leseprobe
Darsow, Kurt
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Peter Rühmkorf 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker und preziösen Gorilla. Mal galten seine Publikationen als sachlich-kritisch, witzig-frech und pfiffiggriffig, mal als zierlich-zynisch, sackgrob-kraß und unbändig-wütend.
Wußte der Mann mit den vielen Gesichtern überhaupt, wer er war? Daß er sich Decknamen wie Lyng, Lyngi, Lynkeus, Leslie Meyer, Wang Lun, Leo Doletzki, Johannes Fontara, John Frieder, Harry Flieder, Hans Hingst, Peter Torbog und Hans-Werner Weber zulegte, läßt sein diffuses Bild vollends verschwimmen. Die Verwirrung um seine Person erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als er 1996 intime Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Wendejahren 1989 und 1990 unter dem Titel »TABU I« veröffentlichte, die ihn als von seiner alleinerziehenden Mutter gegängelten, von Krankheiten zermürbten, vom Alter gebeugten und von Kritikern links liegengelassenen Schmerzensmann auswiesen. »Man mag sie nicht, diese deutsche Dichterkrankheit«, schrieb Mathias Greffrath im Spiegel über das Klagelied eines leidgeprüften Poète maudit, »aber in Rühmkorfs Selbstbeobachtung wird sie als die unvermeidliche Schlacke erkennbar, die als Rückstand im poetischen Verbrennungsprozeß anfällt: In ihm schmelzt er mit ›eiserner‹ Disziplin aus den Nöten der Magersucht die Eleganz des freien Fluges, mit dem er der lustfeindlichen, prügelnden Mutter entkommt. So steigt die provozierende Sinnlichkeit aus den tiefen Verliesen des verhemmten Selbst, so wächst die Lyrik vom aufrechten Gang aus der Unfähigkeit, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.« Wird man dem »lyrischen Ich- Darsteller« mit Festlegungen dieser Art gerecht? Lassen sich seine schmissigen »Volksund Monomanenlieder« allein aus der prekären Seelenlage ihres Verfassers erklären? Bei einer Lesung in Düsseldorf hatte ich Rühmkorf 1988 von einer ganz anderen Seite erlebt. Statt eines Nervenbündels intonierte da ein versierter Vortragskünstler in betörendem Singsang sein ortsbezogenes »Heinrich-Heine-Gedenklied«. Wer wollte, konnte in dem klimpernden Auftakt »Ting-tang-Tellerlein« sogar ein verwehtes Echo der Rolling Stones heraushören: »I met a gin-soaked bar-room queen in Memphis / She tried to take me upstairs for a ride« – was den fahrenden Sänger freilich nicht daran hinderte, sich nach der Veranstaltung von älteren Damen im Publikum wie ein Kavalier der alten Schule zu verabschieden: »Schön, daß Sie da waren!«
Auf dem Weg zu Hans Henny Jahnns reetgedecktem Domizil im Hamburger Hirschpark sah ich Rühmkorf ein paar Jahre später auf einem Balkon unweit des Altonaer Fischmarkts wieder. Auch diese winddurchwehte Begegnung wollte nicht recht zu dem Unglücksraben aus »TABU 1« passen. Sie erinnerte eher an einen wärmebedürftigen Passagier auf dem Sonnendeck eines Ocean Liners. Hätte ich bei der Gelegenheit wie ein aufdringlicher Verehrer bei ihm klingeln sollen? Lieber nicht! Immerhin wußte ich jetzt, was es mit der Adresse Övelgönne 50 auf sich hatte: ein kleines Reihenhaus an der Elbe, ein schmutziger Strand, träge schwappende Wellen und statt Tropical Islands die rostigen Containerschiffe einer vielbefahrenen Handelsroute.
Richard Anders, Rühmkorfs kauziger Jugendfreund, der schon an seiner Zeitschrift »Zwischen den Kriegen« mitgewirkt hatte, machte mich schließlich mit »Rühmi« persönlich bekannt. Er lud mich 1992 zu einem privaten Treffen in der Berliner Hinterhofkneipe Café Clara ein. Als der dürre Dichter im schlotternden Trenchcoat mit einem Troß junger Männer verspätet eintraf, hatte er bereits einen in der Krone. Daß »Bier und Korn auf Kosten des Hauses« noch nicht für ihn auf dem Tisch standen, fand er empörend: »Wo sind wir denn hier?« Nach der ersten Runde ergriff er entschlossen das Wort und ließ es sich im Verlauf des Abends nicht mehr nehmen. Seinem brillanten Redefluß konnten auch weitere Gläser nichts anhaben; vielmehr befeuerten sie ihn zu immer gläserneren Sentenzen und giftigeren Sottisen, bis dem Akrobaten in der Zirkuskuppel kaum noch jemand folgen konnte. Natürlich drehte sich der Diskurs unweit des Reichstags um den gerade stattfindenden »Ausverkauf der DDR«. Gegen das bigotte »Restauratorium« der Ära Adenauer hatte Rühmkorf schließlich mit einem Ingrimm agitiert wie sonst vielleicht nur noch Arno Schmidt. Wie konnte er nach dieser Kampferfahrung goutieren, daß der »Kanzler der Einheit« gerade gesamtdeutsch hinbekam, was der »Kanzler der Alliierten« westdeutsch auf den Weg gebracht hatte? »Widersteht! Im Siegen Ungeübte / zwischen Scylla hier und dort Charybde / Schwankt der Wechselkurs der Odyssee. / Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; / aber du mit – such sie dir! – Genossen …« So in etwa lautete der vaterländische Gesang des alkoholisch entfesselten Luftgeists im Café Clara.
Über das Verhältnis von Dichtkunst und Drogengenuß hat sich Rühmkorf einschlägig geäußert. Mit Gottfried Benn war er der Ansicht: »Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch«. Ob ihm neben hochprozentigen auch eher immaterielle, um nicht zu sagen: überirdische Impulsgeber zu Diensten waren, ist schwer zu sagen: »Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, / der Himmel abgespeckt, / wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge am Fenster leckt«, ist in einem Gedichtband Rühmkorfs mit dem auf die Gravitationskonstante bezogenen Titel »Irdisches Vergnügen in g« zu lesen. Die dritte Strophe des Gedichts »Himmel abgespeckt« dagegen wildert im ungewissen: »Träume ausgeklinkt – gutso – die gondeln im Blauen, / in den schwimmenden Äther getupft; / mein gepökeltes Herz, mein eingesalznes Vertrauen, / das die Stellung hält und die Schlagader zupft.«
Jede Nacht streifen wir auf diese Weise die Erdenschwere ab. Vier- bis fünfmal ist in unseren Köpfen für jeweils zwanzig Minuten Kino. Doch was da über die innere Leinwand flimmert, folgt keinem Drehbuch. Erst nachträglich und unter Mitwirkung des Verstands werden Geschichten daraus. Läßt sich der »Stoff, aus dem die Träume sind«, überhaupt im Medium der Sprache erfassen? Schließlich besteht er hauptsächlich aus Bildern, und Bilder haben ihre eigene Logik. Dennoch wird seit Menschengedenken die Lehrmeinung vertreten, Träume hätten eine Bedeutung. »Aber die Träume, natürlich, sie sind ja nicht, sie bedeuten nur«, lesen wir auch in Peter Rühmkorfs »TABU I« im Anschluß an einen eigenen Traum, in dem ein Fisch zerlegt und gekocht wird, der vielleicht gar kein Fisch ist, sondern eine Seejungfrau. Mit Vater Freud im Bunde fällt dem deutungsseligen Träumer beim Aufwachen gleich der mädchenhafte Leib seiner Mutter ein, die gerade gestorben ist.
Luigi Malerba hält von Mutterschlachtungen dieser Art wenig. Zwar sind Träume auch für den italienischen Romancier kein bloßer Aberwitz, sonst würde er ihnen in seinem »Tagebuch eines Träumers« nicht so viel Aufmerksamkeit schenken; aber in seinen Augen handelt es sich dabei um kreative Ausbrüche, die auf der »Entregelung der Sinne« beruhen. Selbst die nüchternsten Köpfe können auf diese Weise ihr blaues Wunder erleben. Pedanten werden zu Phantasten, Verklemmte zu Draufgängern, Stubenhocker zu Weltreisenden. Und solche Erfindungen sollten allesamt auf die Muster des kollektiven Gedächtnisses zurückgehen? Malerba weiß es besser: »Wir können ganz friedlich behaupten, daß eine im Traum auftauchende Zypresse eine Zypresse ist und kein phallisches Symbol.« Also hinsehen statt analysieren! Aufschreiben statt zerpflükken! Den Traum als Kunstwerk betrachten! »Der Dichter arbeitet«, schrieb schon der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux auf seine Schlafzimmertür. Und Franz Kafka überschritt durch systematischen Schlafentzug die Grenze des Erfahrbaren noch radikaler. Sein Schrei ben war zugleich ein Träumen und dürfte seine unvergleichliche Wirkung wohl vor allem dieser schlafwandlerischen Eigenschaft verdanken.
Freud oder Malerba? Da ich gerade an einem Radiofeature mit dem Titel »Traumdenken. Über die Nachtseite des Verstandes« bastelte, hätte ich Rühmkorf gern vor diese Alternative gestellt. Am 3. Januar 1996 bat ich ihn daher brieflich um ein Interview. In einer ersten Antwort vom 23. Januar ging er zwar umständehalber nicht auf meinen Wunsch ein, kam aber schon eine Woche später überraschend bereitwillig auf mein Thema zurück, indem er mir ein eigenes Traumbeispiel nebst Kommentar übersandte. Zuschriften muß er, wie aus seiner inzwischen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach archivierten Korrespondenz hervorgeht, in unvorstellbarer Menge erhalten haben. Er hat sie offenkundig nicht nur allesamt aufbewahrt, sondern in den meisten Fällen wohl auch beantwortet. Diese überbordende Mitteilsamkeit ist bei Schriftstellern durchaus nicht die Regel, wie jeder Schreiber von Leserbriefen weiß. Da es allein schon wegen des schieren Umfangs des Rühmkorfschen Briefwechsels unwahrscheinlich sein dürfte, daß er jemals vollständig veröffentlicht wird, soll hier stichprobenhaft aufgezeigt werden, was den leicht entzündlichen Briefeschreiber zu seinen flüchtig getippten und sorgfältig korrigierten Antworten gebracht haben könnte.
Der spontan aufblühende Briefwechsel ließ nach meinem Gefühl auf ein tiefes Bedürfnis nach Zuspruch und Geselligkeit schließen. Da feilte offenbar einer in seiner Dachstube an poetischer Flaschenpost, die nur selten aufgefischt und noch seltener gewürdigt wurde. Unter diesem einsamen Geschäft muß Rühmkorf maßlos gelitten haben. Nie war er mit dem zufrieden, was er in fleißiger Heimarbeit zustande brachte. Ein Projekt mit dem Arbeitstitel »Zeitroman« blieb auf der Strecke. Nur zwei Bände (»TABU I«, 1995, und »TABU II«, 2004) geben auszugsweise Einblick in die »Memos«, in denen der besessene Diarist seinen Alltag bis in die trivialsten Einzelheiten festhielt. In der Gruppe 47 ist er nach Mäkeleien an seinen Gedichten 1961 nie wieder aufgetreten. Bei Lesungen in anheimelnden Buchhandlungen war das anders. Da sah er in freundlich zustimmende Gesichter. Vor großem Publikum und mit Jazzbegleitung auf dem Hamburger Rathausmarkt war er erst recht in seinem Element und konnte aufgekratzt wirken wie ein Klabautermann. Aufbauende Empfindungen lösten wohl auch Briefe aus, die ihn aus seiner »Eber-Einzelbucht« herausholten und die Friedhofsasseln aus seiner Brust vertrieben.
Am Schreibtisch aber mußten Bildungsballast und Sprachschutt erst in langwierigen Probeläufen abgeschüttelt werden, ehe er zum freien Flug ansetzen konnte. Seltsamerweise fiel ihm dies bei seinem »Kerngeschäft«, dem Gedichteschreiben, am allerschwersten. Daß es monomanisch um sein eigenes Ich kreiste, hat nur entfernt mit Egozentrik zu tun. Als eine Art Lilienthal der Poesie nahm er dort sprachliche Anläufe, die ihm wenigstens auf dem Papier die Schwerkraft von den Schultern nehmen sollten, was ihm mit zunehmendem Alter immer mehr Mühe bereitete. Sage und schreibe 730 Seiten brauchte der »schuftende Artist« für den Aufgalopp zu seinem Gedicht »Selbst III / 88. Aus der Fassung «, und es ist nicht einmal sicher, ob sich die Mühe in diesem Fall gelohnt hat. Im kleinen Format aber gelangen ihm seine Flugversuche immer wieder: »Figur in Gras und Garben, / ein Herz, das wie Zunder verglimmt, / wenn der Abend flamingofarben / über die Grenze schwimmt« oder »All mein Glück wie nie gewesen, / aller Scherz wie nicht von hier, und da möchtest du es schon mal lesen, / daß es jemandem so ging wie dir« oder »Die Rosen gerade noch eben, / schon ziemlich viel Rost mit im Rot – / Das eine ziert sich zu leben, / das andere sinnt sich zu Tod.« Vielleicht, sagte ich mir, sind ja auch diesem Entfesselungskünstler seine Gedichte bisweilen im Traum erschienen. In unserem fragmentarischen Briefwechsel (einige meiner Briefe gingen bei einem Zimmerbrand verloren) gibt er sich in dieser Frage merkwürdig bedeckt. Lieber kehrt er den orthodoxen Freudianer heraus, der er nicht war, als sich am Schreibtisch in die Karten blicken zu lassen. Hatte er sich in seiner Jugend nicht überdies einer langwierigen Psychoanalyse unterzogen und anschließend sogar Psychologie studiert? Den Traum poetisch zu verwerten oder auch nur poetologisch in Betracht zu ziehen, muß Rühmkorf jedenfalls schwergefallen sein. Mehrere Versuche, ihm dennoch das eine oder andere Schreibgeheimnis zu entlocken, schlugen mithin fehl. In meinem Radiotext, auf den er am 1. Juli 1996 Bezug nimmt, kam auch sein Jugendfreund Reimar Lenz mit einem Traumbeispiel zu Wort. Lenz war bis in die sechziger Jahre Mitherausgeber der Zeitschriften »Lyrische Blätter« und »alternative« gewesen, in denen neben Celan, Enzensberger und vielen anderen auch Rühmkorf mit eigenen Gedichten vertreten war. Sein Gedicht »Anode« etwa, eine furiose Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder, war 1962 erstmals in der »alternative« zu lesen (»Auf der Höhe des Friedens, aus der Fülle des Fetts, / in den gähnenden Sechzigern dies hier bekundet: / zu singen wenig, aber zu handeln genug – / nun schick deinen Traum in die Mauser«). 1957 reiste er mit Lenz, dem zwei Jahre jüngeren Dichterkollegen, zu den Weltjugendfestspielen in Moskau. Doch in unserem Briefwechsel kommt er erst auf ihn zurück, als ihm die Kopie eines verschollenen Jugendfotos aus seinen Sturm-und-Drang-Jahren ins Haus flatterte. Lenz hatte es aus den Tagen ihrer lyrischen Waffenbruderschaft aufbewahrt und an mich weitergereicht. Nicht einmal mit dem hochverehrten Arno Schmidt ließ Rühmkorf sich ködern. Nur zu gern hätte ich die von ihm zitierte lingualogische Komödie Alfred Maurys mit ihm diskutiert, »wo Jener einmal im Traume auf einer Landstraße spazierte und die Kilometersteine ablas. Dann in einen Kaufladen trat, dessen Inhaber zwar mit Kilogrammgewichten hantierte; dem Träumer aber mitteilte, er sei jetzt nicht in ›gay Paree‹, sondern auf der Molukkeninsel Dschilolo; worauf M. sich bedankte und durch Lobelienbüsche davonschritt, zwischen denen General Lopez auf ihn zukam und zu einer Partie Lotto einlud.« Dem Autor von »Zettel’s Traum« diente diese »scheinbar läppische Bilderfolge« zur Untermalung seiner »Etym-Theorie«, wonach Träumer aus »Zünd-Worten« die buntesten Geschichten konstruieren.
Doch Spekulationen dieser Art waren Rühmkorfs Sache nicht. Berichten über Traumdiktate bei Schriftstellern traute der »Klarsicht-Witzbold« nicht über den Weg. Daß die Neurobiologie über Freuds »Traumdeutung« längst hinaus ist und den Traum inzwischen als kreatives Spiel mit alternativen Möglichkeiten interpretiert, nahm er nicht zur Kenntnis. Dabei waren ihre Einsichten über die nächtliche Gedankenarbeit vermutlich auch für sein eigenes Schaffen von Belang. Der spielerische Umgang mit »Tagesresten« entsprach auch seiner poetischen Praxis. Im Traum würden »neue Muster« gewebt, befand schon August Strindberg. Er sei eine kunstvolle Mischung aus Erinnerung und Erfindung, aus Unwahrscheinlichkeit und Improvisation. Für den »Anti-Ikarus« Rühmkorf dagegen war und blieb der Traum, was schon Freud in seiner »Traumdeutung« aus ihm herausgelesen hatte.
Daß unser Briefwechsel bald versandete und im November 1997 schließlich ganz abbrach, lag jedoch nicht primär an inhaltlichen Differenzen, sondern an der immer prekärer werdenden Gesundheit des Adressaten. Zwar hatte ich am Rande von Lesungen und Vorträgen noch mehrfach die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber mehr als ein paar freundliche Worte kamen bei diesen Begegnungen nicht heraus. Dennoch war es ihm zum Abschied offenbar noch wichtig, mich auf der richtigen Seite der Barrikade zu wissen. Als der rebellische Geist in Deutschland verebbte, besann der »rote Rühmkorf« sich antizyklisch seiner west-östlichen Lehrjahre und fing wieder an, Marx zu lesen. Seinem letzten Schrei ben vom 23. November 1997 fügte er zur politischen Unterweisung das handschriftliche Gedicht »Bleib erschütterbar und widersteh« bei. Ein paar Jahre später, bei unserer letzten Begegnung auf den Fluren der Akademie der Künste am Hanseatenweg, kam er mir bereits so hinfällig vor, daß ich nicht mehr wagte, ihn anzusprechen.Kurt Darsow
SINN UND FORM 3/2022, S. 372-390, hier S. 372-376
- 2/2023 | Der staubige Regenbogen. Hans Henny Jahnn und das Atomzeitalter
Dau, Mathilde
- 2/1986 | Vivisektion mit stumpfem Skalpell
Dau, Rudolf
- 2/1986 | Vivisektion mit stumpfem Skalpell
Däubler, Theodor
- 1/1989 | Fünf Gedichte
Davezies, Robert
- 1/1961 | Die Kinder
Davico, Oskar
- 4/1976 | Gedichte
David, Claude
- 1/1956 | Goethes »Wanderjahre« als symbolische Dichtung
David, Kurt
- 3/1980 | Die Herkunft
David, Wolfgang
- 3/1973 | Diskussionen um Plenzdorf
Davis, Angela
- 4/1972 | Brief an Ericka Huggins
Davis, Lydia
- 4/2022 | Proust im Schlafzimmer
Dawojan, Razmik
- 5/1975 | Der Neger George und ich / Das kleine Mädchen am Ufer des Meeres
Dawtjan, Wahagn
- 5/1975 | Lied vom Gärtner
Dazzi, Manlio
De Montherlant, Henry
- 4/1978 | Die Wüstenrose
de Piaz, Camillo
- 6/2016 | Nachruf auf Wolfgang Hildesheimer
de Vries, Theun
Debüser, André
- 4/1992 | Hamlet als Terrorist
Decker, Gunnar
- 2/1992 | Mystik als Weltanschauung. Skizze zu einem Porträt Luise Rinsers
- 4/1997 | Der Wanderer. Variationen über ein Thema von Schubert
- 2/2002 | Ansichten zu Hermann Hesse
- 1/2009 | Der Stachel der Romantik. Franz Fühmann und das Unheimliche in der DDR
- 1/2015 | Hoffnung ist Gefahr. Die DDR-Intellektuellen und die sechziger Jahre
- 5/2015 | Hermann Hesse und Indien. Von äußeren und inneren Ost-West-Passagen
- 6/2016 | Ein Romantiker auf Widerruf. Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis 2016
Deckert, Renatus
- 2/2002 | Gedichte
- 5/2002 | Gespräch mit Heinz Czechowski
- 3/2003 | Gespräch mit B.K. Tragelehn
- 2/2004 | Der Nachgeborene auf dem Barockwrack. Durs Grünbein über Dresden
- 1/2005 | Gespräch mit Marcel Beyer
- 3/2006 | Gespräch mit Paul Nizon, S. 314 Leseprobe
Deckert, Renatus
Gespräch mit Paul Nizon
RENATUS DECKERT: Ein Satz, den ich mehrfach bei Ihnen gefunden habe, lautet: »Nur der Fremde hat vor Verwunderung leuchtende Augen.« Sie haben ihn mit Blick auf Paris geschrieben. 1977 sind Sie von Zürich hierher übergesiedelt. Aber auch in Ihrem letzten Buch, »Das Fell der Forelle«, glaubt man noch die vor Verwunderung leuchtenden Augen zu spüren. Fühlen Sie sich, nach fast drei Jahrzehnten in Paris, noch immer als Fremder?
PAUL NIZON: In diesen drei Jahrzehnten ist Paris für mich Heimat geworden. Bevor ich hierherkam, kannte ich dieses Gefühl nicht. Meine Liebe zur Schweiz war immer eine gebrochene. Hier ist es anders. Sobald ich einige Tage nicht hier bin, sehne ich mich zurück. Das war noch nie der Fall in meinem Leben. Durch das Aufwachsen meines jüngsten Sohnes in Paris bin ich hier noch in besonderer Weise verankert. Ich fühle mich nicht als Zugezogener, sondern als Parisien. Das schließt das Gefühl des In-der-Fremde-Seins nicht aus. Man könnte vielleicht von einer geliebten Fremde sprechen. Für mich gehört Paris in das Kapitel der Liebschaften. Mit den großen Städten, in denen ich längere Zeit gewesen bin, hatte ich immer eine Art Liebesverhältnis. Die Liebe zu Paris ist ungebrochen. Von Gewöhnung oder gar Abstumpfung kann keine Rede sein. Noch immer ist diese Stadt die schöpferische Herausforderung, die große Fremde, die mich immerzu anstachelt, lockt und dazu verführt, ihr schreibend beizukommen. Es vergeht eigentlich kein Tag, an dem Paris mich nicht überwältigt und in mir Glücksgefühle, mitunter fast rauschhafte Zustände, auslöst.
DECKERT: In Ihrem Roman »Das Jahr der Liebe« heißt es: »Ich war nur noch Ich selber, was immer das bedeuten mochte. Ich war glücklich, elend glücklich, so ganz allein in Paris. Und ich war frei. (…) Nimm mich an, bring mich hervor! schrie ich, während ich herumlief, ich lasse dich nicht, ich will in die Welt!« Eine Assoziation, die sich einstellt, ist das Bild des jungen Eugène de Rastignac in Balzacs Roman »Père Goriot«, der am Ende des Buches auf einer
Anhöhe des Friedhofs Père-Lachaise steht und der vor ihm liegenden Stadt wie eine übermütige Kampfansage die Worte entgegenschleudert: »Und nun zu uns beiden!«NIZON: Ja, dieser Ausruf Rastignacs, der diese Stadt erobern will, paßt ziemlich gut zu meinem damaligen Zustand. Als ich herkam, ging es mir darum, ein neues Leben zu beginnen, auch als Autor. Man muß dieser Stadt etwas beweisen, um angenommen zu werden. Das empfand ich damals sehr stark. Ich war noch nicht ins Französische übersetzt. In Paris kannte mich kein
Mensch. In meiner damaligen Situation, einer Krisensituation, gefiel mir das. Aber mein Anspruch war schon ein anderer. Ich wollte auch in dieser Stadt mit ihrer großen kulturellen Tradition, die man unentwegt spürt und mitdenkt, zum Vorschein kommen. Das ist mir insofern gelungen, als ich heute von französischer Seite mehr akzeptiert werde als im deutschen Sprachraum. Sicher, die Franzosen neigen dazu, die Wahl-Pariser zu vereinnahmen. Aber ich war natürlich stolz, daß ein Kritiker erklärte, meine Bücher gehörten zum französischen Patrimonium. Und daß Le Monde schrieb, »Das Jahr der Liebe« sei eines der allerschönsten Paris-Bücher, war ein unglaubliches Kompliment. Denn es ist schwierig, dieser Stadt einen neuen Aspekt abzugewinnen und nicht nur die bekannten Klischees zu reproduzieren.DECKERT: Italo Calvino, der von 1967 bis 1980 in Paris lebte, hat in einem autobiographischen Essay mit dem Titel »Eremit in Paris« darüber nachgedacht, warum keines seiner Bücher in Paris spielt. Er schreibt: »Ein Ort muß zu einer inneren Landschaft werden, damit die Phantasie darangehen kann, diesen Ort zu bewohnen, daraus ihren Schauplatz zu machen. Doch Paris war schon die innere Landschaft eines so großen Teils der Weltliteratur, mit einer solchen Anzahl von Büchern, die wir alle gelesen haben, die in unserem Leben wichtig waren.« Dieses Problem haben Sie gerade angesprochen. Schüchtern diese zahllosen Bücher über Paris eher ein – oder spornen sie an?
NIZON: Man bewegt sich hier wie in einem romanhaft aufgeladenen Geschehen. Diese Stadt ist schon so oft übersetzt worden, in Literatur, in Musik, in Filme, und so vieles davon ist in einem gespeichert, daß man all das mitempfindet, wenn man durch Paris geht. Ja, das schüchtert ein. Gleichzeitig aber bedeutet es einen gewaltigen Ansporn, die Geister der hier entbundenen Dichter zu spüren und ihre Stimmen zu hören. Das ist ein Trost und auch eine große Ermutigung. Oft hatten diese Leute, zum großen Teil Emigranten, alles auf eine Karte gesetzt. Dieser existentielle Einsatz, die kämpferische Haltung, dieses Sich-Aussetzen auf Gedeih oder Verderb sind auch für mich wichtig. Man könnte viele Autoren nennen, die hier zum Vorschein gekommen sind: Malcolm Lowry, für mich einer der Größten, Joyce, er hätte seinen »Ulysses« in Irland nicht publizieren können. Henry Miller, der durch die Pariser Lebensschule gehen mußte, um zu seinen Quellen vorzustoßen. Für ihn war diese Stadt die große Entbinderin. Wenn man in Paris schreibt, ist man Teil eines großen Orchesters. Man bewegt sich auf dem Feld der Weltliteratur. Das gibt ein ungeheures Freiheitsgefühl. Die Abschottung durch einen nationalen Kontext fällt weg, auch die unbewußte Zensur. In Paris habe ich meine Provinz hinter mir gelassen.
DECKERT: Auch in bezug auf sich selbst haben Sie von der »Metropole als Entbindungsanstalt« gesprochen. Sie schreiben: »All die Anstöße zu Büchern oder in meinem Sinne: zu Poesie, zu poetischem Ertrag, kamen von den Städten her.« Hätte es auch eine andere Stadt als Paris sein können, sagen wir Berlin?
NIZON: Nein. Ich kenne Deutschland ziemlich gut. Meine erste Frau war Deutsche, ihre ganze Verwandtschaft lebte dort, alle in Pfarrhäusern übrigens, und ich habe eine Zeitlang in München studiert. Aber in Deutschland zu leben habe ich mir nie vorstellen können. Warum das so ist, kann ich nur vermuten. Ich habe das kürzlich wieder für mich notiert: Immer, wenn ich von Frankreich nach Deutschland komme, stelle ich fest, daß die Luft dünn wird. Sie ist wie entfettet. Es fehlt etwas. Aber was? Und ich kam auf den Begriff Lebensschmieröl. In Deutschland nehme ich eine große Nüchternheit wahr. Auch die kann interessant und anregend sein. Aber mir liegt sie nicht so. Berlin habe ich immer als eine relativ leere Stadt empfunden. Dieses Getümmel, dieses Trübe, das auch die Tröstlichkeit der großen Illusion erzeugt, finde ich nicht in Deutschland. Anders als in den romanischen Ländern, in Spanien, Italien oder Frankreich. Ich glaube, das französische Klima ist für mich das vertrauteste. Aber damit meine ich nicht die Provinz, sondern nur Paris.
DECKERT: Woher kommt die Affinität zu dieser Stadt?
NIZON: Als Kind bin ich in den Ferien immer zu meiner Pariser Tante gefahren. Sie wohnte unterhalb von Pigalle. Das erste Mal 1947. Ich habe die Atmosphäre in mich aufgesogen, diese existentielle Stimmung der Nachkriegsjahre. Später ist mir die geistige und kulturelle Größenordnung aufgegangen, auch die Anmaßung, die hier herrscht, die Einschüchterung. Natürlich war ich schon vorher mit der französischen Literatur und dem französischen Film vertraut. Ich komme aus Bern, da gab es traditionell eine Ausrichtung nach Frankreich, während man sich in Zürich an Deutschland orientierte. Es war immer mein Traum, nach Paris zu gehen, aber es hat lange gedauert, bis ich den Absprung geschafft habe. Vor mir sind ja schon andere Schweizer, Giacometti und Le Corbusier etwa, hergekommen, um sich einen Namen zu machen oder sich mit dem Zeitgeist zu konfrontieren. In Paris war man der Provinz weit voraus. Heute gibt es diese Zeitverschiebung ja nicht mehr. Durch die Massenmedien geschieht alles überall gleichzeitig. Damals aber kam man in Paris an eine Quelle.
