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Faber, Elmar
- 3/1988 | Literatur & Publikum / Elmar Faber - Christoph Hein. Ein Briefwechsel
Fabre, Giorgio
- 6/2005 | Die antisemitische Achse der Literaturzensur
Fabre, Jean-Henri
- 2/2009 | Entomologische Streifzüge, S. 149 Leseprobe
Fabre, Jean-Henri
Entomologische Streifzüge
Die Languedoc-Grabwespe
Wenn der Chemiker sein Experiment reiflich geplant hat, mischt er seine Reagenzien, wann es ihm am besten paßt, und macht Feuer unter dem Kolben. Er ist Herr über Zeit, Ort und Umstände. Er wählt eine Stunde, er zieht sich in die Abgeschiedenheit seines Labors zurück, wo ihn nichts ablenken kann. Er erzeugt nach Belieben diese oder jene Bedingung, welche die Überlegung ihm eingibt: Er spürt den Geheimnissen der Natur nach, in der er mit Hilfe der Wissenschaft chemische Aktivitäten hervorrufen kann, wann es ihm günstig erscheint.
Die Geheimnisse der lebendigen Natur - nicht die des anatomischen Aufbaus, sondern vielmehr die des Lebens in Aktion, vor allem des Instinkts - stellen den Beobachter vor viel schwierigere und heiklere Bedingungen. Weit entfernt davon, über seine Zeit verfügen zu können, ist man ein Sklave der Jahreszeit, des Tages, der Stunde, ja sogar des Augenblicks. Wenn die Gelegenheit sich bietet, muß man sie beim Schopf ergreifen, denn sie wird sich wohl so bald nicht wieder bieten. Und da sie sich gewöhnlich genau dann bietet, wenn man am wenigsten daran denkt, ist nichts zur Hand, um den besten Nutzen daraus zu ziehen. Man muß sofort das bißchen Material für seine Versuche improvisieren, seine Pläne ausarbeiten, seine Taktik entwerfen, sich Listen ausdenken; nur zu glücklich ist man, wenn die Eingebung so rasch kommt, daß man die Gelegenheit nutzen kann. Sie bietet sich kaum, wenn man sie sucht. Man muß sie geduldig abpassen, Tag um Tag, hier an den Sandhängen, die der prallen Sonne ausgesetzt sind, dort im Schwitzbad eines von hohen Böschungen umschlossenen Pfades oder auf dem Vorsprung eines Sandsteinfelsens, dessen Festigkeit nicht immer Vertrauen einflößt. Wenn es euch vergönnt war, euren Beobachtungspunkt unter einem mageren Olivenbaum einzurichten, der den Anschein erweckt, als würde er euch vor den Strahlen einer gnadenlosen Sonne schützen, dann segnet das Geschick, das euch verwöhnt: Eure Parzelle ist ein Paradies! Vor allem: Laßt eure Augen auf der Lauer liegen! Der Platz ist günstig, und wer weiß, die Gelegenheit kann jeden Moment kommen.
Sie ist gekommen, spät zwar, aber immerhin. Ach, wenn man doch nach Belieben beobachten könnte: In der Stille des Studierzimmers, ganz für sich, gesammelt, nur auf seinen Gegenstand konzentriert, weit weg von dem laienhaften Spaziergänger, der stehenbleibt, wenn er euch so beschäftigt sieht mit einem Punkt, wo er selbst nichts sieht - der euch mit Fragen überschüttet, euch für einen Wünschelrutengänger hält, der Wasseradern sucht, oder - noch schlimmer! - euch verdächtigt, mit Hilfe von Zauberformeln alte Tonkrüge voller Münzen in der Erde ausfindig zu machen! Wenn ihr ihm immer noch als Christenmensch erscheint, wird er euch ansprechen, wird anschauen, was ihr anschaut, und auf eine Weise lächeln, die unmißverständlich klarmacht, was er von Menschen hält, die sich mit der Beobachtung von Fliegen befassen. Ihr werdet nur zu froh sein, wenn sich der lästige Besucher, der euch insgeheim verlacht, endlich verzieht, ohne alles in Unordnung zu bringen, ohne unschuldsvoll die Katastrophe zu wiederholen, welche die Stiefelsohlen meiner zwei Rekruten verursacht haben.
Wenn eure unerklärlichen Beschäftigungen nicht den Spaziergänger beunruhigen, dann den Feldhüter, den sturen Vertreter des Gesetzes inmitten der Brachen. Schon lange hat er ein Auge auf euch. So oft hat er euch planlos umherlaufen sehen, hierhin, dorthin, ohne erkennbaren Grund, einer verlorenen Seele gleich, so oft hat er euch beim Aufgraben des Erdreichs überrascht, wie ihr unter tausend Vorsichtsmaßnahmen in einem Hohlweg ein Stückchen Wand abschlugt - so daß ihr ihm vielfach verdächtig wurdet. Zigeuner, Vagabund, anrüchiger Landstreicher, Felddieb - etwas anderes seid ihr für ihn nicht. Wenn ihr eine Botanisiertrommel mithabt, ist sie in seinen Augen ein Behälter fürs Frettchen, zum Wildern, und er wäre nicht davon abzubringen, daß ihr unter Mißachtung der Jagdgesetze und der Rechte des Eigentümers alle Kaninchenbaue in der Nähe entvölkert. Seid auf der Hut! So stark auch das Verlangen ist: Streckt nicht die Hand aus nach der Traube im Weinberg des Nachbarn! Der Mann mit der städtischen Dienstmarke könnte da sein; er würde mit Freuden ein Protokoll aufnehmen, um endlich eine Erklärung zu haben für ein Betragen, mit dem man sich an höchster Stelle befaßt.
Ich kann mich dieser Gerichtsbarkeit stellen; ich habe keine solche Missetat begangen, und doch: Als ich eines Tages auf dem Sandboden liege, hingerissen von den Details der Haushaltsführung einer Kreiselwespe, höre ich plötzlich neben mir: »Im Namen des Gesetzes fordere ich Sie auf: Folgen Sie mir!« Es war der Feldhüter von Angles, nachdem er vergebens versucht hatte, mich bei einem Vergehen zu ertappen, und jeden Tag die Lösung des quälenden Rätsels heftiger ersehnte, entschloß er sich schließlich zu einem brutalen Anruf. Ich mußte mich rechtfertigen. Der arme Mensch schien keineswegs überzeugt. »Pah, pah!« sagte er. »Sie werden mir nicht einreden, daß Sie hergekommen sind und sich von der Sonne rösten lassen, nur um Mücken fliegen zu sehen. Ich werde Sie nicht aus den Augen lassen! Und bei der ersten Gelegenheit! Einmal reicht!« Und tritt ab. Ich glaube, daß mein Ordensband der Ehrenlegion viel zu diesem Ausgang beigetragen hat. Diesem roten Band schreibe ich ähnliche Wirkungen auf anderen entomologischen oder botanischen Streifzügen zu. Es schien mir, vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, es schien mir, daß beim Kräutersammeln auf dem Mont Ventoux der Führer umgänglicher und der Esel nicht so störrisch war.
Das kleine scharlachrote Band hat mir nicht immer die mißlichen Abenteuer erspart, die der Entomologe gewärtigt, wenn er an öffentlichen Wegen Experimente anstellt. Beschreiben wir eins, das bezeichnend ist. - Sobald es Tag wird, sitze ich in einer Felsschlucht auf einem Stein und lauere. Objekt meines morgendlichen Besuches ist die Languedoc-Grabwespe. Drei Weinleserinnen kommen auf dem Weg zur Arbeit vorbei. Ein kurzer Blick auf den sitzenden Mann, der in Gedanken versunken scheint. Es wird sogar höflich gegrüßt und höflich zurückgegrüßt. Bei Sonnenuntergang kommen sie wieder vorbei, die vollen Körbe auf dem Kopf. Der Mann sitzt noch da, auf demselben Stein, blickt auf dieselbe Stelle. Meine Reglosigkeit und mein Ausharren an diesem einsamen Platz mußten sie überraschen. Als sie vorübergingen, sah ich, wie sich eine mit dem Finger an die Stirn tippte, und hörte sie tuscheln: »Armer Trottel - der Ärmste!« Und alle drei bekreuzigten sich.
Trottel, hatte sie gesagt, ein Trottel, ein Schwachsinniger, ein armer Teufel - harmlos, aber er hat keinen Verstand, und alle machten das Kreuzeszeichen - ein Idiot trug für sie das Zeichen Gottes. Wie bitte? frage ich mich, welch grausamer Hohn des Schicksals! Du, der du sorgfältig untersuchst, was beim Tier Instinkt und was Vernunft ist - für diese guten Frauen hast du nicht mal Verstand! Welche Demütigung! Egal. »Der Ärmste«, im Provenzalischen Inbegriff höchsten Mitleids, »der Ärmste«, aus tiefem Herzen - das hat mich den »Trottel« bald vergessen lassen.
[...]
Aus dem Französischen von Friedrich KochSINN UND FORM 2/2009, S. 149-151
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- 4/2010 | Rumänien - Reisen in einem Land, ehe die Finsternis hereinbrach, S. 99 Leseprobe
Fermor, Patrick Leigh
Rumänien - Reisen in einem Land, ehe die Finsternis hereinbrach
Unter dem Fenster der Nachtmaschine schimmerte Bukarest, schwach wie eine von Kerzen beleuchtete belagerte Stadt. Die Revolution, die die Welt in Staunen versetzt hatte, war gerade einen Monat alt, und als wir landeten, fragte ich mich, wie diese verblüffenden Ereignisse die Stadt verändert haben mochten; und, aus persönlichen Gründen, inwieweit sich das Land wohl von jenem unterschied, in dem ich vor dem Krieg ein paar Jahre gelebt hatte. Dazu müssen wir ein wenig zurückgehen. Genauer gesagt mehr als ein halbes Jahrhundert. Im Frühjahr 1934 war ich unterwegs auf meiner Wanderung nach Konstantinopel, auf der ich mit £ 1 pro Woche auskommen wollte und nächtigte, wo es sich gerade ergab; doch das alles änderte ein Empfehlungsschreiben kurz nach meinem neunzehnten Geburtstag in Ungarn – man lieh mir ein Pferd, auf dem ich die Pußta durchquerte, an die Stelle von Scheunen und Kuhställen traten Burgen und Landhäuser, und als ich schließlich die Grenze überquerte und nach Siebenbürgen kam – das Land aus der Sicht der Rumänen also durch die Hintertür betrat –, war aus dem harten Fußmarsch längst ein Ritt von Schloß zu Schloß geworden.
Die Leute, bei denen ich unterkam, waren weiterhin Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg war Siebenbürgen Rumänien zugesprochen worden, und der Verlust schien für die Ungarn beiderseits der Grenze ein Stich ins Herz zu sein. (Ich glaube, auf diesen Reisen habe ich alles aufgenommen außer Politik. Ich mochte die Ungarn, weil sie gastfreundlich, temperamentvoll und verwegen waren, und aus ähnlich persönlichen Gründen faßte ich später auch eine ebenso große Zuneigung zu den Rumänen.)
Die meisten Siebenbürger Ungarn – zwei Millionen – wohnten weit im Osten; meine neuen Freunde hingegen gehörten zu jenen verstreuten ungarischen Grundbesitzern, die seit Generationen in den westlichen, fast ganz von Rumänen bevölkerten Landesteilen lebten. Aber nach Herkunft und Religion verschieden von der übrigen Bevölkerung, zu sehr an ihre alten Häuser gebunden oder zu arm, um ihre Wurzeln auszureißen und in Ungarn von vorn zu beginnen, ähnelten sie den englischen Adelsfamilien in Irland, und in den Häusern fand ich den gleichen Hauch von Wehmut, den gleichen Charme. Sie führten ein verzaubertes Leben, das hundert Jahre hinter ihrer Zeit zurück war. Meine erste Station, nördlich von Arad, war das Anwesen von Baron Tibor Solymosy, einem fröhlichen Junggesellen und alten Kavalleristen. Das Haus stand, von Säulen getragen und palladisch, wie ein Abbild des Londoner Haymarket Theatre in einem Meer von Weinbergen. Der Aufenthalt wurde zu einer Art Initiation und endete, auf der Krone des weinlaubbekränzten Hügels, mit einem rauschenden Fest aller Nachbarn, bei dem wir zur Musik der Zigeunerkapelle bis zum Morgen tanzten. Danach wurde ich von Haus zu Haus weitergereicht wie ein Wanderpokal. Das nächste war eine Art Hazienda, umgeben von mächtigen Bäumen, und gehörte einem exzentrischen Polen und seiner ungarischen Frau Klara Zay, einer wilden, doch brillanten Reiterin. (Pferde spielten eine große Rolle. Die Straßen ruinierten die Autos, und so legte man kurze Strecken in klapprigen Landauern oder zu Pferde zurück.) Ötvenes, mein nächstes Ziel, war der Schauplatz von Schnitzeljagden im Wald und von Feuerwerk nach dem Abendessen. Die Fliederblüte ging schon zu Ende, doch es gab wilde Malven und rote und weiße Pfingstrosen, und auf den Schornsteinen saßen die flügge gewordenen Störche in ihren Nestern.
In Capalnas südlich des Flusses Mureș (Mieresch), im Haus des Grafen Jenö Teleki mit seiner berühmten Sammlung orientalischer Nachtfalter, vergingen die Tage wie im Fluge. Mein letzter und längster Aufenthalt war der bei Elemér v. Klobusicky – dem »István« früherer Berichte –, einem originellen und schneidigen ehemaligen Husaren, gerade alt genug, um den Weltkrieg noch mitgemacht zu haben; es waren Wochen voller merkwürdiger Abenteuer, die mit einer sommerlichen Spritztour durch Siebenbürgen endeten, in Begleitung eines ungestümen, unternehmungslustigen Mädchens, dem ich den Namen Angéla gegeben habe. In einem riesigen geborgten Wagen erkundeten wir drei die alten Städte Alba Iulia und Cluj (Weißenburg und Klausenburg) sowie die Magyarenmetropole Tîrgu Mureș (Neumarkt), Mittelpunkt des Landes der Szekler, die sich im 10. Jahrhundert dort angesiedelt hatten. Von da rasten wir weiter Richtung Süden nach Sighișoara (Segesvár oder Schäßburg), der schwindelerregenden Festung von Vlad dem Pfähler mit ihren Türmchen und Zinnen. Am nächsten Tag trennten wir uns, und ich war traurig und wieder allein.
Inzwischen war es August geworden. Ich stapfte südwärts entlang der Flanken des Retezatgebirges und blieb eine Weile im Lager rumänischer Schäfer hoch in den Bergen; zähe, ganz auf sich gestellte Menschen, die in einer Welt der steilen Wälder, der gewaltigen Herden, der Wölfe und Bären lebten. Danach stieß ich auf chassidische Juden, die weiter unten am Berg einen Holzeinschlag betrieben, überquerte die Donau und kam nach Bulgarien, schlief wieder in Scheunen und Gräben und erreichte am Neujahrstag des Jahres 1935 endlich Konstantinopel.
Doch noch vor Jahreswende war ich wieder in Rumänien, an einem Ort namens Baleni, wo ich lange blieb. Das Haus gehörte zwei rumänischen Schwestern, ein wenig älter als ich; wir hatten uns in Athen kennengelernt, wo die eine als Malerin lebte, und es entwickelte sich eine unbekümmerte Freundschaft. Ich wollte mit dem Schreiben beginnen, wir warfen unser Geld zusammen, und nachdem wir den Sommer und Herbst in einer Mühle auf der Peloponnes gemalt und geschrieben hatten, stellte sich die Frage: Wohin nun? Bald war die Antwort gefunden: »Wir haben da eine Bruchbude in der Moldau. Warum nicht dahin?« Nach einer Schiffsfahrt bis Constanza und der Weiterreise von Galatz nordwärts mit dem Zug stiegen wir an einem kleinen Bahnhof aus, wo ein alter polnischer Kutscher wartete; eine einstündige Fahrt brachte uns nach Baleni. Es war ein großes, weitläufiges, einstöckiges, weißes Herrenhaus, mit einem Dorf und Bäumen und einem Hof voller freundlicher Hunde. Ringsum erstreckten sich die winterlichen Täler der Moldau. Nach Osten hin, jenseits von Prut und Dnjestr, lag Rußland.
In jenen Tagen kam mir Rumänien vor wie ein fernes Land, und die Moldau, das nördliche der beiden alten Fürstentümer, die im 19. Jahrhundert zum späteren Königreich Rumänien vereinigt wurden, schien noch weiter weg zu sein. Das in der Walachei gelegene Bukarest war das blühende Zentrum des jungen Königreichs, und die bezaubernde Moldaukapitale Jassy, die Stadtresidenz der großen Bojaren des Nordens, versank in elegantem Niedergang. Historisch gesehen war die Moldau der bei weitem fremdere Landesteil. Das waldige Hügelland schwang sich nach Westen und Norden zu den Kieferwäldern der Karpaten auf – nach Ungarn, Siebenbürgen, der Slowakei, Polen und der Bukowina –, im Süden erstreckte sich die walachische Tiefebene, und nach Südosten folgte die von Vögeln bevölkerte Weite des Donaudeltas. Daran schloß sich das Schwarze Meer an; und im Osten ergoß sich die Steppe bis nach Bessarabien und in die Ukraine hinein. Die niedrig gelegenen Regionen waren im Sommer heiß und staubig und von Herden übersät, hier raschelten die Mais- und Kornfelder und die Luftspiegelungen flimmerten; im Winter verschwand alles unter einer dicken Schneedecke, und aus der Ferne hörte man das Heulen der Wölfe. Hie und da, lange Kutsch- oder Schlittenfahrten voneinander entfernt, beschattet von hohen Bäumen und Krähenhorsten, mit Kutschhäusern, Ställen, Schmieden, Scheunen und Katen dahinter, lagen die langgestreckten, ihren Gegenstücken in Turgenjews Romanen so ähnlichen moldauischen Gutshäuser, wie eine verstreute Flotte weißer Schiffe.
[…]Aus dem Englischen von Manfred Allié
SINN UND FORM 4/2010, S. 486-495
- 1/2013 | Paradox im Himalaya
Fernández-Recatala, Denis
- 5/1984 | Gespräch mit Rafael Alberti
Feßmann, Jörg
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- 3/2009 | »Nachschlagewerk für alle Schreibenden«. Über Alfred Döblin
Feßmann, Meike
- 2/1999 | Gespräch mit Peter Härtling und Jörg Feßmann
- 3/1998 | Die Wörter laufen Patrouille
- 1/2003 | Eine radikal poetische Existenz. Die Verwandlungen der Else Lasker-Schüler
- 1/2004 | Poetik der Nähe. Zur Topologie des Intimen in der Gegenwartsliteratur
- 4/2004 | Gezielte Verwilderung. Modernität und Romantik im Werk von Brigitte Kronauer
- 5/2013 | Vom Aufbewahren der Erinnerungen. Über Marica Bodrozic
- 5/2014 | Die Freiheit, sein Leben noch einmal zu erzählen. Laudatio auf Abbas Khider
- 2/2019 | Das Licht, der Raum und die Zeit. Laudatio zum Kranichsteiner Literaturpreis für Thomas Lehr
- 2/2022 | Zsófia Bán oder Die Nordwestpassage der Imagination
Fest, Alexander
- 1/2005 | Die Stimme. Gratulation zum 75. Geburtstag von Imre Kertész
- 1/2010 | Kleine Rede auf Imre Kertész
Fest, Joachim
- 3/1997 | Nach dem Scheitern der Utopien. Probleme der offenen Gesellschaft
- 4/2004 | Glück als Verdienst. Eine biographische Betrachtung über Golo Mann
Festner, Katharina
- 1/1994 | Gespräch mit Wulf Kirsten und York-Gothart Mix
Feuchtwanger, Lion
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Zum fünfundsechzigsten Geburtstag Arnold Zweigs
- 5/1953 | Ketzerisches über Leo Tolstoi
- 3/1954 | Die Arbeitsprobleme des Schriftstellers im Exil
- 1/1955 | Die Feuerpause
- 1-2-3/1957 | Bertolt Brecht
- 1/1959 | An Maxim Gorki
- 1/1959 | Briefe an die Freunde
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Hanns Eisler
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Briefe an Willi Bredel
- 3/1984 | Zum 100. Geburtstag. Aus dem Briefwechsel
Fichte, Hubert
- 5/1990 | Gott ist ein Mathematiker
Fiedorczuk, Julia
- 6/2021 | Psalmen. Gedichte
Figal, Günter
- 1/1995 | Die eigentliche Modernität. Nietzsches antinomisches Denken
- 6/1995 | Einsicht über die Aufklärung hinaus. Politik und Philosophie im Anschluß an Platon
- 2/1997 | Exzentrisches Gegengewicht. Über die Möglichkeiten von Politik und politischer Philosophie
Filips, Christian
- 4/2004 | Gedichte
Finke, Fidelio F.
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
Finkelstein, Sidney
- 1/1969 | Arbeiterklasse und Erbe der Schönheit
Finkielkraut, Alain
- 5/2010 | Muß man modern sein?, S. 581 Leseprobe
Finkielkraut, Alain
Muß man modern sein?
Die beiden Forderungen der Avantgarde
Am 13. August 1977 notiert Roland Barthes in seinem Tagebuch: »Auf einmal ist es mir gleichgültig geworden, daß ich nicht modern bin.« Ein verblüffender Satz, wenn man ihn recht bedenkt. Damals war es tatsächlich ratsam, ja sogar von vitaler Bedeutung, modern zu sein, und in ästhetischen Fragen vergab Barthes dieses wertvolle Gütezeichen. Der Autor von »Am Nullpunkt der Literatur« gehörte zu den paar Handverlesenen, die in Sachen Modernität gut oder schlecht Wetter machten. Er war einer von denen, die die Mannschaft aufstellten. Barthes trennte souverän zwischen Altem und Neuem, schied unablässig Zeitgemäßes von Unzeitgemäßem, Aktuelles von Überholtem. Und hier nun, mit sich allein, bekennt er, daß der Riß mitten durch sein Herz ging. Er war Richter und Angeklagter zugleich. Das Scharfgericht, das er in geistigen Dingen ausübte, traf ihn selbst. Er schloß aus, was er liebte; die Werte, die er proklamierte, verdammten manche seiner tiefempfundenen Neigungen. Sein Geschmack litt unter seinen Verdikten, doch das gab er nicht zu, aus Angst, nicht modern zu sein. Eine seltsame und zähe Furcht machte ihn zum heimlichen Dissidenten der eigenen Lehre. Plötzlich fällt die Einschüchterung weg. Er hat keine Angst mehr. Sein anderes Ich verläßt das Versteck und kann endlich frei atmen. Eine paradoxe Freiheit: Ist Befreiung nicht die moderne Geste schlechthin? Was wäre denn modern, wenn nicht die Ablösung von der Autorität der Alten nach dem immer noch wirksamen Vorbild Charles Perraults, der sich mit diesen unerschrockenen Versen über Mimetismus und Akademismus hinwegsetzte:
Stets verdiente die schöne Antike Verehrung
Doch anbetungswürdig erschien sie mir nie
Ich betrachte die Alten nicht auf den Knien
Groß sind sie gewiß, doch Menschen wie wir.
Mehr noch: Hat nicht der Mensch, seit er modern ist, den Gedanken von der menschlichen Natur aufgegeben, um sich als freies Subjekt zu verstehen und zu definieren? Der moderne Mensch, der Mensch als Moderner, hatte seinen ersten, glanzvollen Auftritt 1482 in der »Oratio de hominis dignitate« von Pico della Mirandola. Diese bewundernswerte Rede beginnt mit einer Erzählung, und nicht mit irgendeiner, sondern mit der Genesis. Gott erschafft die Welt, und nachdem er sie als »den erhabensten Tempel der Gottheit« errichtet, den Raum über den Himmeln mit Geistern geschmückt, die Sphären des Äthers mit ewigen Seelen belebt und die schmutzigen Teile der unteren Welt mit einer Schar von Lebewesen aller Art gefüllt hat, verspürt der allerhöchste Baumeister plötzlich den Wunsch, »es gäbe jemanden, der die Gesetzmäßigkeit eines so großen Werkes genau erwöge, seine Schönheit liebte und seine Größe bewunderte«.