DECKERT: Wie haben Sie Paris 1947 erlebt?
NIZON: Es war ein unglaublicher Lebenshunger zu spüren, eine Gier nach Vergnügung. Die nächtlichen Straßen bei Pigalle waren voller Menschen, voller Licht und voller Lockung. Aus den Bars drang ein Schwall von Lärm und Musik. In Paris erfuhr ich, was Nachtleben war. Da war eine Intensität des Leben-zurück-Gewinnens! Überall sah man Uniformen, amerikanische und
englische, das waren die Urlauber, die aus den Besatzungszonen kamen. Ich war überwältigt von dieser Urbanität, die ich aus Bern nicht kannte. Damals gab es noch die Hallen, diese riesige Burgenstadt, die belagert war von den Lastwagen, die Nacht für Nacht heranrollten, um den Bauch von Paris zu füllen, die Camions, die die engen Gassen verstopften. Das Viertel quoll über von Fisch und Fleisch, Gemüse, Früchten und Blumen. Um diese Futterplätze herum ballte sich das Nachtleben. In den sechziger Jahren wurden die Hallen abgerissen. Seither hat Paris viel von seinem Ambiente verloren. Doch die Substanz ist so gewaltig, daß sie fast unzerstörbar erscheint. Manche Bilder, die man mit Paris in Verbindung bringt, wird es wohl immer geben, zum Beispiel die Liebespaare, die wie lebende Denkmäler die Stadt bevölkern. Das ist mir schon damals aufgefallen.
DECKERT: Sie haben geschrieben: »Ich muß mir Paris in täglichen leibhaften Übungen unausgesetzt anverwandeln, um den Traum oder das Movens meines Schreibens wachzuhalten.« Wie sieht das konkret aus?
NIZON: Meine Schreibateliers sind manchmal sehr weit von meiner Wohnung entfernt. Das heißt, daß ich jeden Tag die Stadt durchquere. Das ist nicht nur ein Auslauf oder ein Anlauf zur Arbeit, sondern auch ein Sturz in die Außenwelt, ein tägliches Mich-Hineinwerfen in das Pariser Leben. Das bringt Reibungen mit sich, emotionale Berührungen; und aus den Reibungen entstehen Funken. Etwas flammt auf, sticht mir ins Auge und provoziert innere Bilder. Über die Augenwege sammle ich ein, was mich an Eindrücken anspringt. Mitunter habe ich das Gefühl, ich kann im Vorbeilaufen ernten. All das speichere ich, und im Atelier fließt es in die Arbeit ein. Um meine Wirklichkeit mit der Sprache festzuhalten, brauche ich die Ruhe, das Abgekapselt-Sein. Ich bin keiner, der mit dem Notizblock herumläuft, und ich könnte auch nicht im Café schreiben. Ich bin mit tausend Antennen ausgestattet, so daß ich alles höre und aufnehme. Aber das Durchqueren der Stadt gehört schon zum Arbeitsprozeß. Ich nenne es die tägliche Aufkurbelung. Auf dem Weg zur Arbeit wiege ich meine Sätze wie ein Dromedar das in seinem Höcker gespeicherte Fett. Manchmal ist es, als würde ich beim Gehen Worte herausstampfen. Dieses Physische des Marschierens gehört für mich ebenso zur Kreation wie das Sammeln von immer neuen Eindrücken. Dafür brauche ich Paris. Und noch ein Aspekt ist wichtig: das Sich-verlieren-Können, das Untergehen in der Großstadt. Man kann natürlich auch durch Zürich laufen, aber diese Intensität, diese Dichte gibt es dort nicht. In Zürich können Sie vielleicht im Alkohol untergehen, aber nicht in den Straßen.
DECKERT: Ihr Journal »Die Innenseite des Mantels« beginnt mit dem Satz: »In Paris habe ich wohl alles Mögliche an Glanz, Hoffnung, Flitter verloren, aber ich habe diese poetische Existenz gefunden, die ich verteidige und für die ich bezahle, unter anderem mit Einsamkeit.« Was meint das: eine poetische Existenz? Ist es dieses tägliche Sich-Anverwandeln von Paris?NIZON: [...]
SINN UND FORM 3/2006, S. 314-326
- 6/2010 | Gespräch mit Jürgen Becker
- 6/2011 | »Das ist eine untergegangene Welt.« Gespräch mit Richard Wagner, S. 314 Leseprobe
Deckert, Renatus
»Das ist eine untergegangene Welt«. Gespräch mit Richard Wagner
RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern leidenschaftliche Wagnerianer waren?
RICHARD WAGNER: Mein Vater war tatsächlich Wagnerianer. Hinzu kommt, daß er in seiner Jugend ein eher ungewöhnliches Instrument spielte, nämlich Waldhorn. Das war nicht sehr verbreitet. Er war in einem Laienorchester, das Ouvertüren und dergleichen mehr spielte, und da hatte er einmal einen Einsatz mit seinem Waldhorn. Das ist ihm in Erinnerung geblieben. Seitdem hat er sich immer wieder mit Wagner befaßt, so gut er eben konnte. Und 1952, als ich geboren wurde, das war im tiefsten Stalinismus, für die deutsche Minderheit in Rumänien war das eine schlimme Zeit, da haben die Leute ihren Kindern germanische Vornamen gegeben, um zu verhindern, daß sie ins Rumänische übersetzt werden. Meine Landsleute waren ja katholisch, und deshalb hießen sie Franz oder Joseph oder Nikolaus, Katharina oder Elisabeth. Wenn man aber einen solchen Vornamen wählte, wurde der rumänisiert in die Geburtsurkunde eingetragen. Um das zu verhindern, entschied man sich für einen germanischen Namen – und natürlich wollte man damit auch ausdrücken: Wir sind Deutsche. In meinem Fall war das doppelt begründet: Man wählte mit Richard einen germanischen Namen, zugleich war es für meinen Vater die Gelegenheit, seinen Sohn Richard Wagner zu nennen und mir das aufzubürden.
DECKERT: Wo war das denn, wo Ihr Vater im Orchester gespielt hat?
WAGNER: Das war in Perjamosch, wo meine Familie gelebt hat, zehn Kilometer von Lovrin entfernt, wo ich geboren wurde. Das war ein größeres Dorf mit 6000 Einwohnern, ein wenig kleinstädtisch schon. Und da leistete man sich in den Sommerferien einen Kapellmeister. Der kam aus Temesvar, der Regionalhauptstadt, um mit den jungen Leuten zu proben. Das war in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.
DECKERT: Besaß Ihr Vater denn einen Plattenspieler, um Wagner zu hören?
WAGNER: Mein Vater ist früh von zu Hause weg. Er hat eine Lehre gemacht auf einer Wassermühle und ist 1939 zur rumänischen Armee eingezogen worden. Als der Krieg kam, blieb er bei der Armee. Er war bei der Flußmarine, und da fuhr er den Krieg über die Donau auf und ab; sie hatten die Aufgabe, den Fluß zu kontrollieren. Und da kam er viel herum, auch in die großen Städte. Ich nehme an, daß er dort Schallplatten gehört hat. Denn bei uns zu Hause gab es nach dem Krieg überhaupt nichts mehr. Als sich im September 1944 die Front näherte, sind die Leute geflohen, meine Familie bis nach Österreich. Und als sie 1945 zurückkamen, war das Haus völlig ausgeplündert, da standen bloß noch die Mauern. Ja, und später, in den fünfziger Jahren, als ich geboren wurde, da galt Wagner in Rumänien als Wegbereiter des Nationalsozialismus. Er wurde nicht aufgeführt, und auch Schallplatten konnte man keine kaufen.
DECKERT: Ihr Vater, sagten Sie, war von Beruf Müller. Welchem Milieu entstammte Ihre Familie?
WAGNER: Diese Dörfer sind ja im 18. Jahrhundert buchstäblich auf dem Reißbrett angelegt worden, und zwar von den Wiener Beamten, die die Kolonisation des Banats organisierten. Die Habsburger waren vorbildlich in ihrer Siedlungspolitik, sie haben das genau geplant. Und es hat ja dann auch wirklich funktioniert; das moderne Banat war in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts einer der großen Lieferanten landwirtschaftlicher Produkte; das weiß man heute gar nicht mehr. Damals, als man daranging, diese neuen habsburgischen Gebiete zu kolonisieren, wurden zielgerichtet Leute angeworben, die Banater Schwaben, wie sie später hießen, die ihrem Selbstverständnis nach übrigens nicht einfach Auswanderer waren, sondern Kolonisten, Siedler. Nichts überließ man dem Zufall. Jedem Dorf ordnete man eine bestimmte Anzahl von Bewohnern zu, abhängig vom Beruf. Die größte Zahl waren Bauern, und dann rechnete man, wie viele Handwerker und welche Berufe man sonst noch braucht in einem Dorf. Ich selbst komme väterlicherseits aus einer Handwerkerfamilie, das waren alles Müller, über Generationen hinweg. Bis zu mir hießen die alle Nikolaus Wagner, das kann man zurückverfolgen bis ins 18. Jahrhundert. Und zwar haben sie Flußmühlen betrieben. Die standen auf zwei fest verankerten Kähnen im Fluß, dazwischen befand sich das Mühlrad, das von der Strömung angetrieben wurde; und so wurde gemahlen. Das ging so bis in die zwanziger Jahre, als die ersten Motormühlen aufkamen. Dann starben die Flußmühlen aus, die Müller verloren ihre Selbständigkeit. Auch mein Großvater mußte aufgeben, er wurde dann Angestellter in einer dieser neuen Motormühlen. Das war ein ziemlicher Bruch in der Lebensweise dieser Leute.
DECKERT: Wie hatten sie vorher gelebt?
WAGNER: Sie hatten eine gewisse Souveränität, nicht nur in ihrem Selbstverständnis; sie lebten in einer eigenen Siedlung am Fluß, an der Marosch. Das Dorf war ja ein paar Kilometer vom Fluß entfernt, wegen der Überschwemmungsgefahr lag es auf einem Hügel. Man hatte auch einen Damm gebaut, Anfang des 19. Jahrhunderts. Und in der Au, zwischen dem Fluß und dem Damm, befand sich die Siedlung der Wassermüller; die hatten dort ihre Mühlen. Und im Winter, wenn der Fluß vereiste, das waren ja harte Winter dort, mußten diese Mühlen an Land gebracht werden; im Frühjahr ließ man
sie dann wieder zu Wasser. Deshalb wohnten die Müller am Fluß in der Au. Ihre Häuser waren nicht aus Stein, sondern sie bestanden traditionell aus Holzbalken und einem Weidengeflecht, das man mit Lehm verkleidete, wegen der Überschwemmungen. Wenn im Frühjahr das Eis schmolz, stellten sie ihre Sachen auf den Dachboden, und das Hochwasser schwemmte zwar den Lehm weg, aber das Weidengeflecht und die Holzstützen blieben erhalten; den Häusern passierte im Grunde nichts. Wenn das Wasser wieder weg war, hatten die Leute Arbeit; dann wurde das alles zugekleistert, bis es wieder in Ordnung war. Die arbeiteten auch nicht das ganze Jahr über, sie hatten ja nur zu tun, wenn etwas zu mahlen war. Im Winter trafen sie sich in ihrem Wirtshaus zum Kartenspielen, und dabei wurde viel erzählt. Sie hatten eine sehr ausgeprägte Erzähltradition, und zumindest die blieb erhalten. Ich habe das alles ja nicht mehr erlebt, aber das wurde dann weitergetragen in den Gesprächen der Familie, und deshalb weiß ich heute einiges über die Lebenswelt dieser Müller.
DECKERT: Und was machte die Familie Ihrer Mutter?
WAGNER: Mein anderer Großvater, der Vater meiner Mutter, war Wagnermeister. Er baute Leiterwagen für die Bauern, richtige Pferdewagen. Räder schnitzen, Felgen legen – das machte er alles, und wenn etwas kaputtging, dann reparierte er es. Noch in den fünfziger Jahren hatte er seine Werkstatt. Als Kind fühlte ich mich zu der Drehbank hingezogen, aber damit durfte ich nicht spielen, denn dort ging es ja zur Sache. Da lagen die Messer, mit denen gedrechselt wurde. Zu der Zeit hat er schon schwarz gearbeitet. Die Kommunisten wollten diese Gewerbe in Genossenschaften zusammenfassen, aber er hat sich geweigert, und da haben sie die Steuern so lange erhöht, bis er sie nicht mehr bezahlen konnte. Meine Mutter war in der gleichen Lage, sie war Schneiderin und sollte auch so hohe Steuern zahlen. Da haben sie beide aufgegeben und ihre Gewerbe abgemeldet. Und dann haben sie schwarz gearbeitet. Ich kann mich gut an diese Atmosphäre erinnern, im Haus und im Hof, da lag immer etwas wie Gefahr in der Luft. Das Tor war stets abgesperrt, und mir wurde gesagt, ich soll es nicht aufmachen. Der Hund war im Hof und bellte, wenn jemand am Tor erschien. Es sollte ja keiner wissen, daß da schwarz gearbeitet wird. Aber natürlich wußte das das ganze Dorf, schließlich hat das ganze Dorf schwarz gearbeitet. Und das blieb auch den Behörden nicht verborgen. Daß die Leute Schnaps brannten, das roch man ja. Aber das war illegal, weil der Staat das Schnapsmonopol hatte. Man hätte eine Genehmigung gebraucht, aber so etwas hatte keiner. Die haben aus Pflaumen Schnaps gebrannt. Dazu haben sie sich Schnellkochtöpfe angeschafft, die sie zu Destillieranlagen umbauten; die Kupferrohre haben sie in irgendwelchen Betrieben geklaut. Am Ende dieses Prozesses tropfte da der Schnaps heraus. Und der wurde dann zweimal, also doppelt gebrannt, damit er auch die richtige Balkanstärke hatte.
DECKERT: Und das machten alle im Dorf?
WAGNER: Ja, und das wußten die Behörden auch. Die Sache war die: Sie versuchten gar nicht erst, das zu unterbinden; das wäre auch schwierig gewesen. Aber wenn sie etwas gegen jemanden hatten oder wenn einer politisch aufgefallen war oder ihnen nicht paßte, dann benutzten sie das als Vorwand, um gegen den Betreffenden vorzugehen.
DECKERT: Wie hat Sie das als Kind geprägt, wenn immer das Hoftor geschlossen war? Sie waren ja ganz auf sich gestellt.
WAGNER: Ich war im Grunde gerne allein; ich war ein Einzelkind und kam gut damit zurecht. Ich habe sehr viel gelesen. Aber es gab auch in der Nachbarschaft zwei Jungen, mit denen ich oft zusammen war. Das war eine gemischte Familie, wie das im Banat häufig der Fall war, weil dort ja mehrere Bevölkerungsgruppen aufeinanderstießen. Außer den Banater Schwaben, also Deutschen, lebten dort Ungarn, Rumänen, Serben und Zigeuner. Die Mutter, die eigentlich Deutsche war, sprach Ungarisch mit ihren Kindern und mit ihrem Mann, der Serbe war. Aber die Jungen gingen auf die deutsche Schule, und damit sie Deutsch lernten, sollte ich mit ihnen spielen. Deshalb war ich häufig bei denen im Hof, wenn ich nicht gerade in meine Lektüren vertieft war.
DECKERT: War denn Ihr Großvater, der Wagnermeister, ein wichtiger Ansprechpartner für Sie?
WAGNER: Als ich elf oder zwölf war, da fing das an, daß ich mit meinem Großvater Gespräche geführt habe, politische Gespräche, denn mein Großvater war sehr politisch. Und in seiner illegalen Werkstatt gab es immer so eine Runde von Rentnern, die sich dort trafen, seine Freunde, die alle im Ersten Weltkrieg gewesen waren, das war ihr Grunderlebnis. Sie sprachen immer vom Ersten Weltkrieg; der Zweite interessierte sie nicht, weil sie da nicht direkt dabei waren. Wenn es um den Zweiten Weltkrieg ging, redeten sie immer nur von den Folgen. Beim Ersten Weltkrieg wußten sie alles bis ins Detail. Ich durfte bei diesen Gesprächen dabeisein, und da habe ich sehr viel gelernt über Geschichte und Herkunft. Als Angehöriger einer Minderheit muß man sich ja immer darüber definieren. Man lebt in einem Land, in dem eine andere Sprache die Amtssprache ist, die eigene Muttersprache wird nur von einer Minderheit gesprochen. Danach fragen einen immer die Leute, und da muß man erklären, warum das so ist. Also stellt man sich schon sehr früh solche Fragen: wer man ist und warum. Von diesen Dingen habe ich in dieser Werkstatt sehr viel mitgekriegt. Und ich fing auch an, Zeitung zu lesen. Mein Großvater hatte ein Abonnement der zentralen deutschsprachigen Zeitung, die unter dem schönen Titel »Neuer Weg« in Bukarest erschien; das war zwar auch eine gleichgeschaltete Presse, aber sie war auf Deutsch. Und dann sprachen wir eben über das, was wir in der Zeitung gelesen hatten.
DECKERT: Zu Hause sprachen Sie Deutsch. Wo hat man Rumänisch gelernt?
WAGNER: Das war ganz unterschiedlich, je nachdem, wo man aufwuchs. Manche Dörfer waren von den Ethnien her gemischt, da hat man es von den Nachbarn gelernt. In unserem Dorf lebten bis 1945 kaum Rumänen. Einige Leute aus der Verwaltung, die der Staat dahin geschickt hatte, und ein paar Tagelöhner, die als Saisonarbeiter auf den Gütern der deutschen Bauern arbeiteten. Nach der Flucht der Deutschen bei Kriegsende hat sich das geändert. Von ehemals 6000 Leuten ist nur die Hälfte zurückgekehrt, und so wurde das Dorf aufgefüllt, mit Flüchtlingen aus den ehemaligen rumänischen Ostgebieten, aus Bessarabien und der Bukowina. Das hat sich Stalin 1945 ja zurückgeholt. Und eine solche Flüchtlingsfamilie wohnte auch bei uns in der Nachbarschaft. Von den Kindern habe ich Rumänisch gelernt, auf der Straße, beim Spielen. Und dann hatten wir ja auch auf der deutschen Schule ein Fach Rumänisch und rumänische Literatur. Da habe ich das ergänzt. Meinem Rumänisch merkt man bis heute das Ländliche an, weil ich es damals von Bauern gelernt habe.
DECKERT: Welche Rolle war denn der deutschen Minderheit zugedacht?
WAGNER: Zunächst einmal wäre zu sagen, daß dieses Rumänien in seiner heutigen Gestalt ja ein Land ist, das nicht zu Ende gedacht war. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man zum einen das Habsburgische Reich zerschlagen, zum anderen die neu entstehende Sowjetunion blockieren. Man schuf den sogenannten Cordon sanitaire, darin nahm Rumänien eine Schlüsselstellung ein. Als Resultat des Weltkriegs hat es sein Territorium verdoppelt. Bis zu diesem Zeitpunkt lebten die Banater Schwaben nicht in Rumänien, sondern sie waren eine Bevölkerungsgruppe in der k.u.k.Monarchie. Und dann, mit einem Schlag, über Nacht, ohne das Dorf zu verlassen, sind meine Großeltern rumänische Staatsbürger geworden. Sie kannten weder die Sprache, noch wußten sie viel über Rumänien. Und dann waren sie eben da. Unter den Kommunisten kam den Deutschen eine ausgleichende Rolle zu. Was die ethnischen Konflikte betrifft, waren ja nicht sie das Problem, sondern die ungarische Minderheit, die noch viel größer war; bis heute gibt es in Siebenbürgen territoriale Streitigkeiten. Die Deutschen sah man als Ausgleich zwischen Rumänen und Ungarn, als den Dritten in dieser Konstellation. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele meiner Landsleute aber erst einmal zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Die anderen hat man enteignet. Uns nahm man das Haus weg, wir durften nur darin wohnen; erst nach zehn Jahren gab man es uns zurück. Also, die Deutschen hatten nichts. Und das führte dazu, daß man die Kinder in die Schulen schickte; sie sollten studieren. Denn das, was man im Kopf hat, kann einem niemand mehr wegnehmen. Und so kommt es, daß es in der deutschen Minderheit überdurchschnittlich viele Ingenieure gibt. Die sind später alle nach Deutschland gekommen. Denn das Geschäft mit der Ausreise wurde für das kommunistische Regime immer wichtiger, weil es Geld brauchte. Das fing in den fünfziger Jahren mit den rumänischen Juden an, die man an Israel verkaufte. Nach diesem Modell wurden ab den siebziger Jahren die Deutschen verkauft. Ceaus¸escu, mit diesem ganzen Wahnsinn, den er betrieb, brauchte Devisen, und so wurde dann Kopfgeld gezahlt, so ähnlich wie für die DDR-Bürger. Auf diese Weise wurden wir immer weniger. Inzwischen gibt es nur noch sehr wenige Deutsche in Rumänien. Die meisten leben heute in Deutschland.
[...]
SINN UND FORM 6/2011, S. 793-813
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Defoe, Daniel
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Defoe, Daniel
Kurze Geschichte der pfälzischen Flüchtlinge. Mit einer Vorbemerkung von John Robert Moore
Sehr geehrter Herr,
in dem letzten Brief, den von Ihnen zu erhalten Sie mich auszeichneten, beliebten Sie, außer anderen wichtigen Dingen, welche Ihrer gestrengen und kundigen Feder würdig, zu sagen, daß die Nachricht von der Ankunft so vieler bedrängter Pfälzer zu einem Zeitpunkt, da es in jenen Gebieten keine schreiende Verfolgung gab, die Leute in Ihrer Gegend gar sehr verwunderte, und daß so viele Fremde in Südbritannien aufzunehmen und zu ernähren zu einem Zeitpunkt, da der Handel flau, Beschäftigung knapp, uns ein langer Krieg aufgehalst und jedwede Nahrung dermaßen teuer war, bei Ihnen so mannigfach diskursiert wurde, mit plausiblen Argumenten pro und contra, daß es schwierig erschien zu erkennen, ob diejenigen recht haben, die sich für die Aufnahme und Versorgung der Pfälzer aussprachen, oder diejenigen, die entschieden gegen die Aufnahme von weiteren Fremden nach England auftraten (zumal, wie die Umstände gegenwärtig beschaffen sind).
Einige werden behaupten, die Verköstigung und künftige Versorgung der Pfälzer, in ihrem gegenwärtigen elenden Zustand, bis sie so untergebracht werden können, um durch Fleiß und ehrliche Arbeit für sich selbst aufzukommen, sei nicht nur ein großer Akt christlicher Nächstenliebe, sondern eine Ehre und ein beträchtlicher Gewinn für die gesamte britische Nation, da sie deren Macht und Herrlichkeit vergrößert, den Handel fördert und den Reichtum des Königreiches mehrt: Während andere gegen diese Meinung heftig wettern und sagen, zu diesem Zeitpunkt eine solche Menge von Ausländern hereinbringen heiße die Lebensmittel noch mehr verteuern; unsere einheimischen Handwerker und Arbeitsleute brotlos machen und die Zahl unserer eigenen Armen erhöhen, die bereits zu viele sind und der Nation allzusehr zur Last fallen.
Dieser Einwand, Sir, belieben Sie zu sagen, der zu viele Münder mit Geschrei und Gezeter füllt, ist keiner, den Sie erheben oder billigen (und das glaube ich gern), da Sie sich ganz auf die mildtätige Seite verlegt haben und darauf, dem Befehl Ihrer Majestät zu gehorchen und Dero frommem Beispiel zu folgen, indem Sie Ihr Äußerstes für diese bedrängten protestantischen Brüder tun; allerdings würden Sie mit Argumenten aus London versehen werden, das Sie den Urquell des Gesprächs nennen, um auf die Anmaßungen und das Gezeter von Personen zu antworten, die gegen die armen Pfälzer voreingenommen sind, so daß Sie dadurch vermögend sind, auf ihre Einwendungen zu antworten, um das Interesse dieser leidenden Christen zu fördern, wenn die für diesen Zweck bestimmten Bittbriefe bei Ihnen verlesen werden, mit dem Ziel, Ihre Kollekten zu den Bedürfnissen der unglückseligen Fremden einigermaßen ins Verhältnis zu bringen.
Diesem, Sir, belieben Sie eine bescheidene Bitte hinzuzufügen, daß ich Sie auch mit der genauen Zahl der bereits eingetroffenen Pfälzer versehe. Aus welchen Gebieten sie kamen? Wie sie in diese schlimme Not gerieten? Welche Maßnahmen zu ihrer Ernährung bei ihrer ersten Ankunft ergriffen wurden? Welche danach? Und in welcher Weise sie untergebracht werden sollen, auf daß es Ihrer Majestät zur ewigen Ehre, unserer Religion zum Ruhm sowie der Nation, ihnen selbst und ihren Nachkommen zum Vorteil gereichen möge.
Und also, Sir, damit ich Ihren Befehlen willfahren, Ihren Erwartungen genügen und auf die in Ihrer Anfrage erwähnten mildtätigen Vorhaben antworten kann, habe ich mich seit geraumer Zeit beflissen, mir Kenntnis über sämtliche in Ihrem Brief enthaltenen Umstände zu verschaffen; was hoffentlich den Aufschub meiner Antwort entschuldigt, da ich sie nicht auf persönliche Vorlieben, irrige Vorstellungen oder verbreitete Gerüchte gründen wollte, sondern auf authentische Aussagen und verantwortbare Berichte, die zu geben mir geziemt und Ihnen, sie zu empfangen und weiterzugeben an andere gute Menschen wie Sie selbst, welche, fürchte ich, allzu beeindruckt sind von falschen Auffassungen in der Politik, heterodoxen Maximen in Betreff der Religion und empörenden Äußerungen über die gesetzgebenden Gewalten; oder sonst könnte es zu dieser Tageszeit keinen Zweifel geben, ob die Vervielfachung der Einwohnerzahl zu Macht, Herrlichkeit und Reichtum eines Königreiches beiträgt, ist es doch das feste und erprobte Prinzip des gesamten vernunftgelenkten Teils der Menschheit, daß Menschen Reichtum, Ehre und Macht einer Nation sind und der Wohlstand im gleichen Verhältnis wächst wie die zusätzliche Einwohnerzahl; weshalb der kluge Gesetzgeber den Griechen riet, sie sollten, wollten sie reich und mächtig sein und eine bedeutende Rolle in der Welt spielen, ablassen vom Hochmut und der Eitelkeit ihrer Vergnügungen, Wettkämpfe und Spiele und die Zahl der fleißigen, tätigen und emsigen Menschen vergrößern, welche sie in Kriegszeiten verteidigen und in Friedenszeiten wohlhabend und gefürchtet machen würden. Ihnen, Sir, der Sie sich in der Römischen Geschichte trefflichst auskennen, brauche ich nicht zu sagen, daß Rom, da ein Asylum für Fremde, das Projekt war, das es zur Herrscherin über den größten Teil der damals bekannten Welt machte; und alle Nationen, welche dieselben Methoden anwandten, haben daraus ebenso ihren Nutzen gezogen.
Doch um nicht in die Ferne zu schweifen oder den undeutlichen Fußstapfen des Altertums zu folgen, gebe ich Ihnen ein paar beachtenswerte Beispiele von den festen Gepflogenheiten einiger der weisesten und überaus staatsklugen benachbarten Fürsten und Länder, die es für ihren Vorteil wie auch für ihre Ehre erachten, solch fleißigen Fremden, welche die Bedrückung in Gewissensdingen oder anderes aus ihrer Heimat vertrieben hatte, Ermutigung und Anreiz zu geben, ihren Lebensunterhalt anderswo zu suchen. So hat der kürzlich abgelebte Kurfürst von Brandenburg, der in der Kenntnis der Religionspflichten und wahren Regierungsmaximen niemandem nachstand, aus christlichem Mitgefühl mit den verfolgten Protestanten Frankreichs diese eingeladen, in seine Lande zu kommen und sich dort anzusiedeln; und ihnen, als sie kamen, außer anderen zeitweiligen Privilegien, Holz sowie das Fuhrwerk dafür gegeben, um sich an Örtern nach ihrem Gefallen Häuser zu bauen, sowie pro Kopf zwischen einhundert und zweihundert Kronen, um sich mit all dem zu versorgen, dessen sie bedurften, um sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu können. Vergünstigungen, welche sie so gut nutzten, daß die Wohltätigkeit des Kurfürsten ihm nach kurzer Zeit mehr als zwiefach für seine Staatseinnahmen vergolten wurde, so daß der gegenwärtige erlauchte König von Preußen, zur Belohnung ihres Fleißes, die Frist ihrer Befreiung von öffentlichen Steuern und anderen Lasten von fünfzehn auf zwanzig Jahre verlängert hat. Den gleichen Wohltätigkeitsdienst erwies dieser Kurfürst von Brandenburg den armen Pfälzern, die durch das barbarische Hausen der Franzosen gezwungen wurden, ihr Land zu verlassen und in das Reich dieses Kurfürsten in Deutschland auszuwandern. Es gibt auch eine gedruckte Relation in deutscher Sprache von den großen Immunitäten und Privilegien, die dieser Kurfürst der Pfälzer Kolonie gewährte, welche auswanderte und sich in Magdeburg ansiedelte, im Jahre 1689, in dem diese bedrängten Protestanten eine sichere Freistatt, ein auskömmliches Dasein durch eigenen Fleiß fanden, und gegenwärtig soll sie dem König von Preußen 100 000 Kronen jährlich einbringen; und der muß in den europäischen Angelegenheiten wahrlich gänzlich unbewandert sein, der nicht weiß, welch andere große Dinge der König von Preußen für die armen bedrängten Pfälzer Flüchtlinge seither getan hat und noch tut, sooft die Vorsehung dazu Gelegenheit verschafft; wobei Gott ihn so segnet, daß es ihm stets zum weltlichen Nutzen wie auch zur Gewissensbefriedigung ausschlägt, indem er Gutes für den Haushalt des Glaubens tut. Und warum man in Großbritannien Beschwerde führen sollte über diese Taten der Nächstenliebe, die man bei anderen Fürsten für ruhmvoll hält, vermag ich mir nicht anders zu erklären als durch einen Mangel an gehöriger Aufklärung im Vorstehenden und das Verharren in alten Irrtümern zum Schaden bekannter und erprobter Wahrheiten: törichte Vorurteile, die zu zerstreuen ich Ihnen weitere wiederholte Beweise jener unanfechtbaren und allgemein anerkannten Politikmaxime geben werde, daß Scharen von Menschen Macht und Reichtum einer Nation sind.