Erst in dem Augenblick, in dem er diesen Betrachter des Universums schaffen will, bemerkt Gott verlegen, daß seine Ressourcen erschöpft sind. Sein Vorrat an Archetypen ist aufgebraucht. Alles ist bereits den oberen, mittleren und unteren Ordnungen zugeteilt. Doch es entspräche nicht der göttlichen Weisheit, vor einem so notwendigen Werk unschlüssig zu zögern. Der allerhöchste Schöpfer macht also aus der Notwendigkeit eine Tugend: Er begreift den Menschen als »Geschöpf von unbestimmter Gestalt«, und nachdem er ihn in die Mitte der Welt gestellt hat, spricht er ihn folgendermaßen an: »Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du dir selbst ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen. (…) Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du, wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn deine Seele es beschließt.«
Durch diese Erzählung von den Ursprüngen, diese wahrhafte Bibel des modernen Zeitalters, erhält die Aufhebung des heiligen Textes etwas Religiöses, und die Definition des Menschen als völlig autonomes Wesen erscheint fremdbestimmt (als eine Entscheidung von oben). Der Schöpfer der Dinge setzt Adam als Schöpfer ein. Doch offenbart wird ihm nicht das Gesetz, das ihn begründet, sondern daß er selbst Quelle seiner Gesetze ist. Dieses Geschöpf unterscheidet sich von allen anderen dadurch, daß es sich selbst schafft und gestaltet und daß keine Autorität, keine Transzendenz, keine höhere Instanz ihm verbieten, sich die göttlichen Eigenschaften Allwissenheit und Allmacht anzueignen. Der Bruch mit der christlichen Tradition und der Weisheit der Alten tarnt sich als Kontinuität: Pico della Mirandola legt Gott eine herrliche Erklärung der Unabhängigkeit des Menschen in den Mund.
Die Würde des Menschen hängt nicht mehr von der Stellung ab, die ihm ein für allemal im Weltengebäude zugewiesen wurde. Seine Würde liegt vielmehr darin, daß nichts für ihn, nichts in ihm ein für allemal feststeht. Das Endgültige ist abgeschafft. Der Mensch ist das Wesen, dessen Handeln nicht aus dem Sein, sondern dessen Sein aus dem Handeln erwächst. Er ist im Grunde nichts. In »Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance« schreibt Ernst Cassirer, »daß der Mensch sein Sein nicht, gleich dem der übrigen Wesen, fertig von der Natur erhält und es gleichsam von ihr dauernd zu Lehen trägt, sondern daß er es sich erwerben, daß er es durch virtus und ars gestalten muß«. Nicht mehr Substanz, sondern Freiheit macht das Phänomen Mensch aus, und der Wille zur Künstlichkeit siegt über die Neigung, sich einem Modell oder einer normativen Autorität zu fügen.
Doch wo liegt dann die Wahrheit, wenn es keine Natur mehr gibt, die sie umschreibt, und keine kanonischen Schriften, die sie verkünden? Etwa hundertfünfzig Jahre nach Pico della Mirandola gibt Francis Bacon in seinem »Novum Organon« die Antwort darauf: Die Wahrheit ist die Tochter der Zeit und nicht der Autorität. Da die Würde des Menschen nicht mehr in der Erfüllung seiner Natur, sondern in seinen unendlichen Möglichkeiten besteht, ist er gezwungen, unaufhörlich voranzuschreiten und über sich hinauszuwachsen. Unter dem Eindruck der ersten Erfolge des wissenschaftlichen Denkens verliert das Sein seinen ontologischen Vorrang an das Werden, und die Menschheit kippt ins geschichtliche Element. Nicht mehr Geschichten, sondern GESCHICHTE; keine Sammlung von Menschheitsfabeln mehr, sondern der Weg, den die menschliche Gattung einschlägt, um einer Berufung zu folgen, die von keinen Grenzen eingeengt wird, keiner Definition verhaftet bleibt. »Was ist Geschichte?«, fragt jemand in »Doktor Schiwago«. Und seine Antwort lautet: »Sie ist der Beginn einer jahrhundertelangen systematischen Arbeit, die dazu bestimmt ist, das Geheimnis des Todes aufzuklären und endlich den Tod selber zu überwinden.«
Dem Ansehen und Einfluß der Alten folgt also die Faszination der Bewegung. Wer sich nicht bewegt, wer trödelt, bummelt, zurückblickt, meint zu leben; in Wirklichkeit versäumt er das Leben. Er klammert sich an etwas, das man nicht mehr sein kann. Alles, was er liebt, alle Verhaltensweisen, die er übernimmt, alle Urteile, die er äußert, sind nicht mehr in Gebrauch. Das ist eine Anomalie, ein has-been, eine tote Last, ein metaphysischer Skandal. Barthes’ Satz zeugt von einer Zeit, in der man zeitgemäß sein muß, um im vollen Sinne zu leben.
Und was ist ein wirklich moderner, im vollen Sinne lebender Schriftsteller? Er ist eben ein Schriftsteller (écrivain) und kein Schreiber (écrivant). Während der Schreiber Zeugnis ablegt, protestiert, erklärt, lehrt, kurz gesagt: etwas schreibt, schreibt der Schriftsteller ganz einfach. Seine Tätigkeit ist intransitiv. Wie Michel Foucault in der »Ordnung der Dinge« sagt, bricht er mit einer Beredsamkeit, die ganz auf einen außersprachlichen Zweck gerichtet ist, zugunsten eines Diskurses, der »nichts anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nichts anderes zu tun hat, als im Glanz [seines] Seins zu glitzern«.
Modernität paßt hier zu Reinheit, denn was modern ist, ist nicht nur Entgrenzung, sondern Abgrenzung, ist nicht nur Entthronung des Seins durch das Werden oder der Perfektion durch unendliche Perfektionierbarkeit, sondern ist auch die Logik, die sämtliche Tätigkeiten, sämtliche Beschäftigungen zu selbstbezogenen, um ihrer selbst willen betriebenen macht und sie in der Erscheinung oder Entfaltung ihresWesens konzentriert. »Für den mittelalterlichen Kaufmann«, heißt es in Hermann Brochs Roman »Die Schlafwandler«, »galt kein ›Geschäft ist Geschäft‹, der Konkurrenzkampf war ihm etwas Verpöntes, der mittelalterliche Künstler kannte kein l’art pour l’art, sondern bloß den Dienst am Glauben, der mittelalterliche Krieg nahm nur dann die Würde der Absolutheit in Anspruch, wenn er im Dienste des einzigen absoluten Wertes, im Dienste des Glaubens geführt wurde. Es war ein im Glauben ruhendes, ein finales, kein kausales Weltganzes, eine Welt, die sich durchaus im Sein, nicht im Werden begründete, und ihre soziale Struktur, ihre Kunst, ihre soziale Verbundenheit, kurzum ihr ganzes Wertgefüge waren dem umfassenden Lebenswert des Glaubens unterworfen.« Als Gott den Platz verläßt, von dem aus Er das Universum gelenkt hatte, und die Neuzeit entsteht, trennen sich die Tätigkeitsbereiche voneinander und suchen ihre Legitimation zunehmend in sich selbst. Von der Bevormundung durch die Religion befreit, entwickeln sich Kunst, Ökonomie, Politik, Sport, Krieg gewissermaßen je für sich. Vom Absoluten befreit, werden sie professionell. Der Geist, der sie beseelt, sagt Broch, »ist von jener auf die Sache und nur auf die Sache gerichteten grausamen Logizität, die nicht nach rechts, nicht nach links schaut«. Mit unerschütterlicher Konsequenz ziehen diese Sparten aus den sie beherrschenden Postulaten die Folgerungen, die keine äußere Erwägung, kein äußeres Bedenken aufhält. Wie es zur Logik des Geschäftsmanns gehört, Geschäfte zu machen, so gehört es zur Logik des Malers, »die malerischen Prinzipien mit äußerster Konsequenz und Radikalität bis zum Ende zu führen, auf die Gefahr hin, daß ein völlig esoterisches, nur mehr dem Produzenten verständliches Gebilde entstehe«.
In der Tat, so schreibt man die Geschichte der Malerei: von Manet, der gepriesen wird, weil er sichtbar zu machen verstand, was die Darstellung vergessen ließ – die Materialität der Leinwand –, bis zu Kandinsky und Malewitsch, die gewürdigt werden, weil sie die Kunst zugunsten einer reinen Komposition von Linien, nichtidentifizierbaren Figuren und Farben aus ihrer figürlichen Schlacke herausgelöst haben. »Die Maler müssen die Sujets und die Gegenstände aufgeben, wenn sie reine Maler sein wollen«, verkündet Malewitsch. »Erst wenn das Bewußtsein die Gewohnheit verloren haben wird, im Bild die Darstellung von Eckchen der Natur, Madonnen- oder Venusdarstellungen zu sehen, werden wir das rein malerische Werk erkennen.«
Derselbe Wunsch nach Reinheit, derselbe Hang zur Subtraktion, derselbe Wille, alles zu ignorieren, was nicht auf die eigentlichen Kategorien seiner Kunst zurückzuführen ist, findet sich bei Claude Simon. In seiner Stockholmer Rede antwortet er dem Kritiker, der meinte, mit dem Nobelpreis habe man das Gerücht bestätigen wollen, der Roman sei wirklich tot: »Dieser Kritiker scheint nicht bemerkt zu haben, daß der ›Roman‹, wenn er darunter das literarische Modell versteht, das im Laufe des 19. Jahrhunderts erblüht ist, in der Tat mausetot ist, trotz der Tatsache, daß man in Bahnhofsbuchhandlungen oder anderswo noch immer und noch für lange Zeit zu Tausenden liebenswerte oder furchterregende Abenteuergeschichten mit hoffnungsfrohem oder verzweifeltem Schluß verkaufen und kaufen wird, Geschichten, die im Titel die Offenbarung von Wahrheiten ankündigen, wie zum Beispiel ›So lebt der Mensch‹, ›Die Hoffnung‹ oder ›Die Wege der Freiheit‹.«
Bahnhofsroman paßt zu überholt, wie Moderne zu Reinheit. Doch der Vorwurf richtet sich auch gegen den Begründer der Zeitschrift »Les Temps modernes«. Er nannte sie nicht zufällig so. Der Name war nicht beliebig. Er war die Standarte eines Engagements, und für Sartre eine Art, sich unzweideutig auf die Seite der Modernität zu stellen. Der Direktor der »Temps modernes« trieb die Forderung an den Schriftsteller, sich seiner Zeit anzuschmiegen, so weit, daß er den Verzicht auf Unsterblichkeit zur ästhetischen, politischen und moralischen Maxime erhob. Schreiben war für ihn ein Modus des Handelns. Es konnte also nicht den Anspruch erheben, sich der Geschichte zu widersetzen oder zu entziehen. Es gehörte dazu wie alles andere. Und Sartre in seiner Radikalität verstand es sehr gut, diesen Religionsersatz, diese letzte Bastion frommer Seelen – die Literatur – zu säkularisieren. Gegen die treuen Anhänger des unsterblichen Werkes bekräftigte er, daß »das Heil in dieser Welt liegt, daß es eine ganz und gar menschliche Angelegenheit bleibt und daß die Kunst eine Betrachtung des Lebens, nicht des Todes ist«. Die Meditation über den Tod spekuliert auf das künftige Leben. Die Meditation über das Leben widmet sich rückhaltlos dem hic et nunc, den Ansprüchen und Forderungen der Stunde. Sie konstituiert die Gegenwart als unüberschreitbaren Horizont, und weil sie modern, das heißt atheistisch ist, macht sie ihr eigenes Veralten zum Programm: »Ein Buch hat in der Epoche seine absolute Wahrheit. Es ist erlebt wie ein Aufruhr oder eine Hungersnot. Zugegeben, mit viel weniger Intensität und von einer geringeren Zahl von Menschen, aber doch auf die gleiche Weise. Es ist eine Ausstrahlung der Intersubjektivität, ein lebendiges Band aus Zorn, Haß oder Liebe zwischen denen, die es geschaffen haben, und denen, die es entgegennehmen. (…) Man hat mir oft von Datteln und Bananen erzählt: ›Sie können gar nicht mitreden. Um zu wissen, was an ihnen ist, muß man sie frisch gepflückt an Ort und Stelle essen.‹ Und so habe ich die Bananen stets als tote Früchte angesehen, deren frischer, eigentlicher Geschmack mir entging. Bücher, die von einer Epoche in die nächste hineinragen, sind wie tote Früchte; sie haben zu einer anderen Zeit einen anderen Geschmack gehabt, einen herben, lebhaften. Man muß Rousseaus ›Émile‹ oder die ›Lettres persanes‹ von Montesquieu lesen, wenn sie eben gepflückt worden sind.«
Indem er sich an die Gegenwart hält, indem er bewußt und ausschließlich für seine Zeit schreibt, entscheidet sich Sartre also für die Modernität, das heißt das Momentane, und gegen alle Formen von Ewigkeit, darunter die Nachwelt. Er ist nicht der erste. »Wenn wir den Fortschritt hassen, hassen wir unseren Tod«, sagte schon Renan: »Früher galt alles als seiend. Man sprach von Recht, Religion, Politik, Dichtung als etwas Absolutem. Jetzt wird alles als werdend betrachtet.« Und der Autor von »L’Avenir de la science« war insofern modern, als er die Auflösung oder gar Liquidierung sämtlicher Monumente – »einschließlich seiner eigenen Werke« – in der allgemeinen Bewegung billigte, ja sogar rühmte.
Doch im Unterschied zu Renan betrachtet Sartre die Geschichte als einen langen unruhigen Fluß. Er erwartet nicht, daß aus der Entwicklung der Wissenschaft ganz von allein das Reich des Humanen entsteht. Für Sartre verläuft der Fortschritt nicht linear, sondern stürmisch: Er entsteht aus dem Zusammenprall der Gegensätze. Das Neue folgt nicht dem Alten. Es steht ihm feindlich gegenüber. Die Gegenwart ist Schauplatz dieser Schlacht, bei der die Verwirklichung des Ideals auf dem Spiel steht: »Wir möchten, daß das Werk zugleich eine Tat sei, daß es ausdrücklich aufgefaßt werde als eine Waffe für den Kampf, den die Menschheit gegen das Schlechte führt.«
Das Pathos der Moderne nimmt hier eine dramatische Wendung. Modern sein, das ist keine Feststellung, sondern ein Kampf. Die gesamte Wirklichkeit ist auf diesen Kampf zwischen den Lebenden und den Übriggebliebenen ausgerichtet, zwischen denen, die die Verheißungen der Geschichte verwirklichen, und denen, die alles tun, damit sie sich nicht erfüllen. Der Sinn der Aktualität liegt in dem gnadenlosen Zweikampf, den sich das moderne Gute und das rückschrittliche Schlechte liefern. Wie kommt es zu dieser Dramatisierung? Sie entsteht dadurch, daß der Humanismus genötigt ist, für die Gewalt, Entfremdung und Unterdrückung in einer Geschichte, die nicht mehr von Gott gemacht ist, eine Erklärung zu finden. Sobald anerkannt wird, daß der Mensch die Fähigkeit besitzt, selbst die Fundamente seines Schicksals zu legen, schreibt Odo Marquard, muß »die vormals transzendent adressierte Unzufriedenheit mit der Welt (…) ans Immanente, ans Binnengeschichtliche umadressiert werden «. Wenn es schlecht läuft, entdeckt die Geschichtsphilosophie, die dafür ja nicht mehr Gott verantwortlich machen kann, als entscheidende Figur die anderen: diejenigen, die das von den Menschen gewollte Gute verhindern, das heißt die Gegner, die Feinde.[...]
Aus dem Französischen von Horst Brühmann
SINN UND FORM 5/2010, S. 581-597
Fioretos, Aris
- 2/2014 | Termiten. Aus dem Leben eines ehemaligen Diplomaten
- 5/2017 | Die dichte Welt, S. 239 Leseprobe
Fioretos, Aris
Die dichte Welt
Hinc Poenus, hinc Afer urget.
(Prädikat im Sing. merken.)
Hier dringen die Punier und dort die Afrikaner ein.
– Erik Tidner, Latinsk grammatik (1965)Das Gewirr war dicht, nicht besonders schön, undurchdringlich. In einer Zeit, in der von schwedischen Gymnasiasten erwartet wurde – es waren noch die grauen siebziger Jahre –, daß sie Bleistift und Radierer verwendeten, schrieb J. stets mit Kugelschreiber. Am liebsten benutzte er einen mit vier Farben: rot, grün, blau, schwarz. Trotz der Auswahl nahm er immer die schwarze Tinte. Während ich über die Frage nachdachte, die der Lateinlehrer uns gerade gestellt hatte (es ging um die dritte Person Singular von esse im Futurum exactum), klickte er mit seinem Kugelschreiber – vorgebeugt, den Ellbogen auf dem Tisch und seinen Mund gegen den Handrücken gedrückt. Ich ahnte ein kompliziertes Lächeln. J. mußte nicht lange über die Antwort nachdenken. Er hatte Latein binnen eines Herbstmonats gelernt und widmete sich nunmehr seinen privaten Studien. Nichtsdestotrotz dauerte es noch einige Wochen, bis ich verstand, was sich hinter dem Tintendickicht verbarg.
Wir waren ein ungleiches Paar – ich ein gelegentlich schwänzender Herausgeber der Schülerzeitung und gut in Sport; er ein gewissenhafter Genius, aber ungelenk. Außerdem waren wir Sitznachbarn, also schielte ich in J.s Heft in der Hoffnung, dort die richtige Antwort zu finden. Tinte konnte nicht wegradiert werden, dennoch fand ich keine passende Verbform im Dickicht. Jedesmal, wenn er mit dem, was er aufgezeichnet hatte, nicht zufrieden war, überschrieb er es mit kleinen Ösen – eine endlose Folge von zusammengedrückten Schreibschrift-o’s, die, als er nochmals über die Zeile ging, zu Stacheldraht wurden. Es war nicht vorgesehen, daß jemand das Geschriebene entziffern konnte. Niemand, auch er nicht, durfte das Dickicht durchdringen und die Worte dahinter erblicken. Am Ende des Schultags wölbte sich die gefüllte Seite im Heft.Neben Latein war der Selbstmord die große Herausforderung dieses vorletzten Herbsts im Gymnasium. Wir sortierten die Argumente während der Mittagspause in der Bibliothek. Am Ende blieben zwei radikale Alternativen. Diejenigen von uns, die den Tod von eigener Hand bejahten, sahen ihn als letzten Willensakt eines Menschen. Der Selbstmörder war Kapitän auf der SMS Ich, die gerade mit wehender Fahne sank, stolz oder trotzig bis zuletzt. Wer wollte sein Leben nicht so beenden, auf der Kommandobrücke, breitbeinig, die Finger an der Schirmmütze?
Diejenigen, die gegen den Freitod waren, betrachteten ihn dagegen als klarstes Zeichen dafür, daß ein Mensch die Macht über sich selbst verloren hatte. Hier konnte von einem Tod von »eigener« Hand keine Rede sein. Im entscheidenden Augenblick, als das Leben den Menschen verließ, möglicherweise mit einem erleichterten Seufzer, änderte sich sein grammatischer Status. Als Selbstmörder stand man, strenggenommen, nicht in der ersten, sondern in der dritten Person Singular. Man war zum ichlosen Jemand geworden, der freiwillig das Ruder aus der Hand gegeben hatte. Auf der SMS Nicht-Ich blieben nur die Ratten zurück. Und wer wollte ihnen das letzte Wort überlassen?
Wir waren fünf Jungen in der Klasse II, Humanistischer Zweig, die sich um das Schachbrett in der Bibliothek versammelten. Zwischen den Zügen wurden die Argumente geprüft. Als es schließlich Zeit wurde abzustimmen, waren zwei für, zwei gegen den Selbstmord. Der fünfte in unserer Gruppe weigerte sich, Stellung zu beziehen. Heute, viele Jahre später, ist die Hälfte von uns noch am Leben. Derjenige von uns, der das Thema vorgeschlagen hatte, der Klassen-Existentialist, der unsere Gruppe mit eigenhändig gebundenen Photokopien philosophischer Grundtexte versorgte, wurde Psychotherapeut in einem Nachbarland. Der Sohn des Priesters, der Kierkegaard mochte und es in die Leichtathletik-Nationalmannschaft schaffte, starb kurz vor der Jahrtausendwende. Was mit dem Trompeter in der Heilsarmee passierte, weiß ich nicht. Aber der letzte in unserer Runde, er, der sich nicht zwischen Ja und Nein entscheiden wollte, nahm sich das Leben. Das war J.J. trug einen Nachnamen, der mit son endete und zu den häufigsten unseres Landes zählt. In seinem Fall war es schwierig, die deutsche Bedeutung des Namens wegzudenken: Was auch immer J. war, er war anders als wir, er war Anders’ Sohn. Auch der Vorname war apart. Nicht weil er unter Jungen unserer Generation ungewöhnlich gewesen wäre. Sondern weil J. ihn als Bezeichnung für das, was sich hinter dem Dickicht in seinem Schreibheft versteckte, benutzen sollte.
Da die Abstimmung die Frage nicht gelöst hatte, debattierten wir weiter. Der Kamerad mit Zugang zu einem Kopierer meinte, der Selbstmord sei die erste philosophische Frage, zu der man als Erwachsener Stellung beziehen mußte; also auch wir. Im Unterschied zum Ablativus absolutus und zu Integralrechnungen, Gottesbeweisen und zum Theodizeeproblem konfrontiere sie uns mit einer ebenso praktischen wie grundlegenden Frage: War das Leben es wert, gelebt zu werden? Wer konnte behaupten, daß es eine wichtigere Antwort gab? Er persönlich betrachtete den Freitod eher als denkbaren Ausweg denn als verbotene Sackgasse. Ein Mensch war demnach in der Lage, die Herrschaft über sich selbst bis zum letzten Atemzug zu bewahren. Und keine anderen Mächte – Staat, Kirche oder Krankheit, Mißwirtschaft, unglückliche Liebe – darüber entscheiden zu lassen, wann das Leben enden sollte, sondern selbst den Schlußpunkt zu setzen.
Bei näherer Betrachtung, gab der Klassenexistentialist zu bedenken, verfüge der Suizidale über mehrere Möglichkeiten und Techniken. Da gab es den Strick, der nur einen Dachbalken brauchte, wonach die Schwerkraft den Rest erledigte. Da gab es Steine, die in die Taschen gestopft wurden, bevor man ins Wasser watete. Und da gab es die Eisenbahnschienen zwischen unserer und der größeren Nachbarstadt, die allerdings, da waren sich alle einig, eine unwürdige Lösung waren. Der Lokführer würde nach dem Schock nicht mehr derselbe sein, und ein philosophisch geschulter Selbstmörder zog andere nicht mit ins Verderben. Da gab es schließlich die Schlaftabletten der Eltern, unsere eigenen Rasierklingen und die wenigen Gasöfen, die man noch in den Abrißhäusern hinter dem Bahnhof finden konnte, wohin einer von uns gerade umgezogen war.
Aber die würdevollste Art, sich das Leben zu nehmen, warf ich ein, der wahre Triumph, war das nicht der Revolverschuß? Der Knall am Haaransatz schien mir der finale Paukenschlag zu sein. So nahm der technisch versierte Suizidvirtuose doch Abschied, wenn er das letzte Ereignis seines Lebens nicht anderen Mächten überlassen wollte – in einer Wolke aus Pulverdampf, die das Bewußtsein ein für alle Mal auslöschte, ohne Hoffnung auf ein Comeback. Richtig ausgeführt war der Revolverschuß sogar einen Artikel in der Schülerzeitung wert.