Dieser Grundsatz wurde von den klugen und umsichtigen Holländern beherzigt, sogar schon seit der Kindheit ihres nunmehr Hohen und Mächtigen Staates, und hatte stets seine Wirkungen; denn indem sie bedrängte Fremde, besonders Protestanten, verköstigten und ihnen beistanden, wurden sie in den Stand gesetzt, die Spanier zu besiegen und das Joch der Knechtschaft abzuwerfen, das die Schultern dieses nunmehr gewaltigen Volkes so lange wundgerieben hatte: eine Praxis, die sie danach fortsetzten, wann immer die Gelegenheit sich bot. Im Jahre 1670, als in Frankreich die grausame Verfolgung wütete, erwies dieser Staat, durch ein öffentliches Edikt, Gastfreundschaft und Hilfe all jenen Unterdrückten, die es für richtig hielten, in diesem Reich einzuwohnen; und um zu zeigen, daß sie noch im selben Grundsatz fortfahren, obzwar sie kein Land mehr urbar machen oder Schleusen bauen können und bereits jetzt mehr als zehn Menschen gegenüber einem bei uns auf derselben Fläche haben, erließen die Staaten von Holland und Westfriesland, nach dem Beispiel unserer Gesetzgebung in dem neuen Act of Naturalization of Foreign Protestants, ein Placaert, welches das Datum vom 16. des vergangenen Juli trägt, für eine allgemeine Einbürgerung der protestantischen Flüchtlinge, welches folgt:
»Hiermit sei kund und zu wissen gegeben, daß sie in Erwägung dessen, daß die Herrlichkeit und Wohlfahrt eines Landes gemeinhin in der Vielzahl seiner Bewohner besteht und daß absonderlich die Provinzen an Macht und Reichtum wuchsen durch den Zustrom unglücklicher und verstreuter Personen, die, ihres Bekenntnisses zur wahren reformierten Religion oder anderer Bedrückungen wegen aus ihrem Lande vertrieben, in dieser Provinz Zuflucht gesucht haben und nun seit langen zum Wachstum von Handel, Manufakturen und öffentlichem Reichtum beitragen. Daß, ferner, die Flüchtlinge, die Frankreich ihrer Religion halber verließen und nun schon etliche Zeit in diesem Lande leben, sich der gewogenen Aufmerksamkeit der Regentschaft für sich und ihre Familien nicht unwürdig erwiesen haben und folglich deren allgemeinen Schutz genießen sollen, wie die übrigen Einwohner. Aus diesen Gründen haben wir es für richtig befunden, zu befehlen und anzuordnen, wie wir es hierdurch tun, daß alle Personen, welche aus dem Königreich Frankreich, oder anderen Ländern, des Bekenntnisses zur wahren reformierten Religion halber ausgewandert und Zuflucht in den Provinzen Holland und Westfriesland gesucht und sich dort angesiedelt haben, wie auch die Kinder, die sie mit sich brachten, oder welche in Zukunft entweder direkt aus Frankreich, oder anderen Ländern, Zuflucht in dieser Provinz nehmen und dort ihren Wohnsitz wählen, hinfort aufgenommen und als Untertanen und Landeskinder von Holland und Westfriesland anerkannt werden sollen, was wir hiermit tun; und kraft dessen in Zukunft sämtliche Privilegien und Vorrechte haben sollen, die unsere übrigen eingeborenen Untertanen haben; und daß sie folglich das Recht auf Einbürgerung haben sollen, gemäß dem Wortlaut unseres Beschlusses, welcher das Datum des 25. September 1670 trägt. Daß daher alle, welche diese unsere Gunst nutzen wollen, sich persönlich an den Präsidenten oder die Räte des für sie zuständigen Gerichts wenden sollen, oder an die Räte der Städte, die Vögte und Friedensrichter der Dörfer, wo sie ansässig sind oder ihren Wohnsitz zu nehmen gedenken; welche, nach einer kurzen Prüfung, um festzustellen, ob die besagten Personen wirklich Flüchtlinge im vorgenannten Sinne sind, deren Namen registrieren, auf daß dieser für immer ersichtlich sei. Und damit jedermann hiervon Kunde erhalte, ordnen wir hierdurch an, daß es öffentlich gemacht und ausgehängt und in der üblichen Weise durchgeführt wird. Gegeben in Den Haag, am 18. Juli, 1709. Unterschrieben
Simon van Beaumont.«
Die klugen und triftigen Gründe, die im vorstehenden Placaert dargelegt, dünken mich ausreichend, Sir, um jegliches Gezeter zum Verstummen zu bringen, das unter jenen Leuten im Gange ist, die sich ein Ansehen geben, aber von den wahren Interessen Großbritanniens nichts verstehen; denn wenn die Aufnahme fleißiger und emsiger Arbeiter in den Niederlanden sich als so nützlich für den Staat erwiesen hat, ist das eine hinlängliche Begründung für Ihre Königliche Hoheit, sich nicht zu trennen von einem solchen Schatz, wie es die Pfälzer wären für sie, die sie mehr Platz hat, sie aufzunehmen, mehr Ödland zum Urbarmachen und in ihrem Gebiet mehr Manufakturen, sie zu beschäftigen, als alle Provinzen der Niederlande von sich behaupten können. Und Ihre Majestät und Dero Regierung sind auch nicht gleichgültig gegen die unheilvollen Auswirkungen in Spanien, Frankreich, Savoyen und anderen Staaten, die, indem sie ihre besten Untertanen verbannen und keine erfolgreichen Methoden anwenden, ihre Gebiete zu repeuplieren, diese einst so fruchtbaren und blühenden Länder dermaßen ausgelaugt gemacht haben, daß nach menschlicher Voraussicht zwei Zeitalter hintereinander ihnen ihre einstige Wohlhabenheit und Herrlichkeit nicht werden zurückgeben können. Aber von solchen Begründungen abgesehen, diese armen Pfälzer aufzunehmen und ihnen beizustehen ist für mich nur das Begleichen einer rechtmäßigen Schuld für die Gastfreundschaft, die sie vielen unserer gelehrten Geistlichen erwiesen, welche während der Verfolgungen zur Zeit Königin Marias jenseits des Meeres Schutz suchen mußten und in Frankfurt in Deutschland, in der Pfalz, in den Niederlanden, in der Schweiz und anderswo gastfreundliche Aufnahme fanden; und sollen wir nun zulassen, daß ein Nachfahre unserer quondam Wohltäter zugrunde geht aus Mangel an Brot, das uns die Vorsehung zur Linderung in die Arme geworfen hat? Berichtet es nicht in Gat &c. Soll nie einer, zur Schande der britischen Nation, sagen, daß dieselbe der großen Pflicht der Wohltätigkeit nicht Genüge tue, so wie einige unserer Meckerer und Nörgler die Nation verlästern, sondern vielmehr sollen jene engherzigen, unbarmherzigen, scheinheiligen Christen durch Schande gebrandmarkt und von den guten Menschen Englands unterschieden sein, welche großzügig und mit offenen Herzen und Händen zur Ernährung ihrer bedrängten protestantischen Brüder beitragen. Weil sie sich nicht in die Lage dieser armen Pfälzer versetzen und in ihrem Falle tun, was sie wollen, daß man ihnen tue, wenn es der ihre wäre, erfüllen sie die Welt mit Geschrei und Geschwätz, ganz im Gegensatz zu der Religion, zu der sie sich bekennen, die sie zumindest zu schweigenden, wiewohl nicht freigebigen, stummen Bewunderern der Mildtätigkeit anderer machen würde, obgleich sie ohne jegliches Gefühl wären und nicht das Herz hätten, selbst mildtätig zu sein. Wie haben diese erbärmlichen selbstsüchtigen Bestien vergessen, daß, wäre die Vorsehung nicht durch die kürzliche geglückte Revolution schier wundersam zu unserem Behufe eingeschritten, die Lage der Pfälzer auch die unsere hätte sein können, in der düsteren Aussicht, die wir unter einer vormaligen Regentschaft hatten, vor gleicher Verfolgung zu fliehen, als einige unsere Bischöfe im Tower gefangengesetzt wurden, einer von der Ausübung seines Bischofsamtes suspendiert wurde, weil er nicht gegen das Gesetz handeln wollte, und einige unserer Prediger ebenso suspendiert wurden, weil sie gegen papistischen Aberglauben und Götzendienst zu Felde zogen; unsere Kollegen waren in die Hand der Papisten gegeben, und alles lief auf die völlige Vernichtung der protestantischen Religion zu, hätte Gott der Allmächtige der papistischen Raserei nicht Einhalt geboten, wie dem tosenden Meer, indem er sprach, Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; da gefiel es Gott, über unseren Rücken die Geißel zu schwenken, unter welcher die armen Pfälzer lange gelitten, und wie können wir Gott diese Errettung besser vergelten als durch Mildtätigkeit an unseren geplagten Brüdern. Und sollen alle, die diese Pflicht versäumen, ernstlich bedenken, daß beim Jüngsten Gericht unser Erlöser besonders darauf achten wird, ob, als er hungrig gewesen, sie ihn gespeist haben, als er durstig gewesen, sie ihn getränkt haben, als er ein Gast gewesen, sie ihn beherbergt haben, als er nackt gewesen, sie ihn bekleidet haben, als er krank gewesen, sie ihn besucht haben, als er gefangen gewesen, sie zu ihm gekommen sind, und was sie dem geringsten seiner Brüder getan haben, das wird er ansehen, als hätten sie es ihm getan, und jegliches Versäumnis hart bestrafen.
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 2/2016, S. 164-200, hier S. 169-174
Degenhardt, Franz Josef
- 1/1989 | Gedichte
Dehmel, Ida
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Dehmel, R.
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Dehnel, Jacek
- 6/2012 | Gedichte
Deicke, Günther
- 2/1956 | Neue Lyrik
- 5/1969 | Gedichte
- 4/1970 | Zum 200. Geburtstag Friedrich Hölderlins
- 1/1971 | Begegnungen mit dem Dichter Kuba
- 3/1971 | Sicht auf große Tage
- 4/1972 | Kennt Ihr Euch überhaupt?
- 6/1978 | Drei Tage Dresden
- 5/1979 | Gedichte
- 5/1982 | Reise, Reise...
- 5/1984 | Land überm Kupferschiefer
- 6/1984 | Zum Tod von Erich Arendt
- 4/1985 | Zur Eröffnung der KuBa-Ausstellung
- 3/1987 | Die jungen Autoren der vierziger Jahre
- 2/1988 | Über meine Jahre als NDL-Redakteur
- 5/1991 | Annchen
Del Castillo, Michael
- 6/1984 | Die Nacht der Entscheidung
Deleanu, Andrei Ion
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Serenus Zeitblom
Delius, Anthony
- 3/1981 | [Dichtung unter der Apartheid] Die Insel
Delius, Friedrich Christian
- 5/1993 | Fisch, Isaak, Blut
- 4/1994 | Die Unfähigkeit zu loben
- 2/1999 | Solo vor Jericho
- 3/2009 | Goethe, die Barbaren und das Jahr 2043. Stadtschreiber-Rede in Bergen-Enkheim
- 6/2012 | Peter Huchel oder Die Kunst, sich nicht zu uniformieren
- 1/2015 | Der Stolz der Akademie.
Gruß an »Sinn und Form«, S. 289 Leseprobe
Delius, Friedrich Christian
Der Stolz der Akademie Gruß an Sinn und Form
Ein Abend von und mit »Sinn und Form«. Es ist also auch eine, ja, was eigentlich, eine Institution zu begrüßen, die nicht leicht zu fassen ist, die selten im Rampenlicht steht, eine ehrwürdige, quicklebendige, weithin wirksame literarische Stimme, nein, eine schwer definierbare Summe von Stimmen. Die Zeitschrift »Sinn und Form« ist kein Sprachrohr der Akademie der Künste, aber sie erscheint unter dem Dach der Akademie der Künste – und wirkt als derzeit beste deutsche literarische Visitenkarte weit über Berlin und Brandenburg hinaus, vermutlich bis zu unseren Antipoden an irgendeiner Universität in Neuseeland. Diese Zeitschrift ist der Stolz der Akademie, unverzichtbar für Leute mit der Kernkompetenz Wort abseits des Mainstreams. Der Stolz der Akademie, gerade weil sie es nicht leicht hat, trotz steigender Auflage, im Gegenwind des vulgärbetriebswirtschaftlichen Effizienzdenkens zu segeln.
Manche werden sagen: Kennen wir doch seit Jahren, seit Jahrzehnten, »Sinn und Form«, im sechsundsechzigsten Jahr, eine anständige, vielseitige Zeitschrift, ja, aber vielleicht heute doch ein bißchen altmodisch. Erlauben Sie, daß ich dem Vorurteil altmodisch, wenn es denn negativ gemeint sein sollte, entschieden widerspreche.
Natürlich lebt die Zeitschrift immer noch von ihrem Mythos, der mit dem Namen Peter Huchel verbunden ist. Der Mythos gründet, vereinfacht gesagt, auf Huchels programmatischem Satz aus dem Jahr 1949: »Wir werden uns nicht uniformieren.« Ein Satz, der damals mit unverschämtem, also angemessenem Selbstbewußtsein die Kulturpolitik der SED in die Schranken wies. Was einst gegen die Partei gemünzt war, galt unter Sebastian Kleinschmidt für die schwierige Übergangsperiode nach dem Ende der DDR und gilt heute für den gnadenlosen Markt. Mit dem Unterschied, daß wir uns alle auf diesem Markt tummeln und daß es auch ein wenig von uns abhängt, wer hier scheitert oder triumphiert. Aber eins steht fest – wer sich heute an den Satz hält: »Wir werden uns nicht uniformieren «, der ist alles andere als altmodisch, sondern vielmehr gegen die allgemeine Uniformierung der Gegenwart und der Zukunft schon recht gut gerüstet.
Uniformierung droht heute von vielen, insbesondere von zwei Seiten. Zum einen wird der Aberglaube geschürt, Literatur habe ihre Existenzberechtigung dadurch zu beweisen, daß sie sich noch mehr der Unterhaltungsindustrie und der Kriminalromantisierung der Welt anzupassen habe. Zum zweiten der Aberglaube, nur das, was heute elektronisch gelesen werde, was digitale Schreibweisen präsentiere, habe noch Zukunft. Nichts gegen E-Books und die technischen Errungenschaften, die den Zugang zu Büchern erleichtern, aber es ist ziemlich belanglos, wieviel Prozent der Bücher in Zukunft mittels Papier oder Silizium oder sogenannter Wolken ihre Kundschaft erreichen. Entscheidend ist, ob auf dem Umweg über Algorithmen neue ästhetische Formen entstehen, die der Uniformierung widerstehen – und da sieht es bislang noch ziemlich dürftig aus.
Die Zeitschrift »Sinn und Form« ist also unverzichtbar, solange die Kulturindustrie aus simplen Renditegründen gegen zwei kulturelle Errungenschaften kämpft, gegen Sinn und gegen Form. Deshalb sind die Debatten um Sinn und um Form nicht von gestern, sie sind von morgen.
Was zeichnet eine gute literarische Zeitschrift aus? Sie dient keiner Ideologie und keiner literarischen Richtung, das versteht sich. Ihr soziales Netzwerk gründet seit Jahrzehnten auf der Freundschaft zu Qualität und zu freiem Denken. Die Redaktion einer solchen Zeitschrift fördert den produktiven Austausch unter lesenden, denkenden Menschen. Außer dieser erfüllt sie keine Erwartungen. Im Gegenteil, sie ist für Überraschungen da. Ihre Leser sind nicht darauf angewiesen, in ihren Meinungen, ihrem Weltbild bestätigt zu werden. Sie müssen keine Anbiederung fürchten. Wer, wenn nicht die Redaktion einer solchen Zeitschrift, erinnert mit Erzählungen, Gedichten, Essays, Reden daran, was das ist oder sein kann: Niveau. Sie operiert mit den feinsten literarischen Kriterien. Sie liefert selten Antworten, sie treibt die Fragen weiter. Sie belehrt und erfreut mit klugen Gedanken ihre Leserschaft, vorzugsweise gerade dann, wenn diese es nicht erwartet. Sie blickt, zumindest potentiell, in jede Ecke der Welt, auf alle Weltliteraturen. Auch im neusten Heft wieder, dessen Vielfalt ich hier gar nicht wiedergeben kann.
Verzeihen Sie, meine Damen und Herren, heute mußte »Sinn und Form«, stets bescheiden und nobel zurückhaltend, einmal besonders begrüßt und gepriesen werden.
SINN UND FORM 1/2015, S. 138-139
- 3/2017 | Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?, S. 289 Leseprobe
Delius, Friedrich Christian
Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?
Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein.
Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte.
Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfaßt werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen oder Politiker. Irgendeinen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum zu glauben, Literatur entstünde durch den Stoff, die Konflikte, die Fallhöhen, die Handlung, durch eine oder mehrere interessante, irgendwie besondere Hauptfigur. Stoffe liegen ja immer noch buchstäblich auf der Straße, jedes Leben, jede Familie, jede Firma ist voll von Geschichten, jede Handlung läßt sich mit schrillen, raffinierten Einfällen effektvoll aufladen, Hauptfiguren kann man in ein bestimmtes Licht rücken, aber das alles reicht ja noch lange nicht, um Literatur zu werden. Entscheidend ist etwas ganz anderes, es ist die Perspektive auf diesen Stoff, also eine ästhetische Entscheidung, und es ist die Sprache, die man für diese Perspektive findet. Ohne subjektive, unverwechselbare Sprache kommt keine literarische Kunst zustande. Imre Kertész hat mal gesagt: »Im Roman sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt.« Die Betonung liegt auf dem »allein"!
Verzeihen Sie, meinte Frau E., ein schönes Zitat, aber ganz so blöd sind wir heutigen Studenten auch nicht. Ich habe sehr wohl gelernt, Literatur nicht mit Handlung, dem Stoff eines Buches zu verwechseln.
Das freut mich, aber die meisten Leute, ich meine die lesenden Leute, sogar viele Kritiker, machen sich nicht klar, wie hoch der Anteil der meistens ja sehr bewußt gewählten, oft hart erarbeiteten Sprache ist. Die sprachliche Spannung zwischen zwei Punkten, zwischen den Worten, die Dichte, die Neuheit der Sätze, die Genauigkeit der Beobachtung und des sprachlichen Ausdrucks und im Idealfall das Poetische, also das Schöne, Überraschende, Bildliche, Mehrdeutige, die Strahlkraft der Wörter …
Das ist mir vom Prinzip her klar, fiel mir die Studentin ins Wort, aber das schließt doch nicht aus, daß jemand auch für eine Figur aus der Politik die passende Sprache und die passende Perspektive findet.
Ich will nicht so töricht sein und das völlig ausschließen, sagte ich. Es kann schon sein, daß anderen Autoren mit Geschick und Glück auf diesem Felde etwas gelingt, doch ich fürchte, da wird nicht viel mehr zu finden sein als die satirische oder die biographische Lösung, aber das sind ja noch keine ausreichenden Romanlösungen. Satirisch auf politische Figuren loszureiten oder an einer mehr oder weniger bekannten Biographie entlang zu erzählen, das ist eine leichte Übung, das mag, wenn es auf intelligente Weise gelingt, gutes Handwerk sein, aber keine literarische Kunst. Denn dazu gehört immer auch das Ungesagte, ein Geheimnis, vor allem das Einverständnis zwischen Autoren und Lesern, sich gemeinsam auf etwas Erfundenes einzulassen. Das Problem mit historischen Figuren ist nun aber, daß sie nicht erfunden sind und man relativ viel über sie weiß, daß sie in vielerlei Hinsicht schon definiert sind. Sie laufen oft sogar als ihr eigenes Klischee herum, jeder hat seine Meinung über sie und seine Vorurteile. Doch: Leser wollen nicht lesen, was sie schon wissen, Autoren wollen nicht über etwas schreiben, was allgemein bekannt ist. Und bei einer prominenten Figur noch eine ergiebige Lücke, eine originelle Perspektive zu finden und wirklich etwas Spannendes, etwas Neues, Widersprüchliches oder intelligent Unterhaltendes oder gar Geheimnisvolles herauszuholen aus dem Material, das eine Bundeskanzlerin so bietet, und speziell diese auf den ersten Blick so stocknüchterne und spannungsarme Kanzlerin, das scheint mir unmöglich. Deshalb bleibe ich dabei: Für mich ist Angela Merkel keine Romanfigur.
Aber Sie sind doch ein politischer Autor, warf Frau E. ein, Sie haben uns in so vielen Büchern politische Zusammenhänge beschrieben und erklärt, vom deutschen Herbst über die deutsche Einheit bis zur deutschen Familie und so weiter. Sie lassen sich feiern als Chronist der Bundesrepublik, da müßte es doch eine vergleichsweise leichte und naheliegende Aufgabe für Sie sein, die amtierende Kanzlerin mit all ihren Widersprüchen zu durchleuchten.
Langsam! sagte ich. Erstens gibt es in der Kunst keine leichten Aufgaben, auch nicht in der Romankunst. Zweitens müßten wir klären, was ein politischer Autor ist, ich wehre mich seit Jahrzehnten gegen diesen Stempel, auch mit politischen Argumenten, aber lassen wir das mal für den Moment. Drittens habe ich das Etikett des Chronisten nie für mich beansprucht, es ist als Kompliment ganz nett gemeint, aber ziemlich falsch. Nach meiner Vorstellung jedenfalls notiert ein Chronist die Fakten sauber und ordentlich hintereinander, und wenn was Neues passiert, hat er das qua Amt getreulich festzuhalten. Romanschreiber sind keine solchen Beamten, sie produzieren Unruhe und Verstörung. Romanschreiber tun viel mehr als Chronisten, sie wirbeln die Fakten durcheinander, vermengen sie mit Fiktion und setzen sie neu zusammen. Das Bild paßt also gar nicht. Der Chronist muß objektiv sein, der Schriftsteller subjektiv, radikal subjektiv. Er ist wie jeder Künstler Subjektivist durch und durch, was eine hohe Sensibilität für das sogenannte Objektive, für seine Umwelt einschließt. Das, was er herstellt, kann nur ein einziger Mensch auf der Welt so herstellen, nämlich er, mit einer eigenen Perspektive, einer eigenen Sprache, einem eigenen Stil. Ohne ein großes und demütiges Ich geht gar nichts. Der Kern der Sache muß mit mir zu tun haben.
Aber so weit können Sie doch gar nicht auseinander sein, Pfarrerstochter Merkel und Pfarrerssohn Delius …
Ganz schön forsch sind Sie, Frau E., das gefällt mir. Aber so schnell lass’ ich mich nicht verkuppeln, außerdem bin ich mit meinen Argumenten noch nicht am Ende. Ihre Frage ist noch lange nicht ausreichend beantwortet. Wenn Sie noch Zeit haben, können wir hier gern ein bißchen weiterfechten. Gut? Also, was ich sagen wollte: Mein Ich und die Kanzlerin, ich sehe da keine Brücke, also keine produktive Perspektive, also keine Sprache. Bei aller Liebe zum Grundgesetz, so weit geht mein staatsbürgerliches Engagement nicht, daß die amtierende Kanzlerin meinem Ich nahe oder mir zur Herzenssache geworden wäre. Im Gegenteil, solche Stimmungen bei anderen treiben mich erst recht in den kritischen Modus. Ich sehe in ihr auch nicht den Anker oder die Hoffnungsträgerin als letzte Protestantin zwischen lauter Oligarchen.
Das ist Ihre Sicht, sagte E., Sie sind nun mal ein, wie soll ich sagen, älterer Schriftsteller, der schon mit etwas Distanz auf die Gegenwart schaut, mit Gelassenheit oder auch Herablassung, was weiß ich. Aber ich stecke da mittendrin, in dieser Gegenwart, und seit ich denken kann, so ungefähr, gibt es diese Kanzlerin, tagaus, tagein und alle Jahre wieder, dunkel erinnere ich mich an Schröder und an die uralten Altkanzler. In dieser Frau bündeln sich alle Probleme, die wir haben, und sie demonstriert uns, oder mir, besser gesagt, daß sie selber nicht weiß, wo es langgeht, welchen Kurs sie fahren möchte und welchen sie wirklich fährt. Irgendwas rebelliert in mir gegen die ewige Merkel, irgendwas stimmt an ihr und läßt mich vorsichtig Vertrauen fassen und irgendwas stört mich wahnsinnig und macht mich sehr mißtrauisch. Ich hab’ keine richtigen Argumente, die ganz rechten und die ganz linken Ablehnerargumente sowieso nicht. Aber am schlimmsten finde ich die Meinung: Sie ist ja immer noch die beste weit und breit, nach ihr wird alles noch schlimmer. Das ist doch ein ganz fieser Mißtrauensantrag gegen uns, gegen die Jugend!
(…)
SINN UND FORM 3/2017, S. 377-386, hier S. 377-380
- 3/2018 | Hat der Humor seinen Ernst verloren? Imre Kertész und Jan Böhmermann, Jean Paul und die »heute-show«
- 2/2020 | Nachruf auf Günter Kunert
Dell’Agli, Daniele
- 1/1995 | Gedichte
- 6/2000 | Boom, Ex und Hopp. Über folgenlose Literatur und das Recht auf Unverständlichkeit
Demandt, Alexander
Dempster, Roland Tombekai
- 2-3/1963 | Afrikanische Lyrik
Demtschenko, K. und L. Genin
- 5-6/1959 | Schiller auf den Bühnen des revolutionären Petrograd
Demus, Jakob
- 1/2018 | Nachtschau
Demus, Klaus
- 4/2007 | Ansichten der Natur, S. 464 Leseprobe
Demus, Klaus
Ansichten der Natur. Gedichte
NACHTFLUG über dem großen
transatlantischen Kontinent:
droben der Ewigkeitswelt
bilderdurchstirnter Lichterraum
finstrer Unendlichkeit,
drunten der fließende
illuminierte Schwarzteppich,
archipelgleich organisiert
mit Korallenstöcken,
funkelnd im Ornament:
der Bauriß des Alls
über dem flüchtigsten
Planen Mensch – abgründig
kontrastieren die Hälften,
droben, drunten, der Nacht
in ihren Lichtern.AUCH allen Gipfeln
wird es jetzt Abend –
die Täler drunten sind
längst in Schatten verloren;
aber hier droben
verläßt das Licht die Erde
nur wie das Kräfte-Abnehmen
das Leben: Alter; das
Ausdruck gewinnt seines
neuen Erfahrens, des
endlich-unendlichen Daseins
als Teil von Welt.
Die einsamer dunkelnden,
schärferen Formen
reißen die Einzelgestalt ab
vor entgoldeter Helle –
sie bleiben die dieser Zeit
gesetzten Türme der Erde;
und nur ein Tag hat sich
an ihnen verschwendet.NACHTRIESELNS feinste Lichtsignale
im August: die Böden zittern.
Fern gehn Regenstürme nieder,
Quellen speisen die Torrenten,
Aufruhr brüllt durchs Dunkel.
Stadtgezähmte Wassernacht
– den ersten Schwall vergurgelt –
netzt bloß Hitze, läßt das Wort,
das Himmel zu der Erde spricht,
nur als Gelispel zu. Natur-
Geschick dringt kaum mehr in die Stadt.Dennoch: der zugeteilte Rest
enthält in der Erscheinung alle
unsichtbare Wirklichkeit, den
Weltprozeß – der kleinsten
Wasserlachen Spiegelblitz
empfangner Witterung von droben
ist das Seinsereignis selbst:
nichts Größeres kann irgendwo
geschehn. Der Erde Regennacht,
wohl Sondergut der Weltphysik,
enthüllt dem Schaun fast letzten Grund.EISBERGE im Mondlicht,
und die Fregatte, winzigklein,
auf Nordmeerpfaden –
hohe Entdeckerzeit spürt
die weißgebliebenen Stellen
auf in der Erde Bild:
Erkenntnis und Abenteuer
Ansichten der Natur
beseelen poetisch den Drang,
dem Wunderbaren der Welt
real zu begegnen. Wir sehen
die Nußschale einsam segeln
im Lichttraum der Polarnacht,
hoch überragt von phantastischen
Bergen aus Eis und zwischen
Trümmern besäten Meers;
und schaudern, nicht ohne Neid,
vor der Kühnheit und Einsamkeit.WENN überm Weltmeer der Mond steht –
selige Breiten sind wach
in Stille, und schaumaufgerüstet,
niedergestrahlt durch ein Himmelsloch,
meilenweit Zauberei –
es greift aus dem Raum auf die Erde,
das niemand sieht, ein Erglänzen
nächtlich noch sonneher –
abseitig Schiffender Fahrt
mag sich darin bewegen:
unvorstellbar bleibt dennoch,
ungesehn, unbezeugt,
was auf der Weltsee der Mond
lichtberührend hervorruft.AUF, auseinander, in weißen
duftigen Ballen geht, in der
Himmelsfeier der längsten Nacht,
die blendende, locker-gewölkige
Schar, und aus den Löchern,
abgründig, wie Wasserstellen
im Eis, schaut Weltraums
Urblau: am Punkt, da Erde
zur Sonne die Bahn umlenkt,
bricht erstmals aus Nebelgefängnissen Nacht sich die
Öffnung ins All – aller Rauhnächte
Wunderbarkeiten, finster noch,
bereiten sich schon vor der Tür.SINN UND FORM 4/2007, S. 464-467, hier S. 464-466
- 4/2011 | Gespräch mit Anja S. Hübner und Detlev Schöttker über Paul Celan
- 4/2011 | Lichtreiche Nacht auf gewässerblitzender Erde
- 3/2015 | Gezeitengangs tiefes Atemholen. Gedichte
Demuth, Volker
- 5/2022 | Sand oder Schnee. Gedichte
Denninghaus, Friedhelm
- 4/1991 | Wie Brecht Mao übersetzte
Déry, Tibor
- 4/1991 | Zwischen Hoffnung und Argwohn. Stellungnahme zum Petöfi-Klub 1956. Aufruf an die Ungarische Jugend
- 6/1993 | Auf dem Rücken der Möwe
Deschner, Karlheinz
- 2/2023 | Auf einen Cocktail mit Hans Henny Jahnn. Eine nachgelassene Notiz aus dem Jahr 1956. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger
Desnos, Robert
- 6/1963 | Gedichte
Dessau, Paul
- 1-2-3/1957 | Notenhandschrift: Das Lied vom Rauch
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Versuch einer Analyse zu Hanns Eislers Kantate »Die Teppichweber von Kujan-Bulak«
- 5/1968 | Erinnerungen an Hermann Scherchen
Detering, Heinrich
- 1/2008 | Warnung vor Peter von Matt
- 5/2014 | Weltneugier. Lobrede auf Martin Mosebach
- 4/2022 | Könige und Communismus. Eine Erinnerung an Bettine von Arnim 437, S. 131 Leseprobe
Detering, Heinrich
Könige und Communismus Eine Erinnerung an Bettine von Arnim
Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis zum »Weberlied«. Aber auch so handfest agitatorische Texte wie die Dichtungen Georg Weerths – dieses »ersten Dichters des deutschen Proletariats«, wie Engels ihn genannt hat –, die »Lieder aus Lancashire« von 1845 etwa oder das »Hungerlied « ebenfalls aus der Zeit des schlesischen Weberaufstands 1844, lassen sich lesen als drastisch sozialrealistische Seitenstücke zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos betont unpolitischem »Wunderhorn« (1805 – 08). Sie ergänzen die »Volkslieder« substantiell um die dort absichtsvoll ausgesparten Arbeiterlieder aus der Frühindustrialisierung. Von der Herkunft der revolutionären Lieder Ferdinand Freiligraths aus der exotistischen, orientalistisch-romantischen Dichtung, die er später selbstironisch »meine Wüsten- und Löwenpoesie « nannte, ist schon oft die Rede gewesen. Die Germanistik hat gezeigt, daß noch die 48er Revolutionsgedichte wie »Trotz alledem!« oder der revolutionäre Zyklus »Ça ira« oder der flammende Aufruf »Die Lebenden an die Toten« ähnliche wirkungsästhetische Verfahren erkennen lassen wie das Frühwerk: eine Wüsten- und Löwenpoesie der sozialen Revolution. Und wer hätte erwartet, daß eine der ersten – und verständnisvollsten – Besprechungen der Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff von keinem Geringeren verfaßt wurde als Friedrich Engels? In diesem Kontext könnte es lohnen, eine romantisch-sozialistische Dichterin so vorzustellen, als sei sie eine Unbekannte: die tatsächlich immer neu zu entdeckende, immer wieder überraschende, fremde und doch noch in unsere Zeit hineinsprechende Bettina von Arnim.
»Es ist alles beim Alten. Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben, denen des Herzens und denen des Staats.« Die widerspenstige DDR-Schriftstellerin Sarah Kirsch hat das 1976 in einem Gedicht geschrieben, das den Titel »Wiepersdorf« trägt. Vertraulich redet Kirsch von Arnim mit »Bettine« an; das ganze lange Gedicht schreibt sie im Dialog mit der toten Romantikerin. Bettina oder Bettine – das kleine e macht den Unterschied zwischen offizieller und zutraulicher Namensform – war eine Autorität des geistigen Lebens im preußischen Berlin der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, namentlich dort, wo die Romantik ins Politische ging. Sie war es nicht allein durch ihre Herkunft aus einer angesehenen Familie, sondern mehr noch durch die Souveränität, die sie sich als selbstbewußt auftretende Intellektuelle erschrieben hatte. Die privilegierte Position, in die sie hineingeboren war, blieb ihr lebenslang bewußt, und sie hat getan, was sie konnte, um sich von dieser Position aus den Marginalisierten, den Stigmatisierten der aristokratischen und bürgerlichen Gesellschaft zuzuwenden. Wie groß ihre Autorität war, zeigte sich schon darin, daß sie 1840 den eben erst auf den Thron gekommenen jungen und mit großen, allzu großen Hoffnungen begrüßten König Friedrich Wilhelm IV. allein durch ihr Insistieren dazu brachte, die liberalen Brüder Grimm, die Ende 1837 von einem reaktionären Welfenkönig aus ihren Göttinger Professuren entlassen worden waren, an die Berliner Universität zu berufen.
*
Erfahrungen mit sozialer Marginalisierung und Stigmatisierung hat Bettine ihr Leben lang nicht nur gemacht, sondern aktiv gesucht. Das beginnt schon mit ihrer Sicht auf die Rolle von Frauen in der romantischen Bewegung. Anders als andere gab sich Bettine keineswegs mit den Rollen der Muse, der fürsorglichen Begleiterin, der »Frau an seiner Seite« zufrieden, auch nicht mit den traditionellen Tätigkeitsfeldern von Haushalt (oder in ihrem Fall: Gutshof) und Kirche. Sie suchte neue Rollen und Lebensbereiche nicht nur für sich – etwa in Berlin statt in Wiepersdorf –, sondern unterstützte rebellische Frauen wie die von Schiller als »Dame Luzifer« perhorreszierte Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea Mendelssohn- Veit-Schelling oder die Günderrode und trug nach Kräften dazu bei, ein eigenes Netzwerk romantischer Frauen durch Briefe und Salons herzustellen. Schon die jugendliche Bettine wurde in ihrer Familie in Frankfurt am Main dadurch auffällig, daß sie immer wieder ins Ghetto lief, dahin, wo man als anständige, nicht-jüdische Bürgerstochter möglichst nicht ging, daß sie dort Freundinnen fand und über deren Lebensumstände berichtete. Sie wurde später eine der wichtigen Unterstützerinnen und Freundinnen einer Frau, die es schaffte, sich in einer frauen- und judenfeindlichen Gesellschaft zu behaupten, Rahel Varnhagen. Während derselben Jahre hat sie Erfahrungen mit sozialer und ökonomischer Verelendung nicht nur gesammelt, sondern aktiv gesucht. 1831 brach in Berlin eine Cholera-Epidemie aus, die zahllose Todesopfer forderte. Bettine, die leicht aufs Land nach Wiepersdorf hätte flüchten können, ging mitten ins Elend hinein und half mit einigen anderen zusammen tatkräftig mit, eine ärztliche Versorgung zu organisieren. Sie hat selbst erklärt, daß sie in dieser praktischen Arbeit begriffen habe, wie eine Epidemie die Ungerechtigkeiten einer Klassengesellschaft schlagartig zutage treten läßt: Die Armen sterben früher, schneller und elender als die Bessergestellten.
Es sind solche Erfahrungen, aus denen sich ein ohne jede Gattungsbezeichnung veröffentlichtes Buch speist, das den sonderbaren Titel trägt »Dies Buch gehört dem König«. Es erscheint 1843, und es war eines von vier ähnlichen Werken, mit denen Bettine von Arnim zu einer der großen Schriftstellerinnen der deutschen Romantik wurde. Das erste und bekannteste war 1835 in drei Bänden erschienen und trug den Titel »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«. Es präsentierte sich als eine Dokumentation der Briefe, die ab 1807 zwischen dem alten, als Vaterfigur verehrten Goethe und der jugendlichen, sich als Kindfrau stilisierenden Bettine von Arnim gewechselt worden seien. Da waren allerdings Briefe zu lesen, die Goethe nie geschrieben, sondern die sich Bettine offensichtlich selbst ausgedacht hatte, und Briefe von ihr, die sie geschrieben, aber nie abgeschickt hatte; in den Briefen, die tatsächlich zwischen beiden gewechselt worden waren, standen Sätze, Abschnitte, die frei erfunden und nachträglich eingefügt worden waren. »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« wurde zum erfolgreichsten Buch in Bettines Laufbahn, weil hier die Goethe-Verehrung einer jungen Generation einen genuin romantischen Ausdruck fand.
Zum ersten Mal erprobte sie hier eine Schreibweise, die kalkuliert und ungeniert zwischen Fakten und Fiktionen hin und her wechselte, eine Art romantischer Briefroman; er beansprucht, Wirklichkeit zu dokumentieren, aber tut das offensichtlich in fabulierender Weise. Daß zwischen Fakten und Fiktionen nicht genau unterschieden wird, gehört zu den Regeln des ästhetischen Spiels. Auf ihre Weise beherzigt Bettine von Arnim damit den romantischen Grundsatz, den einst Novalis in Jena formuliert hatte und demzufolge die Welt »romantisirt« werden müsse. Was hier noch spielerisch war, wurde ernst in dem zweiten Buch dieser Art, dem Bettine von Arnim 1840 den Titel »Die Günderrode« gab. Aus ihrem Briefwechsel mit der Dichterin Karoline von Günderrode, die sich 1806 das Leben genommen hatte, machte Bettine abermals einen Briefroman, halb dokumentarisches Porträt, halb fiktionale Idealisierung und Modellierung ihrer Freundin zu einer idealisierten romantischen Gestalt. 1844 erschien dann ein Buch, dessen Grundlage die Jugendbriefe zwischen Bettine und ihrem Bruder Clemens Brentano bilden, »Clemens Brentano’s Frühlingskranz«. In die Reihe dieser eigenwilligen und schon zu Lebzeiten höchst umstrittenen Versuche zwischen Fälschung und Docufiction gehört nun als viertes, in der Chronologie als drittes von vier Hauptwerken »Dies Buch gehört dem König«. Hier schreibt die Hauptfigur keine Briefe, sondern führt Gespräche, zuerst mit der Mutter des preußischen Königs, und sie erzählt der Bettine bei Besuchen und Spaziergängen davon. Es ist Catharina Elisabeth Goethe, Goethes Mutter, die in Frankfurt am Main allseits verehrte, berühmte »Frau Rat«, die längst vor Bettine von Arnims Buch eine überaus populäre und beliebte Gestalt gewesen war und auf die Goethe seine »Lust zu fabulieren« zurückführte. Ihre Briefe wurden, schon bevor sie nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, bewundert für ihre Frische, ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Die Lust zu fabulieren lernt auch Bettine von Arnim von ihrer mütterlichen Freundin, die sie seit 1806 gekannt und immer wieder in Frankfurt aufgesucht hat.
Mit diesen Begegnungen und Gesprächen geht Bettine nun in »Dies Buch gehört dem König« so frei um, wie sie es mit den Briefen Goethes, Günderrodes oder Brentanos getan hat. Sie benutzt die Frau Rat als Schild und Galionsfigur, durch deren Mund sie, zwischen anekdotischen Erzählungen und allerlei Lebensweisheiten, die ungeheuerlichsten sozialkritischen Dinge sagen kann, ohne persönlich angreifbar zu werden. Da sie das Ergebnis zusätzlich dem jungen preußischen König widmet, unterstellt sie es seinem persönlichen Schutz. In einem Band über die Romantik, den Gerhard und Christa Wolf 1985 gemeinsam veröffentlicht haben, heißt es im Kapitel über das »Königsbuch« der »Frau von Arnim, zu deren demokratischem Salon man sich drängt«: »Wie unzuverlässig die Schonung war, die sie kraft ihres Ansehens in weitesten Kreisen, durch Polizei und Zensur genoß, war ihr natürlich überscharf bewußt; der Spielraum war ihr ja nicht geschenkt worden; sie hatte ihn sich durch Kühnheit, manchmal Tollkühnheit, erobert und erweitert. Man wußte nicht recht: War sie naiv? Stellte sie sich so? War sie vielleicht gerissen?«
(...)
SINN UND FORM 4/2022, S. 437-494, hier S.437 - 440
Detjen, Marion
- 1/2012 | Spiritual Companionship. Max Frisch und Helen Wolff, S. 91 Leseprobe
Detjen, Marion
SPIRITUAL COMPANIONSHIP Max Frisch und Helen Wolff
Als Max Frisch im Mai 1970 auf einer USA-Reise Helen Wolff kennenlernte, hatte er bereits mit mehreren amerikanischen Verlagen Verträge: „Homo Faber“ war bei Abelard-Schuman erschienen, „Stiller“ und „Mein Name sei Gantenbein“ (unter dem Titel „A Wilderness of Mirrors“) bei Random House, die Theaterstücke bei Hill & Wang. Die meisten seiner Bücher waren von Michael Bullock ins Englische übersetzt worden, und die amerikanischen Verlage teilten sich die Übersetzerhonorare mit dem englischen Verlag Max Frischs, Methuen. Frisch hatte auch in den USA schon den Ruf eines Schriftstellers, der sich einiges leisten konnte, zum Beispiel Henry Kissinger, dem Nationalen Sicherheitsberater des Präsidenten, bei einem Besuch im Weißen Haus unbequeme Fragen zu stellen, unmittelbar nach dem Einmarsch der US-Truppen in Kambodscha. Siegfried Unseld hatte ihm das Gespräch vermittelt; seit er 1955 an Kissingers „International Seminar“ an der Harvard University teilgenommen hatte, gehörte er zu dessen europäischen Freunden und verfügte von allen deutschen Verlegern über die besten Kontakte in den USA. Alles spricht dafür, daß Helen Wolff und Max Frisch sich auf einer seiner New Yorker Einladungen erstmals begegneten.
Unseld und Helen Wolff kannten sich schon lange, ihr Verhältnis war nicht ohne Spannungen. Sie hatten einander mehr als einmal enttäuscht, indem sie Lizenzverträge im letzten Moment platzen ließen. Max Frisch und Helen Wolff hatten aber noch andere gemeinsame Bekannte in Deutschland: Günter Grass, schon seit 1959 unter der verlegerischen Obhut Helen Wolffs und kein Suhrkamp-Autor, und Uwe Johnson, der ihr einen zweijährigen Aufenthalt in New York (1966-68) und wesentliche Hilfe bei der Entstehung der „Jahrestage“ verdankte. Helen Wolff war für Max Frisch also keine Unbekannte. Über sie kam er auch in Verbindung mit Hannah Arendt: „Helen, Hannah Arendt, and I often spent time together, not on business terms but as social and intellectual friends“, erinnerte er sich 1982 im „New Yorker“.
Während seiner Reise schrieb Frisch weiter an dem Tagebuch, das er 1966 begonnen hatte. Die vielen aktuellen Bezüge, kulminierend in dem Besuch im Weißen Haus, machten es auch für das amerikanische Lesepublikum attraktiv. Anders stand es um sein „Tagebuch 1946-1949“, das in den USA bis dahin nicht veröffentlicht worden war, weil die behandelten Personen und Geschehnisse zu erklärungsbedürftig, für Amerikaner zu entfernt schienen. Helen Wolff war bekannt dafür, daß sie unter dem Imprint „A Helen and Kurt Wolff Book“ bei Harcourt, Brace & World auch aus schwierigen, nicht auf den ersten Blick marktgängigen europäischen Büchern Erfolge machen konnte. Ein bißchen „business“ fand also doch statt zwischen ihr und Frisch: Er bot ihr das erste Tagebuch an, sie lehnte ab, „nicht leichtfertig“, wie sie am 14. Juni 1972 schrieb, aber wohl auch, weil sie keine Aussicht hatte, seine besser verkäuflichen Bücher herauszubringen.
Im Frühsommer 1972 änderte sich diese Konstellation: Hill & Wang war 1971 verkauft worden und bei Random House fand gerade ein Generationswechsel statt. Die lose Bindung, die Frisch zu diesen Verlagen gehabt hatte, wurde noch lockerer. Das „Tagebuch 1966-1971“ hatte seinen Abschluß gefunden und war von Uwe Johnson bei einem dreitägigen Besuch im Tessin akribisch lektoriert worden. Im Zuge der intensiven Zusammenarbeit wurde aus der Bekanntschaft der beiden Schriftsteller eine Freundschaft zwischen den Ehepaaren. Johnson erzählte Frisch mit Sicherheit, daß er in Helen Wolff eine Gleichgesinnte gefunden hatte, die sich Texten ebenso penibel widmete wie er selbst. Er war der beste Gewährsmann dafür, daß Helen Wolff die richtigen Übersetzer an der Hand hatte, daß sie ins Amerikanische und nicht ins Englische übertragen ließ, daß sie als Amerikanerin, die in der deutschen Literatur groß geworden war, die Übersetzung auf alle Nuancen hin prüfte, die Notwendigkeit von Kürzungen skrupulös abwog, jedem Zitat auf den Grund ging und sogar die vom Copy-Editor redigierte Fassung noch einmal sorgfältig las, um letzte Mißverständnisse zu beseitigen, „wie sie in keiner Übersetzung fehlen“ (Brief an Max Frisch vom 9. Juli 1973).
Zwischen November 1971 und April 1972 erlebte Max Frisch mit seiner Frau Marianne bei einem erneuten New-York-Aufenthalt einen „Winter des Mißbehagens“ (Brief von Helen Wolff an Max Frisch vom 14. Juni 1972). Die Stadt kam ihm diesmal „nicht traulich vor, abgesehen von wenigen Stätten; eine davon bewohnen Sie“, wie er Helen Wolff am 17. Dezember 1972 rückblickend schrieb. Zurück in der Schweiz bot er ihr an, beide Tagebücher zu veröffentlichen, eventuell in einem Band. Für das „Tagebuch 1966-1971“ hatte er inzwischen allerdings auch einen kleinen Verlag, The Third Press, gewinnen können. Um die verwirrende Konkurrenz zwischen zwei gleichzeitig erscheinenden Büchern mit einem bis auf die Jahreszahl gleichen Titel bei zwei verschiedenen Verlagen zu vermeiden, entschied sich Helen Wolff für beide Tagebücher. Allerdings wollte sie das zweite zuerst bringen: „Was wir damit zu erzielen hoffen ist daß durch die Veröffentlichung des ersten Bandes Ihr Name in der amerikanischen Publizität wieder stark hervorgehoben wird, und daß Band 2 im Kielwasser des ersten läuft. Ich würde aber immer noch anregen, daß wir die Jahre 1946 – 49 kürzen.“ (Brief vom 14. Juni 1972) Im September 1972 besuchte sie Frisch im Tessin und besprach mit ihm die Einzelheiten des Vertrages. Dabei mußte sie in den sauren Apfel beißen, daß er die interessantesten Ausschnitte bereits Zeitschriften zum Vorabdruck angeboten hatte. Es wurde ihr in der Folge „ein echter Kummer daß das Buch schon vor Erscheinen so gründlich ausgekämmt worden ist“, beschwerte sie sich am 23. August 1973: „Sie schaden sich mit dieser Freigiebigkeit selbst und Sie schaden auch Ihrem Verleger.“ Eine weitere „leise – sehr leise – Irritation“ (Brief Helen Wolffs vom 23. März 1973) ergab sich aus ihrer Bitte, für den amerikanischen Leser unverständliche Andeutungen durch Fußnoten oder Einfügungen zu erklären. Der Leser, hatte sie ihm am 12. März geschrieben, dürfe nicht das Gefühl bekommen, „daß er in ein Gespräch geraten ist an dem er nicht teilhaben kann weil die Anderen von unbekannten Personen und Zusammenhängen sprechen ohne sich die Mühe zu geben ihn einzuweihen. Er kommt sich vor wie ein Depp, verschließt sich in stiller Wut, und geht früh nachhause. Dem sollte man vorbeugen“. Frisch fand, die Erwartungshaltung, jede Information vorgekaut und erklärt zu bekommen, zeuge von amerikanischer „Arroganz“, und Helen Wolff mußte, geübt in der Rolle der Vermittlerin, nun ihm die amerikanische Medienkultur erklären: „Vielleicht fragen Sie einmal unseren Freund Uwe wie das so aussieht hier – wie die N.Y. Times z.B. von Ausgabe zu Ausgabe Informationen auch über Einheimische wiederholt. Es ist ein Kreuz an dem ich schon lange trage (...) die Ungeduld des Lesers, der daran gewöhnt ist, daß man ihm alles immer wieder erklärt.“ Es sei nicht Arroganz, „sondern schlichte Unfähigkeit sich zu bemühen, herangezüchtet durch unsere Zeitungen und Zeitschriften“. (Brief vom 23. März 1973)
Im April/Mai 1974 wurde das „Sketchbook 1966-1971“, übersetzt von Geoffrey Skelton, veröffentlicht. Für Interviews und öffentliche Auftritte begab Max Frisch sich wieder nach New York, diesmal ohne Marianne. Zu diesem Zeitpunkt war er knapp 63, fast so alt wie die 68jährige Helen Wolff, und das frühere „Mißbehagen“ hatte sich zu einer handfesten Ehekrise mit der viel jüngeren Frau ausgewachsen. Helen Wolff stellte ihm eine ebenfalls junge und hübsche Verlagsmitarbeiterin zur Seite, die ihn betreuen und in ihrem Auto chauffieren sollte: Alice Carey-Locke. In „Montauk“, dem autobiographischen Experiment, das das flüchtige Liebesverhältnis mit Alice („Lynn“) zum Anlaß des Erinnerns und Erzählens und der autobiographischen Reflexion nimmt, erscheint Helen Wolff auf den letzten Seiten als „die Verehrte“, der er zum Abschied Blumen bringt und die ihm „Grüße nach Europa, Grüße an die gemeinsamen Freunde in Berlin, Uwe, Günter ...“ aufträgt.
Was die deutschsprachigen Autoren von ihrer Verlegerin wußten, war nicht viel, aber es reichte für ihre Bedürfnisse. Helen Wolffs Geschichte, verbürgt durch ein paar historische Daten, war legitimiert durch die Haltung, mit der sie ihren Mitmenschen und ihrem Beruf begegnete, durch die Aura des „Europäischen“, die Kultiviertheit ihres Auftretens und ihres Ausdrucks, die ein sicheres Urteil nicht nur in literarischen Dingen, sondern auch in allen Belangen der Lebensführung und der menschlichen Beziehungen erwarten ließen. Sie und Hannah Arendt, „die beiden grand old ladies“ (Marianne Frisch), waren für ihre Autoren Idealbilder von Emigrantinnen. Während dem Respekt vor Hannah Arendt, der Jüdin, der Intellektuellen, der politischen Theoretikerin, eine gewisse Befangenheit anhaftete, eine Distanz, die nur Uwe Johnson überwinden konnte, wirkte Helen Wolff, die unpolitische Katholikin ohne Kirche, die ihren Sohn 1934 im südfranzösischen Exil „Christian“ getauft hatte, die sich als Praktikerin und nicht als Intellektuelle begriff und ihren Beruf als Dienst an der Literatur und an den Autoren ansah, zugänglich und durfte in Anspruch genommen werden. Für die Männer Frisch, Grass, Johnson galt dies um so mehr, als Helen Wolff ihre Tätigkeit als Erbe ihres 1963 verstorbenen Ehemannes Kurt Wolff verstand und Forderungen nach Gleichberechtigung und weiblicher Selbstverwirklichung, mit denen sich Frisch und Grass in den siebziger Jahren auch privat auseinandersetzen mußten, scharf ablehnte.
[…]
SINN UND FORM 1/2012, S. 91-101
Devi, Maitraye
- 2/1982 | Liebe stirbt nicht
Di Blasi, Luca
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Di Giovanni, Norman Thomas
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Di Maio, Davide
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Dib, Mohammed
Diderot, Denis
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Dieckmann, Christoph
- 3/2016 | Der Wirklichkeitsverlag. Laudatio zur Verleihung des Kurt-Wolff-Preises an den Ch. Links Verlag
Dieckmann, Friedrich
- 1-2/1965 | Tannhäuser und der geschlossene Raum
- 3-4/1965 | »Die Tragödie des Coriolan«. Shakespeare im Brecht-Theater
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Gespräch mit Viktor Rosow
- 4/1967 | Felix Krulls Verklärung. Zum zweiten Teil der »Bekenntnisse«
- 3/1968 | Streitgespräch mit Fritz Klein. Anmerkungen zu Klaus Schröter, »Eideshelfer« Thomas Manns
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- 2/1970 | Ein Musikerleben. Wagner-Régenys Aufzeichnungen
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- 1/1978 | Sinn und Form beim Lyrikübersetzen
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- 4/1980 | Ein Brief
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- 1/1982 | Shakespeare, Büchner, Alexander Lang
- 2/1982 | Leitungsdramen oder: Vom kollektiven Helden
- 4/1982 | Ein ganz neuer Schiller. Friedrich Schiller: Sämtliche Werke in zehn Bänden, Berliner Ausgabe; Band 1, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1980
- 4/1983 | Umgang mit einem Text. Anmerkungen zu Siegfried Scheibe und Jochen Golz
- 1/1984 | Eine Antwort
- 4/1984 | Annäherungen an Urfaust
- 5/1984 | Sagerts Faust-Szenen
- 2/1985 | Vom trügerischen Dienst der Kunst. Zu zwei Texten von Stephan Hermlin
- 5/1985 | Semper und wir
- 6/1985 | Der Tag ist von der Kälte frei
- 1/1986 | Theater Auswärts. Schiller aus romantischer Sicht
- 1/1987 | Tragelehns Heimkehr
- 5/1987 | Brechts Utopia
- 3/1989 | Jahrmarkt der Avantgarde
- 6/1989 | Der Blick von der Saalezinne
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- 4/1990 | Vom Schicksal der Kollektive
- 5/1990 | Motive des weißen Zaubers
- 3/1991 | Ein Brief
- 3/1991 | Rettendes Orakel
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- 6/1991 | Leben in der güldnen Zeit
- 3/1992 | Die Frage der Mehrheit. Aspekte deutscher Nachkriegsgeschichte
- 4/1992 | Staatsräume im Innern Berlins. Ein Streifzug
- 5/1992 | Allemal. Eine Lesefrucht
- 5/1992 | An der Schwelle des dunklen Zeitalters. Robert Kurz` Botschaft vom globalen Krisenfeuer
- 2/1993 | Die vergessene Weiche. Berliner Notizen
- 3/1993 | Jünger lesen oder Die Schwierigkeit zu erben
- 3/1993 | Die thermische Differenz. Aggregatzustände der Gesellschaft
- 5/1993 | Die Akademie- Groteske in der Sommerpause. Die Kunst-Akademie der Länder Berlin und Brandenburg im Kreuzfeuer der Mißverständnisse
- 5/1994 | Die Rettung des Männerbunds. Parsifal in der zwiefachen Welt
- 6/1994 | Ein Berliner Maler in vier deutschen Staaten. Gedenkblatt für Otto Nagel
- 2/1995 | Goethe in der Zeitenwende. Timur Nameh oder Von den Schwierigkeiten politischer Dichtung in stürzender Zeit
- 5/1995 | Vom Reich, dem Lindenblatt und der Beugehaft. Unterhaltungen mit Wolfgang Harich
- 2/1996 | Der Realist als Frontkämpfer. Über Erich Loest
- 6/1996 | Leben im Widerspruch. Wege Ernst Blochs
- 3/1997 | Mondverschwistert - Im Gedenken an Stephan Hermlin
- 4/1997 | Imperative des erfüllten Augenblicks - Über Goethes Gedicht »Vermächtnis«
- 5/1997 | »Sie waren wunderbar, Herr Walser!»
- 6/1998 | Platz dem Wünschelrutengänger! Harichs Theaterbrief und die Gründung des Berliner Ensembles
- 2/1999 | Der Nagel auf dem Dach. Horst Drescher zum Siebzigsten
- 1/2000 | Die Freiheit ein Augenblick. Wo spielt « Fidelio«?