Die Proteste ließen nicht auf sich warten. Wußte ich denn nicht, wie leicht man das Ziel verfehlte? Im kritischen Augenblick zitterte meistens die Hand – ob aus Feigheit, Angst oder Zaudern spielte kaum eine Rolle – und man fügte sich nur eine fatale Wunde zu. Wünschte ich mir, den Rest meines Lebens als lallender Idiot in einer der Nervenheilanstalten am Rande der Stadt zu verbringen? Virtuo se? Pah. Von wegen. Wenn ich es wider Erwarten schaffte, mir einen Revolver zu besorgen, mußte ich die Mündung in den Mund stecken. Nur wenn das Metall gegen den Gaumen drückte, konnte ich sicher sein, künstlicher Ernährung und Erwachsenenwindeln zu entgehen. Inwiefern die Spritzer an der Wand hinter mir ein gepflegter Abgang waren, müßten die Klassenkameraden entscheiden, die die ästhetischen Fächer des humanistischen Zweigs belegten.Während unserer Diskussionen sagte J. nicht viel. Meistens saß er, den Ellbogen auf dem Tisch und den Mund gegen seinen Handrücken gepreßt, tief in die Folgen eines hypothetischen Zugs auf dem Brett versunken. Die Oberlippe zierten weiche, schwarze Haare, sonst war sein Gesicht von bösartigen Pubertätsausschlägen bedeckt, die er mit einer dicken weißen Paste behandelte. Er wechselte zwischen zwei Hemden – das eine lachsrosa, das andere pistaziengrün, beide auf der Innen- und Außenseite schmutzig. Die Manschetten blieben zugeknöpft, nicht nur während der warmen Jahreszeit, sondern auch im Sportunterricht, wenn er zwar zur kurzen Hose wechselte, aber es vorzog, Hemd und Unterhemd anzubehalten.
Während wir Basketball spielten, trieb J. für sich alleine Sport. Seine Übungen beschränkten sich für gewöhnlich auf einen Marsch an den Sprossenwänden entlang. Wechselweise hob er die Knie bis zum Brustkorb, die Füße setzte er mit der ganzen Sohle auf den Boden. Gleichzeitig bewegten sich seine geballten Fäuste auf und ab, als hielte er einen Krummstab oder eine Standarte. Gelegentlich konjugierte er dabei lateinische Verben, am liebsten sang er jedoch Wagner. J. hatte eine tiefe und schöne Baßstimme, die vor Zorn zittern, vor Indignation beben konnte. Und wenn sie sich den sumpfigen Böden der Traurigkeit näherte, bekam sie etwas ebenso Verschwommenes wie Bodenloses – als wüßte diese Stimme unendlich mehr über Verluste als wir anderen.
Siegfried und Parsifal waren seine großen Helden, aber wenn J. sang, machte er sich lieber zum Sprachrohr Alberichs, des ersten Besitzers des Rings, oder auch des alten Titurel, des Königsvaters, der über den Gral wacht. Manchmal versetzte er sich sogar in Fafner, den Drachen, der sowohl das Rheingold als auch den Herrscherring schützt. Aus J.s tiefer Stimme sprach ein älteres Wissen, eine Erkenntnis, die jüngere Generationen nicht verstehen werden können.
Sobald er bei einer Arie steckenblieb, was stets passierte, bevor er die vierte Sprossenwand erreichte, mußte J. von vorn anfangen – nicht vom Legato, bei dem seine Zunge gestolpert war, sondern vom ersten Takt an, so daß er nie zum Ende kam, ehe die Schulglocke läutete. Es gab etwas in seiner Körpermotorik, etwas mit Rhythmus und Satzfügung Zusammenhängendes, das niemand verstand. Eine dunkle, geheime Mechanik, eine Einübung in eine andere Gangart, die auf seine persönliche Beziehung zur Welt verwies. Aber auch wenn wir nicht begriffen, welche Kräfte ihn antrieben, konnten wir uns kaum des Eindrucks erwehren, daß der Versuch, ohne Rückschlag durch das Solostück zu kommen, etwas mit dem Tintendickicht in seinem Schulheft zu tun hatte. Die Wiederholung war die einzige Methode, mit der J. einen Fehler zugleich ausradieren und vergessen machen konnte. Der Fehlversuch wurde mit neuen Tönen überschrieben. Und wieder neuen.
[...]SINN UND FORM 5/2017, S. 631-642, hier S. 631-634
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Fischer, Jens Malte
- 4/2016 | Ivan Nagel, Dieses Rätsel will ich leben. Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen, S. 458 Leseprobe
Fischer, Jens Malte
Ivan Nagel, Dieses Rätsel will ich leben. Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen
JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders.
IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser Situation der dreifachen Minderheit fertig werden? Als meine Mutter während der ungarischen Revolution am Wiener Westbahnhof ankam, wir hatten uns nach meiner Flucht, meiner Emigration aus Ungarn acht Jahre nicht gesehen, stieg sie aus dem Zug aus und sagte: »Ich habe die Adresse eines Psychiaters.« Für mich war das ein entscheidendes Ereignis. Denn das, was ich als Judenkind bei den Nazis nicht sein durfte, nämlich ich selbst, was ich als bürgerliches Kapitalistenkind bei den Kommunisten nicht hätte sein können, hat meine Mutter mit der ganzen versteinerten Autorität der Budapester Bourgeoisie mitgebracht und mir so eigentlich dasselbe angetan: Geh zum Psychiater, du bist krank, du darfst nicht sein, was du bist. Es stimmt, daß man damals im Adenauer-Deutschland nicht dafür bestraft wurde, was man tat, also nicht für den Liebesakt zwischen einverstandenen, willigen Volljährigen. Aber man wurde dafür bestraft, was man war, im Sinne von § 175 durfte man kein Homosexueller sein: was man war, war strafbar. Dann, im Kinderheim, als Judenkind, hatte ich diese ungeheure, unerklärliche Energie eines Kindes, leben zu wollen, und hielt mich fest an der Behauptung: Es kann nicht sein, daß das, was ich bin, falsch ist, unerlaubt ist. In den glücklichen drei Jahren nach der Befreiung konnte sich diese Ich-Energie ausdehnen und mir die Welt und die Kunst erobern. Aber nach dieser Periode bin ich sozusagen mit mir, mit diesem Ich-Drang und dieser Ich-Energie allein geblieben. Die Gefahr war natürlich, daß man ins Ich-Loch des Egoismus, des Solipsismus hineinfällt. Davor rettet einen nur die Liebe, das heißt das Ausbrechen aus dem eigenen Ich. In der Liebe lernt man am Körper eines anderen, einer anderen sich selbst kennen und merkt, daß diese Lippen, diese Arme, diese Schenkel schön sind, richtig sind, daß der Mensch schön und richtig ist. Mit sechzehn wollte ich eigentlich nicht mehr älter werden. Ich sagte mir: Jetzt ist das Gehirn am klarsten, die Welt am transparentesten, warum soll ich mich einlassen auf diese Erwachsenen-Seuchen, diese trüben Geschichten von Geschlechtskomplikationen, von Geschäftsdrang, von Karriere. Meine Vorbilder waren die großen jungen Mathematiker, die großen jungen Komponisten, die mit sechzehn auf dem Höhepunkt waren, weil ihre Welt diese Transparenz hatte, weil ihre Gehirne noch nicht verseucht waren von diesen seltsamen Erwachsenenkrankheiten. Aber die Liebe ist der Ausweg, das erotische Ertasten, das Kennenlernen des anderen und damit von sich selbst, den Menschen liebgewinnen durch diesen Akt der Spiegelung, des Erkennens.
FISCHER: Sie haben als Jude in den fünfziger Jahren in Frankfurt die wenigsten Schwierigkeiten gehabt, weil das Thema damals dem sogenannten kollektiven Schweigen unterlag. Als Staatenloser und als Homosexueller hatten Sie hingegen manifeste Probleme.
NAGEL: Ja, das war ein großer Unterschied. Das Jude-Sein war eine aufgezwungene Identität, ich fühlte mich in meinem Leben nie hauptsächlich als Jude, als hundertprozentiger Jude. Staatenloser – das war keine Identität, das versuchte man so schnell loszuwerden, wie es irgend möglich war. Aber ich wußte, erkannte und stand dazu, daß ich als Homosexueller so bleiben würde, wie ich war, das heißt, daß meine Identität damit zusammenhing. Da war der Angriff, da war das Problem: Was ist Homosexualität? Ist sie eine Verengung, eine Beschränkung auf das eigene Geschlecht? Ist es eine Feigheit vor dem wirklichen Abenteuer, sich in einem anderen als seinesgleichen, in zwei Formen des Menschseins zu erkennen? Die Heterosexualität hat allerdings einen großen Haken, nämlich daß der zentrale Auftrag des Menschen, mit anderen, gleichen und verschiedenen Menschen zurechtzukommen, vor allem in der christlichen Religion abgeschliffen wird zu einer Art ordentlichem Benehmen, das auch noch vom lieben Gott befohlen wird. Es wird etwas Anpasserisches, Normales daraus, was einem den großen Auftrag der Begegnung mit dem gleichen Anderen verschleiert. Ich habe da zwei wunderbare Schocks gehabt. Der erste Schock war das Erlebnis Mozarts und Goyas, der denkbar heterosexuellsten Menschen, die die Begegnung mit der Frau niemals als abgeschliffene Routine, als bloße Normalität betrachtet, sondern auf die heftigste, leidenschaftlichste, liebevollste Weise gelebt haben. Es ist kein Wunder, daß ich zuerst über diese beiden wunderbaren Menschen und Künstler nachgedacht und geschrieben habe. Aber es gab ein zweites Problem, sozusagen das Subrätsel unter diesem Rätsel: Wie war es möglich, daß die universalsten Kenner, die reichsten Darsteller der Menschheit nur Männer glücklich liebten? Shakespeare und vielleicht Proust, Michelangelo und Leonardo. Wie war es möglich, diese universale Vorstellung zu haben, wenn sie unter jener »Verengung«, »Beschränkung« litten – unter der ich ja keineswegs gelitten habe, und sie offenbar auch nicht. Sondern diese als Sprungbrett genutzt haben zur umfassendsten, genauesten und herrlichsten Erkenntnis dessen, was ein Mensch ist. Nehmen wir Shakespeare: Julia ist tausendmal tiefer und interessanter als Romeo, Rosalinde tausendmal lebendiger als Orlando, Cleopatra unendlich fesselnder als Antonius. Dazu noch die gespenstische Überlegung: Diese Frauenfiguren, die wunderbarsten, die geschrieben worden sind, wurden von fünfzehnjährigen Knaben gespielt. Wie ist das möglich? Mein Entschluß war Gott sei Dank, auch als die Angriffe durch die Gesetze und durch meine eigene Mutter kamen, gefestigt genug, um zu sagen: Dieses Rätsel will ich leben. Ich stehe dazu, ich zu sein. Dazu noch eine kleine Bemerkung. In Platons »Gastmahl« gibt es die Aristophanes-Erzählung vom zweigeteilten Menschen. Ich glaube, diese Erzählung ist viel tiefer und wahrer als unsere Adam-und-Eva-Geschichte. Denn es wird nicht gesagt, weshalb Adam sich so einsam fühlt, weshalb die Frau geschaffen worden ist. Aber Aristophanes sagt: Es gab einmal ganze, vollständige Menschen. Die wurden getrennt, entzweigeschnitten in Mann und Frau, in Mann und Mann, in Frau und Frau, und seitdem suchen sie sich mit aller Sehnsucht, um sich wieder zu vereinigen. Die ersten Arbeiten, die ich gemacht habe, galten der Frau, nämlich Mozart und der Liebe in seinen Opern und Goya mit seinen beiden Frauenaktbildern, den beiden Majas. Mein späteres Hauptwerk neben dem Mozart-Buch »Autonomie und Gnade« heißt »Gemälde und Drama« und beschäftigt sich, nicht ganz zentral, weil es um die Erschaffung des konkreten, lebendigen Menschenbildes in der italienischen Malerei der Renaissance geht, aber doch auch mit der Frage: Wieso war die florentinische Entdeckung des leibhaft seelischen, des ganzen Menschen bei Brunelleschi, Donatello, Masaccio, Alberti die Entdeckung des männlichen Körpers? Das Ungerechte daran stand mir ganz klar vor Augen: Aus dem Verhältnis Mann und Frau wurde die Frau herausgedrängt, auch von dieser homoerotischen Gruppe. Und trotzdem waren Donatello und Masaccio, der Bildhauer und der Maler, der Durchbruch zum leibhaften Menschen.
FISCHER: Bei Shakespeare ist es, glaube ich, nicht ganz erwiesen, wir wissen einfach nicht genug …
NAGEL: Aber die einzigen Liebesgedichte, die er geschrieben hat, sind an einen Mann gerichtet. Es ist ja so, als ob Sie sagen würden: Petrarca hat aus irgendwelchen Gründen einen Lauro, einen hübschen Italiener, Laura genannt und so getan, als ob er auf Frauen stehen würde. Das ist absurd. Man will seit vierhundert Jahren verschweigen, was die einfachste und einleuchtendste Geschichte der Welt ist. Wenn einer seine Liebesgedichte einem Mann schreibt, dann hat er es offenbar mehr mit Männern als mit Frauen. Eine Zeitlang hat man bei Shakespeares Sonetten das »er« in »sie« korrigiert, um die Sache in Ordnung zu bringen, denn der größte Dichter durfte natürlich nicht auf Männer stehen.
WOLFGANG HAGEN: Wir waren gerade beim Stichwort »innere Biographie«, und ich habe Sie so verstanden, daß Sie Heterosexualität und Homosexualität gar nicht gegeneinander ausspielen, sondern im Grunde genommen einen Weg zur Heterosexualität finden über das, was im Homosexuellen in Spannung bleibt. Weil das Heterosexuelle mehr oder minder kulturelle oder auch machtpolitische Rollenzuweisungen erfahren hat, die den eigentlichen Grund, warum zwei Menschen zusammenkommen, längst überschrieben haben.
NAGEL: Ich glaube, daß die Zweigeschlechtlichkeit, wie wir aus tausend Romanen, Gedichten und Lebensbeschreibungen wissen, das große Rätsel, das zentrale Problem ist. Das kann gezähmt, verdrängt werden, indem man sagt: Na ja, man heiratet, man liebt ja Frauen, das ist normal und der liebe Gott will es so. Aber ich glaube, daß die Heterosexualität sich diesem größten und schwierigsten Auftrag stellen muß. Und ich glaube außerdem, das Problem der Homosexualität besteht in Folgendem: Wenn man dieses volle Sich-Stellen verweigert, durch seine Triebstruktur gar nicht in diese Perspektive kommt, ist das eine Reduktion, ein Verlust. Oder ist das ein zweites Rätsel, das einem zuteil geworden ist und das man bestehen muß?
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Flügge, Matthias
- 4/1999 | Laudatio auf Mark Lammert
- 4/2000 | Für Walther Stöhrer
- 1/2006 | Sichtbar machen, ohne zu zerstören. Für Lutz Dammbeck
Földényi, László F.
- 4/1995 | Das reine Hören
- 5/1996 | Leo Schestow - Ein Philosoph des radikalen Optimismus
- 5/1997 | Die Last der moralischen Vereinsammung. Laudatio auf Imre Kertész
- 2/1998 | Der Umweg zur Mystik. Über Cees Nooteboom
- 1/2000 | Der kugelförmige Turm. Wie wir das Projekt Babel doch verwirklicht haben
- 5/2010 | Ein schwarzes Quadrat
- 5/2016 | Auf der Suche nach verlorenen Gefühlen. Adam Zagajewski, ein zielbewußter Flaneur
- 3/2017 | Ein Labyrinth ohne Ausweg. Melancholische Erinnerungen an Michael Parkinson und W. G. Sebald
- 1/2022 | Die Wahrheit erlügen. Über die Schwierigkeiten biographischen Schreibens
Fontaine, Naomi
- 5/2020 | Nutshimit, S. 636 Leseprobe
Fontaine, Naomi
Nutshimit
Nutshimit ist das Landesinnere, das Land meiner Vorfahren. Jede Familie kennt ihr Waldstück. Die Seen sind Straßen. Die Flüsse zeigen den Norden an. Wer unvorsichtig ist und zu tief in den Wald eindringt, kann sich an den Zugschienen orientieren.
Nutshimit, ein Ritual für Karibu-Jäger. Klare Luft, für die Alten unverzichtbar. Seit ihre Beine an Kraft verloren haben, zieht es sie nur noch zum Atmen in die Wildnis.
Nutshimit, ein unbekanntes, aber nicht feindseliges Territorium für jemanden, der seinen Geist zur Ruhe kommen lassen will. Früher waren diese Wälder von Männern und Frauen bewohnt, die mit den Händen nahmen, was die Erde ihnen schenkte. Sie leben nicht mehr, aber sie haben auf Felsen, Wasserfällen und grünen Fichten ihren Abdruck hinterlassen, ihren Blick.
Nutshimit bringt dem Verwirrten Frieden. Inneren Frieden, nach dem er sich verzweifelt sehnt. Stille, nachdem er nächtelang seine Angst herausgeschrien hat, ohne von irgendwem gehört zu werden. Die Stille des Windes, der durch Tannennadeln streicht. Die Stille eines Rebhuhns, das neben Artgenossen durch den Wald stakt. Die Stille eines Bachs, der unter meterhohem Schnee seinen Weg fortsetzt.
Der junge Mann möchte hören, was das Land seiner Vorfahren ihm zu sagen hat. An diesem Morgen besteigt er den Zug.
*
Sie sagen: Wir nehmen zum Zug. Sie würden nie sagen: Wir gehen zum Bahnhof, zu den Gleisen. Den Zug nehmen bedeutet, weit wegzufahren. Sich die lange Reise durch Nutshimit anzueignen. Man nimmt den Zug, weil er ein vertrautes Transportmittel ist. Das einzige, das einen durchs Landesinnere nach Norden bringt. Unterwegs macht er mehrmals halt, um Leute auf freier Strecke ein- oder aussteigen zu lassen. Der Zug endet in Matimekush-Lac John, der Stadt des Eisenerzes.
Das kleine Gebäude, das als Bahnhof dient, ist alt und mit einem grauen Blechdach gedeckt. Die Wände sind beige. Drinnen ist es im Winter sehr kalt, weil die Leute die Tür offenlassen. Ein paar verlorene orange Plastikstühle, um auf den Zug zu warten, der zweimal pro Woche frühmorgens ankommt. Die Fahrgäste warten draußen, rauchen eine Zigarette, trinken einen Kaffee mit viel Zucker. Niemand ist ungeduldig. Alle wissen, daß die Reise bald losgeht, entweder zu einer der Jagdhütten, die unweit der Eisenbahnstrecke im Wald verstreut sind, oder nach Matimekush. Familien mit Kindern und alte Leute reisen am liebsten in der kalten Jahreszeit mit dem Zug. Sie haben ihre dickste Winterjacke dabei, mehrere Schachteln Zigaretten und Kartons voller Lebensmittel, genug für eine Woche. Die Männer richten sich nach der Jagd, sie nehmen den Zug, wenn sie das Bedürfnis nach Abgeschiedenheit haben. Sie haben weniger Gepäck, außer Gewehren, Schneemobilen, warmer Kleidung und Benzinkanistern nehmen sie nichts mit. Kein Fleisch, sie vertrauen auf ihr Jagdglück, eine Frage der Ehre. Keinen Alkohol, aus Respekt vor der Erde. Zum Abschied Umarmungen, die Babys und Kleinkinder auf dem Arm, man sagt bis bald, man weint nicht, denn man weiß, daß Männer, die in den Wald ziehen, dort Ruhe finden. Man bedauert sie nicht, man beneidet sie. Sie heben grinsend die Hand, das Mittagessen in einer Dose. Es ist acht Uhr. Der Beginn einer langen Reise, die ein paar Stunden, den ganzen Tag oder bis spät in die Nacht dauert, je nachdem, wo sie hinfahren. Der Zug setzt sich langsam in Bewegung, beinahe lautlos, wie um uns seine Bedeutung spüren zu lassen.
Auf dem Rückweg kommt er immer im Dunkeln an. Eine Menschenmenge erwartet ihn, als wären die Jäger monatelang fortgewesen. Die meisten haben nur eine Woche in der Wildnis verbracht. Einige auch länger, sie werden am Abend später zu Bett gehen. Jeder wird abgeholt. Viele Hände tragen das Gepäck. Umarmungen, glückliche Gesichter. Die wichtigsten Fragen werden gestellt: Und, wie viele Rebhühner, Hasen, Karibus hast du erlegt? Eines nach dem anderen fahren die Autos ab, vollbesetzt, voller Leben.
*
Der Sommer kehrt wieder, der Sohn kommt nach Hause. Er hat sich verändert. Er ist älter geworden. Die Mutter schließt den jungen Mann in die Arme. Sie weint, weil sie seine Stimme, seine Art nicht wiedererkennt. Das ist der Wechsel der Jahreszeiten. Sie hofft, daß es lange Sommer bleibt.
*
Der Mann steht kerzengerade da, in schwarzem Anzug und Krawatte, mit einem ehrgeizigen Lächeln. Er steht kerzengerade da, und er ist groß. Einen Arm hat er um die Frau neben sich gelegt, drückt sie an sich, eine kleine Frau mit dunkler Haut und dunklem Haar, im weißen Kleid, die mit geschlossenen Lippen lächelt. Hinter ihnen ist es Herbst …
*
Ein toter grauer Pelz vor blutrotem Schnee. Geschossen mit dem Gewehr, das der Innu über der Schulter trägt, seine schmalen Augen schimmern, es ist der Stolz des Mannes auf seine Beute, wie ein kleiner Junge, die Lippen zusammengekniffen, eine Hand um den Hals des Tieres. Ein Knie am Boden, bereit loszulaufen. Ein Krieger, immer auf der Hut …
*
Im Kopf Gelächter. Im Kopf Gespräche über die Wahl des Reservatschefs, über Bücher, über die neuen Schülerinnen und Schüler, über Kinder, die groß werden, alles durcheinander. Die Verdoppelung könnte ein Hinweis sein, rote Schlucke, weiße Schlucke. Längst ohne jeden Geschmack. Ohne jeden Geruch. Ungenaue, dabei doch so wichtige Worte kamen über die Lippen und landeten vor der Haustür des Nachbarn. Filmriß.
*
Die Aufsässigen leisten Widerstand, wehren sich, ihr Kampf: das eigene Fleisch und Blut großziehen. Damit sie zu Männern und Frauen werden, zu einer Nation, die ihnen ähnelt, die niemanden unterdrückt, die fortbesteht, die lebt.
Der alte Mann mit der weißen Haut hat seinen Federschmuck aufgesetzt und seine bunten Kleider angezogen. Er ist in die Mokassins geschlüpft, die ihn zu einem Indianer machen. Die traditionelle Pfeife in der Hand, begibt er sich zu Verhandlungen mit dem Staatschef.
*
Mit vierzig entdeckte sie ihre wahre Natur. Mutter, mehrfache Großmutter. Eine Frau mit Erfahrung, mit vielen Berufen, aber keine Karrierefrau. Ehemaliges Mitglied des Reservatsrats. Ehemalige Kandidatin für das Amt des Reservatschefs, unterlegen, nicht aber besiegt. Freundlicher Blick, vertrautes Lächeln. Mit vierzig glaubte sie, sich selbst zu kennen, und brach mit einer kleinen Gruppe auf, um dem Weg ihrer Vorfahren zu folgen.
Im Frühjahr kehrten die Nomaden in ihr Dorf zurück, der Fluß war ihr vorgezeichneter Weg. Sie überwanden Berge und Täler, ruderten, wanderten, trugen an Stromschnellen oder zwischen zwei Seen das Kanu umgedreht auf den Köpfen. Sie waren es nicht anders gewohnt, sie mußten eins werden mit der Natur, um zu überleben. An ihre Stelle treten, um zu existieren.
Sie war nicht bereit für das, was sie erwartete. Wer wäre das schon? Der Zug hatte sie am Meilenstein 150 abgesetzt. Sie hatten in einer Jagdhütte zu Abend gegessen. Das Feuer knisterte im Ofen, es war angenehm warm. Der Schornstein rauchte um die Wette mit den vier Frauen und dem jungen Mann, die sich fröhlich unterhielten. Alle gingen früh schlafen. Im Morgengrauen würden sie ihre Sachen packen und aufbrechen.
Es war der Anfang und das Ende von etwas. Wandern. Erst einmal galt es, einen Fuß vor den anderen zu setzen, den Rucksack geschultert, und sich Zuversicht auf die Lippen zu heften. Zum Fluß wandern. Paddeln. In einem Kanu kniend, das diese Strecke schon tausendmal zurückgelegt hatte. Dem Fluß folgen, in seinem Lauf den Weg erkennen, den Weg der Ahnen, ihren eigenen Weg.
Ein paar Tage später wollte sie zurück, in ihr Haus, in ihr Bett, zu ihrem Liebsten, in die Wärme, wollte sich sauber und frisch fühlen und morgens einen Kaffee mit Milch und Zucker trinken. Alles in ihr sträubte sich dagegen, wie eine Nomadin zu leben und auch nur einen Moment länger das Lebensnotwendige auf dem Rücken zu tragen. Sie war nicht wie die Frauen früher, für die kein Tag zu lang, keine Anstrengung zu groß war. Die jeden Berg bestiegen, als wäre es der erste. Wie gegen die Natur ankommen, die eigene Natur?
Dann dämmerte der Morgen, genauso trocken wie die Nacht. Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch holte sie den kleinen Taschenspiegel hervor, den sie aus Eitelkeit oder Wehmut angesichts dessen, was sie zurückließ, mitgenommen hatte. Sie sah, daß ihre Haut von der Sonne gebräunt war, das Haar fettig, die Augenbrauen ungezupft, und daß sie müde war. Sie ärgerte sich über ihr Spiegelbild, und ihr Gesicht veränderte sich. Ein paar Sekunden lang glaubte sie einen vertrauten Willen aufblitzen zu sehen, den wohlbekannten Blick der Frau, die sie zur Welt gebracht hatte. Die Augen ihrer Mutter in ihrem eigenen Gesicht. Herausforderung, Kampf, Suche, aber keine Niederlage, nie mehr. Mit dem nächsten Atemzug nahm sie zum ersten Mal ein Stück Vergangenheit in sich auf, und es gesellte sich zu dem Frieden des neuen Tages.
Paddeln, wandern, das Kanu umtragen, das Zelt aufschlagen, essen, schlafen, packen, paddeln. Das war jetzt ihr Leben. Zumindest für eine Weile. Eine Leihgabe ihrer Vorfahren. Ein freiwillig angenommenes Erbe. Der Weg war vorgezeichnet, tausend andere hatten ihn vor ihr mit dem Kanu zurückgelegt. Sie mußte sich nur von ihnen führen lassen. An die Verheißung eines milderen Morgens glauben. Mit eigenen Händen das kristallklare Wasser schöpfen. Frei sein, mit der einzigen Einschränkung, überleben zu müssen. Umgeben von hochgewachsenen Fichten und knorrigen Laubbäumen, sah sie die Spur des Hasen und stöberte das lautlose Rebhuhn auf. Sie dankte den vier anderen, daß sie durchgehalten hatten. Sie dankte dem Himmel für die lauen Maiennächte. Bis zum letzten Schritt dankte sie dem Schöpfer, daß er sie geführt hatte.
(…)Aus dem Französischen von Sonja Finck
SINN UND FORM 5/2020, S. 636-646, hier S. 636-639
Fontane, Martha
- 4/2022 | »Für Papa ist es sehr nöthig, daß er heraus kommt« Ein Brief an Anna Witte. Mit einer Nachbemerkung von Regina Dieterle
Fontane, Theodor
- 5-6/1961 | Unveröffentlichte Aufzeichnungen und Briefe
- 4/1966 | Koegels-Hof Nummer drei. Fragment einer ungedruckten Erzählung, mitgeteilt von Hans-Heinrich Reuter
- 6/1969 | Briefe
Fonwisin, Denis Iwanowitsch
- 1/1954 | Briefe an die Schwester
Ford, Ford Madox
- 5/2018 | Arbeiten mit Conrad, S. 674 Leseprobe
Ford, Ford Madox
Arbeiten mit Conrad
I
Ich möchte ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, ich hätte Anteil daran gehabt, Conrad Englisch beizubringen, auch wenn es auf den ersten Blick plausibel scheinen mag, da er ein Ausländer war, der bis zu seinem Lebensende das Englisch eines Ausländers gesprochen hat. Doch was das Schrei ben betraf, war es anders. Wie ich vor kurzem andernorts bemerkte, konnte Conrad, sobald er einen Stift in die Hand bekam und nicht an eine Publikation dachte, so schnell, gewandt und fehlerfrei englisch schreiben, daß es mich jedes Mal erstaunte. Schrieb er jedoch für die Öffentlichkeit, lähmte ihn eine Art Lampenfieber, wodurch seine Konstruktionen häufig sehr unenglisch wurden.
In seinen Briefen ließ er sich gehen, ohne an den Sätzen zu feilen und ohne arrière pensée, verströmte sich in Bitten, Lästereien, endlosen und immergleichen Klagen, so daß der Eindruck einer schwachen, eher wehleidigen Persönlichkeit zurückblieb. Der Eindruck hätte verkehrter nicht sein können. Conrad war ein Mann, ein ganzer Kerl, wenn man so will, der sich mit unbeugsamem, beinahe unverwüstlichem Mut über enorme Widerstände hinwegsetzte. Und sein Mut war um so beeindruckender, als er von Geburt, Herkunft und Charakter ein unerschütterlicher Pessimist war. Seiner Ansicht nach war das Leben dazu bestimmt, tragisch oder in Banalität zu enden; Literatur war zum Scheitern verurteilt. Das waren seine choses données, seine einzigen Gewißheiten. Mit diesem Credo vor Augen mühte er sich unaufhörlich ab.
Und es war erstaunlich, welche Kleinigkeiten seine Lebenskraft wecken konnten. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal stundenlang mit »Romance« plagten und er völlig verzweifelt war und alles, was ich vorschlug, mit bitterstem Spott abtat, dazu war er krank, bis über beide Ohren verschuldet und ohne einen Penny. Und wir waren zum völligen Stillstand gekommen – einer dieser Momente, wenn die Seele zum Atmen innehalten und selbst die Liebe sich erholen muß. Und Mrs. Conrad kam herein und sagte, die Stute habe von Postling Vents nach Sandling nur fünf Minuten gebraucht – denk dir, zwölf Meilen pro Stunde! Mit einem Mal war Conrad ein Matrose auf Landgang! Die Welt war herrlich; aus jeder übers Fensterbrett ins ebenerdige Zimmer nickenden Rosenknospe strömte Hoffnung. Wir würden einen Wagen nehmen und nach Canterbury fahren; die Stute sollte ein brandneues Hintergeschirr bekommen. Und in unglaublich kurzer Zeit – sagen wir drei Stunden – war mindestens eine halbe Seite von »Romance« geschrieben.
So ging es tagein tagaus, jahrelang – die Verzweiflung, das stundenlange Gejammer, und dann diese plötzliche Arbeitswut – die Wut, aus der eine sagenhafte Vertiefung wurde. Wir schrieben ganze Tage, halbe Nächte, den halben Tag oder die ganze Nacht. Wir kritzelten Passagen auf Papierfetzen oder an die Ränder von Büchern, reichten einander jene oder tauschten diese. Wir lachten lauthals über Passagen, die niemand anderem witzig erschienen wären; Conrad heulte vor Wut und ich seufzte über manch eine, die vielleicht niemand für so schlecht erachtet hätte wie wir. Manchmal widerten wir uns an, und dann ging jeder in sein Cottage – damals waren unsere Cottages nie weiter voneinander entfernt, als eine alte Stute uns an einem Nachmittag ziehen konnte. In diesen Cottages bereiteten wir weitere Entwürfe vor, und so fuhren wir hin und her mit Manuskriptbündeln unter den Dog-cart-Bänken. Wir fuhren durch die Sommerhitze, durch herbstliche Regengüsse, geblendet von Schnee im Winter. Aber immer, immer mit Manuskripten. Mein Gott, meine Finger kribbeln heute noch beim Gedanken daran, wie ich lange nach Mitternacht das Geschirr des triefnassen Pferdes löse – es im Stall abtrockne und den Wagen rückwärts in den Schuppen schiebe. Und dabei immer irgendeine unfertige Passage im Hinterkopf, das Grübeln darüber, wie eine abgenutzte Formulierung zu vermeiden wäre, die doch auf hypnotische Weise unvermeidbar schien.
II
Oft kam er in den Morgenstunden und saß, nachdem er die vielen Stufen zu meinem kleinen, gräßlichen Arbeitszimmer heraufgestiegen war, stundenlang unbeweglich, benommen und mit völlig ausdruckslosem Gesicht da. Ab und zu sagte er dann:
»Ich schaff’s nicht. Es ist unmöglich. Je suis foutu!« Dann erging er sich in fürchterlichen Tiraden gegen die englische Sprache. Es sei eine Sprache für Hunde und Pferde. Ungeeignet, menschliche Gedanken auszudrücken. Er habe den Versuch aufgegeben. Endgültig. Die verdammte Zeitung müsse ohne ihren verdammten Roman auskommen. Wen schere es denn? Niemanden.
Ich stand am Fenster und blickte auf London: eine graue Weite mit funkelnden Punkten. Von dort – im Westen der Stadt – konnte man das Greenwich Observatorium ganz im Osten sehen. Mit diesem Panorama vor Augen habe ich Conrad zum ersten Mal die Geschichte erzählt, aus der er den »Geheimagenten« machte.
Doch in jenen Momenten war mein Kopf ganz leer. Ich hörte einfach auf zu denken. Es gab wirklich nichts zu sagen. Englisch ist keine gute Sprache für Prosa. In literarischem Englisch läßt sich keine klare Aussage treffen. Damals zumindest ging es nicht, und ich bezweifle, daß es heute geht – in englischem Englisch. In amerikanischem Englisch geht es einigermaßen, aber nicht ohne vornehme Ohren zu schockieren. Conrads Englisch war allerdings literarisch. Ich hatte nichts, um ihn zu trösten.
Er behauptete, das letzte Wort des Fortsetzungsromans geschrieben zu haben. Ich brachte ihn zum Weiterschreiben, wie der Erpel die brütende Ente wieder zum Nest bringt, wenn sie die Eier verläßt. Ich las ihm seinen letzten Satz vor. Wenn das nicht half, nahm ich seinen Platz am Schreibtisch ein und schrieb einen oder zwei Sätze. Es gibt fünf Worte, die mich schaudern machen: The Silver of the Mine. Das ist der Titel des Teils von »Nostromo«, mit dem wir damals rangen.
Er stöhnte: »Nein, es hat keinen Sinn. Ich gehe nach Frankreich. Ich sag dir, ich werde mich als französischer Schriftsteller etablieren. Französisch ist eine Sprache, keine Ansammlung von Grunzlauten.«
Ich sagte: »›Nostromo‹ würde sich auf französisch wunderbar machen. Laß es uns skizzieren. Dann kannst du es ganz leicht ins Französische übertragen.« Die Krankenschwester kam herein: »Also wirklich, Mr. Ford, es ist Zeit für Sie, wieder ins Bett zu gehen.« Ich war erst eine Stunde auf.
Conrad mochte die Gesellschaft dieser Schwester. Aus unerforschlichen Gründen. Sie war flegelhaft. Sie sprach Cockney und hatte ein Gesicht wie ein Kamel. Unablässig entströmten ihm Worte, die ich kaum verstand. Conrad jedoch verstand sie. Er hatte auf dem Vorschiff mit Cockney-Deckarbeitern gedient. Er fragte sie nach ihren anderen Patienten. Das bot ihr einen Vorwand, um richtig loszulegen.
»Letzte Patient, den ich ’atte, war Lord Northcliffe. Hoff’, der is’ auf’n Beinen! ’At immer im Bett gelegen mi’m Telefon auf der Brust. Geflucht ’at er ins Telefon. Geflucht … scheußliches Zeuch … ’at er geflucht, wenn ich’n angezogen ’ab … ach, furchtbar. ’At die Schmerzen und’s Telefon verflucht. Und die ›Dily Mile‹. Diese Sprache – schrecklich. Dann als er starb: ›Schwester‹, sacht er zu mir, ›Schwester … wann immer Sie jemanden schlecht über mich reden hören, sagen Sie: ›Er ertrug seine Krankheit wie ein Christ und Gentleman.‹ … Patientin davor war ’ne alte Magd … vor ihr ’am se Schwingtüren ge’abt. Zwischen dem Treppenhaus von die ’Errschaften und’m Dienstaufgang … grüner Filz … Sie ’atte auf’m obersten Absatz gestanden. Ein Diener knallte ihr die grüne Filztür ins Gesicht. Da flog se mehrere Steinstufen hinab. Sie lag unten mit zerdeppertem Schädel und ’ervortretendem Gehirn. Die Diener legten ihr Zeitungspapier unter’n Kopf. Sie wollten die Treppe der Herrin schützen. Als der Wundarzt kam, konnte er auf ihrem Hirn den Abdruck der Zeitung lesen – ’nen Bericht über die Auflösung der Kunstsammlung des Ehrenwerten Matthew L. Oldroyd.«
Das war ihre Geschichte – eine von Hunderten. Oder vielleicht Tausenden. Ihr Erscheinen trieb mich jedesmal zur Verzweiflung. Es bedeutete, daß Conrad für Stunden nicht arbeiten würde. Und ich konnte es auch nicht. Ich brauche eine Weile Ruhe und Sammlung, ehe die Worte kommen.
Ich schlich nach unten und aß im Speisezimmer zu Mittag. Wenn ich zurückkam, arbeitete Conrad zufrieden an meinem Schreibtisch. Die Schwester mit den glanzlosen Augen und den ungekämmten Strähnen, die ihr aus der Haube hingen, war allen Patienten unliebsam. Conrad aber schien sie anzuregen. Er lauschte ihren sonderbaren Flunkereien stundenlang mit dem Ausdruck größter Anteilnahme und Ehrerbietung. Ohne sie wäre »Nostromo« vielleicht nie geschrieben worden. Oder Conrads nächstes Buch wäre in einem Pariser Verlag erschienen.
Aus dem Englischen von Laetitia Lenel
SINN UND FORM 5/2018, S. 674-677
Forest, Jean Kurt
- 4/1973 | Die Songs des Tran Dang Khoa für Stimme und Violine
Förster, Wieland
- 2/1977 | Ein Porträt
- 6/1977 | Vollständiger Bericht für Dr. Krull
- 1/1979 | Der Transport
- 5/1979 | Drei Briefe
- 1/1982 | Albrecht und der Vorsatz zur Freude
- 4/1982 | Gespräch mit Armin Zeißler
- 1/1983 | Landschaft I. Landschaft II: Nuklearklinik - Darstellung der inneren Organe
- 1/1984 | Die Schlucht Seldja. Gespräch mit Eduard Schreiber
- 2/1985 | Gespräch mit Peter Liebers über Franz Fühmann
- 6/1986 | Ein Brief an B. B.
- 5/1987 | Laudatio für Max Uhlig
- 6/1987 | Labyrinth
- 2/1989 | Notizen vom Weiterleben
- 5/1992 | Gespräch mit Klaus Hammer
- 3/1993 | Unser täglich Brot
Foster, Roy
- 6/2002 | Das Nationale und das Normale
Foucault, Michel
Fox, Ralph
Fradkin, Ilja
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | »Der Zauberberg« und die Geburt des modernen intellektuellen Romans
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Lehren der Geschichte
Fraenger, Wilhelm
- 3/2005 | Korrespondenz mit Hans Arp, Carl Schmitt und Franz Roh
Frahm, Thomas
- 3/2013 | »Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns«. Georgi Markovs Exilreportagen über Bulgarien, S. 406 Leseprobe
Frahm, Thomas
»Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns« Georgi Markovs Exilreportagen über Bulgarien
Am 15. Juni 1969 setzte sich Georgi Markov, erfolgreicher Autor von Romanen, Novellen, Erzählungen, Drehbüchern und Theaterstücken – nicht zu verwechseln mit dem russischen Romancier Georgi Mokejewitsch Markow –, nach der abgebrochenen Vorpremiere seiner Komödie »Ich war Er« ans Steuer seines BMW 1800 und verließ auf Anraten Stefan Tsanevs die bulgarische Hauptstadt Sofia in Richtung der jugoslawischen Grenze. Tsanev, selbst Dramatiker, war Mitglied des künstlerischen Beirats, der über Annahme oder Ablehnung des Stücks zu entscheiden hatte. Er befürchtete Schlimmes von den Genossen in der Kommission und empfahl seinem Freund, Bulgarien für eine Weile zu verlassen, bis sich die Aufregung gelegt hätte. Markov beschloß, die Gelegenheit für einen seit langem geplanten Besuch bei seinem jüngeren Bruder Nikola zu nutzen, dem er dank seiner Privilegien als Mitglied des Bulgarischen Schriftstellerverbands bei der Ausreise nach Italien hatte helfen können. Nun fuhr er also selbst in die Emigration. Er ahnte nicht, daß er seine Heimat nie wiedersehen würde. Und auch nicht, daß er mit seinen vierzig Jahren keine zehn Jahre mehr zu leben hatte.
Bei dem handverlesenen Publikum war die geschlossene Vorstellung im Satirischen Theater Sofia ein voller Erfolg gewesen. Doch so unbändig man im Parkett über die Dummheit und Kriecherei des Helden gelacht hatte, der sich wegen seiner beflissenen Parteitreue vor Säuberungen sicher wähnte, so unbändig war die Wut der Funktionäre auf den Rängen. Schließlich hatten sie die Aufführung gestoppt.
Für Georgi Markov war es nicht die erste Erfahrung dieser Art. Der wegen seines Gespürs für Themen der Zeit von den Sozialisten umworbene Autor war damit beauftragt worden, zum 25. Jahrestag der kommunistischen Machtergreifung mit zwei älteren, in Bulgarien berühmten Kollegen ein Stück zu schreiben, um die Rolle der bulgarischen Partisanen propagandistisch ins rechte Licht zu setzen. Die Machthaber versuchten damals mit allen Mitteln, der patriotisch gesinnten Bevölkerung klarzumachen, daß der »Sieg über den Faschismus« 1944 nicht durch den Einmarsch der Roten Armee erzwungen, sondern maßgeblich vom eigenen Volk erkämpft worden sei. Die Autoren erhielten sogar Zugang zu geheimen Parteiarchiven. Markovs Kollegen wurde die Sache bald zu heikel; sie traten von dem Auftrag zurück. Er selbst hingegen, der bodenständige Idealist, eingeschworen auf die Wahrheit, die erfahrungsgemäß immer vom Ideal abwich, ging ein halbes Jahr lang täglich ins Archiv und vertiefte sich in Vernehmungsprotokolle. Die Partisanen waren oft im Gefängnis gewesen und gefoltert worden, weil Bulgarien im Frühjahr 1941 Hitlers Dreimächtepakt beigetreten war und letztlich den Weisungen aus Berlin zu folgen hatte. Doch die Männer, deren Aussagen Markov zu lesen bekam, waren meist naive Habenichtse, Draufgänger, Abenteurer, Verbrecher. Was also tun, um nicht selbst den Kopf in die Schlinge zu legen?
Markov beschloß, sich jeder Deutung zu enthalten und sein Stück »Kommunisten « fast ganz aus Zitaten zu montieren, eine Technik, mit der er auch aus westlicher Sicht auf der Höhe der Zeit war. Doch den hohen Genossen gefiel das ganz und gar nicht, so daß sie das bereits inszenierte Stück vom Spielplan nahmen.
Ohne den Prager Frühling, an dessen Niederschlagung im August 1968 sich Bulgarien mit der Entsendung von Wachtruppen beteiligt hatte, wäre man vielleicht weniger empfindlich gewesen. Doch der Aufstand der Tschechen und Slowaken unter Dubček war allen noch im Gedächtnis, und in den oberen Etagen der Macht regierte die Angst. Das Beben in Prag hatte in den Satellitenstaaten der Sowjetunion unerwartet starke Druckwellen ausgelöst, auch im angeblich moskauhörigen Bulgarien. Der Westen pflegte die Shivkov-Regierung mit der Bevölkerung gleichzusetzen, doch davon konnte, wie sich seit der Öffnung der Staatsarchive 2007 gezeigt hat, keine Rede sein. Auch in Bulgarien gab es aufmüpfige Intellektuelle und Bürger mit Zivilcourage, die die Kommunisten daran erinnerten, daß sie mit der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrags am 10. Februar 1947 auch die Menschenrechte anerkannt hatten, und der Führung mit regimekritischen Aktionen das Leben schwermachten. Die im Gefolge der Entstalinisierung gelockerten Zügel wurden wieder angezogen, die Zensur verschärft, die Staatssicherheit, vor allem die Politische Polizei, massiv aufgerüstet. Eine Komödie über die Unterdrückungsmechanismen der Partei konnte man nun wirklich nicht gebrauchen.
Rückblickend ist man erstaunt, wie viele »Fehlversuche« man Markov durchgehen ließ, ehe Shivkov geseufzt haben soll: »Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns.« Man kann sagen, daß sein ganzer Erfolg auf einem Mißverständnis beruhte. Gegen den Kommunismus an sich hatte er nichts, wohl aber dagegen, wie diese Idee von einer machtgierigen Clique instrumentalisiert und zur eigenen Bereicherung benutzt wurde. Markov war nicht auf herkömmlichem Wege Schriftsteller geworden, sondern hatte nach dem Abitur Chemie studiert und anschließend als Chemieingenieur gearbeitet. Seine Entscheidung für die Literatur hatte aber wohl nicht nur mit seinem Interesse an den Künsten zu tun, sondern auch mit der 1948 diagnostizierten Tuberkulose, einer Armutsfolgeerkrankung, die im erst von der Wehrmacht, dann von der Roten Armee heimgesuchten und schließlich von Reparationen gebeutelten Bulgarien grassierte. Markovs Odyssee durch Sanatorien dauerte mit Unterbrechungen fünfzehn Jahre; viel Zeit nicht nur zum Lesen und zu ersten Schreibversuchen, sondern auch, um von anderen Kranken unzählige Geschichten zu hören und ihre Liebe zum Leben und zur Wahrheit kennenzulernen. 1958 wurde er, der mittlerweile Berufsschullehrer am Keramischen Polytechnikum war, mit 29 frühpensioniert. Seither legte Markov eine geradezu beängstigende literarische und publizistische Produktivität an den Tag.
Schon sein erster Roman »Das Dach« (1959) über den Ausbau des später in Stomana umbenannten Metallurgiekombinats Lenin in Pernik westlich von Sofia behandelte die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit. Markov schilderte nicht die heroischen Leistungen eines Volkes, das für den Sozialismus über sich hinauswuchs, sondern den (tatsächlich geschehenen) Einsturz des unsachgemäß erbauten Dachs der neuen Produktionshalle. In der Volksrepublik Bulgarien bestimmten nämlich nicht Fachleute, was und wie gebaut wurde, sondern Parteileute, die die jeweilige Parteilinie notfalls auch gegen jede produktionsökonomische Vernunft durchsetzten. Markovs Roman wurde kurz vor der Auslieferung zurückgezogen und eingestampft. Erst 2007 gab ihn der Siela-Verlag in Sofia neu heraus.