- 1/2001 | Brechts letztes Deutschlandlied
- 4/2001 | Die Frage Mephisto. Klassikbilder in der frühen DDR
- 5/2001 | Ein deutscher Dichter aus Dresden
- 1/2003 | Beerghaus meets Steinfeldt
- 3/2003 | Die Verteidigung der Insel. Der Artist und sein Asyl. Über Peter Hacks
- 4/2003 | Der Rebell aus dem Wedding. Im Blick auf Otto Nagel
- 2/2004 | »In der Tiefe, zeigt sich, ist viel Raum«. Christa Wolfs Jahrestage
- 2/2005 | Erneuerung und Erbe. Über Sinn und Chance von Iterationen
- 6/2005 | Deutscher Traum und deutsche Wirklichkeit. Schiller und der Untergang des alten Reiches
- 1/2006 | Ende eines Bauwerks
- 1/2007 | »Die Strahlen der Sonne vertreiben die Nacht«. Apokalyptische Pädagogik bei Mozart und bei Brecht
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- 2/2010 | Kunst und Revolution. Vorwort zu einem Theaterfestival
- 1/2011 | Bekenntnisse und Liebesgeschichten. Anmerkungen zu Beethoven
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- 2/2013 | Wagner und kein Ende
- 2/2014 | »Insel in sehr unterschiedlichen Meeren.« Sebastian Kleinschmidt und Sinn und Form
- 4/2014 | Ring frei! Bayreuther Tagebuch
- 6/2015 | Stunde Null im Erzgebirge. Eine Kindheitserinnerung
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- 3/2017 | Erasmus und Luther. Doppelbild einer Umbruchszeit
- 6/2017 | Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Matthias Weichelt über Literatur und Kultur in Ost und West
- 3/2019 | Fontanes Lücken, S. 1302 Leseprobe
Dieckmann, Friedrich
Fontanes Lücken
Fontane hat mich in jungen Jahren irritiert. »Schach von Wuthenow« gab den Anlaß, der Roman kam mir an zentraler Stelle mißlungen vor. Kürzlich habe ich abermals nach dem Buch gegriffen, neugierig darauf, ob sich der Eindruck von einst erneuern werde, und wirklich, wie einst an der Oberschule kam mir die Geschichte, deren Umschlagspunkt, die Peripetie, in der Achse des Buches durch eine Auslassung bezeichnet ist, realiter verfehlt und künstlerisch ausflüchtig vor. War dieses Aussparen des Delikaten, das sowohl das Unbegreifliche wie das Unaussprechliche war, ein Ausfluß jener stillen gesellschaftlichen Zensur gewesen, die die Leser der Zeitungen und Zeitschriften, auf deren Vorabdruck der Autor angewiesen war, über sein Schreiben verhängten, oder überstieg die Darstellung ebenso wie die Motivierung des Vorgangs (ein ebenso schöner wie schönheitsversessener Offizier verführt bei einer Zufallsgelegenheit die blatternarbige Tochter einer begehrenswerten Mutter) die epischen Mittel eines Autors, der, im geistreich parlierenden Dialog zu Hause, keine Sprache für einen solchen Überfall des Kreatürlichen besaß?
Am Ende mochte beides zusammenkommen, um die Lücke zu bewirken. Fontane, der Theaterkritiker, ist als Epiker ein Antidramatiker, der nach dem Plot greift, damit die Geschichte einen Kern bekommt, der diesen Plot, wenn es um seine Darstellung geht, aber der Vorstellungskraft des Lesers anheimstellt, der sich das Unerklärliche als geschehen zusammenreimen muß. Ähnlich geschieht es in »Effi Briest« und noch andernorts und ist charakteristisch für beide, den Autor und die Gesellschaft, in der er und für die er schreibt. Beide haben keine Sprache für das Kreatürlich-Elementare, das inkommensurabel Hervorbrechende, weil sie keine dafür haben dürfen; Dezenz spart den Raum des Unbeschreiblichen aus.
So könnte man denken und vergäße dabei, daß Fontane jene Leerstellen gleichsam symbolisch setzt, für die Schwäche der von ihm beschriebenen Gesellschaft und derer, die in ihren Normen befangen sind. Die Lücken, die er an charakteristischen Stellen läßt, stellen dieses Symbolhafte sicher; würde er sie beschreibend ausfüllen, wäre ihr Zeichenhaftes ästhetisch geschwächt. Diese Figuren erliegen dem Über-Ich der Konvention nicht, weil sie an diese glauben, sondern weil sie – und damit »die Gesellschaft« – übermächtig ist, auch in ihrem Innern. Sei es in »Schach von Wuthenow « die aufgeklärte Frau von Carayon, die zum König geht, um den Rittmeister zur Ehe mit ihrer Tochter zu zwingen, sei es in »Effi Briest« der aus dem Brieffund im Sekretär seiner Frau wider besseres Wissen die Duell-Notwendigkeit ableitende Ehemann oder in »Stine« der liberale Onkel, der dem die Näherin zur Ehe begehrenden Neffen die gesellschaftliche Ausstoßung ankündigt, worauf dieser, ein tapferer Offizier, sich bedacht erschießt – der Unentrinnbarkeit der gesellschaftlichen Norm unterliegen gerade die, welche sich zuvor plaudernd-geistreich ihrer Unabhängigkeit versichert hatten. Auf die Probe der Realität gestellt, erweist sich diese als haltlos. So zivil diese Fälle im einzelnen sind: Der Mann fällt darin allemal auf dem Feld der Ehre, im Duell oder von eigener Hand, die Frauen aber schwinden dahin, falls nicht, wie im phantastischen Falle des sich unmittelbar nach der erzwungenen Heirat erschießenden Rittmeisters v. Schach, dem irrationalen Schäferstündchen ein gesunder Knabe entspringt.
Die innere Widerstandslosigkeit gegenüber dem drohenden oder dem verhängten gesellschaftlichen Makel ist auch auf seiten der Frauen symbolisch gesetzt; das zeigt sich an der »realen« Effi Briest (auch hier hatte Fontane nach dem Leben, also nach einer wirklichen Geschichte gearbeitet), die, ihrer Kinder beraubt, nach der Verstoßung durch den adligen Gatten keineswegs wie ihr Gegenbild im Roman vor sich hin kümmerte, sondern eine berufstätige Existenz begründete, die der Hohlheit männlicher Normergebenheit einen emanzipatorischen Eigensinn entgegensetzte. Eben das konnte und wollte Fontane im Roman nicht gebrauchen, es hätte die Energien des Widerspruchs, die er im Leser wecken wollte, auf die Figur übertragen und damit abgeschwächt. Dieser sollte lieber mit dem Verfasser und der von ihm geschaffenen Figur hadern, als sich am schönen Beispiel – der Ausnahme statt der Regel – zu genügen. Brecht hat zwei Generationen später die Frage, warum die Courage in seinem Stück nichts lernt, mit dem Satz beantwortet: »Der Zuschauer soll lernen.«
Hier liegt das Geheimnis der Irritation, die Fontanes Gesellschaftsromane damals und auch heute noch zu erregen wissen. Das Lebensferne und Lebensfremde der gesellschaftlichen Normen, denen sich die Eliten des wilhelminischen Preußens unterwarfen, sollte in der Widerstandslosigkeit, mit der seine Figuren den Tod einem Leben außerhalb der etablierten Gesellschaft vorziehen, kenntlich werden; mit künstlerisch-immanenten Mitteln war so das Defizit bezeichnet, an dem das glorreich emporgestiegene preußisch-deutsche Reich nach nur zwei Generationen unterging; seine politische Gestalt hieß Reformunfähigkeit. Dem mitteldeutschen Rumpfpreußen, das aus seinem Untergang hervorging, sollte es unter anders hierarchischen Verhältnissen ähnlich ergehen. Doch an jede Gesellschaft, nicht nur an die hierarchisch durchdrungene, ergehen die Fragen, die Mahnungen, die Fontanes Romane an die preußische stellten. Moralvorstellungen, die sich von der Lebenswirklichkeit ablösen und, blind ihre Geltung behauptend, die sozialen Strukturen immer mehr unterhöhlen, sind keine Spezialität illiberaler Ordnungen.
Der Romanautor, der in seinem letzten Werk, dem »Stechlin«, alles Plotmäßige von sich tat und im Dialog zweier älterer Herren das Parlando der Lebenserfahrung spielen ließ, ist der eine, der spätere Fontane. Ihm geht der Flaneur voran, der das eigene Land episch durchstreifende Wandersmann mit seinem wissenden Blick für dessen Bewohner und für eine Geschichte, die ihm an immer neuen Geschichten aufgeht. In frühen und späteren Jahren: Stets ist der Lyriker und der Briefschreiber am Werk. Ein Wort, das er im Blick auf Adolph Menzel geprägt hat, daß »erst der Fleiß das Genie« mache, ist wie auf ihn selbst gemünzt.
Fontane der Lyriker – auch er will immer wieder entdeckt sein, von den englischen Balladen, in denen die dramatischen Momente, auch die erotischen, keinesfalls ausgespart sind, bis hin zu jenen Altersgedichten in Knittelversen, in denen Welt- und Selbsterkenntnis wie beiläufig das Wort nimmt. Parlando auch hier, mit spielendem Witz, wissender Melancholie, einer ausgefeilten Sprachkunst. Entdeckt sein will das Gesamtwerk, das mit den »Wanderungen« des Vierzigjährigen in das Stadium der Reife eintritt; es ist ein Ganzes in denkbar reichen Facetten. Fontane hat einem Preußen, das zwei Generationen nach dem tiefen Fall von 1806 aufs neue in die Weltgeschichte eintrat, in Vers und Prosa ein Gesicht gegeben, das fernab aller offiziellen Ruhmredigkeit lag. In seinen späteren Jahren registrierte er die Anzeichen des Niedergangs; er selbst ist der Hermundure, der sich – »Veränderungen in der Mark« heißt das Gedicht von 1890 – von Odin Urlaub erbittet, um in Berlin nach dem Rechten zu sehen, und, zurückkehrend nach seinen Eindrücken befragt, antwortet: »Gott, ist die Gegend ’runtergekommen.«
An aller Welt Enden ist sein Ruhm dabei nicht gedrungen; er schrieb »Verzeiht« über ein Gedicht, in dem er mit dem Understatement, das seine Spezialität war, den »Weitsprung« verschwor:
Der faßt es so, der anders an,
Man muß nur wollen, was man kann;
Mir würde der Weitsprung nicht gelingen,
So blieb ich denn bei den näheren Dingen.Die näheren Dinge, das sind die betreffenden, die überdauernden; so kommt es, daß dieser Zweihundertjährige, dem Heinrich Mann attestierte, daß er den modernen Roman »für Deutschland erfunden, verwirklicht [und] auch gleich vollendet« habe, trotz des Abstands der Zeiten fast wie ein Mitlebender zu uns spricht, und das nicht, weil die Straßennamen noch oder wieder die alten sind: Behrenstraße und Gendarmenmarkt, Wilhelmstraße und
Unter den Linden. Sollte auch in der Situation, die er im Alter an Preußen wahrnahm, etwas Bezügliches stecken? Deutschland hat sich nach einer Niederlage, die viel schlimmer noch als die preußische von 1806 war, aufs neue zu einer Weltgeltung erhoben, die es selbst manchmal gar nicht wahrhaben mag und durch ein besonders musterhaftes Verhalten glaubt rechtfertigen zu müssen. Das Fatale ist, daß man mit einer völlig konträren Haltung denselben Fehler machen kann wie mit der Überspanntheit, in der Fontane die Keime des preußischen Untergangs erkannte. Das Verbindende zwischen beiden ist der Mangel an Selbstbewußtsein.
SINN UND FORM 3/2019, S. 424-426
- 2/2020 | Probleme der Kairosverkennung. Anmerkungen zu Wolfgang Harich, S. 1302 Leseprobe
Dieckmann, Friedrich
Probleme der Kairosverkennung. Anmerkungen zu Wolfgang Harich
Briefe Wolfgang Harichs an Stephan Hermlin über seine Veröffentlichungsprobleme betreffs Nietzsche und Lukács sind zutage getreten (SINN UND FORM 1/2020), das ist verdienstvoll und aufschlußreich. Man liest erst sie, dann die Vorbemerkung von Andreas Heyer und versteht: Um die Exzentrik und Anachronizität dieser donnernden Episteln zu begreifen, muß man über die Zeit, in der sie geschrieben wurden, mehr wissen, als der Editor erkennen läßt. Ich will anmerken, daß ich mit Harich, ohne viel mit ihm zu tun gehabt zu haben, auf einem freundschaftlichen Fuß stand. In SINN UND FORM habe ich ihm 1995 einen langen Erinnerungstext gewidmet ("Vom Reich, dem Lindenblatt und der Beugehaft«, Heft 5/1995, später in dem Band »Der Irrtum des Verschwindens«), in dem auch seine Anti-Nietzsche- Obsession vorkommt. Drei Jahre später war in SINN UND FORM sein Engagement für die Gründung des Berliner Ensembles ins Licht zu setzen ("Platz dem Wünschelrutengänger! / Wolfgang Harich und das Projekt ›B‹), das er in der Täglichen Rundschau, der Tageszeitung der sowjetischen Besatzungsmacht, mit einer Vehemenz betrieb, die dem Vorhaben am Ende noch gefährlich wurde; sie rief gegen die schon beschlossene Theatergründung Gegenstimmen auf den Plan, zu deren Neutralisierung die Rundschau pseudonym das Wort nehmen mußte. Über Nietzsche habe ich nie mit Harich gesprochen, aber dessen tiefsitzende Aversion gegenüber den Tiraden des späten Nietzsche war auch die meine, obschon nicht seine Neigung, das Werk auf einen wie immer gearteten Index zu setzen.
In dem Aufsatz von 1995 habe ich Harichs Verhältnis zu Nietzsche als Bruderzwist gekennzeichnet: »Nietzsche, der Wortmächtige, Wortgetriebene (…) – das war das inständig verfolgte Alter ego.« Das war an dieser Stelle nicht weiter auszuführen, aber es liegt auf der Hand, und auch aus den Briefen an Hermlin tritt die Verfallenheit dieses Autors an seinen Feind hervor. Akzente der Hybris, der Exaltation sind unverkennbar; Schmähsucht verbindet sich mit dem Ruf nach dem Zensor. Gleichwohl war seine Appellation an Hermlin keineswegs erfolglos: Ende 1987 erschien in SINN UND FORM seine Attacke auf den Berliner Philosophieprofessor Pepperle unter der Überschrift »Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes?« im Umfang von 36 Druckseiten. Harichs Aktionismus ging damals so weit, daß er, eines Tages im Schaufenster der Brecht-Buchhandlung den Faksimiledruck von »Ecce homo« entdekkend (diese Luxus-Edition war die einzige Nietzsche-Veröffentlichung in der DDR), einen der dort patrouillierenden Polizisten aufforderte, das Buch zu beschlagnahmen: Es enthalte faschistische Propaganda. Nicht nur damit war sein Anti-Nietzsche-Feldzug ins Groteske umgeschlagen. Natürlich wußte er so gut wie andere, daß eine neuerliche Nietzsche-Indizierung das Interesse an diesem Autor nur erhöhen konnte, der in den besseren Antiquariaten des Landes und auch in seinen wissenschaftlichen Bibliotheken vielfach erreichbar war.
Was an dem Kommentar Andreas Heyers irritiert, ist der Mangel an Abstand gegenüber diesen Attacken und Ambitionen. Sie galten der Wiederherstellung der Zensur zu einem Zeitpunkt, als sich die Kulturinstanzen der SED gerade zu deren Überwindung aufgemacht hatten. Klaus Höpcke riskierte nicht Kopf und Kragen, aber Amt und Einfluß, als er 1985 Volker Brauns »Hinze-Kunze-Roman« genehmigte, eine große Ausstellung der Berliner Staatlichen Museen vollzog den Widerruf des Expressionismus-Verdikts, mit dem sich die Kulturpolitik jahrzehntelang lächerlich gemacht hatte, und nach einer Anmahnung durch Christoph Hein machte Höpcke 1987 als frischgewähltes und die Charta unterzeichnendes PEN-Mitglied Anstalten, das Druckgenehmigungsverfahren abzuschaffen, das wie Mehltau über dem Ganzen gelegen hatte. In diese Morgenröte einer aufkommenden Liberalität (sie war die Abendröte des Gesamtsystems) platzten Harichs Verbotsambitionen, deren Emphase durchaus etwas Tragikomisches hatte. Er witterte in dem aufkommenden Zensurverzicht offenbar die Kapitulation des Ganzen und stemmte sich dagegen, so wie er Anfang der siebziger Jahre in SINN UND FORM ("Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß / Aus Anlaß der ›Macbeth‹-Bearbeitung von Heiner Müller«, Heft 1/1973) mit einer vergleichbaren Exaltation gegen Müllers Shakespeare-Adaption vorgegangen war. Honecker hatte nach seinem Machtantritt einer neuen Kulturpolitik Raum gegeben, Hacks und Müller, die Ende 1965 durch das berüchtigte 11. ZK-Plenum von der Bühne verbannten Dramatiker, sollten wieder gespielt werden dürfen – in dieser Situation attackierte Harich Müllers in Brandenburg uraufgeführte »Macbeth"-Bearbeitung in einer Weise, die für diesen gefährlich genug war. »Furchtbare Verirrung«, »reaktionäre Ideologie«, »reaktionär im Inhalt, schlampig in der Form«, lauteten seine Epitheta; der dreißig Seiten lange Aufsatz, der in dem historisch gemeinten Satz gipfelte: »Für systemeigene Übel des Sozialismus als solchen läßt sich kein einziges Beispiel nennen«, konnte nicht anders denn als Angriff auf die Erweiterung des kulturpolitischen Spielraums gelesen werden, die Honecker 1972 verkündet hatte. Daß man in der Zeitschrift selbst Widerspruch gegen Harichs Angriff auf Müller einlegen konnte (auch ich tat es), zeugte allerdings davon, daß die SED sich von dem Polemiker nicht in eine Enge treiben lassen wollte, der man gerade zu entkommen suchte. Der Impuls hielt nicht lange vor.
Hinter all diesen Attacken zeigte sich etwas, das man Kairosverkennung nennen könnte: Unwille und Unvermögen, den historischen Moment zu begreifen. Ehrgeiz des intellektuellen Voluntarismus, sich über die Realität hinwegzusetzen – ebendies war ihm 1956 in einer Weise widerfahren, die zu einer achtjährigen Inhaftierung geführt hatte. Ich habe das 1995 in dem genannten Text beschrieben und bin vor zwei Jahren in dem SINN-UND-FORM-Gespräch mit Matthias Weichelt und Elisa Primavera-Lévy darauf zurückgekommen: Harichs von Walter Janka, dem Leiter des Aufbau-Verlags und einstigen Bataillonskommandeur im Spanienkrieg, genährte Vorstellung, vermittels eines Gesprächs mit dem sowjetischen Botschafter die Sowjetregierung dazu veranlassen zu können, Walter Ulbricht abzusetzen, um vermittels eines so beförderten Zusammengehens von SED und SPD der deutschen Einheit den Weg zu bahnen. »Ein Philosoph und ein Soldat hatten, in gespanntester Lage, darauf bestanden, Politik zu spielen, und sich und andere damit zur Beute einer rigorosen Machtpolitik gemacht.« ("Der Irrtum des Verschwindens «, S. 69) In der Haft brach Harich zusammen und machte sich die Position seiner Ankläger zu eigen; er wurde nicht in dem platten Sinn umgedreht, daß man ihn als Agenten angeworben hätte, sondern in tätiger Reue für sein als landesverräterisch qualifiziertes Unterfangen (so stellten es ihm die Ankläger dar) identifizierte er sich fortan mit denen, die ihn festgesetzt hatten, und gab alle die preis, welche im Umkreis des Aufbau-Verlags und der Zeitschrift »Sonntag« nach Chruschtschows 20. Parteitag Änderungen an der Spitze der SED angemahnt hatten.
Die exzentrische Naivität seiner Aktivitäten erhellt aus einem Blick auf die gleichzeitigen ungarischen Ereignisse, in deren Verlauf Chruschtschow selbst in wachsende Bedrängnis kam. Dem sowjetischen Botschafter (er hieß Puschkin und war kein Freund Ulbrichts) konnte Harich sein ausgearbeitetes politisches Konzept am 25. Oktober überreichen; Puschkin, ein Nachfahr des Dichters, hatte ihn nach langer Weigerung zwei Tage nach Beginn der ungarischen Erhebung empfangen, vermutlich weil er ähnliches in der DDR befürchtete. Am 7. November, drei Tage nach dem zweiten Einmarsch sowjetischer Truppen in Ungarn, wo inzwischen blutige Kämpfe tobten, empfing Ulbricht Harich, der ihm eine große Diskussionsveranstaltung in der Akademie der Wissenschaften vorschlug; in beiden Fällen ließ er sich nicht auf die Warnungen seiner Gesprächspartner ein. Erst im Gefängnis kam ihm der Aberwitz dieses Verhaltens zu Bewußtsein, mit der Folge, daß er sich nicht nur als schuldig, sondern überdies als Verführten bekannte und Ulbricht die Namen aller seiner Verführer, außer Janka Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Georg Lukács, in den Verhörprotokollen an die Hand gab.
Es gibt die merkwürdigsten Geschichten über sein Verhalten in der Haft und zu den Mitgefangenen; so wird ernsthaft berichtet, daß er der Gefängnisverwaltung bestimmte Bücher der Gefängnisbibliothek als staatsfeindliche Literatur denunziert habe. Offenbar konnte er der Belastung des Gefängnisses nur durch hybride Gesten der Läuterung psychisch standhalten. Wenn er zwanzig Jahre später in seinen Anti-Nietzsche- Attacken nicht durch Diskussionen, sondern durch Verbote die politische Gefährlichkeit eines wortmächtigen Phantasten eindämmen wollte, so konnte man auch darin die transformierte Selbstkritik eines Mannes erblicken, der 1956 durch Eingriff eines sowjetischen Reform-Sekretärs die politbürokratische Herrschaft in der DDR hatte aufheben lassen wollen – auf just die Weise, wie es 1989 in einer veränderten Welt dann tatsächlich geschah.
Ohne ein Maß an Psychologie kommt man diesem schwergeschlagenen Mann nicht bei, auch nicht seinen auf die Wiederherstellung des Lukácsschen Kanons gerichteten Ambitionen in den achtziger Jahren. Daß er bei aller verbalen Maßlosigkeit ein Mann von Witz und Verve und ausgebreiteten Kenntnissen war, verbindet ihn auf andere Weise mit seinem Intimfeind Nietzsche, der ihm sprachlich allerdings weit überlegen war. Seine Briefe an Hermlin (leider fehlten der Veröffentlichung Hermlins Antworten und die Erläuterung des Übergangs von der »Herr Hermlin!«-Attitüde des ersten Briefs zum »Lieber Stephan Hermlin!« der späteren) zeigen vor allem eins: seine innere Fixierung auf den Machtapparat der regierenden Partei.
Das Phänomen des voluntaristischen Intellektuellen hatte in Harich eine eigenartige Variante hervorgebracht; sie stand von weitem in der mit dem Namen Galilei bezeichneten Schicksalslinie. Durch das in ihm erweckte Schuldbewußtsein gegenüber dem anklägerischen Vorwurf, Partei und Staat verraten zu haben, und die darauf folgende Haft war seine innere Bindung an eine Partei undurchdringlich geworden, die – nicht nur bei ihm – dieselbe paternale und maternale Valenzen vereinigende Bindungskraft ausübte wie die Papstkirche; ebendies hatte Galilei zum Widerruf bewogen. Wie dieser arbeitete Harich fortan über Themen, bei denen keine neuerlichen Konflikte zu befürchten waren; um so bekümmerter konnte er über die Indolenz des Akademie-Verlags sein. Zugleich betrieb er seine Wiederaufnahme in den Bund, den er in einem historischen Moment nicht aufgegeben, sondern – wie Galilei mit dem heliozentrischen Weltsystem – auf eine höhere Ebene zu führen geglaubt hatte. Erst das Ende der Kaderpartei mit ihrer Fixierung auf ein geschichtsmetaphysisches Erlösungsprogramm setzte ihn in eine Freiheit, die ihm neue Spielräume, aber auch schwerwiegende Belastungen einbrachte. Walter Janka warf ihm seine denunziatorische Kooperation mit der Anklage in den Prozessen von 1957 vor, und eine Staatsanwältin aus dem Westen des vereinigten Berlin nahm den schwer Herzkranken in Beugehaft, weil er nicht bereit war, den Namen des Richters zu nennen, der ihn 1957 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt hatte. Es ist nicht anders: Über Harich zu schreiben setzt die genaue Kenntnis des politischen Umfelds voraus, in dem er sich zu DDR-Zeiten mit immer neuer Kairos- Verkennung bewegte. »1953«, schreibt Andreas Heyer, »nutzte er [Harich] mit diesem [Brecht] die Energie des Arbeiteraufstands, um die Staatliche Kunstkommission zu kritisieren.« Wie aus einem niedergeschlagenen Aufstand Energie hervorgehen kann, bleibt das Geheimnis des Autors. Wie so vielen Lesern westdeutscher Geschichtsbücher ist ihm verborgen geblieben, daß die von der neuen Moskauer Führung Ende Mai 1953 zur Zurücknahme ihres von Stalin gebilligten Klassenkampf-Kurses genötigte SED-Führung am 9. Juni einen umfassenden Neuen Kurs verkündete, der auch die Kulturpolitik umfaßte. Er blieb nach dem 17. Juni in Kraft, der – Energie des Arbeiteraufstands! – die Machtstellung des faktisch schon abgesetzten Ulbricht wiederhergestellt hatte. Es war die Berufung auf diesen Neuen Kurs, der es Brecht ermöglichte, für das Berliner Ensemble das Theater am Schiffbauerdamm zu bekommen; auch die Auflösung der Kunstkommission, die im Dauerkonflikt mit der Akademie der Künste gelegen hatte, gelang vor diesem Hintergrund.
Harich, lesen wir bei Heyer, habe mit der Ablehnung seines Antrags auf Aufnahme in die SED »die für ihn demütigendste Stufe der Isolation erreicht«; auch sei er »zum Inbegriff alles Schlechten und aller Schlechtigkeiten der DDR geworden«. Ein kurioser Superlativismus unterstellt hier Harichs Kritikern in einer Debatte, auf der dieser selbst bestanden hatte, die intellektuelle mit der moralischen Ebene zu vertauschen; ebendies war Harichs Sache gewesen. So verdienstvoll es sein mag, seine nachgelassenen Schriften – laut Heyer ein OEuvre von fünfzehntausend Druckseiten – der Öffentlichkeit partiell zugänglich zu machen: Der Herausgeber sollte die Sackgasse einer Verehrung vermeiden, die mit ihrem Gegenstand gleichsam verschmilzt. Harich selbst – man erkennt es an seinem letzten Brief an Hermlin – war in der Lage, Übertreibungen, in die er sich hineingesteigert hatte, bei kälterem Blut zurückzunehmen, um aus Isolationen, in die er sich selbst manövriert hatte, wieder herauszufinden. Nicht immer ist es ihm gelungen. »Dieser leidenschaftliche Provokateur«, schrieb ich 1995, »war von der Lust getrieben, übers Ziel hinauszuschießen; das ist ihm selbst am schlechtesten bekommen. Sie brachte den feurigen (und festgelegten) Lukácsianer zu späteren DDR-Zeiten mehr als einmal dazu, sich als die Speerspitze des kulturpolitischen Dogmatismus zu gerieren, als sei er auf die Seite derer übergegangen, die ihn einst ins Abseits der Kriminalisierung verwiesen hatten. Auf diesem wie auf andern Feldern, gegen Ulbricht wie gegen Nietzsche, war es ihm eigen, mit vollem, ungedecktem Einsatz zu kämpfen, zugleich rückhaltlos und anlehnungsbedürftig, ein Philosoph, der es unter der Veränderung der Welt nicht tat, ein Störenfried, dem man manches nachsagen konnte (und dem viele vieles nachsagten), nur eines nicht, daß er jemals langweilig gewesen sei.«
SINN UND FORM 2/2020, S. 270-274
- 5/2021 | Das zerbrochene Weinglas oder Harich, Müller, Hacks, Hermlin und die anderen. Beim Lesen in alten und neuen Sinn-und-Form-Heften
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Dieckmann, Herbert
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Dietze, Walter
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Dietzel, Ulrich
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Dietzsch, Steffen
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Dizdar, Mark
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Djiau, Yü
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Döblin, Alfred
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Doinas, Stefan Augustin
Dollerup, Cay
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Dollerup, Cay
Der dänische Hintergrund in Shakespeares »Hamlet»
Gleich hinter dem dunklen, gewundenen Tunnel, durch den der Besucher in den Hof von Schloß Kronborg in Elsinore (Helsingør) gelangt, sieht man links eine Gedenktafel in der Mauer mit einem Reliefporträt William Shakespeares (1564-1616) und der Inschrift: »Die Legende berichtet von einem Königssohn, AMLETH, der vor der Zeit der Wikinger in Jütland lebte. Im Mittelalter schrieb Saxo die Erzählung nieder. In der Renaissance griff Shakespeare Hamlets Lebensgeschichte auf und siedelte sie in diesem Schloß an. Dadurch hat er dem Dänenprinzen immerwährenden Ruhm gesichert und den Namen Elsinore in der ganzen Welt bekannt gemacht.«
Tatsächlich ist Hamlet dank Shakespeares Tragödie bis auf den heutigen Tag einer der berühmtesten Dänen der Welt. In Wahrheit wissen wir jedoch kaum mit Sicherheit, ob er überhaupt unter gewöhnlichen Sterblichen gelebt hat. Die Hamlet-Sage mag wesentlich älter sein, aber die erste bekannte Fassung, auf der Shakespeares Stück beruht, schrieb um 1200 der dänische Mönch und Schriftgelehrte Saxo Grammaticus (ca. 1150-1220). Auf Anregung Bischof Absalons, der 1167 Kopenhagen gründete, verfaßte Saxo die Geschichte der Dänen ("Gesta Danorum«), wie sie sich nach den (überwiegend mündlichen) Quellen darstellte, und eine der Erzählungen darin war die über Amlethus.