Wie groß der Bedarf an politisch glaubwürdigen Schriftstellern war und wie sehr insbesondere Todor Shivkov bereit war, sie zu hofieren, zeigte sich daran, daß Markovs nächster Roman »Männer« vom Bulgarischen Schriftstellerverband 1962 zum »Roman des Jahres« gekürt wurde. Zudem erhielt er für seine Schilderung dreier Männer, die vom Wehrdienst zurückkehren und sich mit gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten und Zwängen herumschlagen, die Vollmitgliedschaft im Verband, während andere selbst auf den sogenannten Kandidatenstatus oft jahrelang warten mußten. Markov hatte zeigen wollen, wie fatal sich die von den Parteikommunisten geweckte Doppelmoral auswirkte, weil sich keiner mehr für seine Arbeit verantwortlich fühlte; die Partei aber fand in dem Roman den Beweis, daß nicht das System den Menschen verderbe, sondern der Mensch noch nicht reif für das System sei! Mit anderen Worten: Mißstände waren für sie nicht strukturell, sondern individuell bedingt und rechtfertigten daher die Mittel, welche die Partei zur Erziehung des neuen, sozialistischen Menschen für angezeigt hielt.
Was die Mitgliedschaft im Bulgarischen Schriftstellerverband bedeutete, kann man sich heute kaum mehr vorstellen; es ging erheblich über das in den Verbänden der sozialistischen Bruderländer Übliche hinaus. Zu den Privilegien gehörte die Möglichkeit, einen Reisepaß zu erwerben, wodurch es Markov überhaupt erst möglich wurde, Bulgarien 1969 zu verlassen. Zudem wurde dem Autor eine Festanstellung als Redakteur garantiert. Markov erhielt eine Halbtagsstelle beim Verlag Narodna Mladezh (Volksjugend), die aber wie eine Vollzeitstelle bezahlt wurde. Für Buchprojekte konnte man eine halbjährige, durch ein Stipendium zusätzlich geförderte Auszeit beantragen und sich in die Ferienheime des Schriftstellerverbandes in den Bergen oder am Schwarzen Meer zurückziehen, wo man für eher symbolische Beiträge in Vollpension lebte. In Sofia wurde Verbandsmitgliedern selbst während der größten Wohnungsnot (infolge der Bombardierung durch die Alliierten 1944 und des starken Zuzugs vom Land) eine standesgemäße Wohnung zugeteilt. Ein Privat-Pkw, auf den Normalbürger oft mehr als zehn Jahre warten mußten, sofern sie das Geld zusammensparen konnten, war kein Problem, und im Verbandsrestaurant gab es Dinge zu essen und zu trinken, von denen das Proletariat bestenfalls träumen konnte. Die Finanzierung des Verbands erfolgte nicht nur durch staatliche Zuwendungen, sondern auch dadurch, daß vom Ladenpreis jedes in Bulgarien verkauften Buches zwei Prozent abgezogen wurden, ganz gleich, ob dieses von einem bulgarischen oder von einem ausländischen Autor, einem Verbandsmitglied oder einem »freien« Schriftsteller stammte.
Doch das vielleicht größte Privileg bestand darin, daß der Beitritt selbst als Universitätsabschluß gewertet wurde, so daß man sich für höhere Aufgaben in der staatlichen Verwaltung bewerben oder Universitätsdozent werden konnte. Der Bulgarische Schriftstellerverband war also keine gewerkschaftsähnliche Interessenvereinigung wie der deutsche VS und auch kein einfacher Berufsverband, sondern ein unmittelbar dem Politbüro unterstellter staatlicher Arbeitgeber mit Behördenstatus, vergleichbar mit einer Fakultät an einer staatlichen Hochschule oder einem Ministerium.
Markovs Freude am Erfolg, an Begegnungen mit Vertretern des Zentralkomitees, des Politbüros, mit Stasi-Mitarbeitern und anderen einflußreichen Vertretern der Nomenklatura ist schlecht zu verstehen, wenn man sein früheres Leben nicht berücksichtigt, das alles andere als den Aufstieg in die höchsten Kreise verhieß. Geboren wurde Georgi Ivanov Markov am 1. März 1929 in Knyazhevo, einem kleinen Vorort (heute Stadtteil) von Sofia, der sich an das Witoscha- und das Ljulingebirge schmiegt. Sein Vater war Feldwebel, ein strenger und unnachsichtiger Patriarch. Sein Vetter Ljuben Markov erzählte dem bulgarischen Filmemacher und Produzenten Alexander Donev 2011 eine Anekdote aus der Kindheit des Autors: »Georgi hatte schon als Kind einen starken Hang zu Büchern. Ich kann davon erzählen, wie sein Vater eines Morgens um fünf aufstand und Georgi in der Küche beim Lesen ertappte. Aber wie: Die Glühbirnen waren damals schwach, und so hatte Georgi einen Stuhl auf den Tisch gestellt, um gleich unter der Lampe zu sein. Er hatte die ganze Nacht nicht im Bett gelegen. Sein Vater fragte: ›Warum lebst und schläfst du nicht wie normale Leute?‹ Dann nahm er Georgis sämtliche Bücher und warf sie in den Ofen!«
Doch Vorwürfe oder gar Spuren eines Traumas sucht man in den erhaltenen Briefen Markovs an die Eltern vergeblich. Er beugte sich dem Wunsch des Vaters, er möge einen praxisnahen Beruf erlernen, und wäre vielleicht auch dabeigeblieben, hätte die Tuberkulose ihn nicht aus der Bahn geworfen.
[...]
SINN UND FORM 3/2013, S. 406-410
- 3/2015 | Idealismus und Verranntheit. Vom Übersetzen aus kleinen Sprachen
France, Anatole
- 3/1971 | Ein Brief
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Franklin, Benjamin
Das Wörterbuch des Trinkers
Vorbemerkung
Im Gedächtnis der Nachwelt hat der amerikanische Naturwissenschaftler, Ingenieur und Staatsmann Benjamin Franklin (1706 – 1790) bis heute einen festen Platz als Entdecker des atlantischen Golfstroms, als Erfinder des Blitzableiters und als einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten. Weniger geläufig ist den meisten wohl seine herausragende Bedeutung als Autor, der die moderne englische Prosa mit interessanten Wortschöpfungen und einem witzigen, teils satirisch-sarkastischen, gleichermaßen unterhaltenden wie instruktiven Stil so nachhaltig prägte wie sonst nur Joseph Addison, Richard Steele, Daniel Defoe oder Jonathan Swift. Als Wortkünstler bereicherte Franklin unter anderem die Terminologie der Elektrizität, indem er das aus der Militärsprache stammende Wort »Batterie« (mit dem bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine Geschützstellung oder auch die Größe einer Artillerieeinheit benannt wurde) als Bezeichnung für eine neue, von ihm konstruierte Speichervorrichtung für elektrische Energie gebrauchte. Gut bewandert war er auch im Naturrecht, weshalb er als einziger amerikanischer Politiker alle vier Gründungsdokumente der Vereinigten Staaten – die Unabhängigkeitserklärung von 1776, den Freundschaftsvertrag mit Frankreich von 1778, den Friedensvertrag mit Großbritannien von 1783 und die neue Verfassung von 1787 – mitunterzeichnete und zum Teil entwarf. So korrigierte er Thomas Jeffersons Erstentwurf der Unabhängigkeitserklärung dahin gehend, daß er die »Wahrheiten«, »alle Menschen« seien mit dem unveräußerlichen Recht auf »Leben, Freiheit und Streben nach Glück« ausgestattet, nicht – wie es Jefferson zunächst formuliert hatte – als »heilige« Glaubenssätze verstehen wollte, sondern als eine unbezweifelbare Selbstverständlichkeit, die keiner weiteren Erklärung bedurfte und somit, wie er es ausdrückte, »selbstevident« sei.
Als Franklins schriftstellerische Meisterleistung gilt seine »Autobiographie«, an der er von 1771 bis zu seinem Tod unausgesetzt arbeitete. Ein Jahr nach seinem Ableben erschien 1791 zunächst die französische Übersetzung des Textes, bevor dieser dann 1793 auch im englischen Original veröffentlicht wurde. Franklins Memoiren behandeln in vier Abschnitten sein Leben von der Geburt bis 1758, einem Zeitpunkt, zu dem der Autor sich im dreiundfünfzigsten Lebensjahr befand und schon ein berühmter Naturwissenschaftler war, doch als Politiker sich erst noch beweisen mußte. Franklin kam es darauf an, vor allem über seine Jugend und seine entscheidenden Entwicklungsjahre Auskunft zu erteilen. Ähnlich hielt es später der von ihm beeinflußte Johann Wolfgang von Goethe in seiner eigenen Lebensgeschichte »Dichtung und Wahrheit« (1811 – 14). Franklin wollte also in erster Linie seinen Bildungsgang und die sein Leben prägenden frühesten Einflüsse offenlegen. Die recht ausführliche und umständliche Darstellung seines Werdens als Autor nimmt viel Raum ein, zumal er seinen Lesern damit in vorbildstiftender Weise zeigt, wie man sich durch eigenständige Aneignung und gründliche Beherrschung eines sicheren Schreibstils zu den höchsten Höhen der Gesellschaft aufschwingen kann. Denn Franklin war im wesentlichen ein Autodidakt, der seine Erfolge neben großem intellektuellem Talent auch eiserner Disziplin, einem starken Willen und unbändigem Ehrgeiz verdankte.
Als Sproß eines einfachen Kerzenmachers und Seifensieders, der neben seinem jüngsten Sohn Benjamin noch sechzehn weitere Kinder zu ernähren hatte, mußte der Hochbegabte von einem Besuch des renommierten Harvard College seiner Geburtsstadt Boston absehen. Sein Vater Josiah Franklin hatte keinerlei Mittel, seinem Nachwuchs ein kostspieliges Universitätsstudium zu finanzieren. Nicht einmal einen längeren Schulbesuch konnte er seinen zahlreichen Kindern ermöglichen. Franklin besuchte lediglich für die Dauer eines einzigen Jahres die öffentliche Lateinschule von Boston. Immerhin bezahlte sein Vater ihm, dem Blitzgescheiten, der schon mit vier Jahren das Lesen gelernt hatte, anschließend weitere Stunden an einer privaten Schreibschule, die von einem äußerst erfolgreichen Lehrer, einem gewissen George Brownell, geleitet wurde. Franklin beschrieb die Methode, mit der dieser Mann ihm die schöne und geschwungene Handschrift beibrachte, die er sich zur Freude der Leser seiner Briefe dann ein Leben lang bewahrte, als eine besonders »milde« und zugleich »mutmachende« Art des Unterrichts.
Das Schrei ben bereitete Franklin ein solches Vergnügen, daß er sich entschied, bei seinem um neun Jahre älteren Bruder James, der als Drucker in Boston nicht nur einen eigenen Verlag betrieb, sondern ab 1721 auch die Zeitung »New England Courant« herausgab, in die Lehre zu gehen. Schon als Sechzehnjähriger verfaßte der Lehrling für das noch junge Blatt einige Zeitungsartikel, die von der Leserschaft gut aufgenommen wurden. Dadurch ermuntert trachtete Franklin um so emsiger danach, sein offenkundiges literarisches Geschick so weit zu verbessern wie nur irgend möglich. Er orientierte sich dabei zunächst an John Bunyans schon 1678 erschienenem allegorischem Erbauungsbuch »The Pilgrim’s Progress«, einer Prosaschrift, die noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts von vielen Autoren als gültiger Maßstab für erzählendes Schrei ben gerühmt wurde und bis heute nichts von ihrer erstaunlichen narrativen Kraft verloren hat. Zudem versuchte er sowohl von dem Bostoner Puritaner und Prediger Cotton Mather zu lernen als auch von Defoe, da beide Männer in herausragender Weise die Kunst des essayistischen Schreibens beherrschten. Zum entscheidenden Bezugspunkt für ihn wurde dann jedoch die moralische Wochenschrift »The Spectator«, die Addison und Steele zwischen 1711 und 1715 in London herausgegeben hatten. Insbesondere die von Addison beigesteuerten Zeitschriftenbeiträge galten ihm als Muster des modernen Essays.
In den 1720er Jahren entwickelte der junge Autodidakt Franklin eine originelle Methode, die darauf abzielte, sich einen möglichst großen Wortschatz zu erarbeiten. So machte sich der strebsame Journalist daran, wie er später in seiner »Autobiographie« berichtete, täglich aufs neue »eine Menge Synonyma zu suchen und ihrer Herr zu werden«. Allein um sein Vokabular und damit seine Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern, wählte er immer wieder einige von Addisons Aufsätzen aus dem »Spectator« aus, schrieb sie in gereimte Gedichte um und übertrug diese »nach Verlauf einiger Zeit«, wenn sie seinem »Gedächtnis genugsam entschwunden waren«, wieder in Prosa. Durch das beständige Umschreiben von Texten, die zwar mit der immer gleichen Argumentation stets dieselben Themen verhandelten, wurden ein ums andere Mal ganz neue Wörter in Anschlag gebracht, die das Altbekannte in neuer Form ausdrückten. So erarbeitete sich Franklin nach und nach nicht nur den gewünschten großen Wortschatz, sondern auch die stupende Fähigkeit, in kürzester Zeit ganz neue Wortkreationen in die Welt zu setzen. Seine unbändige Lust, immer weitere Synonyme zu finden, entsprach im übrigen dem Zeitgeist. Den ersten Versuch eines Wörterbuchs der Synonyme machte der anglikanische Geistliche und Naturwissenschaftler John Wilkins mit seinem »Essay Towards a Real Character, and a Philosophical Language and Alphabetical Dictionary« zwar bereits 1668, doch erschienen erst im 18. Jahrhundert Synonym-Wörterbücher von Rang: In Frankreich gab der Kleriker und Grammatiker Gabriel Girard 1718 das bedeutende Werk »La Justesse de la langue françoise, ou les différentes significations des mots qui passent pour synonymes« heraus; zu den wichtigsten anschließend auch in England publizierten Synonym-Wörterbüchern zählen John Truslers »The Difference between Words esteemed Synonyms, in the English Language; and the proper choice of them determined« (1766) und das von Dr. Johnsons Freundin Hester Lynch Piozzi besorgte »British Synonymy« (1794).
Als Franklin sich schriftstellerisch so weit vervollkommnet hatte, daß er sich zutraute, einen eigenen Verlag zu führen, gab er das Anstellungsverhältnis bei seinem Bruder auf und zog von Boston nach Philadelphia, wo er sich als Drucker selbständig machte. Ab 1729 gab er dort die »Pennsylvania Gazette« heraus, für die er die Leitartikel und viele Beiträge selbst verfaßte. Innerhalb kürzester Zeit avancierte dieses Blatt zur führenden Zeitung Nordamerikas. Außerdem reüssierte Franklin noch als Autor einer im eigenen Verlag herausgebrachten und »Poor Richard’s Almanack« genannten Kalenderschrift, mit der er seine Leser besonders erfreute, weil sie mit witzigen Lebensweisheiten gespickt war. Die in seinem Almanach enthaltenen humorigen Sprüche dachte sich Franklin zumeist selbst aus. Zu den bis heute am häufigsten zitierten Sentenzen gehören solche erfrischenden Beobachtungen wie »Drei Menschen können ein Geheimnis wahren, wenn zwei von ihnen tot sind« oder »Fische und Gäste stinken nach drei Tagen«. Der große wirtschaftliche Erfolg, der seinen von Geist sprühenden Druck-Erzeugnissen beschieden war, erlaubte es Franklin, sich schon mit einundvierzig Jahren aus dem aktiven Geschäftsleben zurückzuziehen. Ab 1748 ließ er seine Druckerei in Philadelphia von seinem Teilhaber David Hall führen, um mehr Zeit für seine naturwissenschaftlichen Studien zu gewinnen. Diese nahmen ihn immer stärker in Beschlag, seit er in der Mitte der vierziger Jahre begonnen hatte, sich mit dem Phänomen der Elektrizität auseinanderzusetzen, welches ihn so sehr beschäftigte, daß er, wie er einem Freund in London mitteilte, »nur noch wenig Muße für irgend etwas anderes« aufbringen konnte. Nach seiner Erfindung des Blitzableiters verlegte er sich dann ab den fünfziger Jahren immer mehr auf das Feld der Politik, wo er im Unabhängigkeitskampf gegen Großbritannien zum neben George Washington bekanntesten amerikanischen Politiker mit Weltgeltung aufstieg.
Bis zum Ende seines Lebens blieb Franklin, den Goethe in »Dichtung und Wahrheit« als funkelnden Stern am »politischen Himmel« des Aufklärungszeitalters pries, in vielfältiger Weise schriftstellerisch tätig. Viele seiner Arbeiten wurden umgehend in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt, die erste deutsche Ausgabe »Des Herrn D. Benjamin Franklin’s sämmtliche Werke« wurde bereits 1780 – immerhin zehn Jahre vor seinem Tod – in Dresden publiziert. 1792 übertrug Gottfried August Bürger dann seine »Autobiographie« ins Deutsche. Eine deutsche Übersetzung von Franklins »Kleinen Schriften« besorgte nicht lange danach der Weimarer Verleger Friedrich Justin Bertuch 1794. Es war vor allem der Naturwissenschaftler, Politiker und Selfmademan Franklin, der die deutschen Leser interessierte, weshalb auch in späterer Zeit insbesondere solche Schriften von ihm übertragen wurden, in denen er sich über politische und naturwissenschaftliche Fragen ausließ. Die Selbstbeschreibung seines Lebens blieb das mit Abstand populärste Buch, vor allem in der gelungenen Übertragung von Berthold Auerbach von 1876. Übersehen wurden dabei allerdings viele seiner köstlichen Zeitungsartikel aus den dreißiger und vierziger Jahren, die Franklin in einem frühen Karrierestadium verfaßt hatte, als er noch nicht zu Weltruhm gelangt war, sondern als Journalist nach Synonymen jagte. Diese Wortschatzübungen waren der Grundstock für den späteren Erfolg auch auf allen anderen Feldern seines Wirkens.
Ein Exerzitium der besonderen Art aus Franklins Journalistenzeit ist »Das Wörterbuch des Trinkers«, das er gegen Ende 1736 verfaßte und am 13. Januar 1737 in der »Pennsylvania Gazette« zum Druck beförderte. Wie in keinem anderen Beitrag aus seiner stets schwungvollen Feder führt er mit diesem Wörterbuch-Spaß in belustigender und doch auch ernstgemeinter Weise vor, daß man eine fast unbegrenzte Zahl von Synonymen finden kann, wenn man nur seiner Phantasie und seinem Gefühl für Sprache freien Lauf läßt – und dies auf der Grundlage des höchst genauen Hörens auf Wendungen, wie sie die im Alltag gesprochene, lebendige Sprache immer wieder neu hervorbringt, an allen Orten und Plätzen, zum Beispiel auch in einer Taverne. Daß Franklin seine Kunst des Findens (oder besser: Er-findens) von Synonymen unter Beweis stellt, indem er eine Riesenzahl von Variationen des Wortes »betrunken« hervorbringt, die er angeblich in einer Kneipe aufgeschnappt haben will, spielt darauf an, daß man sich als Dichter – von der Muse geküßt oder vom Bier beschwipst – zuweilen in den Zustand eines dionysischen Rausches versetzen muß, um überbordend produktiv zu sein. Franklins Trinker-Wörterbuch dürfte auch heute für alle, die sich mit Literatur und Sprache befassen, eine willkommene und unterhaltsame Anregung sein, es ihm gleichzutun.
Die Übersetzung hat Joachim Kalka besorgt. Zu den Prinzipien seiner Übertragung merkt er an: »Der Übersetzungs- beziehungsweise Nacherschaffungsversuch ist von geringerem Umfang als Franklins Original. Dasselbe Volumen wäre nur durch sehr angestrengte Neukonstruktionen oder durch die Heranziehung von nach Inhalt oder Tonfall anachronistischem Material zu erzielen gewesen; ich bin hier schon einigermaßen weit gegangen. Ich habe es nun bei 144 Einträgen belassen, was der Zahl der Beispiele entspricht, welche Lichtenberg in seinem Parallelunternehmen ›Patriotischer Beytrag zur Methyologie der Deutschen …‹ gibt, das ich gerne herangezogen habe (es findet sich im dritten Band der Ausgabe von Wolfgang Promies). Als weitere Anregungen dienten Franz Dornseiffs zu recht berühmter Thesaurus (7, 31 f.) sowie Lutz Röhrichs ›Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten‹ (1991; Stw. Trinken). Der Hauptfundus entstammt eigener lebensgeschichtlich-kneipenmythologischer Erfahrung.«
Jürgen Overhoff
(…)
SINN UND FORM 1/2024, S. 101-110, hier S. 101-104
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Fries, Ulrich
Letzte Postkarte von einer anderen Reise
In SINN UND FORM 4/2019 veröffentlichte der Herausgeber von Friedrich Pollocks Schriften, Philip Lenhard, unter dem Titel »Adornos letzte Postkarte« einen Aufsatz, in welchem er Textmaterial vorstellt und interpretiert, das »bis jetzt gänzlich unbekannt« war und nun als Teilnachlaß Pollocks an der Universität Florenz aufgetaucht ist. Laut Lenhard gibt »der auf mehrere Kisten verteilte Bestand (…) Einblick in die Nachkriegsgeschichte der Frankfurter Schule sowie in Theodor W. Adornos Gefühlswelt«. Ohne Frage sind die bislang unbekannten Dokumente interessant, so auch der Brief, in dem Adorno Pollock gegenüber von einem Gefühl der Dankbarkeit spricht und erklärt, »daß ich, wären Sie nicht, mit großer Wahrscheinlichkeit zugrunde gegangen wäre«.
Das wäre Adorno mit Sicherheit nicht. Der saß 1937, bevor Horkheimer ihn nach Princeton holte, ›high and dry‹ im Merton College in Oxford. Über seinen Wohltäter heißt es bei Lenhard: »Neben Pollocks wissenschaftlicher Arbeit war aber auch seine Verwaltungstätigkeit von großer Bedeutung. Gemeinsam mit Horkheimer repräsentierte er über fast drei Jahrzehnte das Institut und schuf im Exil einen Hafen vor allem für jüdische Intellektuelle, die aus Europa entkommen waren. Pollock (…) half anderen Verfolgten, wo er nur konnte. Er kümmerte sich um Affidavits, besorgte Bürgschaften, zahlte Stipendien und Honorare aus, vermittelte Wohnungen und Jobs und war für Dutzende ein rettender Anker in einer schier ausweglosen Situation.«
Die Männerfreundschaft der ungleichen ›Frankfurter‹ wird wohlwollend dargestellt und en passant ein weiteres Mal die Legende vom wohltätigen Wirken des Instituts für Sozialforschung, zumal für Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland, propagiert. Pollock selbst hatte in seinem »Memorandum for P. T., 1943« öffentlich gemacht, das Institut habe für die Unterstützung emigrierter Wissenschaftler zwischen 1933 und 1942 ca. 200 000 Dollar ausgegeben. Das wären heute inflationsbereinigt (je nach Konversionsverfahren) immerhin mehr als 3 Mio. US-Dollar. Die 1973 erschienene Horkheimer-Monographie von Helmut Gumnior und Rudolf Ringguth berichtet, ohne aber auf die Hintergründe einzugehen: »Mit Ausbruch des Krieges verschlechterte sich die finanzielle Lages des Instituts. Das Stiftungsvermögen schrumpfte mehr und mehr zusammen, so daß Horkheimer schließlich an eine Verkleinerung, wenn nicht gar an eine völlige Aufgabe des Institutsbetriebs dachte.« Die finanziellen Schwierigkeiten hatten ihren Grund jedoch nicht im Kriegsausbruch, wie ein Blick ins Horkheimer-Archiv erweist. Und tatsächlich erschließt sich eine zusätzliche Bedeutungsebene von Adornos emotionalem Dankesbrief, wenn man auch die bereits bekannten Quellen befragt. Die ergiebigste, »Die Frankfurter Schule« von Rolf Wiggershaus, enthält auf ihren mehr als 700 Seiten deutliche Hinweise auf Eigentümlichkeiten im Umgang mit dem Vermögen, über das Pollock freihändig gebieten konnte. »Die finanzielle Situation wurde dem Kreis der festen Mitarbeiter [zu dem Adorno zählte] nie auch nur halbwegs offen und in überprüfbarer Form dargelegt. Wirklich eingeweiht war nur das Interieur: Horkheimer und Pollock. Teilweise eingeweiht war als eine Art Generalsekretär Löwenthal. (…) Pollock (…) bestimmte offiziell die Gehälter bzw. Gehaltskürzungen.« Löwenthal hat (viel) später erklärt, derlei Entscheidungen »wurden in Gesprächen zwischen Horkheimer und Pollock festgelegt und uns mitgeteilt«.