Bei Saxo lautet sie: Der neugekürte König Roricus von Dänemark besiegt die rebellischen Slawen, und zur gleichen Zeit betraut er die Brüder Horwendillus und Fengo mit der Verteidigung Jütlands. In der Hoffnung, Ruhm zu erringen, wird Horwendillus Freibeuter, und im Zweikampf tötet er den mißgünstigen König Collerus von Norwegen. Vor diesem Duell hatten sie einander feierlich gelobt, der Sieger werde dem Unterlegenen ein Heldenbegräbnis ausrichten. Drei Jahre lang bleibt Horwendillus fort. Er unternimmt zahlreiche Raubzüge, kehrt nach Dänemark zurück und macht Roricus einen Teil seiner reichen Beute zum Geschenk. Dann heiratet er Roricus‹ Tochter Gerutha, die ihm einen Sohn, Amlethus, gebiert. Neidisch auf Horwendillus‹ Erfolg, ermordet ihn sein Bruder Fengo und heiratet die Witwe. Amlethus kann die Versuche seines Onkels, ihn als Usurpator töten zu lassen, nur dadurch vereiteln, daß er Wahnsinn vortäuscht: Wenn Fengo und seine Gefolgsleute hinterhältige Fragen ersinnen und ihm Fallen stellen, antwortet er offenbar verwirrt und benimmt sich sonderbar. Nachdem Amlethus einen Freund Fengos getötet hat, der, im Stroh versteckt, ein vertrauliches Gespräch zwischen Amlethus und seiner Mutter belauschen wollte, schickt Fengo seinen Stiefsohn mit zwei Begleitern nach England, versehen mit einem Brief, in dem der englische König ersucht wird, Amlethus zu töten. Unterwegs tauscht Amlethus den Brief gegen einen anderen aus, dem zufolge die Begleiter zu töten seien und er die Tochter des Königs heiraten solle. Diese Bitten werden erfüllt, und Amlethus bleibt ein Jahr in England, wo er wiederholt seine erstaunliche Intelligenz erweist, so, als er durch bloßes In-die-Augen-Schauen feststellt, daß der König der uneheliche Sohn eines Sklaven ist, denn er habe Sklavenaugen. Zur Entschädigung für seine beiden Begleiter bekommt er Gold, das er in mehreren Hohlstäben versteckt, dann kehrt er nach Jütland zurück, gerade rechtzeitig, um seiner eigenen, von Gerutha inszenierten Beerdigung beizuwohnen. Nachdem er Fengos Gefolgsleute betrunken hat machen lassen, setzt Amlethus die Festhalle in Brand, so daß sie in den Flammen umkommen. Dann begibt er sich in Fengos Gemach, tauscht sein unbrauchbares Schwert gegen Fengos aus und bringt den Mörder seines Vaters um.
Am nächsten Tag schildert Amlethus in einer aufwieglerischen Haßtirade dem dänischen Volk Fengos Verbrechen. Er wird zum König ausgerufen und kehrt alsbald zu seinem Schwiegervater zurück. Unglücklicherweise hatten der englischen König und Fengo einander versprochen, sich gegenseitig zu rächen. Aber die Bemühungen des Königs, sein Versprechen einzulösen, scheitern, denn die schottische Königin Hermuthruda, eine Amazone, die nach dem Plan des englischen Königs Amlethus töten sollte, verliebt sich in den Dänen und heiratet ihn (Saxos Amlethus hat also zwei Gemahlinnen). Der König von England fällt später in offener Feldschlacht. Schließlich kehrt Amlethus nach Dänemark zurück, wo Roricus verstorben ist. Sein Nachfolger, Vigletus, entzweit sich mit Amlethus und tötet ihn. Vor der Entscheidungsschlacht hatte Amlethus‹ Frau ihm ewige Liebe geschworen, aber danach zeigt sie ihre völlige Treulosigkeit, indem sie Vigletus heiratet. Man sieht sofort, daß Saxos Erzählung in mehrere Teile zerfällt. Nur der erste Teil, die Geschichte von dem jungen Prinzen, der Irrsinn vortäuscht und zu Recht den Mord an seinem Vater rächt, ist für die Erörterung von Shakespeares »Hamlet« von Bedeutung.Saxos Geschichte der Dänen war in lateinischer Sprache geschrieben und nur als Manuskript im Umlauf, ehe sie 1514 in Paris gedruckt wurde. Das Buch galt bald als Standardquelle für die dänische Geschichte, und die Historiker machten ausgiebig von ihm Gebrauch. In seiner Geschichte der nordischen Länder gab der Diplomat Albert Kranz (ca. 1450-1517) die Amlethus-Erzählung in verkürzter Form wieder. Auch sein Bericht ist in Latein verfaßt; er erschien 1548. Der nächste, der den Text verwendete, war der Moralist und Schriftsteller François de Belleforest, der 1576 eine französische Fassung in seinen »Histoires tragiques« veröffentlichte.
Oft wird vermutet, die Engländer seien durch Belleforests Werk mit der dänischen Legende bekannt geworden. Jedoch ist aus der Zeit vor 1608 keine englische Übersetzung erhalten, und diese Ausgabe ist durch Shakespeares Stück beeinflußt. Der dänische Prinz tötet den Lauscher, indem er sein Schwert »durch die Tapete« stößt - was aus Shakespeares Stück stammen muß, weil es bei Saxo nicht vorkommt. Shakespeares »Hamlet« war nicht das erste englische Schauspiel, das auf der Geschichte von Hamlet fußte: Zwischen 1589 und 1594 spielte man in London ein Stück über einen Hamlet, den ein Geist zur Rache drängt. Man nimmt an, daß Thomas Kyd es verfaßt hat, der Autor eines populären Rachedramas, »The Spanish Tragedy«. Aber sein Stück ist nicht erhalten geblieben, deshalb wissen wir nicht, ob es sich auf die französische Version von Amleth oder auf die lateinische von Amlethus stützte. Nach sorgfältiger Prüfung der Belege erscheint es plausibler, daß sich die englischen Stücke (einschließlich Shakespeares) eher von Saxo als von Belleforest herleiten.
Shakespeare schrieb seine »Tragicall Historie of Hamlet, Prince of Denmark« vermutlich um 1601. Sie erschien 1603 in einer verhunzten Fassung (Q1= der Schlechte Quartband). 1605 kam es in einer neuen Ausgabe heraus, »Newly imprinted and enlarged to almost as much againe as it was, according to the true and perfect Coppie« (neu gedruckt und gemäß der echten und vollständigen Vorlage zu fast doppeltem Umfang erweitert) (Q2 = der Gute Quartband), und der Wortlaut läßt vermuten, daß Shakespeare an der Beschaffung des Manuskripts beteiligt war. Die letzte von der Forschung berücksichtigte Ausgabe findet sich in der Folio-Ausgabe (1623), die Shakespeares Kollegen nach seinem Tod veröffentlichten. Zwischen dem Guten Quartband und der Folio-Ausgabe gibt es etliche Unterschiede, die Gegenstand gelehrter Debatten sind. Für die Erörterung der Beziehung zwischen Kronborg und Dänemark oder der Rezeption dänischer Eigenarten in Shakespeares »Hamlet« sind sie jedoch unwesentlich.
[...]
Aus dem Englischen von Ana Maria und Hans Brock
SINN UND FORM 4/2008, S. 501-503
Dolmatowskij, Ewgenij
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Domašcyna, Róža
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- 4/2021 | Geh dem Gesang nach. Gedichte
Dombrowska, Maria
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Domin, Hilde
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- 4/1999 | Gedichte
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Donath, Joachim
- 6/1957 | Hier und jetzt
Donelaitis, Kristijonas
Donne, John
- 1/1992 | Gedichte. Nachdichtungen von Rolf Schilling
- 5/2009 | Elegien. Nachdichtungen von Michael Mertes
- 6/2011 | Liebesgedichte. Übertragen von Michael Mertes
Donoghue, Denis
Doppagne, Brigitte
- 6/2010 | Romania I-III
Dorfman, Ariel
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Döring, Bianca
Dorn, Anne
- 6/2010 | Verlust, S. 853 Leseprobe
Dorn, Anne
Verlust
bewahren, schützen, retten
(Köln, März 2009)
Rasch die Zettel, den Stift vom Tisch, die Tischdecke aufraffen, das Kissen vom Stuhl unter den Arm klemmen, losrennen – es donnert, die ersten, dicken Tropfen fallen –, aufatmen. Im Trocknen stehen. Zuschauen, wie der Wind den Regen herunterpeitscht, wie der nächste Blitz ganz in der Nähe herunterzuckt. Der Genuß des kleinen Glücks: Alles gerade noch so geschafft!
In Gewißheit leben: Von der Reise zurückkommen, mit dem frisch geputzten Blick bemerken, daß die Dinge gewartet haben, daß sie da sind: Am Garderobenhaken der andere Mantel, an der Wand die gerahmte Kopie des Kornfelds, in dem sich der Weg verliert, und dem Krähenschwarm im schwarzblauen Himmel des Vincent van Gogh. In meinem Arbeitszimmer die Uhr, die mir – wie immer – eine kleine Zeitlang noch nachgelaufen ist – und dann stehengeblieben. Leben braucht Orte, die man verlassen und an die man zurückkehren kann, anknüpfen an genau da gehabte Hoffnungen und Erwartungen, um in der regelmäßig den Wünschen widersprechenden Wirklichkeit Sicherheit zu finden. Die Treue der Dinge erleben: Da ist das Bett und da ist der Stuhl mit der steifen Lehne, der Brottopf, der Briefkastenschlüssel.
Das Notizbuch durchblättern, sich Zeit nehmen, die Notizen wieder zu ihrem Anlaß zurückführen, nicht vergessen, sich einzugestehen, wie luxuriös man lebt – mit dem Entschluß, eigenen Gedanken nachzugehen:
knüpfen, verknüpfen,
immer mehr hören,
sehen, verstehen,
die Merkwürdigkeiten sammeln.
Viel Schnur, wenige Perlen.
Rankendes, wucherndes
Grün. Fußangeln.
Wattige Weiten.
Fundevogel
flog auf,
flog, flog, flog –
ließ Lenchen zurück!
Es ist ein lebendes, sich entwickelndes, wachsendes, zeitweilig auch ruhendes, vieldeutiges Etwas, was sich im Laufe eines Schriftstellerdaseins auf dem Papier niederläßt. Nicht unmittelbar zu bewerten und auch nicht ruhigzustellen. Sozusagen das Körperhafte der Gedanken, was, wie alles unberechenbar Lebendige, eine Umgrenzung braucht. Der eine Gedankenkomplex summiert sich zum Roman, der andere zur Novelle, zum Hörspiel, zum Drehbuch, zum Feature, zum Gedicht, zur Dokumentation, zum Bericht, zu einer Reihe von Briefen.
Abgenabelt ist, was auf der Straße steht, in der Öffentlichkeit. Stets als verschlanktes Kind. Für den, der es auf die Straße geschickt hat, bleibt es mit all den Möglichkeiten behaftet, die auch darin gesteckt haben und für ihn auch weiterhin darin stecken, um – vielleicht – neu gerundet und wieder verschlankt vor die Tür zu treten. Leben in der freiwilligen Knechtschaft eigener Ideen erfordert einen Berg Humus: Zettel und Kladden mit Notizen, Skizzen, Entwürfen, Anfängen; Schachteln, Mappen und Schubladen für Fotografien, Briefe, Landkarten und Kalender; Boxen und Stapelregale für CDs, DVDs, Kassetten, Disketten, Sticks und was da alles noch kommen wird. Auch von mir fordern die Verlage, das abgeschlossene, lektorierte Manuskript zu mailen. Aber niemand wird mich dazu bringen, einen Roman, an dem ich sieben Jahre lang gearbeitet habe und dessen Struktur ich nur in immer neuen Ansätzen finden konnte, allein auf dem Bildschirm auf- und abflitzen zu lassen. Was ist das für ein »haben« gegenüber fünfhundert Blatt beschriebenen Papiers, das einen bestimmten Griff hat, seinen Geruch und seine Farbe, und auf das ich noch immer mit meinem Bleistift Bemerkungen machen kann.
Nach meiner Erfahrung setzt sich das, was ich erarbeite, zu einem Drittel unmittelbar um, ein weiteres Drittel vielleicht nach Jahren, das dritte Drittel vermutlich nie. Ich werde in absehbarer Zeit von der Erde verschwinden, meine literarische Hinterlassenschaft jedoch nicht zwangsläufig im gleichen Augenblick. Ich hatte und habe einen geräumigen Manuskripteschrank, aber im Sommer 1999, mitten in der Arbeit an einem auf vielen Recherchen und Reisen basierenden Roman, standen gefüllte Kisten und Kartons schon kreuz und quer in der Wohnung.
Es war Hans Bender, der die Leitung der Abteilung III (Nachlässe und Sammlungen) des Historischen Archivs der Stadt Köln auf das, was in meinen Schränken lag, aufmerksam machte. Er hatte selbst einen wesentlichen Teil seines Vorlasses in dieses Archiv gegeben. Die Möglichkeit, das, was ich hatte, an einen sicheren Ort zu tragen, war verlockend. Sicher ist etwas dort, wo es Achtung erfährt. Wo die dank meiner Existenz existierende Literatur in ihren unterschiedlichen Formen geordnet, aufbewahrt und vor allem zugänglich gehalten werden konnte. Im Jahre 1999 lebte ich bereits seit vier Jahrzehnten mit, für und – schlecht und recht – auch von Literatur. Ab und zu hatte mich die Furcht gepackt, es könnte in meiner Wohnung ein Brand ausbrechen, ich könnte gerade dann nicht zuhause sein, die Feuerwehr könnte im Unwissen, was da im Schrank liegt, alles mit Löschschaum bedecken und den meist nur auf dünnem Papier vorhandenen, unveröffentlichten Manuskripten wie den unterschiedlichen Fassungen der veröffentlichten Arbeiten den Garaus machen. Oder noch anders: Es könnte mir überraschend etwas geschehen, ich könnte plötzlich nicht mehr da sein – im Jahr 1999 war ich immerhin vierundsiebzig Jahre alt und hatte drei Herzinfarkte hinter mir –, daß dann, wenn es so wäre, meine Kinder nicht wüßten, wohin mit dem ›Zeug'. Es war ja und ist für alle dem eigenwilligen, selten bequemen Autor / und für alle der eigenwilligen, selten bequemen Autorin nahen Menschen schwierig, die althergebrachte Rolle des / der Schreibenden – Vater / Mutter – oder auch Sohn / Tochter – hintanzustellen und deren Produkte unangetastet bestehen zu lassen. Die vielen Geschichten von geschwärzten Seiten in Tagebüchern und ›unauffindbar‹ gewordenen Manuskripten ...
Das waren natürlich dumme Gedanken. Immerhin, sie hatten mich zeitweilig gequält. Plötzlich war eine Lösung in Sicht. Das Historische Archiv der Stadt, in der ich seit 1969 lebte. 1925 in der Nähe von Dresden geboren, also ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, war der Stoff, aus dem ich etwas bilden und gestalten konnte, von Anfang an mit dramatischem Geschehen durchmischt. Ein Jahrhundert der perfektionierten Gewalt. Der Scherben.
Wenn ein Kind anfängt, die Welt zu »begreifen«, und das mit seinen Händen versucht, hat es den Drang, zu erfahren, was in dem Ding drin ist, und zerbricht es. Das »Dritte Reich« zerbrach, als ich neunzehn Jahre alt und getrennt von meiner Familie einen Pflichtjahrdienst in Österreich zu leisten hatte. Ich sah die befreiten Insassen des KZ Bad Aussee und die an den Ästen des großen Ahorns zwischen Gschwand und Lueg in letzter Minute aufgeknüpften ›Volksverräter'. In einem Historischen Archiv konnten also meine zahlreichen Literatur gewordenen Eindrücke nicht falsch aufgehoben sein.
Die grauen, aus säurefreiem Material gefertigten Kartons wurden gebracht und verließen gefüllt meine Wohnung. Auch mein alter Überseekoffer, vollgepackt mit den unterschiedlichen Fassungen meines Romans »hüben und drüben«, die in neun Jahren Wartezeit entstanden waren, gefiel den Archivaren. Es war der endgültige Abschluß einer Familiengeschichte im geteilten Deutschland. 1982 hatte ich mit der Suche nach einem Verlag begonnen. Anfang der achtziger Jahre galt jedoch in Westdeutschland, wenn das deutsch-deutsche Thema in Erwägung gezogen wurde, der Blickwinkel der aus der DDR ausgebürgerten Autoren. Ich hatte keinen besseren und keinen schlechteren, nur einen anderen. Da ich kein Republikflüchtling war, weil ich Sachsen im Jahr 1944, als an eine Deutsche Demokratische Republik kein Denken war, verlassen hatte, konnte ich – unter strikter Beachtung der Besuchsregeln – in die alte Heimat und auch wieder in den Westen zurückreisen. Und konnte das nicht nur, ich habe das – sobald mein Geld dafür reichte – auch getan! Auf beiden Seiten war meine Sicht der Dinge nicht opportun. Die Mauer mußte erst fallen. Sofort, 1990, erschien »hüben und drüben« als Fortsetzungsroman in der Dresdener Tageszeitung Die Union und 1991 mit einem Vorwort von Lew Kopelew im aus dem Bürgerforum entstandenen Forum Verlag Leipzig. Als besagter Überseekoffer meine Wohnung Richtung Historisches Archiv verließ, bekamen meine Schuldgefühle gegenüber meinen längst verstorbenen Eltern, da ich mich für den Westen entschieden hatte, und meine innere Zerrissenheit, die sich in vierzig Jahren immer weiter vertieft hatte, weil ich thematisch weder von den im Osten empfangenen Eindrücken noch von meiner im Westen entwickelten Authentizität loslassen konnte, ein heilendes Pflaster.Es entstand eine Art Pendelverkehr zwischen den Archivaren der Abteilung III im Historischen Archiv und mir, der mir sehr wohltat. Wahrscheinlich, weil die Nutzanwendung meiner Güter, also die Abwägung »bringt das, was sie hat, etwas oder bringt es nichts«, die im Gespräch mit Verlagen stets im Vordergrund stand, im Archiv hintangestellt war. Die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der man mir entgegenkam, wenn ich ein Gespräch suchte, und umgekehrt, wenn man mich nach etwas fragte, wovon man dachte, ich könnte davon wissen, erlöste mich von der Unsicherheit gegenüber Offiziellen, auch den offiziell im Rheinischen und überhaupt im Westen anerkannten Künstlern. So hatte ich im Jahr 1997 begonnen, mich noch entschiedener nach Osten zu wenden und den Spuren eines verschwundenen Bruders nachzugehen. Mein Vorhaben trug den Titel »Antigone«. Es gab einen guten Arbeitskontakt zum Lektorat im neu entstandenen DuMont Literaturverlag. 1999 hatte sich der Inhalt schon von einer linearen Bruder-Schwester-Beziehung gelöst und war zum Thema, zur Suche an sich geworden. Suche nach dem, was verlorenging, aber auch nach dem, was sehnlichst erwünscht war! »Siehdichum«, so der neue Titel. Zum ersten Mal hatte ich den Mut, erschütterndes, authentisches Material sichtbar in meine Arbeit einzubauen, ohne damit den eigenen Ton meines Erzählens, den man mir inzwischen nachsagte, aufs Spiel zu setzen. Zwischen mir als Produzentin und den verschiedenen Archiven als Materialdepots (z.B. Bundesarchiv Koblenz) mit Archivaren, deren Beruf es unter anderem war, entsprechende Wünsche zu erfüllen, entstand das in jeder menschlichen Beziehung sinnvolle Geben und Nehmen.
2003 gab es in Köln beunruhigende Nachrichten: Aufgrund der Notwendigkeit für die Stadt, Mittel einzusparen, geriet die Abteilung III Nachlässe und Sammlungen des Historischen Archivs als Top I auf die Liste der möglichen Streichungen. Nein – das konnte nicht sein. Es gab und gibt – nicht nur in Köln – für Schreibende so wenig Rückhalt, so wenige Orte, wo sie das nicht gerade jetzt im Augenblick Nutzbare und das schon Genutzte, aber in keiner Weise Abgenutzte aufbewahrt und zugleich zugänglich gehalten wissen konnten. Für die Stadtverwaltung lag die Streichung von Punkt I der Liste nahe. Die Archivalien aus der Abteilung III hatten innerhalb der einzelnen Fraktionen nur eine an den Fachbereich gebundene und in der Bevölkerung selbst gar keine Lobby. Die Nutzer des Reichtums in der Severinstraße 222 waren in der Regel Historiker, Wissenschaftler, Studenten oder interessierte Menschen von überall her, nicht nur aus den deutschsprachigen Ländern. Um die kommentarlose Schließung unserer Abteilung III abzuwenden, mußten sich die Betroffenen, deren Schätze stillgelegt werden sollten, selber rühren.
Das Dankschreiben des damaligen Direktors, Herrn Doktor Kleinertz, und der gesamten Abteilung III habe ich mir an die Wand gehängt, auch, um nicht zu vergessen, daß eine lange Epoche der fraglos zugestandenen Schutzbedürftigkeit und Pflege von Originalen zu Ende geht. Mit dem Einzug der Elektronik auch in Kunst und Wissenschaft kann eine nahezu unbegrenzte Menge von Daten auf kleinstem Raum aufbewahrt und abrufbar gehalten werden. Da im Zuge der Globalisierung für die Masse des als bewahrenswert angesehenen Kulturguts, von den verschiedenen Medien fortwährend aufgezählt, eine Geschwindrettung angesagt scheint, gilt auch im Umgang mit Unikaten mehr die Organisation von Mengen als die Wahrnehmung von Inhalten. Ich sehe und spüre diese Umwandlung, meine mühsam erworbene, innere Sicherheit beruht jedoch auf einem anderen Verhalten.
Anläßlich der Matinee zu meinem 80. Geburtstag am 27. November 2005 im Literaturhaus der Stadt Köln bestückte ich auf Anregung und unter Mithilfe von Doktor Everhard Illner aus dem Historischen Archiv die vier Vitrinen im Veranstaltungsraum mit Zeugnissen meines literarischen Werdeganges. Darunter befanden sich kurze Texte, noch in der Zeit meiner abendlichen Unterrichtsstunden in der Kunstgewerbeakademie in der Günzstraße in Dresden in gotischer oder Frakturschrift aufs Papier gebannt; Entwürfe aus meiner Zeit als Kostümbildnerin; und ein Portrait, das die Starfotografin Lieselotte Strelow anläßlich meiner ersten Veröffentlichung aus lauter Freude, daß ich mich auf den Weg gemacht hatte, aufgenommen hat. Weiter wählten wir einen in sehr originellem Deutsch verfaßten Brief von Luc Ferrari, das multi-media-projekt »dorf« für die 6-Städte-Ausstellung »urbs 71« betreffend, in das wir beide verwickelt waren. Der Kölner Objektebauer Hingstmartin, Luc Ferrari als Komponist, Anne Dorn als Autorin, ausgewählt von Doktor Kurt Hackenberg, vertraten mit diesem »dorf« die Stadt Köln, in der Vitrine lag auch die Dokumentation dieses Ereignisses, von Karin Thomas in dem aussagekräftigen Band »Kunst Praxis heute« Anfang der siebziger Jahre bei DuMont veröffentlicht. Ja, und da lag dann auch meine alte Super-8-Filmausrüstung im Glaskasten, die Kamera, der kleine Gucki, die Klebepresse, die antimagnetische Schere – mitsamt dem Zahlungsbefehl der Firma Foto-Stein, weil ich das Gerät zur Herstellung eines ersten Streifens von 27 Minuten Dauer (der mir den Weg zum wirklichen Filmemachen geöffnet hat) im Jahr 1971 nicht ordnungsgemäß abstottern konnte. Was noch: Handgeschriebene wie maschinengetippte Absagen und Ermutigungen von Rundfunkanstalten wie Verlagen, von Leuten mit Namen und von Freunden, die zur Zeit ihres Schreibens noch keinen hatten – aber ihren bekommen sollten, wie Wilhelm Genazino. Aufgeschlagen auch ein Exemplar meiner himmelblauen Novelle »Damals, als die Sonne schien«, genau so, daß neben einer Textseite eine von Jana Grzimeks genialen Bebilderungen des inhaltlichen Vorganges zu bestaunen war. Als wir das Material ausgesucht und in die besagten Kartons gepackt hatten, sagte der im Lesesaal Aufsicht führende Archivmitarbeiter: »Was sind das für schöne Sachen!«
Was mir bei späteren Besuchen im Archiv auffiel: Die Benutzer im Lesesaal hatten meist Pergamente vor sich liegen. Oder in Kanzleischrift beschriebene Bögen, Bücher mit ledernen Rücken und Ecken und dem phantasievoll gemusterten Vorsatzpapier. Das gefiel mir, andererseits war, was ich sah, auch bedenklich, denn es bezeugte die nach außen gelangte Wertschätzung des Historischen Archivs der Stadt Köln eben als Historisches Archiv, in dem die literarischen Archivalien, abgesehen von denen des Ur-Kölners und Nobelpreisträgers Heinrich Böll und des in Köln geborenen und weithin geschätzten Literaten und Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, einen stillen Platz hatten.Was mir im Lesesaal noch auffiel: Es gab offensichtlich keinen willentlich betriebenen und geförderten Austausch zwischen der Kölner Universität und dem Historischen Archiv. Obwohl die zwei wichtigsten Arbeiten des Albertus Magnus, des Gründers der Kölner Universität, im Historischen Archiv zu finden waren.
Im vergangenen Januar durchsuchte ich im Lesesaal bestimmte Manuskriptvarianten meiner Romane »hüben und drüben« und »Siehdichum« nach zwei in sich geschlossenen, aber nicht veröffentlichten Textteilen. Ich arbeite zur Zeit an einem weiteren Prosaband, und manchmal bin ich mir sicher, daß ich ein bestimmtes Thema schon einmal vor die Seele gezogen und passende Worte dafür gefunden habe. Ich saß also im Lesesaal, in dem mehrere Menschen still arbeiteten, neben mir aufgetürmt die Kartons, um die ich gebeten hatte, fühlte mich wohl und fand, was ich gesucht hatte. Besprach, welches meiner Filmdrehbücher ich demnächst noch einmal haben wollte, und fragte auch nach dem Senkelband meines Hörfunkfeatures »daß die armen Leute nicht arm sind, weil sie dumm wären / alternatives Leben in New York«, weil ich mir das irre Geräusch Tausender trappelnder Füße nachmittags gegen siebzehn Uhr auf dem blanken Boden im Ausgangsbereich des World-Trade-Centers, aufgenommen mit einem Nagra-Gerät im Mai 1978, noch einmal kopieren wollte.
Am Dienstag, dem 3. März 2009, war ich bis ungefähr 14.30 Uhr vor der Tür, um Briefe in den Kasten zu stecken und ein Medikament aus der Apotheke abzuholen. In kurzen Abständen rasten Polizeiwagen mit Blaulicht über die Neusser Straße stadteinwärts. Auch Feuerwehr und Notarztwagen mit tatütata in gleicher Richtung unterwegs. Wieder in meiner Wohnung kochte ich mir Tee, setzte mich hinter den Küchentisch auf die Eckbank, verrührte einen halben Teelöffel Honig in der Tasse, den Blick auf die erste Seite der Tageszeitung gerichtet, die ich meist erst nachmittags und manchmal überhaupt nicht lese. Und dann der Druck meines Zeigefingers der linken Hand auf den Startknopf des kleinen Radios mit Standardeinstellung WDR III.
»Nachrichten. Es ist fünfzehn Uhr. Soeben ist das Historische Archiv der Stadt Köln in sich zusammengestürzt.«Eingestürzt. In sich zusammengefallen. Das Historische Archiv. Das Gebäude weggesackt, vornübergefallen. Eine riesige Staubwolke. Es war unmöglich. Ich stand sofort auf und ging, auf meinen Rollator gestützt, hin und her. Und es war mir wie bei einem Spiel, einem albernen Kinderspiel, wo man sich anfaßt und einer gegenüberstehenden Reihe ebenso sich an den Händen fassender Kinder entgegenschreitet und singt: »Morgen wolln wir heiraten, juhuhuuuu!«, und dann wieder zurückgeht und wiederholt: »Morgen wolln wir heiraten – ixe, axe, uuuuhh!« Jetzt sind die anderen dran, kommen und singen: »Wen wollt ihr heiraten – juhuhuuuu?« So richtig verlieren konnte bei diesem Spiel niemand, es war einfach nur ein spielerisches Kräftemessen und Protzen. Das Historische Archiv war in sich zusammengefallen. Man hatte das gerade in den Nachrichten gesagt. Der Karneval war vorüber. Es war der 3. März, nicht der 1. April. Ich stellte mich an das große Erkerfenster zur Straße hin, es war heller Nachmittag, die Leute liefen ruhig. Es rauschte in meinen beiden Ohren, und da war wieder der Druck auf meiner Brust, das Elefantenbein, das mir die Luft abdrückte. Das Gefühl, nicht mehr wirklich dabeizusein.
Wohin oder wovon weg hatten mich die 15- Uhr-Nachrichten im WDR III katapultiert? Ich rief meine Tochter Anna an. Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit überlegt, daß sie die Bevollmächtigte unter meinen Kindern für meinen Nachlaß sein sollte. Ich sagte ihr, was ich gehört hatte, und sie meinte »das kann nicht sein«. Alles war bizarr: Das kurze Gespräch mit meiner Tochter und meine körperlichen Gefühle – es war eine Art Oberflächenwirklichkeit, in der ich mich befand. Das Archiv – eine Staubwolke, die Feuerwehr, die Polizei, höchstwahrscheinlich verschüttete Menschen. Der Adrenalinausstoß, weil – es ist das Historische Archiv! Gänsehaut. Und unter der Haut bleierne Stille und Schwere, wie ein Senkblei die gefühlte Gewißheit: Das ist für mich. Da ist etwas mit mir passiert und passiert gerade jetzt. So, als wäre ich versteckt gewesen und gerade entdeckt worden – man hätte mich erwischt und das hätte ich nun davon! Ich rief bei Hans Bender an und hatte seinen Lebenskameraden am Apparat. Auch er sagte: »Nein!« Am Abend sah ich auf dem Fernsehbildschirm dieses Loch in der Häuserreihe, nicht ganz präzise gezielt, weil links und rechts noch in die Nachbarschaft gegriffen, aber einwandfrei dieses große Gebäude aus dem Zusammenhang gerissen und sozusagen verworfen. Und ich konnte noch immer nichts, als blöde lächeln.
Die stündliche, anfangs halbstündliche Nachrichtenverbreitung im Radio und im Fernsehen lenkte mich nicht hin, sondern ab, erst neun, dann drei, dann zwei Menschen gesucht, einen Bäckerlehrling und einen Studenten. Zwei Gesichter. So junge Menschen! Daran hielt ich mich fest, nein, ich hielt mich bei den beiden auf! Ich habe sieben Enkelkinder, und da waren zwei »wie meine Enkel« ganz tief unter Schutt begraben. Unvorstellbar, aber, eben, Wirklichkeit, die ich gedanklich noch mitvollzog.
Ich hatte Schüttelfrost. Die Anwohner der Nachbarhäuser des Historischen Archivs unter Schock, ihr Hab und Gut war verloren. Ich kannte das aus meiner Jugend, diese schamlos zur Schau gestellten Innenseiten von Wohnungen: Ein Stuhl an der Wand, von der ein Fetzen Tapete herunterhängt. Oder in einer Wand auf Höhe einer zweiten oder dritten Etage eine geschlossene, vielleicht auch verschlossene Tür, die niemals wer wieder aufschließen würde. Es konnte einen so treffen, jeden konnte es so treffen, jeder war sich dessen fortwährend bewußt, und jeder konnte Glück gehabt haben und im Keller oder anderswo gewesen sein – immerhin konnte er dann noch sehen, daß sein Hab und Gut verschwunden war, und sein Leben fühlen. Und darüber glücklich sein! Im Krieg.
Aber der Krieg war am 3. März 2009 hier, in meinem Lebensbereich, nicht ausgebrochen. Dieser Schutthaufen war etwas Unglaubhaftes, Unglaubliches, das mit mir und mit dem ich etwas zu tun hatte. Ich mußte mich schütteln, als stünde ich ohne Mantel an einer windigen Kreuzung, und das Frösteln war sehr real. Ich rannte in Gedanken in den Lesesaal und sah nach, ob meine Mitarbeiter des Archivs, deren Stimmen ich genau im Ohr hatte, weg waren, draußen, wie im Radio gesagt wurde, da nämlich Bauarbeiter gerufen und gebrüllt hatten und alle Menschen aus dem wankenden Gebäude auf die Straße gelangt waren! Aber da war ja der Bauzaun gewesen, die Taxifahrer hatten mich, wenn ich ins Archiv wollte, immer gefragt, wo sie denn halten sollten, am besten am Ende des umzäunten Geländes, Richtung Überführung der Zufahrt Severinsbrücke. Der Eingang zum Archiv war seit langem irgendwie verbaut, obwohl man außer den Absperrungen und großen Maschinen nicht gesehen hatte, wieso eigentlich. Von oben her sah man keinen Fortgang der Bauarbeiten.
verlieren, vermissen, betrauern
Es half mir nicht, daß ich mir das alles ausmalte und wie ein ordnender Geist oder ein Kind, was alles lenken will, mit meinen Gedanken in der Severinstraße war. Ich hatte das Archiv im Kopf, so wie es war – und eben nun nicht mehr war. Am ersten Abend habe ich nicht weiter telefoniert. Im Archiv konnte ich niemanden anrufen, und inzwischen wäre da normalerweise auch Feierabend gewesen. Ich war bei allem Hinstarren auf den riesigen Haufen zerbröselten Zements und die riesige Lücke in der Häuserreihe, was immer wieder auf dem Bildschirm erschien, ruhig. Wie ein kleiner, schlauer Zwerg hatte sich der Gedanke »Ich habe ja mein Findbuch!« in meine Fassungslosigkeit eingeschlichen. HAStK – Best. 1621 Dorn, Anne ca.1967–2007 Bearbeiter Bergmann-Franke. Ich holte das grau gebundene DIN-A4-Heft, 52 Seiten stark, darin aufgelistet die Bestellnummern A 1 bis A 142 und sollte es ja auch durchsehen, ergänzen oder korrigieren – oder nun nicht?
In den nächsten Tagen besetzten die in der Zeitung veröffentlichten Fotos der zwei vermißten, jungen Männer meine Vorstellungskraft. Die Möglichkeit, diese jungen Menschen lebend zu bergen, schwand von Stunde zu Stunde. Sie waren nicht meinetwegen ums Leben gekommen, aber sie standen mir durch ihren Tod im Zusammenhang mit dem Einsturz des Archivs auf gewisse Weise nahe. Wenn der Tod ins Haus tritt, fallen die gewohnten Regeln. Jeder ist konfrontiert mit der Gewißheit, daß er selbst auch sterben muß. Es ist ein nur kurze Zeit anhaltender Zustand des Außer-sich-Seins, den ich in meinem Roman »hüben und drüben« genutzt habe, um meinen literarischen Figuren, die Mitte der achtziger Jahre von hüben und drüben anläßlich des Begräbnisses eines alten Mannes in der Nähe von Dresden aufeinandertreffen, ungewöhnliches Verhalten zu ermöglichen. Ihre bei weniger außerordentlichen Begegnungen zurückgehaltenen Gedanken und Gefühle einmal auszusprechen und zu zeigen. Niemand unter ihnen hat diese Verhaltensänderung gewünscht oder erwartet – aber es geschieht so, sie verhalten sich anders und jeder weiß, daß es richtig oder sogar richtiger ist, was sie sich jetzt sagen – den Atem dafür hat ihnen der Tote mit seinem Verschwinden gegeben.
Der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln hatte mich in diesen Zustand des Außer-sich-Seins versetzt, ich hatte einen Schock. Ich mußte akzeptieren, daß ich völlig unvorbereitet wen und was verloren hatte. Wenn meine Kinder fragten: »Was denn alles?«, konnte ich erst nur »… ach ja …« sagen und wild durcheinander irgend etwas benennen, zum Beispiel diesen Brief meiner Mutter, aus dem ich ein Theaterstück machen wollte und eigentlich auch gemacht habe, aber erst mal Pause eingelegt und anderes weitergebracht, damals. Dann hatte ich, weil mich dieser Brief meiner Mutter quälte und dann ärgerte und sogar empörte, als Antwort ein Gedicht geschrieben, es verändert, gekürzt, ergänzt, in den entsprechenden Karton gegeben. In dem immer auch an das zuletzt ausgedruckte Blatt Papier die vorherigen Zettel mit einer Büroklammer angeheftet sind, und manchmal umsortiert werden – nein, wurden! –, weil doch die zweite Fassung eigentlich undsoweiter …
Meine Filmdrehbücher! Man macht drei Vorschläge, einer wird akzeptiert. Aber die anderen zählen, für mich sind sie ebenso und vielleicht … Dann die ganzen Auseinandersetzungen mit den Darstellern, die schriftlichen Anfragen des Produktionsleiters, warum gerade den oder die, und das Verteidigen des Standpunkts mit schriftlicher Zusammenfassung des Inhaltes überhaupt, um wenigstens etwas davon zu retten. Unter dem Habhaften zu meinem Film »Begegnungen – elf angebrochene Geschichten« befand-befindet? sich auch eine Postkarte aus Dänemark, die Antwort von Hannelore auf meine Anfrage, ob sie, Hannelore Hoger, mit mir arbeiten wolle, auf der zu lesen steht: »Mit Ihnen immer!« Und das Immer war wunderbar gewachsen und gibt es noch, und das wissen meine Kinder auch. Aber wie soll ich ihnen begreiflich machen, daß sich die Figuren aus den unveröffentlichten Manuskripten bei mir melden, mit dem Anspruch, nicht weggeworfen zu sein, ihre Schicksale so fein und auch hinterhältig mit meinem verwoben, und also Entscheidung von mir verlangend, bohren sie: »Hast du die Mappe mit ›Strand‹ und die mit ›Momente‹ tatsächlich weggegeben, wolltest du nicht – oder willst nun ausgerechnet jetzt?«
Am schlimmsten ist der Verlust von den mit Absicht zurückgehaltenen Manuskripten. In die Obhut des Archivs gegeben, weil damit so viel aufgedeckt war: Der Haß. Die Wut. Die erbärmliche, niemals kleinzukriegende, wilde Sehnsucht nach Liebe. Ins Archiv gegeben als Anfang für irgendwann. Weil damit an eine weitere Tür geklopft war, hinter die ich schauen wollte und immer noch schauen will. Ohne Neugier hört alles auf. Ich sage meinen Kindern und Enkeln: »Mein Humus ist weg.« Sie sagen: »Es kann ja noch was gefunden werden.«
Was ich höre, sind Stimmen aus der Erde. Stimmen Verstorbener aus Briefen, die im Krater in der Severinstraße liegen und die ich mir mit den dereinst leibhaftig geführten Gesprächen ergänze. Die lange währende, freundschaftlich ausgetragene Verschiedenheit in der Auffassung vom real existierenden Sozialismus im Osten und dem von Helder Camara gelebten Sozialismus in Südamerika. Ich hätte so gern den Zettel wieder, den Dorothee Sölle mir in ihrem New Yorker Apartment hinterlassen hatte und auf dem zu lesen war: »Liebe Anne, ich gebe Dir gern mein Apartment. Ich gebe Dir auch gern meine Freunde – aber ob meine Freunde Deine Freunde sind, mußt Du selbst herausfinden!« Und dann waren da vier Adressen. Ein wahrer Schatz.
Ich hätte auch gern die Zettel wieder, die ich von meinen Reisen ins alte Zuhause über die deutsch-deutsche Grenze schmuggeln konnte. Durchschläge von Berichten und Meinungen zur Veränderung ihrer Welt, welche Menschen – meist unterm Schutzdach der Kirche – seit Anfang der achtziger Jahre formuliert haben, wie die »Gedanken wider die Resignation« des Psychologen Ludwig Drees aus Stendal. Es wäre noch weiter und weiter aufzuzählen, was ich verloren habe und gern wieder hätte, und was mir regelrecht fehlt, fehlt, fehlt. Ohne das ich mir nackt vorkomme.
Vielleicht ist es nicht mehr notwendig, daß ich die Glaubwürdigkeit des von mir Geäußerten mit mir anvertrauten Zeitzeugenaussagen belege. Vielleicht bin ich durch das Verschwinden meiner nachweisbaren Verflechtung in die dinghaften und geistigen Vorgänge meiner Lebenszeit aufgerufen, endlich zu vertrauen! Noch höre ich ja die Stimmen aus der Erde, wie die meines Onkels, der eigentlich nie mein Onkel war, weil die Schwester meiner Mutter ihn nie geheiratet hat. Er war Halbjude und hatte seine besondere Geschichte. Und es gab im Historischen Archiv einen Karton mit dem Briefwechsel zwischen ihm und mir durch alle Zeiten. Es gibt diesen Onkel auch als literarische Figur in meinen »Geschichten aus tausendundzwei Jahren«. Vor allem gab und gibt es in meinem Bewußtsein noch seine so simple und deshalb schwer zu akzeptierende Feststellung: »Es ist, wie es ist.« Sooft ich ihn besucht habe, war ich wieder darin bestärkt: Es gibt diesen Mut, sich aus bedrohlichen Situationen nicht fortzuträumen und den Quadratmeter Boden zu sehen, auf dem man steht.
Selbst wenn von meinen dem Historischen Archiv übergebenen Dingen etwas gefunden werden sollte – ich stehe im vierundachtzigsten Lebensjahr. Was gefunden wird, muß erkannt und restauriert werden. Das erfordert Zeit.
Jedenfalls will ich selber nichts aus Nachlässigkeit versäumen: Heute danke ich den Archivaren für ihre beinahe zehn Jahre währende Akzeptanz meiner – der verwickelten Lebenssituation entsprechenden – Pläne und Wünsche im Umgang mit meinem Vorlaß. Ich danke ihnen für ihr Interesse an meiner Arbeit überhaupt und für guten Rat. Und vor allem für ihre Fähigkeit, gleich guten Übersetzern meine Dinge unangetastet bestehen zu lassen – und doch, durch ihren Umgang damit, sie zu bereichern.
suchen, versuchen, finden, sich abfinden
(April 2010)Etwas verloren haben heißt noch nicht, überhaupt zu verlieren, festgenagelt auf der Verlustseite des Lebens. Ich hatte meinen Vorlaß verloren. Sollte nun alles, was noch in meiner Wohnung war, bei mir bleiben? Der Einsturz des Historischen Archivs war auch eine fühlbare Konfrontation mit dem mir natürlicherweise bevorstehenden Ende meines Lebens. Bislang hatte mir der Kontakt mit den Archivaren und ihre Wertschätzung meiner Arbeit eine Art Lebenssicherung gegeben. Diesen fließenden Vorgang, daß ich etwas, was mir in sich schlüssig und abgeschlossen vorkam, ins Archiv gab und umgekehrt etwas, das aufgrund neuer Überlegungen unbedingt ergänzt oder fortgesetzt werden sollte, zeitweilig zurückholte, empfand ich als eine Art Bestätigung, durch mein Tun auch ohne die ganz große Öffentlichkeit in die Auseinandersetzungen meiner Zeit verflochten zu sein. Meist wußte ich genau, ob für ein neu begonnenes Vorhaben ein Hinterland existierte und wo ich suchen mußte, um meine von anderer Warte aus entstandene Vorarbeit wiederzufinden. Natürlich suchte ich zuerst in Griffnähe, in meinen Schränken und Regalen – aber der Gang durch die frische Luft mit der Gewißheit, daß die Archivare meinem Wunsch gemäß eine bestimmte Mappe im Lesesaal bereitgelegt hatten, diese Unterbrechung einer Arbeit, von der niemand sonst etwas wußte und die entsprechend von niemandem erwartet wurde, gab mir stets das zum Durchhalten notwendige Quentchen Zuversicht.
Am 22. April 2010, ein Jahr und fünfzig Tage nach dem Einsturz des Historischen Archivs in Köln bin ich noch immer, aber auf andere Weise betroffen. Vielleicht so, wie man plötzliche Betroffenheit spürt, wenn man einem Menschen begegnet, mit dem man etwas zu tun hat, aber nicht damit rechnet, wirklich vor ihm zu stehen. Meinem jüngsten Roman »Spiegelungen« habe ich ein Wort Friedrich Schillers als Motto vorangestellt: »Des Menschen Engel ist die Zeit.« Ich habe diesen Octavio Piccolomini in den Mund gelegten Satz »Wallensteins Tod« (letzter Akt, elfter Auftritt) entnommen, und zuendegeführt lautet er: « – die rasche / Vollstreckung an das Urteil anzuheften / ziemt nur dem unveränderlichen Gott«. Ein Jahr nach dem Einsturz habe ich kein Urteil über die Zusammenhänge, die dazu geführt haben, zu fällen, und erst recht keines zu vollstrecken – aber es ist Zeit, daß ich mir mein am 3. März 2009 entstandenes und inzwischen in die alltägliche Wirklichkeit eingestuftes Betroffensein neu bewußtmache. »Weg ist weg. Das Leben geht weiter« und was der in ihrer Simplizität nüchternen Sprüche mehr in Umlauf sind, ich will sie nicht einfach streichen, ihnen allerdings einen Platz auf den hinteren Rängen zuweisen und mich fragen: Was verstört mich noch immer am Geschehen in der Severinstraße 222?
Ist es die abrupte Art des Verschwindens meiner Dinge und die nachträglich gestellte Frage: War es voreilig, meine Sachen selbst in eine gewisse Ordnung zu bringen und durch die Übergabe an das Archiv auf den Erhalt dieser Ordnung zu bauen? Das Archiv war nicht meinetwegen da und überhaupt keiner einzelnen Personen halber. Vor der Übergabe hatte man, was ich übergeben wollte, geprüft und für wert befunden. Aber galt nicht auch für Direktoren und gestandene Archivare Immanuel Kants Erkenntnis: »Es gibt nur ein subjektives Geschmacksurteil"? Gibt es nicht die Geschichte, daß, während Goethe und Schiller in Weimar wirkten, Kotzebues Werke weit höher geschätzt wurden? Wie und von wem soll der Wert von nicht unmittelbar nutzbaren Dingen festgelegt werden?
Bei den wirklich alten Archivalien ist diese Frage leicht zu beantworten. Pergamente haben ihren Wert schon in sich, dank ihrer Konsistenz. Eine in ihrer Einmaligkeit einem Lebewesen zugehörige und nach dessen Tod abgelöste, dünn geschabte Tierhaut ist als Schreibgrundlage kostbar – und also das geeignete Material, Verträge, Thesen, Gelübde, bedeutungsschwere Nachrichten und eben außergewöhnlich weitreichende Gedanken darauf festzuhalten. Vielleicht überdauern diese Pergamente so gut, weil so viel Zeit zu ihrer Bereitung nötig war – und selbst die Tinte zu ihrer Beschriftung mühselig dem Tintenfisch entnommen werden mußte. Auch das Purpur, das Gold und das Indigoblau zur farbigen Gestaltung der Initialen wie der Illustrationen in den Handschriften des frühen Mittelalters mußten mit großem Aufwand bereitet werden. All diese Materialien waren schon ohne Verwendung wertvoll.
Ein Jahr nach der Katastrophe in Köln zeigt sich, daß gerade die auf Pergament verfaßten Dokumente den Einsturz am besten überstanden haben. Ich habe auch Fetzen guten, alten, in der Papiermühle aus Lumpen hergestellten Papiers gesehen, darauf noch ein Wort oder zwei, drei in deutscher Kanzleischrift, sorgfältig mit leichtem Aufund kräftigem Abstrich zu Papier gebracht. Zur Herstellung dieses Papiers mußten Lumpen gesammelt, sortiert, gewaschen, zermahlen, gebleicht und dann die Fasern durch Schütteln miteinander verfilzt werden.
Die Manuskripte, die ich als Vorlaß ins Archiv gegeben habe, waren zumeist auf wohl nicht einmal säurefreiem, maschinell hergestelltem Schreibmaschinenpapier getippt, oder auch nur mit Hilfe von Blaupapier fabrizierte Durchschläge von Manuskriptseiten auf Durchschlagpapier. Die inhaltsreichen, handschriftlich verfaßten Briefe aus Zeiten des Krieges fallen dank des stark vergilbten Holzpapiers auch zerfetzt in der Masse des Aushubs sofort auf. Nicht das Material, die auf das Papier gebannte Mitteilung ist jetzt der Wert.
Als der Krieg vorbei war, sollte alles besser und ganz anders werden: Ein Herr Kudelski, Bürger der Schweiz, kaufte alle in den verschiedenen Heeren zur Optimierung der Nachrichtenübermittlung entstandenen Erfindungen auf und produzierte das NagraTonband-Aufnahmegerät. Zwölf starke Batterien brachten es in Gang – und es wog entsprechend schwer. Die Aufnahmen waren außerordentlich gut und wurden auf einem Magnetband, etwa so breit wie ein Schnürsenkel, festgehalten. Ich habe selbst damit gearbeitet, habe auch miterlebt, wie beim Schnitt die Toningenieure die Spulen rasch abrollten und die verworfenen Aufnahmen als ein Berg von Senkelbandschlangen unter den Tischen landeten. Man rollte sie später wieder auf und löschte die darauf festgehaltenen Töne, um die Bänder erneut zu verwenden. Diese Mühe war also inbegriffen, von der Mühe der einzelnen Erfinder, die im Dienst ihrer Vaterländer die Basis für die neuen Medien geschaffen haben, nicht zu reden.
Die Kassettenrecorder kamen, leichter, bequemer, mitsamt dem dazugehörigen noch weit schmäleren Band in Tonkassetten, im Fünferpack zu kaufen bei Aldi.
Im Bereich des Films kamen Ende der siebziger Jahre die ersten Videokameras in Gebrauch. Sie waren leicht und handlich. Die für 16-Millimeter-Film meistgenutzte Ariflex Kamera war – ähnlich dem NagraTonbandgerät – dagegen enorm schwer. Es war körperlich harte Arbeit, damit umzugehen.
Die Belege meiner Filme erhielt ich als VCR-Kassetten, deren Band fast so breit war wie der 16-mm-Film selbst. Dafür gab es keine Heim-Abspielgeräte. Also griff ich sofort zu, als die VHS-Kassette als Neuerung aufkam. Das normale Fernsehgerät, ein Recorder, schon hatte ich meine Filme, umgespielt von VCR auf VHS, zur Verfügung.
Waren es wirklich noch meine Filme? Zusehends verblaßten die Farben, vor allem die feinen Geräusche verschwanden in Windeseile, das Summen der Insekten, ein Rascheln im Laub, der Schrei eines Bussards, der im Bild nicht zu sehen ist, aber die Geschichte weiterträgt.
Inzwischen habe ich alle Möglichkeiten, Gedanken oder Geschehnisse aufzuzeichnen und aufzubewahren, buchstäblich in der Hand. Handys sind alles, mein Gedächtnis, mein Mahner, mein NachrichtenTransporteur, aber wozu will ich frei sein von diesen Mühen, die mich nicht mehr aufhalten auf dem Weg – und wohin denn?
Während ich hier sitze und diese Zeilen schreibe, gibt es unentwegt weitere Erfindungen zur Speicherung von dem, was wir unser geistiges Gut nennen. Wahrscheinlich ist es eine unabdingbar notwendige Übereinkunft, die wirklich gilt: Daß wir dieses unser geistiges Gut um gar keinen Preis verlieren wollen, weil es unser Menschsein ausmacht. Wir überschlagen uns darin, Methoden und Geräte zu dessen Aufbewahrung zu erfinden – und erfahren gleichzeitig, daß alles Neue nur vorläufig ist. Was wir eben noch zum Speichern benutzt haben, benutzt »kein Mensch mehr«. Zur Zeit nimmt man einen Stick, der bewahrt und auch weitergibt, sozusagen in und aus Rock oder Hosentasche.
Vor drei Jahrzehnten habe ich mich über eine ganze Zeit hin damit beschäftigt, warum selbst Flachländern die Sehnsucht innewohnt, einen Berg zu besteigen. Daraus entstand die Erzählung »Bergpartie«. Als vor drei Jahren eine Inhaltsangabe meines Romans »Siehdichum« nötig war, fiel mir dieser Text wieder ein. Ich holte ihn aus dem Archiv und fand darin ein gutes Bild für die widersprüchlichen Empfindungen der Protagonistin in »Siehdichum«. Immer wieder schlägt sie gegenläufige Wege zu einem vermuteten Gipfel hin ein, und als sie oben ankommt, weiß sie, daß es nur eine Möglichkeit unter vielen war, zu finden, wonach sie sucht. Es war das Treffendste, womit ich den Inhalt meines Romans umreißen konnte. Noch vor drei Jahren also stand ich auf einem über lange Zeit hin entstandenen und mir jederzeit zugänglichen Denk- und Ausdrucksfundament. Einem Reichtum, vergleichbar der Kiste voller Zweifel, die noch immer unter jedem Bett steht, in dem ich schlafe.
Nehme ich einmal an, daß ich noch jünger wäre und in zwanzig Jahren noch schreiben könnte – ich würde dann vielleicht gern einen auf einem Stick gespeicherten Text wieder lesen. Aber hätte ich ihn auf alle in der Zwischenzeit nutzbaren Datenträger umkopiert? Auf dem Stick selbst wäre er – nach meinen Erfahrungen mit der Solidität der rasch und leicht zu nutzenden Speicher – in zwanzig Jahren nur ein weißer Flecken.
Etwas aufheben, weil es mir lieb ist. Ich liebe auch mein Leben. Es soll schön sein! Schön ist, was – zumindest für den Augenblick und für mich – in Ordnung gekommen ist, was ich überschauen kann, was gestaltet ist und mir in seiner, von mir erkennbaren Form keine Angst macht.
Meinem jüngsten Roman, im März 2010 im Dittrich Verlag erschienen, habe ich den Titel »Spiegelungen« gegeben. Etwa ein dreiviertel Jahr vor der Katastrophe in der Severinstraße begonnen, habe ich ihn nach Überwindung der Schreckensstarre vom März 2009 mit leidenschaftlichem Engagement zu Ende geschrieben. Es geht mir darin um die in den einzelnen Lebensphasen sehr unterschiedliche Art von Wahrnehmung all dessen, was mit uns, um uns herum und in uns geschieht. Alle Romanfiguren befinden sich fortwährend in einer Gegenwart, aber immer in einer extrem anderen als gerade eben, als trauten sie weder einer Vergangenheit noch einer Zukunft. Auf diese Weise spiegelt sich im Geschehen ein ganzes Jahrhundert. Erst im letzten Kapitel konnte ich meinen Figuren erlauben, sich zu erinnern. Sich aus der fordernden Gegenwart zu lösen, einer unartikulierten Zukunft zuliebe.
Der Einsturz des Historischen Archivs in Köln war und bleibt ein Schock, nicht nur für mich. Wie konnte es sein, daß beim Kennzeichnen der besonders schützenswerten Gebäude entlang der projektierten U-Bahn-Linie das Historische Archiv vergessen wurde? Aufgrund dieses fehlenden Eintrags wurde genau vor dem Gebäude Severinstraße 222 eine Gleiswechselstelle eingeplant und der 28 Meter tiefe Schacht dafür nötig. In dieses Loch fiel das den U-Bahn-Planern, Gutachtern und Bauherren unbekannte Gedächtnis der Stadt. Der Rheinlande. Westeuropas. Daran denken nun alle.
SINN UND FORM 6/2010, S. 853-864
Dotzauer, Gregor
- 5/2010 | Das Balkonzimmer, S. 661 Leseprobe
Dotzauer, Gregor
Das Balkonzimmer
Eine Zeitlang bildete ich mir ein, ich könnte das Balkonzimmer tatsächlich bewohnen. Keine Woche verging, ohne daß ich von zu Hause aufbrach, um herauszufinden, warum ich ausgerechnet dort, am anderen Ende der Stadt, das Gefühl hatte, mein sonstiges Leben hinter mir zu lassen. Ich träumte davon, mich auf einem Sonnenspalt am Boden auszustrecken, in den Stuckhimmel hinaufzuschauen, mir die Nasenspitze zu wärmen und mich bei einer Tasse Tee seiner angenehmen Leere zu überlassen.
Ein Sofa, zwei Stühle, ein Spiegel – viel mehr gehörte nicht zum Mobiliar. Selbst später, als ich gelernt hatte, dem Arrangement, wie ich es mir eingeprägt hatte, zu mißtrauen, mußte ich mich jedes Mal wieder davon überzeugen, daß ich das Zimmer nur im ersten Augenschein so wahrnehmen konnte: rechts der mächtige, von dunklem Holz gerahmte Spiegel mit den gedrechselten Spitzen, davor, mit einander zugewandten Rücken, die beiden Stühle; schließlich, an die Wand gerückt, das Sofa.
So spartanisch die Ausstattung, so freundlich war der ewige Vormittag, der das Zimmer durchwehte. Immer stand die Balkontür offen, ein leichter Wind blähte die Gardinen, und ob sich hinter dem Tüll ein Hof, ein Garten, eine Straße, ein Platz, ein Park oder ein See befand, wollte ich erst wissen, nachdem mir klarwurde, daß ich es gar nicht hätte wissen können. Auch wer hier wohnte, ja ob hier überhaupt noch jemand wohnte, schien mir an diesem Ort, an dem mit der äußeren Welt zugleich das Innere zu verblassen schien, anfangs eine müßige Frage.
Das Geisterhafte des Balkonzimmers wurde mir auf einen Schlag bewußt, wenn ich rechts in den Spiegel schaute und darin klar und deutlich das gestreifte Sofa erkannte, von dem sich allerdings an der Zimmerwand, wo es als raumbeherrschendes Sprungfedermonstrum hätte stehen müssen, bloß ein paar schmutzfarbene Schemen abzeichneten. Dagegen gehörte der rotbraune Teppich mit den dunklen Fransen zu Füßen dieses Sofaspuks zweifellos zur materiellen Einrichtung.