Nach gängiger Lesart geriet das Institut als Folge der New Yorker Börsenkrise ab Mitte 1937 in Bedrängnis und mußte seine Ausgaben drastisch einschränken, um in reduzierter Form weiterarbeiten zu können. Die Briefe aus dieser Zeit dokumentieren Wiggershaus zufolge »die Angst Horkheimers und seiner Frau, nicht über reichliches Geld verfügen zu können«. In einem Brief an Adorno fällt das Bemühen auf, sich über die eigene Verantwortung hinwegzutäuschen. Alle »ökonomischen Fachleute mit vollen Portefeuilles« seien in die Baisse hineingeraten, »infolge der außerordentlichen Vorsicht Pollocks« habe man keine Bankschulden, bedeuteten »die gegenwärtigen Vorgänge im Gegensatz zu sehr großen Teilen der amerikanischen investments keineswegs eine Katastrophe«. Der Kernsatz aber lautet: »Da unser Vermögen, seit es besteht, viel zu klein ist, als daß wir von den Zinsen leben könnten, sind die Kosten des gesamten Betriebs von den Gewinnen bestritten worden.« Das ist eine sehr eigenwillige, nicht nachvollziehbare Darstellung.
»Auch das Rezessionsjahr 1938 brachte keine Besserung«, schreibt Wiggershaus, »sondern drastische Verschlechterungen, an denen nach eigenem Eingeständnis vor allem Pollock selbst schuld war, der zwar in seinem Zimmer eine ganze Wand für die Notierung der Börsenkurse reserviert hatte, aber eine unglückliche Hand in der Anlage von Geldern besaß.« Horkheimer reagiert wie ein Kleinbürger, betrachtet das Ganze als ein mythisches Verhängnis – und versucht Löwenthal zu bewegen, 50 000 USDollar (heute ungefähr 1 Million US-Dollar) auf sein Privatkonto zu transferieren. Löwenthal lehnt mit Verweis auf die Statuten ab. Der Gedanke, Rat bei Erich August Nadel zu suchen, der das Weilsche Kapital bis Mitte 1935 verwaltet hatte und den in seiner Obhut verbliebenen Rest dieses Vermögens erfolgreich durch die Krise steuerte, kam weder ihm noch Pollock.
Entscheidend für das Verständnis dieses Zusammenhanges sind Vorgänge aus dem Jahr 1935, als Felix Weil aus familiären Gründen sein gesamtes Vermögen in zwei – allerdings unterschiedlich zugänglichen – Tranchen in das Stiftungskapital der Société Internationale des Recherches Sociales (SIRES) einbrachte. Weil gab die Kontrolle über diese Gelder auf, für die im Rahmen der Statuten nun Pollock als Präsident verantwortlich war. Allein die erste Tranche bestand aus 883 000 US-Dollar (in Form von 781,7 kg Feingold) und hätte 2018 (nach dem oben verwendeten Verfahren) einen Wert von 13 000 000 USDollar gehabt. Im Jahresbericht 1936 kann Pollock schon vermelden, daß im zweiten Halbjahr 1935 dieser Zufluß eine Rendite von ca. 100 000 US-Dollar generiert habe (mithin die Hälfte dessen, was er in den zehn Jahren von 1933 bis 1942 insgesamt ausgekehrt hat). Pollock weiter unter Punkt C der Tagesordnung:
»Die Vermögensverwaltung, welche dieses erfreuliche Resultat gezeitigt hat, erfordert begreiflicherweise ziemlich umfangreiche Massnahmen. (…) Zu diesen Massnahmen gehören nicht nur Börsenoperationen verschiedenster Art, sondern auch etwa der Erwerb von Grundstücken und andererseits die Errichtung einer selbständigen kleinen Aktiengesellschaft amerikanischen Rechts. (…) Der Präsident bittet in diesem Zusammenhang nicht nur um die ausdrückliche Genehmigung für alle (…) Transaktionen, sondern auch um Annahme der (…) vorzuschlagenden Ergänzung der Statuten, um eine einwandfreie Rechtsgrundlage zu schaffen. Dabei erklärt er ausdrücklich, daß die Vermögensverwaltung in dem Masse, in dem aufgrund sorgfältigster Beobachtungen durch unsere ökonomischen Büros eine Ermattung der wirtschaftlichen Erholung festgestellt werden kann, ein Uebergang zu wesentlich konservativeren Methoden der Vermögensanlage, unter Umständen sogar unter Verzicht auf jegliche Verzinsung, erfolgen wird.«
To cut a long story short: Weils Versuch, die Finanzen des Instituts zu sichern, indem er das Kapital aus dem Familienvermögen herauslöste, damit der Fachkompetenz Nadels entzog und »vertrauensselig« (Weil) unter die Verfügung Pollocks (und damit Horkheimers) stellte, erwies sich als Desaster. Allerdings war die finanzielle Lage des Instituts zu keinem Zeitpunkt so schlecht wie von Horkheimer später dargestellt. Aber sowenig er und Pollock die Börse begriffen, so gut verstanden sie es, mit dem Popanz des drohenden Ruins die Verpflichtungen des Instituts zu reduzieren. In der Legendenbildung der Frankfurter Schule ist das Wissen um diese Vorgänge untergegangen, die jetzt von Jeannette Heufelder in ihrem Buch »Der argentinische Krösus« (2017) kohärent rekonstruiert wurden.
Der neunte Jahresbericht der SIRES von 1941 weist für das Jahr noch vier bezahlte Mitarbeiter in Europa aus: Hans Mayer, Hans Brill, Walter Benjamin und Andries Sternheim, die ersten drei als Stipendiaten, Sternheim als »Mitarbeiter«. Mayer schreibt später: »Das Institut hat weder seinen Pariser Sekretär Hans Brill noch seinen holländischen Mitarbeiter Andries Sternheim und dessen Familie vor der Verschleppung retten können. Es ist müßig zu fragen, warum das nicht zu ändern war.«
Das mochte Mayer 1982 so erscheinen. Doch seit 1991 ist das Schicksal Sternheims und seiner Familie – zumindest in den Niederlanden – durch die Dissertation von Bertus Mulder öffentlich bekannt: Sternheim war ab 1931 für den Standort Genf verwaltungstechnisch zuständig. Er gehörte zu den ersten Beiträgern der »Zeitschrift« und rezensierte regelmäßig Publikationen auf dem Gebiet der sozialen Bewegung und der Sozialpolitik. Pollock hatte ihn 1938 im Zuge der (wie gezeigt von ihm selbst verursachten, jedoch keineswegs in dieser Form notwendigen) Sparmaßnahmen aus Genf verdrängt, wo er eine Aufenthaltsgenehmigung für sich und seine Familie besaß. Er hatte ihn mit dem Versprechen weitergezahlter, wenn auch reduzierter Bezüge veranlaßt, seinen Rücktritt bei der SIRES einzureichen, diesen aber im April 1939 auf der Gesellschafterversammlung so verkündet, als wäre es Sternheims Wunsch gewesen, nach Amsterdam zurückzukehren. Das Protokoll hält fest: »With great regret the members [anwesend war auch Felix Weil, Sternheim nicht] accepted the resignation in view of the reasons explained by Dr. Sternheim and a vote of thanks was given for his honorary activities« (Minutes of the Seventh General Meeting of the SIRES, April 29, 1939).
Ein erster Versuch, Sternheim loszuwerden, war zuvor am Widerstand Horkheimers gescheitert, der ihn als zuverlässigen empirischen Sozialwissenschaftler schätzte. Doch dann schaltete sich Adorno ein, dem Horkheimer die Freizeit-Projektskizze zur Beurteilung gegeben hatte. Dessen Verriß der Vorlage ließ Sternheim in den Augen Horkheimers nicht mehr tragbar erscheinen. In der Folge zitiere ich die ganze Brief- Passage, um nicht dem Verdacht anheimzufallen, es würden Aussagen künstlich zugespitzt:
»Ich las auch das ganze Manuskript Sternheim. Ich dachte, es handle sich um einen zwar schreibunfähigen und beschränkten Mann, aber doch um jemand mit gelehrten Qualitäten oder wenigstens einer gewissen Materialkenntnis. Aber von alldem kann gar keine Rede sein. Vom Schriftstellerischen rede ich schon gar nicht und auch nicht von Ideen. Aber selbst die Minimalforderung, die Pollock einmal aufstellte, daß einer imstande sein müsse, den Inhalt einiger gelesener Bücher einigermaßen zusammenhängend und verständlich wiederzugeben, erfüllt er nicht. Es handelt sich nicht bloß um ein Produkt der tiefsten neurotischen Dummheit, sondern es ist über weite Strecken (wo er nämlich ›Theorie‹ macht) völlig unverständlich. Daß durch ›Redaktion‹ geholfen werden kann, halte ich für ausgeschlossen; man müßte den ganzen Mann umredigieren. Wäre einfach die Qualität Sternheims in Rede, so würde ich wirklich nur für sofortige Liquidation optieren, ohne mich damit des russischen Antiintellektualismus verdächtig zu machen. Nun weiß ich wohl, daß das nicht geht. Ich weiß aber nicht, wie weit die Verpflichtungen St. gegenüber solche der Dankbarkeit oder solche der Taktik sind. Bestünden jene, so wäre nichts zu sagen oder [zu] tun; bestehen diese, so ist es zu fragen, ob noch ein dringendes taktisches Interesse vorliegt, und ob eine so rissige Fassade zu irgendetwas nutzt. Und ich wäre dann doch dafür, zu versuchen, ihn loszuwerden. Ich habe an folgende Wege gedacht: (1) stufenweise, allmählichen Abbau mit der Begründung, daß das Institut die Erforschung der Freizeit für hinreichend gefördert halte; (2) wegloben an Farquharson, der ihn ja kennt; (3) wegloben ans Arbeitsamt, obwohl ich dringend fürchte, daß dieses ihn an uns weggelobt hat; (4) (???) vielleicht ihn durch de Man in Brüssel unterbringen. Das wäre an sich der Ort für ihn; aber ich habe große Zweifel, ob der Herr Minister ausgerechnet für uns etwas tun wird. Das Institut in irgendeiner Weise an einem Buch Sts zu beteiligen, halte ich aus den allereinfachsten Prestigegründen für sehr bedenklich. Das ist nicht bloß langweilig wie gewisse Dinge, die wir machen müssen; es setzt uns der Lächerlichkeit aus, wofern nicht einer von uns der Sache sich ganz energisch annimmt. Ich denke, ich werde noch von Ihnen hören, wann und ob ich nach Genf soll (vielleicht kann man es mit ein paar Erholungstagen in der Schweiz kombinieren). Die Funktion, die ich hier aber am liebsten übernähme, wäre die des Abschlagteufels oder Henkers (NB auch die pure Kenntnis der Lage in den totalitären Staaten bei St. ist äußerst mangelhaft und wie alle diese Leute überschätzt er weit die Ideologie, nimmt sie auch für viel eindeutiger als sie ist).«
Horkheimer macht noch Anstalten, ihn zu verteidigen: »An der Stelle, die er damals bei uns bekleidete, hat er sich übrigens durchaus bewährt.« Aber im Juli 1938 haben Adorno und Pollock sich durchgesetzt, und Sternheim muß zurück in die Niederlande. Damit nicht genug: Einen Monat später teilt Pollock ihm mit, daß auch die zugesagten 200 US-Dollar nicht sicher seien, will dann die Bezüge um 50 % kürzen. Im Oktober 1939 findet er eine Stelle als Direktor in einem Rationierungsbüro, sein Gehalt wird im September 1940 von 200 auf 250 niederländische Gulden erhöht, doch im November 1940 wird er wie alle jüdischen Beamten auf Veranlassung der deutschen Besatzer entlassen. Zeitgleich erhält er von Pollock Nachricht über eine weitere Kürzung seiner Bezüge. Sternheim ist verzweifelt, spricht in seinem letzten Brief an Horkheimer (28. Oktober 1940) vom »most terrible blow I ever received«.
Hier wurde der Plan einer schrittweisen Trennung umgesetzt – offenbar unter Verzicht auf Anstand. Es scheint geradezu ein Merkmal von Pollocks und Horkheimers Beschäftigungspolitik zu sein, daß sie unter Berufung auf hehrste Ziele oft niederste Praktiken anwendeten. Man kann das an verschiedenen Stellen bei Wiggershaus nachlesen. Daß ihre Nachfolger bis heute an deren Selbststilisierung festhalten – und selbst ihre Gegner diese Legendenbildung nicht durchschaut haben –, gehört in denselben Verblendungszusammenhang wie das Verschweigen des Schicksals der Familie Sternheim.
Martin Jay stellt 1976 in diesem Zusammenhang folgende Behauptung auf: »Einige Institutskollegen – Karl Landauer, Andries Sternheim und an prominentester Stelle Walter Benjamin – hatten sich trotz eindring- licher Aufforderungen und Bitten geweigert zu emigrieren, bis es schließlich zu spät war.« Die Aussage ist in zwei Punkten falsch: Schon am 24. Januar 1939 hatte Sternheim aus Amsterdam an Horkheimer geschrieben: »Wenn meine Frau und ich die freie Wahl hätten, so würden wir am allerliebsten Europa verlassen, um in einem andern Weltteil mit den Kindern ein neues Leben anzufangen.« Dieser Brief fand keine Aufnahme in die Briefabteilung von Horkheimers »Gesammelten Schriften«. Während Jay in seiner Arbeit noch regelmäßig auf Sternheim Bezug nimmt und ihn siebenmal erwähnt, ist auffällig, daß er 1986 im Literaturverzeichnis von Wiggershaus überhaupt nicht mehr auftaucht.
Als er an Horkheimer schreibt, haben Sternheim und seine Familie keine drei Jahre mehr zu leben. Sein Direktorengehalt wird ihm bis März 1941 ausgezahlt. Ob auch das Institut den reduzierten Betrag weiter auskehrte, konnte Mulder nicht ermitteln. Die willkürliche – aus Adornos Narzißmus, Pollocks Kaltherzigkeit und Horkheimers Egoismus geborene – Entscheidung, Sternheim aus dem sicheren Genf im Juli 1938 nach Amsterdam zu schicken und ihm dann seine Unterstützung zu kürzen, zerstörte seine materielle Basis, wie Mulder anschaulich darstellt. Daß man Anfang 1939 seinen Emigrationswunsch ignoriert, liefert ihn letztlich der Verfolgung durch die Nazis aus. Das ist die eine Seite dieser Geschichte. Mulder ist der erste, der sie erzählt. Er scheint zu vermuten, daß Sternheims Herkunft – ein nicht-deutscher Jude aus der Arbeiterklasse – der Grund gewesen sein könnte, warum man dem Holländer nicht hilft. Mulder wirft die Frage auf, weil er weiß, daß Pollock und Horkheimer auch noch in den Kriegsjahren über ausreichende Mittel für solche und andere Aktionen verfügten. Die Unterlagen, die dies belegen, liegen in Frankfurt und Amsterdam – seit langem. Weshalb sind sie, nach all den Jahren, noch nicht ausgewertet? Das ist die andere Seite einer Geschichte, eine, die auch Walter Benjamin betrifft.
Sternheim geht mit seiner Familie 1943 in den Untergrund, im Januar 1944 werden sie verhaftet. Das letzte Lebenszeichen, eine Postkarte, stammt aus dem März 1944: »Es ist anders gegangen, als wir erwarteten. Plötzlich Auschwitz-Transport, womit auch wir gehen. Wir sitzen im Zug, sind beide gesund und stark und guten Muts. Sind gut ernährt und bereit, alles zu erleiden.«
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- 3/1990 | Misere und Dilemma des realen Sozialismus
- 6/1990 | Nachdenken über den Tod
- 3/1991 | Der Traum der Intellektuellen. Ein Versuch in therapeutischer Absicht
- 3/1992 | Gespräch mit Hans Albert
- 6/1994 | Vereinigungsprobleme
- 5/1997 | Das Elend des moralischen Rigorismus. Überlegungen zu Heiner Müllers Stück »Der Auftrag«
- 6/1998 | Ethik des moralischen Urteilens
- 1/2001 | Moralisches Versagen oder Verletzung kognitiver Pflichten
- 5/2006 | Delegitimierung und Totalkritik. Kritische Anmerkungen nach fünfzehn Jahren Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit
Fritzsche-Schmidt, Eva
- 3/1988 | Treff Kunsthochschule 1943
Fröhlich, Anna Katharina
- 5/2016 | Die seltenen Atome des Glücks. Über Guido Ceronetti
Frühwald, Wolfgang
- 4/1993 | Die »Endlichkeit dieser Erde«. Laudatio auf Sarah Kirsch
Frýd, Norbert
- 5/1972 | Die Ansichtskarte
Fuchs, Thomas
- 3/2008 | Zur Phänomenologie des Schmerzgedächtnisses
Fuchs, Tilla
- 6/2012 | Gespräche mit Serge Klarsfeld und Henri Godard über Céline
Fucík, Julius
- 4/1951 | Der jungen Generation
Fuentes, Carlos
- 3/1966 | Der Tod des Artemio Cruz
- 3/1966 | Rede an die Bürger der USA
- 2/1977 | Was das Leben kostet
- 6/1981 | Terra Nostra
- 6/1981 | Gespräch mit Manuel Osorio
- 5/1984 | Julio Cortázar 1914-1984
- 6/1989 | Die Entdeckung Mexikos
- 5/1994 | José Lezama Lima: Körper und Wort des Barocks
- 1/1995 | Gespräch mit Eleanor Wachtel
- 1/2002 | Die fünf Sonnen Mexikos
Fugard, Athol
- 2/1983 | Sizwe Banzi ist tot
Fühmann, Franz
- 6/1955 | Gedichte
- 1/1961 | Alltag des Polizeileutnants K.
- 1/1963 | Ernst Barlach in Güstrow
- 4/1967 | Louis Fürnberg
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- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
- 3/1971 | Die Gewitterblume
- 4/1972 | Laudatio auf Georg Maurer
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- 3/1976 | E.T.A. Hoffmann
- 6/1976 | Schneewittchen: Ein paar Gedanken zu zwei jungen Dichtern
- 6/1977 | Der Geliebte der Morgenröte
- 6/1981 | 150 Jahre Hinstorff
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- 2/1989 | Mein Erstling
- 3/1990 | Offener Brief - An den Leiter der Hauptverwaltung Buchhandlung und Verlage im Ministerium für Kultur Klaus Höpcke
- 1/1992 | Brief an ein Kind
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- 6/1998 | Gespräch mit Hans-Georg Soldat
- 5/2005 | Briefe an den Übersetzer Paul Kárpáti. Vorbemerkung Paul Kárpáti
- 1/2022 | Das Ungefähre gilt nicht mehr. Frühe Gedichte (1953 / 54)
Fuhrmann, Manfred
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Fumaroli, Marc
- 4/1995 | Gespräch mit Philippe Sollers über Literatur im Spannungsfeld von Gestern und Heute
- 2/2003 | Als Europa französisch sprach
- 1/2010 | Beim Wiederlesen von Mario Praz, S. 512 Leseprobe
Fumaroli, Marc
Beim Wiederlesen von Mario Praz
Aber ich weiß auch, daß man oft meint, ich
sage etwas Neues, wenn ich etwas Altes sage,
das aber die meisten noch nie gehört haben.Cicero
Mario Praz. Bis vor kurzem (obwohl er bereits 1982 starb) geschah es mitunter schon bei der Andeutung seines Namens, daß ein italienischer Gesprächspartner Ihnen mit einer Hand den Mund zuhielt und die Finger der anderen beschwörend kreuzte. L’Innominabile! Und dann überhäufte man den Ausländer, der ahnungslos, unbedacht oder dumm genug gewesen war, auf Okkultes anzuspielen, zur Erbauung mit mehr oder weniger tragischen Geschichten, um die verhängnisvolle Macht des »Unnennbaren« zu beweisen, dessen Name noch immer Furcht einflößte. Nomen, numen. Das ging vom völligen Stromausfall bei einem Fest, das der Professor soeben verlassen hatte, bis zum Unfall eines Unglücklichen, der dem schrecklichen jettatore über den Weg gelaufen war.
Praz, der als junger Mann wohl unter dieser kaum beherrschbaren Gabe litt, hatte sich mit dem Schrecken abgefunden, den er verbreitete. Er kannte die mittelalterliche Legende, die Vergil zum Totenbeschwörer macht, und der Gedanke, er sei selbst einer, hat ihm als Historiker womöglich gefallen. Dennoch mußten sein Ruf und dessen Wirkung ihn melancholisch stimmen und ihm sein Anderssein besonders bewußtmachen. Und welche Genugtuung für den künftigen Autor von »Romantic Agony«, dasselbe zu durchleben wie Paul d’Aspremont, einer der unheimlichsten Helden Théophile Gautiers, der die schöne, puritanische Miss Anna Ward liebt: »Paul flößte sich selbst Angst ein: Ihm war, als schleuderte der Spiegel das Fluidum seiner Augen wie vergiftete Wurfspieße auf ihn zurück: Stellen Sie sich Medusa vor, die im falben Widerschein des Bronzeschilds ihr grauenhaftes, verzauberndes Haupt sieht.«
Vielleicht trug die Ausgrenzung dazu bei, daß der in Florenz aufgewachsene Piemonteser sich früh zu den in der Toskana lebenden Briten hingezogen fühlte – ein Vorzeichen seiner Berufung zum unbestrittenen Meister der Anglistik. In Italien sind Einsamkeit und Melancholie, wie Praz sie empfand, eher ungewöhnlich, dagegen sind Spleen und Exzentrik, die darauf beruhen, Grundzüge der englischen Kultur. Es bedurfte des ganzen Ansehens, das ihm die grenzenlose Bewunderung der anglo-amerikanischen Welt für seine Bücher und die Freundschaft etwa eines T.S.Eliot oder Edmund Wilson eintrugen, um die öffentlich bezeugte Abneigung Benedetto Croces zu kompensieren, des italienischen Literaturpapstes der Zwischenkriegszeit, der kein Buch von Praz in seiner Bibliothek duldete und sich bekreuzigte, wenn man ihn erwähnte. Das hinderte Praz nicht, nach seiner Rückkehr aus England ein halbes Jahrhundert lang glorreich als Professor für englische Literatur an der Universität Rom zu wirken und mit Landsleuten vom Rang eines Eugenio Montale oder Emilio Cecchi wie mit seinesgleichen zu verkehren. Mit der Zeit trat zu dem Schrecken, den er seinen Kollegen einflößte, Bewunderung, ja Verehrung, die ihm seine wöchentlich auf Seite drei von »Il Tempo« abgedruckten Essays bei einer großen Leserschaft verschafften. Mehrere Bände mit Artikeln über das alte und neue Rom waren unter den Titeln »Römisches Panoptikum« und »Die Stimme hinter der Bühne« erschienen. Die Thematik gibt einen überzeugenden Eindruck von Praz’ »journalistischen« Arbeiten, die das literarische und geistige Niveau von Sainte-Beuves »Montagsgesprächen« erreichen.
Die terza pagina italienischer Zeitungen (für die auch Kunsthistoriker wie Federico Zeri und Autoren wie Guido Ceronetti schreiben) ist wie die entsprechenden Seiten der Sunday Times, der Neuen Zürcher oder der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Relikt des 19. Jahrhunderts, zumindest für uns in Paris. Aber ein segensreiches Relikt, denn es verschafft den Talenten in vielen europäischen Ländern ein Auskommen, ohne das sie sich als Clowns verdingen müßten. Derartiger Aufgeschlossenheit verdankt sich auch die Existenz von Rezensionszeitschriften wie Times Literary Supplement oder New York Review of Books (die man in Paris zu kopieren versucht, ohne ihre Funktion in Amerika zu kennen). Praz’ Essays, die in Haltung und Intensität seinen Büchern gleichen, aber wohl mehr von ihm preisgeben, und seine Rundfunkbeiträge haben ihn zu einer Legende gemacht, die weniger auf abergläubischer Furcht als vielmehr auf Bewunderung und Respekt beruht. Als aber nach seinem Tod in seiner Wohnung in der Primoli-Stiftung eingebrochen wurde, kursierte in der guten Gesellschaft das Gerücht, der diabolische Professor sei zurückgekehrt, um die für die Öffentlichkeit bestimmten Sammlungen zu verwüsten.
Das Kino hat ihn schon zu Lebzeiten heiliggesprochen. Praz diente Visconti als Vorbild für den Helden eines seiner letzten Filme, »Gewalt und Leidenschaft«, auf englisch »Conversation piece«, eine Anspielung auf das Buch, in dem Praz seine Sammlung von Bildern dieses im 19. Jahrhundert beliebten Genres erklärt, für das er sich wie immer als erster interessierte: friedvolle Szenen im Familien- oder Freundeskreis, Aquarelle von Malern oder, öfter, von begabten Amateuren, auf denen Interieurs, Menschen im Gespräch oder bei Hausmusik zu sehen sind. Bilder einer Hochkultur, die er wegen ihres diskreten Charmes oder auch ihrer Schönheit für wertvoller erachtete als viele gutgläubig angebetete »Meisterwerke« auf dem Kunstmarkt oder in Museen. Doch man muß den Visconti-Titel gegen den Strich lesen. Das »Interieur« des Films ist keineswegs friedvoll und die »Gruppe« nicht durch verwandtschaftliche Gefühle oder die Liebe zur Musik verbunden. Die Geschichte spielt in einem römischen Renaissancepalast, den sein Besitzer, ein alter Hagestolz, luxuriös und raffiniert im Stil des 19. Jahrhunderts ausgestattet hat, und wie bei Praz hängen überall Conversation pieces. Doch Viscontis Ästhet war, wenn ich mich recht erinnere, so unklug, eine Etage an eine Familie zu vermieten, die am Puls der Zeit lebt, sich im New Yorker Stil einrichtet und die Baudelairesche »Zweizimmerwohnung«, wo der Einsame seinen Gedanken nachhängt, mit Rockmusik, freien Sitten und Radical chic heimsucht. Insgeheim fasziniert von ihrer lärmenden Vitalität und provokanten Sinnlichkeit, verbarrikadiert er sich aber nicht gegen die Barbaren oder wirft sie hinaus, sondern läßt sie gewähren und sich in diesem Luxus aus einer anderen Zeit, der ihnen übrigens behagt, ungeniert amüsieren. Eine Welt geht zu Ende, eine andere beginnt, und zwar mit der Demütigung und Niederlage des leicht masochistischen Ästheten, der Visconti so gefiel. Falls Praz für diesen Film ungewollt Modell stand, ist die Karikatur kaum zu überbieten. Unerschütterlich wie ein Fels, wäre er, wie der letzte Herrscher von Byzanz auf der Festungsmauer, eher mit der Waffe in der Hand gestorben, als moderne Ganoven, wie der Film sie feiert, auch nur für eine Sekunde in sein Haus oder gar sein Herz zu lassen. Die Besetzung der Figur mit dem athletischen Burt Lancaster, nicht mehr ganz so verführerisch wie in »Verdammt in alle Ewigkeit«, aber in Größe und Gestalt an einen alternden Sheriff erinnernd, bildet einen unbeabsichtigten komischen Gegensatz zu dem vertrockneten kleinen Professor, der zudem mit einem Hinkefuß geschlagen war, eine noble Behinderung, die er mit Talleyrand gemeinsam hatte, die aber zu seinem Ruf als Inkarnation des Teufels beitrug. Bleibt noch die museale Wohnung, ein antiquarisch-cineastisches Meisterwerk. Mit der von Praz hatte sie genausoviel gemeinsam wie die von Huysmans in »Gegen den Strich« für Des Esseintes erfundene Behausung mit ihrem Vorbild, dem vom jungen Robert de Montesquiou im Haus seiner Eltern am Quai Conti ausgebauten Dachboden. Huysmans kannte ihn nur aus einem begeisterten Bericht Mallarmés. Aber durch die römische Presse, die, wiewohl spät, Praz und seine Sammlungen zum Reportagethema machte, sowie durch Erzählungen zumeist englischer und amerikanischer Besucher (Gore Vidal war Stammgast im Palazzo Ricci) und durch die Lektüre von »La Casa della Vita«, einem zumindest eigenwilligen Buch, das mit dem Roman »Der Leopard« des Fürsten von Lampedusa um den Premio Viareggio konkurrierte, wußte Visconti genug über diesen legendären Ort, um daraus gleichsam einen prächtigen Zauberspiegel des 19. Jahrhunderts zu machen, einen Köder für die unwiderstehlichen jungen Gauner. Die Figur, die Visconti auf das universitäre Fossil projizierte, als das er Praz zweifellos sah, war der gleiche Narziß der Alten Welt wie der Fürst in »Der Leopard« oder der Schriftsteller im »Tod in Venedig«, der sich mit Freuden einem Narziß der Neuen Welt unterwirft. Womöglich war Visconti nicht der erste, der diesen Schluß zog, ausgehend von Praz’ erstem Buch, das ihn 1930 weltbekannt machte.
»Liebe, Tod und Teufel« galt vielen als indirektes Geständnis. Praz diagnostiziert darin minutiös die Pathologie der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, die von de Sade, Maturin, Byron und de Quincey genährt wurde und mit Baudelaire, Swinburne und den »Dekadenten« ihren Höhepunkt erreichte. Es war sozusagen ein wildes Fin-de-siècle-Relikt von Aby Warburgs »alten Göttern«. Das Fazit, Praz verberge hinter der Maske des Gelehrten seine Obsession für makabre Erotik und okkulte Handlungen, war schnell gezogen und wurde auch von seinem Ruf als jettatore begünstigt. Um so mehr, als er Italien in seinem gelehrten Buch nicht verschonte. Im letzten Kapitel zeigt Praz ohne Rücksicht auf den Nationalmythos Gabriele d’Annunzio (den Helden von Fiume, vom Mussolini-Staat schon zu Lebzeiten inmitten des Plunders seiner Villa Vittoriale einbalsamiert), den Autor von »Lust«, als »lateinischen« Interpreten der rasenden »Nervosität« der Jahrhundertwende, als Dichter des Blutes, der Lust und des Todes, von kraftvollem Ungestüm und dem sinnlichen theatralischen brivido Italiens, der, anders als die frostigen Geister des Nordens, Bourget, Barrès oder Butler, den Klang seiner Sprache geradezu schamlos modulieren konnte. Das war zuviel für England, wo das Schlußkapitel zensiert und der zu eindeutige Titel mit dem akademischen Begriff »Romantic Agony« übersetzt wurde, unter dem das Buch zum Triumph wurde. In Italien, wo man nicht zuviel über sich selbst wissen möchte, las man das Kapitel, schrieb aber die treffenden Analysen des Autors lieber dessen erklärtem Hang zum heidnischen Sabbat zu. Lange bevor er Viscontis Filmheld wurde, machte ein ziemlich seltsames Mißverständnis den Historiker Praz zur Hauptperson seines Buches, zum Kapitän des »Narrenschiffs«, das er so ironisch distanziert wie kenntnisreich beschrieben hatte. So wurde Praz Opfer eines Fehlurteils, das die umgekehrte Wirkung hatte wie jenes, von dem Anthony Blunt lange profitierte. Während Praz, dieser Mann der Ordnung und der Wissenschaft, dieser moralisch und physisch kerngesunde Gelehrte, aufgrund seines literaturpsychologischen ersten Werkes als schwarze, verderbte Seele galt, vor der man sich hüten mußte, konnte Blunt als anscheinend untadeliger Kenner der klassischen französischen Kunst, der eine monumentale Monographie über den Maler-Philosophen Nicolas Poussin verfaßt hatte, auf einhellige Bewunderung und allgemeinen Respekt bauen – bis er zum Erstaunen der akademischen und bald auch der gesamten Welt als Spion und Verräter entlarvt wurde. Der Teufel hat solche Überraschungen auf Lager.
Das Vergleichen der beiden Männer und ihrer Werke ist um so mehr berechtigt, als beide mit dem Warburg-Institut verbunden waren. Praz veröffentlichte dort 1939 seine »Studies in Seventeenth Century Imagery«, den Anfang der akademischen Industrie, die sich »barocken« Emblemen und Inschriften widmet. Aby Warburg war eines jener Genies, an denen Deutschland im 19. Jahrhundert so reich war: Er reformierte die Kunstgeschichte, indem er in Kunst und Kultur Metamorphosen lebendiger Formen sah, die über eigenständige Energie verfügen und sich tarnen, um zu überdauern; eine seiner großen Entdeckungen war das »Nachleben« der heidnischen Götter in christlichen »Dämonen«, die als Sternbilder weiterexistieren und den Menschen Furcht einflößen. Das spät zu Ruhm gelangte Werk über »Saturn und Melancholie« ist ein seinen Schülern Saxl und Panofsky zu verdankender Niederschlag seiner Arbeiten, die größtenteils nicht veröffentlicht wurden, aber die anglo-amerikanische Welt sehr beeinflußten, auch durch seine Bibliothek und sein Institut, die er von Hamburg nach London verlagerte, um sie vor den Nazis zu retten. Die Warburgsche Tradition ist, wiewohl durch starke Persönlichkeiten gebrochen, noch heute erkennbar, etwa bei Frances Yates, die sich dem Okkultistischen in der Renaissance widmet, oder bei D.P.Walker, der das Wiederaufleben der spätantiken Theurgie der »Magier« im florentinischen Neoplatonismus nachwies. Der in England an seiner »Romantic Agony« arbeitende junge Praz war durch sein Interesse an den »Nachtseiten« der Romantik zum »Warburgianer« prädestiniert, sofern er nicht schon seit den dreißiger Jahren für die Ausrichtung dieser außergewöhnlichen Gelehrtengruppe empfänglich war.
Im Winter 1928 präsentierte Warburg (er starb 1929) in einem Saal der Bibliotheca Hertziana in Rom sein großes Projekt Mnemosyne. Begeistert lauschte Ernst Robert Curtius diesem Vortrag, der die Saat für sein zwanzig Jahre später veröffentlichtes Monumentalwerk »Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter« legte. Ob auch Praz zugegen war? Zumindest hat er den Vortrag gelesen und darin Anregungen gefunden.
Blunt, der Mitarbeiter des Instituts war, bezeigte offenbar stets eine etwas arrogante Reserviertheit gegenüber den kühnen Erkundungen des »Irrationalen«, die den Ruhm Warburgs und seiner begabtesten Schüler begründeten. Demonstrativ bevorzugte er die ausgewogensten und kältesten Formen der akademischen Tradition, die er streng positivistisch untersuchte, und trieb selbst seine »italienische« Interpretation Poussins in diese Richtung. Unter dem Deckmantel der Klassik war das »grüne Leuchten« Mr. Hydes, der den Russen gefährliche Geheimnisse verkaufte, fast bis zum Schluß unsichtbar. Was davon in seinen feinen Zügen mit der distanzierten Miene aufschien, verstärkte noch seine aristokratische Isolation, die jedem auffiel. Solche eigenartige Falschheit ist bei Italienern selten, und Praz war sie fremd, obwohl er ihre Unmenschlichkeit ermessen konnte. Seine Reise ans Ende der Nacht der Literatur des 19.Jahrhunderts machte er jedenfalls, ohne Schaden zu nehmen, als barmherziger und gebildeter Laienpriester. Die Bettlektüre des angeblichen Totenbeschwörers war Montaigne.
Montaignes »Essais« sind ja auch nicht gerade ein Brevier der Unschuld. Auf seine Art war auch Praz ein Spion und Verräter. Aber nach Art Montaignes, wie alle wahren Priester und großen Schriftsteller. Er war eine zu lautere Natur, um damit zufrieden zu sein, für eine fremde Macht zu spionieren. Sein Geheimnis bestand nicht darin, fernen Zeitgenossen zu dienen, um nahen Zeitgenossen zu schaden. Montaigne war ein Agent, aber einer, der die Horde seiner Zeitgenossen freudig verlassen hatte und mit fliegenden Fahnen zu den Alten übergelaufen war. Die ihres Amtes würdigen Priester sind Agenten Gottes in der Welt. Schon immer haben sie einander zugeraunt, was Lear zu Cordelia sagt: »Zum Kerker, fort; da laß uns singen wie die Vögel in dem Käfig. (…) Und hüllen uns in das Geheimnis der Dinge, als wären wir Gottes Spione …"
Alle großen Schriftsteller betrügen ihre Zeit mit den verschiedensten Mata Haris, die ihre Musen sind, und ihre Mission, das Leben der Formen zu verewigen, ist ein Hochverrat an ihrer Zeit, die aus freien Stücken an deren Zerstörung arbeitet. Unter den Augen der Barbaren, die Barrès gerade erahnte, verschrieb sich Praz mit Leib und Seele dem gegnerischen Lager, der letzten Epoche europäischer Zivilisation, dem 19. Jahrhundert. Er blieb sein Leben lang dessen Geheimagent unter den Zeitgenossen, eine fünfte Kolonne ganz allein. Damit hatte er in mancherlei Hinsicht ein gefährliches Leben gewählt. Aber auch ein freies Leben im Dienste dessen, was man liebt und was diese Liebe verdient. Warum dieses Überlaufen zu den Verstorbenen? Das war keine nekrophile Verirrung, und auch kein populärer Totenkult. Es ist viel einfacher und schlichter: Die Toten sind vollendet. Sie sind vergangen, geläutert, verwandelt durch die Wasser der Zeit. Wer diese Prüfung besteht, hat seine Form gefunden und gebietet über das Sakrament der Formen. Der Tod ist die Vollendung der Zivilisierung. Die Lebenden, vor allem jene, die nichts mit den Verstorbenen gemein haben wollen, die Überlebenden sind formlos und unvollendet, fühlen sich aber überlegen und stellen ihr Leben zur Schau. Doch das formlose Leben ist gemein, unfruchtbar, eine célineske Wucherung. Gestern wie heute, nie wird ein Mann von Herz und Geist daran denken, ihm in diesem Zustand zu dienen und zu huldigen. Nur die Verbündeten fehlen. Sie sind dort, wo die Formen sich halten und nichts anderes wollen, als sich im Reich der Zeit, wo die Toten über sie gebieten, zu verewigen und zu erneuern. Praz entschied sich für das Lager der Mnemosyne. Aber woher diese Vorliebe für das 19. Jahrhundert? Das ist eine relativ nahe Zeitregion, fast noch gegenwärtig. Sie ist, sie war noch gestern um uns. Genau dafür hassen sie die Zeitgenossen, die weder Kraft noch Neigung zum Weitermachen haben.
Praz spürte als erster diese eigentlich moderne Situation. Er erkannte, diese Epoche war auch eine verlassene, der sogar die Weihen der Geschichte verweigert wurden, weil sie ein so naher und schmerzlicher Vorwurf war. Deshalb liebte und studierte Praz sie, ganz wie Montaigne die Antike liebte, nur eben auf italienische Art, mit einer von Trauer überschatteten, geduldigen, fast fetischistischen Liebe zu dieser jüngst Verstorbenen. Die Sinne waren daran ebenso beteiligt wie das Herz und der Geist mehr als die Ideen, die bei Praz, der dafür zu klug war, nur mäßiges Interesse weckten. Um in eine dauerhafte Kommunikation mit seinen Verbündeten aus einem anderen Jahrhundert einzutreten, war Praz gezwungen, sich mit Hilfe mehrerer historischer Disziplinen und der Autobiographie eine einzigartige Methode zu erfinden. Zu den traditionellen Kanälen, geretteten Texten und Gegenständen kamen bei dieser so nahen Zeit ganze noch intakte Städte hinzu, unversehrte private oder öffentliche Interieurs, geringgeschätzte Kunstwerke und Gebräuche, die schon durch ihre Menge verstörten, und sogar verspätete Zeugen, deren Gesten, Manieren und Erinnerungen von dem im Sturm von 1914/18 untergegangenen Jahrhundert kündeten und damit eine wahre spirituelle Transfusion ermöglichten. Praz’ Wurzeln reichten ins 19. Jahrhundert, er hatte seinen Duft geatmet und sein Licht gesehen. Mit dem ungeheuren Gedächtnis des Gelehrten, mit der Disziplin des Philologen, der Sensibilität des Sammlers und dem Talent des Künstlers wurde Praz der Schliemann eines Troja, dessen Äneas er zunächst war, der Sohn im Exil:
Infandum, regina, jubes renovare dolorem
Troianas ut opes et lamentabile regnum
eruerint Danai …Praz entwickelte einen eigenen Stil für dieses unendliche Thema, das er als erster erkannte, als alle um ihn herum sich davon abwandten oder nicht hinsehen wollten. Und man brauchte schon Stil, um die Vielfalt einer Methode auszuschöpfen, die literarische und psychologische Analyse mit der Beschreibung von Kunstwerken, die Behandlung kleiner Gegebenheiten mit der Deutung von Orten und Gesten verknüpft, um »die wiederhergestellte Vergangenheit in der Gegenwart« sichtbar, hörbar und spürbar zu machen und in dieser Vergangenheit die Vergangenheiten, die darin widerhallen. Diese Wissenschaft des Trauerns machte ihn unversehens zum Verbündeten des Sainte-Beuve der »Montagsgespräche« und des Baudelaire der »Ästhetischen Merkwürdigkeiten«. Spielerisch erfand er Disziplinen, geruhte aber nicht, sie theoretisch zu begründen, eine Geschichte der Mentalitäten, der Sitten und Haltungen zu Liebe und Tod, eine Geschichte des Privatlebens, der niederen Künste, der Symbolsysteme. In Gestalt der Semiologie ist diese romaneske Mimesis, von der Praz viel gelernt hat und die Balzac, Tolstoi, Flaubert, James im 19. Jahrhundert bis zur Magie trieben, längst gängige Münze. Als Schüler dieser Magie stellte der Schriftsteller Praz sie dem Historiker Praz zur Verfügung, und seine sinnlichen, bildersprühenden Texte voller »Korrespondenzen« haben nichts von einstudierter Kunstprosa; sie klingen wie unterirdische Musik, träumerisch und andächtig, und lassen die schwindelerregende Virtuosität vergessen, die anscheinend ganz selbstverständlich sprudelt wie leises, vertrauliches Plaudern. Nirgends wird dieser natürliche Ton, in dem wissenschaftliche Durchdringung und lyrische Teilnahme verschmelzen, so deutlich wie in den Artikeln der terza pagina, die zu Praz’ eigentlichem Genre wurden, zur ihm gemäßen Form, wo die erstaunliche Vielfalt an Tönen und Themen die unverwechselbare Farbigkeit seines Stils nicht überdeckt, sondern verstärkt. So ist der große Schriftsteller erst nach der späten, fast postumen Buchveröffentlichung dieser Artikel ganz aus dem Schatten des großen Historikers getreten. Dem Historiker schadet das nicht, da sich sein Wissen durch Neugier und Genauigkeit vermehrt, und der Schriftsteller steigert dank der wohlwollenden Leser die Macht seiner Suggestion, seines Gefühls und seiner Ironie. Liest man dann noch einmal »La Casa della Vita« oder »Gusto neoclassico«, entdeckt man, was man zuvor als Untersuchungen oder Essays gelesen hat, als Poesie wieder. Und man bemerkt, daß diese Werke aus zum »Hören« wie zum Verstehen gedachten »Stücken« bestehen. Sobald man Praz’ Kunst als Schriftsteller erkannt hat, begreift man, wieso er als Totenbeschwörer gelten konnte. Es gibt ja zwei Arten von Historikern: Die meisten waren und sind bestrebt, die erforschte Vergangenheit zu bannen und für die Gegenwart zu verflachen, sie quasi vorzukochen, wie ich gern sage, weniger um empfindlichen, sondern um robusten Mägen die Verdauung zu erleichtern. Die andere, seltenere Art, deren Idealtypus Praz sein könnte, nimmt sich der Vergangenheit an und gibt sich ihr hin und macht sie durch diesen Austausch in ihrer Blüte sichtbar, ohne Rücksicht darauf, ob sie die Lebenden erbost und die Moral der Truppe untergräbt. Praz hat etwas von Tacitus. Und von Vergil. Er glaubt an die Wahrheit, vor allem aber an die Schönheit. Er weiß, beide können verletzen. Aber er weiß auch, daß beide zusammen überzeugen, bewegen, versöhnen, zivilisieren können.
Zivilisieren ist das Schlüsselwort. Schließlich stammt die Vorstellung von Geschichte, die Praz zum Schriftsteller, ja Dichter gemacht hat, vor allem von einem zivilisierten Menschen. Zivilisiert ist heute ein fast verpöntes Wort, anstößiger als Wahrheit, Schönheit, Poesie oder Bildung, die ihrerseits an der Grenze des Erträglichen sind. Man hat sogar versucht, seine Bedeutung zu verändern, weil man befürchtete, daß es doch noch verführerisch sein könnte. Ein zivilisierter Mensch ist ein Weltbürger, der überall zu Hause ist, wo eine Welt existiert, und in allen Zeiten, in denen es eine Welt gab. Eine Welt ist nicht die Welt, und Weltläufigkeit hat wenig mit Zivilisiertheit zu tun. Eher mit der Zugehörigkeit zu einem Orden, einer Art Ritterorden. Es ist ein alter Orden, der sich aber den Umständen anzupassen versteht. Als Mitglied gönnt man sich den zum Überleben der Spezies unnötigen Luxus, sein Empfinden und Verhalten Formen und Regeln zu unterwerfen, die, obzwar ungeschrieben, überall stillschweigend anerkannt werden, wo diese Ordnung geherrscht und eine Welt hervorgebracht hat. Und wenn es einen Orden gibt, gibt es auch einen Corpus der Zivilisierten im Sinne des corpus mysticum. Er ist grenzen- und alterslos. Seine Seele ist die Literatur, doch die mündliche Überlieferung, Freundschaft und Erfahrung sind für ihn so unverzichtbar wie moralische Unabhängigkeit. Leider wird Zivilisiertheit heute leicht mit Konformismus verwechselt. Dabei sind es Gegensätze. Der Konformist versucht seine Fassade so zu gestalten, daß er mit den »modernen Manieren« übereinstimmt. Er gönnt sich keinen Luxus. Aus Geiz hält er am Jetzt und dessen chaotischen Gesetzen fest. Der Zivilisierte hat freiere Bewegungen, deren Kraft und Vielfalt aus einem Formengedächtnis stammen, das er oder das ihn gewählt hat und eine Ordnung, Regeln und unsichtbare Referenzen enthält. Der Zivilisierte entgeht der Herrschaft des Unmittelbaren dank der Korrespondenzen seines Lebens mit »früheren Leben«, die mit seinem verwandt sind und an denen er brüderlich teilhat, gleich, welchen Ländern oder Milieus sie angehören. Von einer »Welt« kann man erst sprechen, wo dieser geistige Luxus eine Bedeutung hat und die Leidenschaften des Jetzt in Schach hält.