Oder der riesige weiße Fleck. Auf Augenhöhe schwang er sich in einem fetten Linksbogen Richtung Sofa. Das Vorhaben, die Wand frisch zu tünchen, schien nach wenigen Pinselstrichen aufgegeben worden zu sein. Man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den kleinen Bilderrahmen in der Mitte abzuhängen, an den nun, da er doch abgenommen worden war, ein vom Pinsel ausgespartes Rechteck in der alten Wandfarbe erinnerte. Vielleicht zeigte der Spiegel einen Teil eben dieses Gemäldes, das von der jetzigen Leerstelle weg über das Sofa gerückt worden war: eine von einem breiten Passepartout eingefaßte, leicht angeschnittene und nur vage erkennbare Gestalt, die besonders unheimlich wirkte, weil auch sie allein in ihrem Widerschein existierte.
Jedes Detail schien zu sagen: Du siehst etwas, was du nicht sehen kannst. Die Welt hat sich in einen Spiegel hinein entleert, der nun eine reichere, vollständigere, in gewissem Sinne wirklichere Version der Dinge zeigt als die, von der du umgeben bist. Genauso einleuchtend klang aber auch das Umgekehrte: Die Welt im Spiegel ist trügerischer als diejenige, in der du dich aufhältst.
Das Balkonzimmer war ein Ort des Übergangs, an dem auch ich vielleicht bloß ein Schemen war. Zu gern hätte ich mich vor den Spiegel gestellt, um zu prüfen, ob und wie ich darin erschienen wäre. Doch das Balkonzimmer war nicht mehr als das Bild eines Zimmers, das nicht mehr existiert, in einem Haus, das nicht mehr steht, in einer Straße, die ihr Gesicht verändert hat. Ein Stück Berliner Wirklichkeit, das es wohl einmal gab, so aber niemals geben konnte. Das Bild selbst, Adolph Menzels »Balkonzimmer«, dieses Ölgemälde von 1845, verrät nichts davon. Es gibt nicht preis, daß Menzel eine glaubwürdigere Version des Balkonzimmers in der Schöneberger Straße, in der Nähe des Anhalter Bahnhofs, bewohnte. Der Betrachter kann sich nicht einmal vergewissern, ob das Gemälde seinen Titel zu Recht trägt. Denn ob sich hinter den beiden Flügeltüren tatsächlich ein Balkon befindet, weiß nur der Maler.
Meinen Traum, Menzels »Balkonzimmer« in dreidimensionaler Gestalt wiederzufinden, beeinträchtigte das nicht. Nimmt man nicht alles, was gemalt, fotografiert oder geschrieben ist, für das Abbild einer zumindest möglichen Wirklichkeit? Am liebsten würde ich in Menzels Bild hineinkriechen, die Vorhänge aufreißen, wer weiß welche Aussicht entdecken, und rätsle doch, durch was für eine Tür ich das Balkonzimmer beträte. Befindet sie sich in meinem Rücken? Öffnet sie sich zu meiner Linken? Was berechtigt mich zu der Annahme, daß es überhaupt eine Tür gibt?
Man kann sich der falschen Voraussetzungen vergewissern, die einem eine bestimmte Darstellung der Wirklichkeit aufzwingt. Man kann Sinnestäuschungen auflösen, mit Hilfe der Vernunft Schein und Wirklichkeit auseinanderhalten und sogar Vergnügen an Vexierbildern haben – das Gefühl, daß sich auch ein so unwahrscheinlicher Raum wie Menzels »Balkonzimmer« erforschen ließe, wird davon nicht gemindert. Daß es sich, wie Kunsthistoriker erklären, um eine Skizze, also etwas Unfertiges handelt, behindert die Einbildungskraft so wenig wie die Gefahr, selbst auf eine mindere, unfertige Existenz zurückgestuft zu werden. Der Frieden des Balkonzimmers nahm zu, je öfter ich ihn suchte, und ich empfand es nicht als Schutz vor den Zumutungen seiner Absonderlichkeit, daß er sich mir nur in einer Wirklichkeit zweiter Ordnung, im Gemälde, darbot.
Schon wenn ich die Kolonnaden der Alten Nationalgalerie erreichte, in der das Bild hängt, und mich nur noch ein halbes Stockwerk davon trennte, überkam mich ein eigentümliches Hochgefühl. Egal, wie viele Besucher sich in dem kleinen Kabinett vor dem Gemälde drängten, seine freundliche Leere ergriff von mir Besitz. Das Balkonzimmer sperrte die Zeit aus und tat es auch noch, als sich der Vorstellungsraum mit Bildern anderer Orte füllte, die ihr stärker ausgesetzt waren: von Menzel mit akkuratem Realismus gemalte Zimmer und Hinterhöfe, die er gleichfalls bewohnt hatte. Der Raum füllte sich mit Fotografien von ihm selbst, die seine Verankerung in der preußischen Ordnung zeigten: Menzel im Ornat des Schwarzen Adlerordens. Menzel an der Seite von Kaiser Wilhelm II.Menzel mit seinen 1,40 Meter Körpergröße vor den Langen Kerls mit aufgepflanzten Gewehren. Und es fanden sich Sätze, mit denen andere die Leere des Balkonzimmers gefüllt hatten, etwa der Kunstschriftsteller Julius Meier-Graefe, der 1906, im Jahr nach Menzels Tod, beim Betrachten des Zimmers »ein prickelndes Ticken des Blutes« zu spüren meinte, »wenn der Blick auf das kleine rotgrüne Ornament des Plafonds trifft«. »Das Behagen in diesem Sonnenschein«, schrieb er, »dehnt die Glieder«, eine Empfindung, die Bilder früherer Jahrhunderte niemals ausgelöst hätten. In Menzels Skizze finde sich »die Sehnsucht des hoch entwickelten Menschen nach Unabhängigkeit von der Last niederer Triebe, und diese Sehnsucht spiegelt das teuerste Ideal unserer Zeit«.
Was wüßte ich über das Balkonzimmer, wenn ich von all dem nichts in Erfahrung hätte bringen können? Und was hatte ich gesehen, als ich es zum ersten Mal sah? Ein Idyll aus der Zeit des Vormärz? Eine zeitlose Ahnung von Transzendenz? Eine, wie man mich später überzeugen wollte, vorimpressionistische Art von Malerei? Hatte ich anfangs ein Zimmer gesehen oder das Bild eines Zimmers? Zwischen dem, was man über einen Ort oder ein Kunstwerk weiß, obwohl man nichts zu wissen meint, und dem, was man nicht weiß, auch wenn man schon eine Menge weiß, kann ein unendlich großer Unterschied bestehen. Wäre ich eines Morgens unvermutet im Balkonzimmer erwacht, hätte ich wohl nicht daran gezweifelt, mich in der Gegenwart zu befinden. Man schläft nicht Anfang des 21. Jahrhunderts ein, um im 19. Jahrhundert aufzuwachen.
Ich wollte Menzels »Balkonzimmer« nie besitzen. Doch ich entwickelte den Wunsch, wenigstens ein Souvenir zu haben. Zunächst hing es in der Küche, als zusehends verwellte, mit einem Reißnagel an die Wand gepinnte Kunstpostkarte, dann als gerahmter Druck im Flur: eher unbeachtetes Zeichen einer bereits nachlassenden Faszination denn Gegenstand täglicher Verehrung. Bis ich, als ich mich wieder einmal in den Geheimnissen des Gemäldes verlor, beschloß, es nachmalen zu lassen.
[...]SINN UND FORM 5/2010, S. 661-670
- 6/2015 | Innen leben. Abschied von einer
romantischen Idee, S. 661 Leseprobe
Dotzauer, Gregor
INNEN LEBEN Abschied von einer romantischen Idee
1
In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge.
Turrell hat sich in der Quäkertradition, aus der er kommt, immer wieder auf ein inneres Licht bezogen, das für die Gotteserfahrung dieser Glaubensbewegung steht: eine Form der Versenkung, die sich von östlichen Meditationsarten dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf Entpersönlichung aus ist. Es handelt sich vielmehr um intensives Beten im direkten Kontakt mit einem Gott, der keine weitere Versinnbildlichung braucht, weil sich der Zugang zu ihm allein über das Innere erschließt. Quäker verehren das Numinose als das Luminose. Obwohl er keine religiösen Absichten verfolgt, kann man Turrell getrost das Oberhaupt einer weltumspannenden Kirche des Lichts nennen. Roden Crater, der erloschene Vulkan in Arizona, in dessen Lavagestein er Gänge, Treppen, Tunnel und Hallen gefräst hat, die ins Licht planetarer Konstellationen führen, ist ihr zentrales Heiligtum, und jedes der rund um den Globus errichteten Skyspaces eine Filiale. Ihre Erhabenheit behalten sie auch als wahrnehmungspsychologische Observatorien.
Gäbe es nur eine einzige dieser Kapellen, wie er sie erstmals 1960 für den italienischen Grafen Giuseppe Panza di Blumo in dessen damaliger Privatvilla in Varese errichtete, wäre die Verwirrung der Dimensionen von Innen und Außen bloß eine frappierende Idee. Man betritt einen Raum, um durch eine runde, ovale oder rechteckige Öffnung in den freien Himmel zu schauen, der sich wiederum in eben diesen Raum hinabsenkt und in der Morgen- und Abenddämmerung eine Lichthaut bildet, die eine objektiv nicht vorhandene Grenze vorgaukelt. Gäbe es vier, fünf oder sechs davon, würde man sagen, daß Turrell bei allem Variationsbemühen nicht mehr viel eingefallen sei. Weil mittlerweile aber über achtzig Skyspaces existieren, haben sie einen kultischen Charakter angenommen und ziehen Scharen von Pilgern an. Turrells einziges chinesisches Skyspace liegt im Pekinger Dongcheng District. Von der Wusi Dajie, einer Hauptstraße unweit der Verbotenen Stadt, biegt man in ein Areal geschäftiger Hutongs ab, jener Wohnhöfe umschließenden Gassen, die seit Jahren in vielen Teilen der Stadt Hochhauskomplexen weichen. Auf handgeschriebenen Plakaten wird gegen drohende Abrisse protestiert – die unvermutete Pracht, die sich am Ende der Shatan Beijie, einer Sackgasse, hinter einem riesigen Eisentor verbirgt, interessiert hier niemanden. Aus den Ruinen eines buddhistischen Tempels, dessen Ursprünge bis zu einer kaiserlichen Druckerei in der Ming-Dynastie zurückreichen, die Sutras und Dekrete herstellte, ist eine museumsartige Hotelanlage entstanden, deren kostbare Ruhe mit ihrer unübersehbaren Kostspieligkeit konkurriert.
Der nüchterne weiße Raum, der Turrells Installation beherbergt, hat einen schwarz glänzenden Steinboden. Darauf verteilt liegen zwanzig Isomatten mit runden Strohkissen für Kopf und Füße. Während in anderen Skyspaces oft Sitzbänke die Mauern säumen, liegt man hier ausgestreckt auf dem Rücken und beobachtet durch die rechteckige Aussparung in der Decke, wie sich der Himmel, durchtränkt von der untergehenden Sonne, im Lauf von anderthalb Stunden in einen Schwamm verwandelt. Nachtblau scheint er die Öffnung zu verschließen, bis changierende Komplementär- und Tertiärfarben ihn unmerklich aus den umlaufenden Lichtleisten ins Tiefgrüne und Schwarze wenden, während er sich zwischendurch wie ausgepreßt ins Innere des Skyspace ergießt. Alle Konturen, die körperlichen des Betrachters eingeschlossen, lösen sich in einem einzigen Feld auf.
Der Septembertag ist für Pekinger Verhältnisse ungewöhnlich klar und blau, anfangs ziehen in großer Höhe Vogelschwärme vorüber. Doch spätestens wenn die Wolken in der Öffnung des Skyspace zu zittern beginnen wie von einem windbewegten Teich gespiegelt, gehen das Gegebene und das Geformte eine unauflösliche Liaison ein. Sie erinnert daran, daß Sinnesdaten und ihre Verarbeitung darüber entscheiden, welches Licht im Auge des Betrachters funkelt. »Farbe«, heißt es in einer Definition der Internationalen Beleuchtungskommission, »ist diejenige Gesichtsempfindung eines dem Auge des Menschen strukturlos erscheinenden Teiles des Gesichtsfeldes, durch die sich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Auge von einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzenden Bezirk allein unterscheiden kann.« Soviel kühlen Formsinn muß man sich angesichts derart substantieller Erlebnisse erst einmal bewahren.
James Turrell ist ein Meister der Illusion, aber gleichwohl nicht auf Verblüffung aus. Ihn beschäftigen die trügerischen Anteile jedes Sehakts, die physiologischen Mechanismen und psychologischen Deutungen, die Nachbilder und das Eigenlicht der Netzhaut. Licht, sagt Turrell, der sich in seinen öffentlichen Äußerungen so ausdauernd wiederholt wie in seinen Arbeiten, offenbart letztlich nichts, es ist die Offenbarung selbst. Wir sehen es nicht nur, wir nehmen es auch über die Haut auf. Als Lichtfresser sind wir jedoch weder für die gleißende Sonne gemacht noch für die Nacht. Wir sind Wesen der Dämmerung. Ort und Ortlosigkeit des künstlerischen Blicks überkreuzen sich dabei auf irritierende Weise. Rein topographisch befand sich Turrell nie in größerer Nähe zu buddhistischen Gedanken. Auf dem Tempelgelände wurde einst mit Sicherheit auch das Herz-Sutra gedruckt, dem zufolge Form nichts anderes ist als Leere und Leere nichts anderes als Form. Zugleich dürfte er seiner Umgebung selten fremder geblieben sein. Das Hotel läßt seine Lichtinstallation von einem Soundtrack begleiten, der den Lärm aus den benachbarten Hutongs übertönen soll, wofür sich die Restaurants und Garküchen mit einem Anflug von Essensgerüchen revanchieren, die durch die Dachluke ins Innere des Skyspace dringen.
[...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 774-783, hier S. 774-776
Dowson, Ernest
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Draheim, Gudrun
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Drake, Heinrich
- 5/1988 | Über meine Bildhauerei
Drawert, Kurt
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- 2/1992 | Ein Erlebnis des Sterbens
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Drescher, Horst
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Dresen, Adolf
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Drews, Jörg
- 3/2019 | »Dieser Brief mußte geschrieben werden«. Korrespondenz mit Walter Kempowski 2005 – 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler, S. 293 Leseprobe
Drews, Jörg
»Dieser Brief mußte geschrieben werden.« Korrespondenz mit Walter Kempowski 2005 - 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler
Vorbemerkung
»Ich glaube, Du bist der einzige Mensch, der das, was ich unternehme, zu würdigen versteht «, schrieb Walter Kempowski am 30. Januar 1998 an den Literaturwissenschaftler und Kritiker Jörg Drews. Der hatte kurz vorher unter der Überschrift »Das Fernsehen, von Walter Kempowski geschreddert« eine Rezension zu dessen »Bloomsday ’97« verfaßt. Das Buch – ein Protokoll der Fernsehrealität, von Kempowski und seinem Team am 16. Juni 1997 auf 37 Sendern zusammengezappt – war von den meisten Rezensenten äußerst kritisch aufgenommen worden. Wie oft in solchen Momenten fühlte sich Kempowski von der Kritik unverstanden. Drews dagegen hatte den richtigen Ton getroffen. Er beschrieb die Lektüre zwar als »problematisch, ja vielleicht eigentlich gar nicht möglich«, doch in einer glühenden Verteidigungsrede zündete er ein wahres Feuerwerk an Argumenten, um die Berechtigung eines solchen literarischen Experiments – fast »ein Stück Concept Art« – zu unterstreichen, und bescheinigte dem Autor scherzhaft eine »hochgradig naive Intelligenz«. Kempowski wäre nicht Kempowski, hätte er dieses Bonmot unkommentiert gelassen. Selbstironisch begann er seinen Brief mit den Worten: »Bevor ich wieder an die Arbeit gehe, ›hochgradig naiv‹, aber einigermaßen intelligent, möchte ich Dir noch einen kurzen Liebes- und Dankesgruß senden.«
Warum sich zwei Menschen befreunden, gehört vielleicht zu den größten Mysterien des Daseins; was dieses Mehr an Sympathie stiftet, läßt sich oft nur schwer ergründen. Daß aber ein Schriftsteller und ein Kritiker auf Dauer Freundschaft schließen, darf an sich schon als seltener Umstand gewertet werden – um so mehr, wenn sie a prima vista so unterschiedlich sind, wie es Kempowski und Drews waren: auf der einen Seite der zierlich gebaute und introvertiert wirkende Autor, der als »Dorfschulmeister« (Kempowski) zurückgezogen im niedersächsischen Nartum lebte und über Jahrzehnte ein riesiges literarisches Werk schuf, auf der anderen Seite der stattliche, weltläufige, dynamisch und vital auftretende Drews, der nicht nur zwischen Bielefeld, wo er bis 2003 als Professor lehrte, und seinem zweiten Zuhause München pendelte, sondern überall auf der Welt in literarischer Mission unterwegs war.
Daß der in seinem Kosmos wie in einer Zelle lebende Kempowski und der umtriebige Drews dennoch Freundschaft schlossen und diese mehr als drei Jahrzehnte, bis zu Kempowskis Tod hielt, war kein Zufall. Was die beiden verband, war offensichtlich stärker als die vordergründigen Gegensätze: Es war zuallererst das Eintreten für experimentelle moderne Literatur. Dazu paßte ihre gemeinsame Begeisterung für das Werk von Arno Schmidt. Drews, der keine Berührungsängste vor Autoren zeigte – auch nicht vor solchen, die wie Schmidt als »verschroben« galten –, besuchte den notorischen Einzelgänger 1964 in Bargfeld, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. 1970 erfand er das »Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat«, dessen Mitglieder insbesondere den Monumentalroman »Zettel’s Traum« zu entschlüsseln suchten und auch vor Ort Studien betrieben. 1972 gründete Drews den »Bargfelder Boten«, quasi ein wissenschaftliches »Fanzine«, das sich bis heute mit Schmidts Werk befaßt. Er widmete sich dem Autor mit der ihm eigenen Leidenschaft, und es darf als eines seiner großen Verdienste gelten, dessen avantgardistisches Werk einer breiteren Öffentlichkeit und auch zahllosen Studenten – und damit der Wissenschaft – zugänglich gemacht zu haben.
Im Gegensatz zu Drews, der über viele Jahre persönlichen Umgang mit Schmidt pflegte, war Kempowski ein privater Kontakt nicht vergönnt gewesen. Einige Briefe, die er in den sechziger Jahren an Schmidt schrieb, ließ dieser unbeantwortet, sieht man einmal davon ab, daß er den Sonderdruck eines seiner Essays kommentarlos an Kempowski schickte. Trotzdem outete sich der Autor aus Nartum bei vielen Gelegenheiten als Schmidt-Verehrer und beschwor immer wieder seine geistige Nähe zu dem Eigenbrötler, so zum Beispiel im Juni 1979 in seinem Nachruf in der »Zeit«: »Arno Schmidt wohnte zwar nicht in meiner Nähe (…), aber er war mir der Nächste, er war mein Nachbar.«
Am 27. November 2001 sagte Kempowski im »alpha-Forum« des Bayerischen Rundfunks: »Ich habe mir von ihm das, was er in seinen Büchern ›Schnappschußtechnik‹ nannte, abgeschaut: Das hat mich interessiert, das hat mich beeinflußt. Ähnlich ist aber auch dieses merkwürdig abgeschlossene und klösterliche Leben, das er geführt hat.« Und an Drews schrieb er am 14. November 2006: »Wenn ich heut so daran denke, verband mich etwas mit ihm, das meiner Bindung zu Johnson ähnlich war. Eine Art Furcht / Liebe / Respekt. Daß ich auch ›dazu gehöre‹, stellt sich erst jetzt heraus.« Dazu zeichnete er die drei Namen mit verbindenden Linien zu einem Dreieck: oben »Schmidt«, links und rechts »Kempowski« und »Johnson«.
Wann und wo genau sich Drews und Kempowski kennenlernten, ist nicht mehr zu klären. Daß es Anfang der siebziger Jahre war, darin waren sich beide einig. So schrieb Drews in einem Beitrag zu »Erst-Begegnungen« mit Autoren über die seiner Meinung nach erste Zusammenkunft mit Walter Kempowski: »Es muß ein ganzer Trupp von Leuten gewesen sein, der da Anfang der siebziger Jahre bei ihm einfiel, als er noch bei Hanser war. Wir tafelten in der Halle seines Hauses in Nartum, und ich nahm ihn nur ungenau wahr, er war nur vage ein Erfolgsautor für mich, hatte noch kaum Kontur, erst später las ich den ›Block‹, sein erstes und eines seiner besten Bücher. Aus diesen lärmenden und leicht angetrunkenen Anfängen entwickelte sich die Wahrnehmung eines Werkes von – auf weite Strecken – scheinbar kurioser Biederkeit und Drögheit, und erst nach und nach lernte ich Walter Kempowskis Bücher lesen: Sie sind viel unheimlicher und hinterhältiger, als den meisten Kritikern bis heute aufgegangen ist. Damals aber, Anfang der siebziger Jahre, wuselte Kempowski für mich nur im Hintergrund einer großen Gesellschaft in seinem geräumigen Haus herum, klein und schmal, und alle andern wirkten neben ihm fast ungeschlacht und dröhnend selbstsicher.«
Kempowski dagegen verortete die erste Begegnung in München. So diktierte er einer Mitarbeiterin im Jahr 2005 zu dem Messingtäfelchen mit dem Namen des Freundes, einem der vielen, die bis heute die Regale im Turm des Kempowski-Hauses zieren: »Jörg Drews, der Liebe, gehört nun wirklich zu meinem engsten Freundeskreis und er war unzählige Male hier. Ich lernte ihn 1971 oder ’72 in München kennen. Damals trug er noch eine Beatle-Mähne, damals war er noch langhaarig. Und er machte, von mir bestaunt, zusammen mit Ludwig Harig die sonderbarsten Witze. Bis heute ist er mir treu geblieben, und ganz unauffällig sorgt er immer dafür, daß mein Name gefördert wird. Er ist also Freund und Wohltäter und auch allerdings Beichtiger, denn oft habe ich ihn angerufen und mich mit ihm über heikle Angelegenheiten besprochen.«
Das Treffen in München und der Besuch in Nartum – beides könnte sich so zugetragen haben. Dafür, daß sich der Kontakt nach der von Drews beschriebenen Begegnung in Kempowskis Haus – es wurde im Sommer 1974 bezugsfertig – intensivierte, spricht auch die Tatsache, daß vorher keine Eintragungen zu Drews in den Tagebüchern Kempowskis zu finden sind und der mutmaßlich erste Brief vom 28. März 1975 stammt. In ihm dankte Kempowski dem lieben Herrn Drews für dessen »Zeppelin-Informationen«. »In den großen Ferien«, schrieb er, »gehe ich mit dem Tonbandgerät auf die Reise. Ich will Altersheime abklappern nach Weltkrieg I-Veteranen. Daß ich Luftschiffer finden werde, ist unwahrscheinlich, und diese Lücke eben werde ich mit Hilfe Ihrer Literatur schließen können.«
Jörg Drews, der gern Pilot geworden wäre, hatte von Jugend an ein Faible für die Luftfahrt – wer sein Besprechungszimmer an der Universität Bielefeld betrat, konnte an einem Tisch mit zwei Lufthansa-Sitzen Platz nehmen. Seine Kenntnisse waren nahezu unerschöpflich, und offensichtlich hatte Kempowski diese Quelle, möglicherweise für ausgedehnte Recherchen zu seinem Roman »Aus großer Zeit«, angezapft. Später bot er Drews die Mitarbeit an verschiedenen Projekten an, so zum Beispiel an »Kempowskis Kuriositäten-Lexikon« (kurz »KKL«) sowie einem »Kalender«, beide wurden jedoch nicht realisiert. Erst bei der »Gast-Lektoren-Tätigkeit« kam es zu einer Kooperation. Kempowski schrieb am 19. September 1978: »Ich habe lange überlegt, wen ich dafür auswählen könnte (…). Nur Du bist mir eingefallen, vielleicht ein Zeichen für Dich, wie sehr ich Dich schätze.«
Drews nahm das Angebot an, traf sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in Nartum mit Kempowski und verfaßte nach diesen Arbeitsgesprächen Gutachten, die dem Gründer und Leiter des Münchner Knaus Verlags, Albrecht Knaus, zur Orientierung über die Vorhaben seines Autors dienten. 1983 begann auch die von Radio Bremen in Kempowskis Haus veranstaltete Reihe »Literatur im Kreienhoop«, bei der Drews ein gerngesehener Gast war. Zu dieser Zeit gehörte Kempowski bereits zu den vielgelesenen deutschen Autoren, Teile seiner Familiengeschichte waren von Eberhard Fechner verfilmt worden, und der Abschlußband der »Deutschen Chronik« mit dem Titel »Herzlich willkommen« stand kurz vor der Veröffentlichung.
Drews war seit 1973 Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts in Bielefeld. Er rezensierte für die »Süddeutsche Zeitung« und andere Printmedien, war Mitbegründer des »Bielefelder Colloquiums Neue Poesie«, verkehrte freundschaftlich mit zahlreichen Autorinnen und Autoren, kurz: war gut vernetzt und hatte sich als gewichtige Stimme in der deutschen Literaturlandschaft etabliert. Kempowski suchte seinen Rat, wenn literarische Vorhaben ins Stocken zu geraten drohten. Drews erkundigte sich regelmäßig nach dem Stand der Arbeiten. War ein neues Buch erschienen, verfaßte er in der Regel nicht nur eine Rezension, sondern schrieb dem Autor auch persönlich. So zum Tagebuch »Sirius«, das 1990 erschien: »ich habe mich sehr gefreut an dem buch, bei dem du eine schöne balance hältst von infragestellung deiner selbst und rechtbehaltenwollen, von haarsträubenden späßen und einem ernst, den du aber nicht zu lange durchzuhalten versuchst. manchmal hat man auch den eindruck, daß du gar ein ganz klein bißchen weise wirst. und das sage ich ohne spott & ironie!« (18. Dezember 1990) Doch Drews konnte auch Kritik anbringen, wie im Brief vom 22. Juni 1992 anläßlich des Romans »Mark und Bein«: »ich habe das buch als sehr unterhaltend empfunden, aber es hat nicht die pranke des löwen in seiner handschrift, das muß ich dir doch sagen. das erschütternde wird ein bißchen überlaufen oder verwischt durch das pläsierliche. pardon! da hatte doch der SIRIUS einen anderen biß!!!! und vom ECHOLOT verspreche ich mir höchstes und intensivstes.«
Immer war es der experimentelle, ja avantgardistische Ansatz, den Drews besonders schätzte; sobald Kempowski sich ins Fach des konventionellen Romanciers entfernte, konnte er eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen. Der Austausch intensivierte sich im Zusammenhang mit dem zehnbändigen »Echolot«, neben der »Deutschen Chronik « und den Tagebüchern eine weitere tragende Säule des Werks. Von Anfang an war Drews in die Entstehung involviert und vom Vorhaben und seiner Umsetzung begeistert. Kempowski schrieb ihm regelmäßig von den Versuchen, der Textmassen Herr zu werden, aber auch vom Ringen um die Form. Experimente zur Collage- und Montagetechnik, eingefügte Bilder und Zeitsprünge, die Sprechspur (ein Versuch, die Ebene der »Echolot"-Texte mit Notaten aus dem eigenen Tagebuch zu kontrastieren): Was in der Dichterwerkstatt in Nartum diskutiert wurde, erfuhr man auch in Bielefeld. Und Drews setzte sich mit den Ideen weitsichtig auseinander und gab Ratschläge, die der Autor zu schätzen wußte. Oft folgte er ihnen, wenn auch manchmal erst nach weiteren Experimenten.
Ende 1993 war es soweit: Die ersten vier Bände des »Echolots« zum Januar / Februar 1943 erschienen. Das »kollektive Tagebuch« fand in der Presse großen Zuspruch und wurde zu einem der aufsehenerregenden Bucherfolge der neunziger Jahre. Drews verfaßte in der »Süddeutschen Zeitung« (4. / 5. Dezember 1993) unter der Überschrift »Ein Meisterwerk wird besichtigt. ›Das Echolot‹: Walter Kempowskis literarische Jahrhundertcollage « eine der zentralen Rezensionen. Am 30. Dezember dankte Kempowski ihm in einem zweiseitigen Brief für »die gute Meinung«, die er von dem Buch habe. »Du warst ja von Anfang an mit dem Projekt vertraut, und ich vergesse nicht den guten Ratschlag, den Du mir gabst, im Hinblick auf die ›Sprechspur‹, die in der Tat das Ganze nur belastet hätte. In der Reihe der großen Kritiken über das Echolot hast Du das Wort ›Pietät‹ gebraucht, Du hast sie gespürt, die Verhaltenheit oder Scheu, die mich davon abhielt, allzu kraß neben TM [Thomas Mann] etwa Auschwitz [Eintragungen aus dem »Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 –1945« von Danuta Czech] zu setzen. Der Versuchung, womöglich Beiträge in Anekdotenlänge aneinanderzureihen, bin ich nicht erlegen, wie Du selbst schreibst. Kürzen war mir immer peinlich, das wär mir so vorgekommen, als hätte ich nachträglich den Toten den Mund zugehalten. Wir müssen uns auch mal ›Längen‹ aussetzen, wieso sollten wir nicht die Zeit dazu haben?« Der letzte Band des »Echolots« erschien 2005.
[…]Simone Neteler
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