Mario Praz, der Historiker, der Schriftsteller, der Lehrer, war als wahrhaft Zivilisierter eine Art Kentaur, dessen Kopf und Körper einer poetischen alten Ordnung entstammen, aus der sie ihre Freiheit und ihr Gesetz beziehen und die ihnen kraft der Erinnerung die Sinne schärft. Wenn er als Erinnerungsregion das 19. Jahrhundert wählt, dann deshalb, weil die Poesie dieser vielfältigen Epoche viele andere Poesien umschloß: Kein Jahrhundert war so empfänglich für frühere, keine Zivilisation so bemüht, frühere zu integrieren. Das 20.Jahrhundert wertet diese mnestische Großzügigkeit als Eklektizismus. Praz sah darin einen Gipfel der Zivilisation, hier fühlte er sich unter seinesgleichen, und er hatte für die »verräterischen Einzelheiten« ebensoviel Verständnis wie für die epischen Kraftlinien dieses Jahrhunderts. Eine besondere Vorliebe (die der schwarzen Legende, die ihn quasi auf »The Romantic Agony« reduzierte, widersprach) hatte er für die französische Seite im Europa des Novecento, für das Empire Napoleons und die Familie Bonaparte, die er besser als andere verstand. Diese scheinbar »neue« Familie, die in Wahrheit einer viel älteren und noch nicht so verbrauchten Tradition angehörte wie die alten Dynastien in Rom während der Renaissance, errang dank des Geschicks, der Umtriebigkeit und Energie ihrer Mitglieder mehrere Throne. Beinahe wäre das Empire zur Keimzelle eines augusteischen Europas geworden, und diese Familie, deren Gesetz aus längst vergangenen kraftvolleren Zeiten stammte, hätte den Traum von einer Pax Romana wahrgemacht, den Europa seit den Invasionen der Barbaren hegte. So kurz Napoleons Kaiserzeit auch erscheint, innerhalb weniger Jahre entstand eine einheitliche Zivilisation von Neapel bis Stockholm, von Madrid bis Tilsit, deren Stil, Kraft und Poesie Praz als erster rehabilitierte. Der Sturz des Empire verhinderte ein französisches Europa, das Napoleon mit seinem Schicksal gleichgesetzt hatte. Der Piemonteser Praz war aber auch empfänglich für das Europa nach dem Wiener Kongreß, das erst nach einem Jahrhundert zerfiel: 1815–1914. Er hat dessen viele Facetten hervorgehoben, englische, österreichische, russische und französische. Ausgehend von einem Conversation piece, einem Genrebild von Zoffany, einem Biedermeier-Möbelstück, einem Niello-Ei von Fabergé oder einem Roman von Dickens oder Tolstoi, einem Gedicht von Tennyson oder Baudelaire, entwickelte er seine gelehrten Betrachtungen, die nach und nach einen verschwundenen Moment der Zivilisation bis auf den Duft und das Gefühl genau wiedererstehen ließen. Seine Erinnerung sympathisierte mit dem, was schon Erinnerung war, denn alles, was diese zivilisierten Familien hinterlassen hatten, war ein Spiel mit früheren Formen, die Rekapitulation einer in einer flüchtigen Gegenwart neuerfundenen Geschichte, konzentrische Kreise von Echos. Diese mnestische Kette, der Praz sich verbunden fühlte, rühmte er in vielen Büchern, die so etwas wie »Tausendundeine Nacht« des 19. Jahrhunderts darstellen. Man müßte ihnen noch seine gesammelten Zeitungsartikel hinzufügen, in denen die italienischen Leser als erste Scheherazade hinter der Maske des jettatore erkannten.
Praz’ Geschmack an literarischen Pilgerreisen (belegt durch sein Buch »Il mondo che ho visto« – Die Welt, die ich gesehen habe –, in dem er von seinem Besuch in Jasnaja Poljana erzählt) war mir stets fremd. Ich ahnte daher nicht, daß ich selber eine machte, als ich den berühmten Professor in der Via Giulia besuchte, angekündigt und begleitet von meinem Freund Bruno Neveu, der in Rom lebte und schon einmal bei ihm war. Hätte ich eine machen wollen, dann in den Palazzo Ricci, in dem Praz wohnte, da dieser in zwei Romanen des 19. Jahrhunderts vorkam, die ich sehr schätzte. Da war sie also, die traurige fürstliche Bleibe, die Henry James und Emile Zola inspiriert hatte. Im »Bildnis einer Dame« büßt die schöne, schwärmerische Amerikanerin Isabel Archer hier dafür, daß sie den Abenteurer Gilbert Osmond geheiratet hat, der ihr als ein in die schönen, feinen Dinge Europas »Eingeweihter« erschien, aber nur der übliche Kultursnob ist. Und auch die melodramatische Schlußszene von »Rom«, dem einzigen Zola-Roman, der mich fasziniert, spielt hier. Ein Kardinal, der Papst werden soll, merkt, daß nicht einer seiner Rivalen, sondern seine geliebte Nichte vergiftet wurde, und fordert ihren Verlobten auf, sie auf der Stelle zu lieben, vor seinen Augen, damit sie nicht stirbt, ohne das Feuer der fleischlichen Leidenschaft gespürt zu haben. James und Zola haben das Dekor gut gewählt. Die abweisende Fassade und der nüchterne cortile des Gebäudes, feucht und lichtlos, erinnern mehr an das Reich Philips II. als an das Rom Raffaels oder Berninis. Aber ich sah keinen Zusammenhang zwischen der Phantasie der Schriftsteller, die diesen alten Palast zu neuem Leben erweckt hatten, und dem Professor, der dort wohnte. Ich empfand für ihn Respekt, ähnlich dem, der Paul Hazard für seine »Crise de la conscience européenne« gebührt oder Marcel Bataillon für »Erasme et l’Espagne«. Ein berühmter Ahne, was seine Gelehrtheit betraf. Ich hatte erst wenig von Praz gelesen und hegte noch das französische Vorurteil, daß ein großes Gedächtnis und literarisches Genie unvereinbar seien.
Eine ältere Hausangestellte mit weißer Schürze führte uns wortlos hinein. Schon im kaum erleuchteten Vestibül wurde man überwältigt von den riesigen, schweren Schränken und Bücherschränken und der seltsam harmonischen Anhäufung von Büsten, Statuen, Lithographien, Gemälden, Konsolen, die jeden freien Spalt zwischen den Möbeln einnahmen. Dann mußte man sich hinter der Bediensteten durch einen schmalen Gang mit niedriger Decke an gewöhnlichen, mit Taschenbüchern vollgestopften Regalen vorbeischlängeln, wo auch ein ganz gewöhnliches Telefon stand. Am Ende dieses für eine Intellektuellenwohnung typischen Verbindungsgrabens stand man plötzlich, staunend über den Kontrast, in einem gigantischen salone. Der Professor, der uns entgegenkam, war klein, trug einen dunklen Straßenanzug mit steifem Kragen und wirkte so winzig, als stünde er am anderen Ende eines großen Platzes; Stock und Hinkeschritt hallten auf dem Parkett in einem synkopierten Rhythmus, vor dem ganz Rom floh. Gestalt und Umgebung aber traten völlig in den Hintergrund, wenn man in sein strenges Gesicht blickte, das erschreckend asymmetrisch war, ein Auge halb geschlossen, das andere schwarz und herrisch, das in Stein gemeißelte Patrizierantlitz eines Mannes, der sich der Wissenschaft verschrieben hat.
Doch kaum hatten wir einander die Hand gegeben und ein paar Worte gewechselt, da verjagten sein Lächeln, seine Gesprächigkeit und seine vorzüglichen Manieren die Eule der Minerva, die ich einen Moment lang auf seiner Schulter gesehen hatte. Sogleich stellte die Haushälterin ein für das englische Teeritual vorbereitetes Silbertablett auf ein Tischchen. Als wir in den mit gestreifter Seide bezogenen Mahagoni-Fauteuils saßen, die der Professor uns angeboten hatte, setzte er sich uns gegenüber kerzengerade auf den Rand eines Kanapees, dessen dotterblumengelben Taftbezug große Schwäne und blaue Palmetten zierten. Ein weißlackierter Empirebücherschrank mit Applikationen aus vergoldeter Bronze, Pfeilen, Laubkronen und korinthischen Kapitellen umrahmte das Kanapee oben und an den Seiten wie ein Alkoven ohne Tiefe. Mit seinen außergewöhnlich lebhaften Farben, die heutige Menschen mit ihrem kleinmütigen Geschmack leicht verschrecken, verströmte dieser Salon aus der Zeit des Palazzo Farnese unter dem monumentalen Plafond, der sich zwischen bemalten Balken zum Himmel öffnet, einen fast femininen Luxus. Doch die vornehme Geometrie der klassisch ornamentierten Holztäfelung war den neuen Farben der Seidenbezüge und der Majestät des Raumes gewachsen. So vertrug sich das Empire blendend mit dem Rom der Renaissance, und der Professor paßte zu beidem. Er beherrschte die Szene überzeugender, als es unzähligen Gästen in Ballroben, für die dieser Raum gedacht war, möglich gewesen wäre. Smalltalk, wenn auch weniger affektiert als bei seinen englischen Kollegen, fiel ihm leicht. Alles interessierte ihn, er schloß kein Thema aus. Er war höflich genug, den Gast aus Paris nach den neuesten Theaterstücken zu fragen, obwohl er über das Wichtigste längst im Bilde war. Und er ließ sich auch nicht um die rituelle Besichtigung bitten, sondern schlug sie selbst vor, wohlwissend, daß man auch deshalb gekommen war.
Schriftstellereitelkeit war ihm fremd, kein einziges Mal erwähnte er sein eben erschienenes Buch »La Casa della Vita«, die Langfassung der »Reise um mein Zimmer«, die er während des Rundgangs viva voce für uns zusammenfaßte. Hätte ich doch nur Gelegenheit gehabt, dieses außergewöhnliche Werk vorher zu lesen, in dem Praz als Historiker, Memoirenschreiber, Autobiograph und Sammler zugleich, Gedächtnis und Gelehrtheit, Kunstkritik und Sittenchronik vereinend, aus jedem Raum seiner Wohnung in der Via Giulia ein labyrinthisches Kapitel macht und aus jedem Objekt ein Glanzstück! Mit welcher Leidenschaft hätte ich die Besichtigung mit der früheren verglichen! Und wie ein Besucher des Salons der Brüder Goncourt in ihrem »Grenier d’Auteuil« hätte ich nicht versäumt, den neuen Edmond de Goncourt nach dieser Version der »Maison d’un Artiste« zu befragen. Ich war beeindruckt von dem, was ich sah und hörte, und dieser Spiegeleffekt verwandelte den Eindruck in Ergriffenheit. Als ich das Buch las, begriff ich, was mir an diesem Tag begegnet war: kein gelehrter Sammler, sondern ein Schriftsteller in seinem Theater aus Erinnerung und Erfindung, in seiner »Bibliothek«, unter Balken, die vielleicht schon Montaigne gesehen hatte. Montaignes Bibliothek beschränkte sich allerdings auf Bücher, und obwohl Praz über ebenso viele verfügte wie ein gut ausgestattetes Forschungsinstitut, hatte er diesen »Quellen« der Inspiration noch unzählige Kunstwerke, Gemälde, Möbel und erlesene Reliquien hinzugefügt – »Meditationsorte« für den Dichter, Kanäle der stummen Kommunikation für das Medium, Ausgangspunkte für die gelehrte Vorstellung des Schriftstellers. Später, als ich »Conversation Pieces« las, ein Buch, in dem Praz das häusliche Leben und die Sitten des 19. Jahrhunderts zu neuem Leben erweckt, fiel mir ein, daß er uns auf einige Genrebilder aufmerksam gemacht hatte, von denen unglaublich viele an den Wänden hingen, eine in vielen Jahren gewachsene Sammlung, die schließlich das Buch, das ich gerade las, hervorgebracht hatte. Aber etwas Gesehenes in etwas Gelesenem wiederzufinden ist keine so magische Erfahrung, wie das Gelesene zu sehen und zu erfahren. Im einen Fall ist es eine Verifizierung, im andern erwacht man in einem anderen Leben.
Ich weiß, was man Praz’ »Sammlungen« vorwirft: daß sie keine »Meisterwerke« enthalten. Der Professor war nicht gerade reich, aber als Sammler interessierte er sich ohnehin weniger für Meisterwerke, für Museen oder Millionäre als vielmehr für das »bescheidene«, also vernachlässigte oder verachtete und daher kostengünstige Kunstobjekt, in dem er dank seines Wissens und seiner Intuition einen »Stein von Rosetta« mit vielfältigen, verborgenen Bedeutungen erkannte, deren Entzifferung sich lohnte. Tatsächlich waren die Werke, die er gesammelt hatte, schön, doch nie von offensichtlicher, arroganter Schönheit, sondern von einer Schönheit für Kenner, die ihrer Entdeckung harrte, ein Geheimnis gleichsam zwischen dem, der sie geschaffen hatte, dem, für den sie geschaffen waren, und dem, der beide verstand. Praz suchte weniger nach einer Kunst außerhalb der Zeit als vielmehr nach der in den Künsten verdichteten Zeit. Was mir bei diesem Besuch auffiel, war die Einheit dieser Sammlung in all ihren Formen. Praz zeigte uns Möbel und Gemälde, Medaillons und Statuen, Porzellan und Silber aus der Kaiserzeit, kleine Meisterwerke von italienischen Künstlern oder Handwerkern für Elisa Bacchiochi und Caroline Murat, Pauline Borghese und Laetizia Bonaparte. So führte er uns von Büste zu Miniatur, von Aquarell zu Pastell, die alle eine anrührende oder merkwürdige Geschichte hatten, zu den Orten und Episoden des napoleonischen Italiens, das so eng mit seinem Leben als sammelnder Historiker verbunden war und sich in der Ausstattung seiner Wohnung dartat. Empire-Psychen mit kostbaren Toilettenartikeln aus jener Zeit warteten auf ihre Herrin, ob Königin Hortense oder Praz’ Tochter oder seine Frau Vivian, die ihn kurz nach dem Krieg verlassen hatte, vielleicht weil sie der unbesiegbaren Schatten überdrüssig war, denen sie fortwährend begegnete.
Praz wußte, daß er den Palazzo Ricci verlassen mußte, da dessen Eigentümer sich profitable Immobiliengeschäfte versprachen. Aber es war nicht wie im »Kirschgarten«. Als Vorstandsmitglied der Primoli-Stiftung hatte er den geordneten Rückzug in den Palazzo Primoli vorbereitet, wo seine Sammlungen eine luftigere und ansehnlichere »sistemazione« fänden. Ich habe die neue Einrichtung nicht gesehen, aber nach den von Praz in einer erweiterten Ausgabe von »La Casa della Vita« veröffentlichten Fotografien sowie nach den Erinnerungen von Bruno Neveu zu schließen, ist es nicht gelungen, mit den Gegenständen auch die Atmosphäre des Palazzo Ricci in die neue Umgebung zu transportieren. Das römische Patrizierhaus von »Gégé« Primoli, einem »Napoleoniden«, der sich während des Second Empire in Paris ausgezeichnet hatte, entsprach dem Charakter der Prazschen Sammlungen natürlich viel mehr als ein Renaissance-Palast. Die Räume waren größer, heller und besser angelegt als in der Via Giulia. Ein Innenarchitekt half dem Professor, alles in eine elegante, angenehme Ordnung zu bringen. Aber das war es ja gerade: Ein Hauch von Kunstgewerbe, der das spätere Museo Praz quasi schon im voraus gruppenführungstauglich machte, war dort eingedrungen, während ich in der Via Giulia das fast klaustrophobische Gefühl hatte, den Meister der Zeit in seiner Geisteswerkstatt, umgeben von Kristallkugeln, Spiegeln und Hieroglyphen, wirken zu sehen. Selbst in dem für mich schönsten Museum der Welt, der unveränderten Wohnung von Isabella Stewart Gardner, einer Freundin von Berenson und James, in Boston, fand ich nicht diese »Aura«, die im Palazzo Ricci Gegenstände und Kunstwerke ausstrahlten, obgleich sie viel »bescheidener« waren. Die Dinge waren da wie dort mit Liebe zusammengetragen, aber bei Praz war es eine nachschöpfende Liebe, wie man ihr nur in römischen Kirchen begegnet, wo Gold und Stuck, Marmor und Altargemälde im Halbdunkel keinen anderen Zweck zu haben scheinen, als Tag für Tag am Wunder des Altars mitzuwirken. Im Palazzo Ricci war jeder Gegenstand beseelt von einer tiefen Freude, von Praz in seinen Büchern gerettet zu werden, es war die seltsamste, bestmöblierte »Gelehrtenstube«, die man sich vorstellen konnte. Sie wurde von der Moderne verschluckt, und Praz, der sie während seines ganzen schöpferischen Lebens nutzte, mußte sie schließlich gegen das bißchen weltlichen Luxus und Komfort eintauschen, das seinen Schätzen und seinen letzten Jahren zustand.
»La Casa della Vita« blieb also der Palazzo Ricci und Praz mit diesem Ort und diesem Buch untrennbar verbunden. Dank der Anthologien des Adelphi Verlags, die seine zunächst nur römischen Lesern bekannten Essays im ganzen Land populär machten, wurde er zu einem großen italienischen Schriftsteller. Und begann eine neue Karriere. Er ist offenbar einer der führenden Köpfe im Widerstand der italienischen Literatur gegen die Zusammenarbeit mit den neuen Barbaren der modernen »Kultur«, ein Symbol jenes Bündnisses zwischen Literatur und Bildung, auf dem seit Leopardi die Kraft und lebendige Kritik der besten italienischen Autoren beruhen und das heute Leute wie Sciascia, Ceronetti oder Citati aufrechterhalten.
In der Adelphi-Anthologie »Il mondo che ho visto« (Die Welt, die ich gesehen habe) lernt man Praz auf eine höchst erstaunliche, furchterregende, aber auch vollständige Art kennen. Die Texte erstrecken sich über ein halbes Jahrhundert, sie reichen vom Spanien der dreißiger bis zum Italien der siebziger Jahre. Praz auf Reisen! Als ich diese verborgene Seite des Menschen wie des Schriftstellers entdeckte, war ich erstaunt. Ich hatte mir Praz immer seßhaft vorgestellt, ja, in seinen vier Wänden eingeschlossen. Dabei war er so oft, so weit und mit so großer Lust durch die Welt gereist! Woher nahm er die Zeit, so viele Bücher zu schreiben, soviel zu reisen und auch noch darüber zu berichten? Ich hatte sein phänomenales Gedächtnis unterschätzt, das seine Gelehrtheit unterstützte, er war eine Art italienischer Borges, ein wahres Füllhorn. Mnemosyne hat Zeit zu reisen. Ich hatte auch unterschätzt, daß sein glückliches Naturell eine solche zivilisierte Verbundenheit um ihn herum schuf, die ihn auch im hohen Alter vor Einsamkeit bewahrte. Warum sollte jemand, der die Energie, den Blick und einen Sinn für »Trödel« hatte, Eigenschaften, die man braucht, um eine so überreiche Sammlung zusammenzutragen, nicht in der Lage sein, mit derselben aufmerksamen Neugier gemeinsam mit gleichgesinnten Freundinnen und Freunden die Welt zu durchstreifen? Und es war unvermeidbar, daß ein so von der Zivilisation des 19. Jahrhunderts durchdrungener Historiker auch eines ihrer liebsten geistigen Exerzitien wiederaufnahm, das damals das Niveau großer Kunst erreichte: Reisen und Reiseberichte.
Im 19. Jahrhundert hieß Reisen das Glück des Lesens zu verlängern: Man reiste zu Orten, von denen Bücher erzählten und die man dadurch schon kannte. Es hieß auch das Glück der »Karten und Stiche« zu verlängern: Man reiste nie ohne Skizzenbuch, das auch als Notizheft diente. Reisen war also Mnemotechnik, so abenteuerlich und entfernt auch das Ziel war, denn das forschende und erzählende Europa hatte seit dem 15. Jahrhundert Zeit gehabt, der ganzen Welt Eingang in ihr Gedächtnis, ihre Imagination zu verschaffen, Orte mit seiner eigenen Geschichte zu verknüpfen und jedem eine Legende zuzuschreiben. Zu diesen Orten zu reisen war also immer ein Akt des Erinnerns. Aber Erinnern ist auch ein Weg der Entdeckung und der Überraschung: Man erwartete, daß in der Freude des Wiedererkennens das Staunen über das Gegebene mit dem Auftauchen des Unbekannten zusammentraf. Die literarische und künstlerische Reise ging methodisch vom Bekannten aus, um den Bereich des Unbekannten abzustecken, der jedem blieb, die Region der begeisternden Entdeckungen. Ob Notizen und Zeichnungen zu einem Bericht wurden oder nicht – sie besiegelten einen umfassenden spirituellen Akt: die zivilisierte Pilgerreise. Was ist von dieser Disziplin geblieben? Ein trauriges Skelett: Flugreise, hektische Besichtigung und Fotosalven; das Gedächtnis und die schreibende Hand sind verdorrt und überflüssig geworden. Das Reisen des 19. Jahrhunderts verhält sich zu den zerstreuten Gemeinschaftsriten des Massentourismus wie die Messe von Bolsena zum gemeinsamen Knabbern an ökumenischen Krumen. Es ist nicht leicht, sich der Zurichtung durch diese Gemeinschaftswanderungen zu entziehen, Geld allein reicht nicht. Dazu bedarf es einer wirklichen, persönlichen Bekehrung, einer Initiation in eine Art der Bildung, auf die dieses Buch von Praz Lust machen kann.
Aber man sollte sich keine Illusionen machen. Die modernen Touristen haben irreparable Schäden angerichtet. Wie Heuschreckenschwärme vernichten sie auf ihren gierigen Migrationen, was sie konsumieren, ihre friedliche Invasion hat Landschaften, Städte, ganze Regionen verunstaltet. Davon abgesehen werden aufgrund der schieren Masse der Menschen weltweit Städte und Landschaften entstellt, ausradiert, gestraft, verschmutzt oder überschrieben wie zu der Zeit, als Mönche ihre Breviere auf altes Pergament schrieben, ohne auf das Manuskript von Ciceros »De re publica« zu achten. Eine spannendere Situation als die, von der dieses Buch implizit Zeugnis ablegt, ist also kaum vorstellbar: Da reist ein Tourist im vollständigen und ursprünglichen Sinne des 19. Jahrhunderts inkognito durch die vom 20. Jahrhundert ruinierte Welt. Am erstaunlichsten ist wohl, daß in diesem Buch so wenig geseufzt wird. Es stellt sich nämlich heraus, daß der alte Text der Natur und der Geschichte zäher als seine Zerstörer ist und es noch genug zu lesen und wiederzulesen gibt, jedenfalls für den, der zu lesen versteht. »Il Mondo que ho visto« ermutigt zum Reisen, lehrt aber auch, daß diese Kunst schwieriger geworden ist und wahrhaftig viel Geist verlangt.
Von Volney bis Flaubert war Reisen eine Poetik der Ruinen. Doch damals wurde der Text der Welt nur von der Zeit bearbeitet, der Freundin der Künste, die dieses strich und jenes hinzudichtete. Im 20. Jahrhundert hat sich alles verbündet, um die Ruinen zu entwerten. Der Reisende kann es nicht mehr dabei belassen, zu kommen, zu schauen und sich zu erinnern. Er muß zum Philologen einer restlos zerstörten Erde werden und die Aufmerksamkeit und List der Sioux entwickeln, um noch unversehrte Fragmente zu entdecken und zu verbinden und so den durch Graffiti und sauren Regen ausgewaschenen Sinn wiederzufinden. Melancholisch und furchtlos, ist Praz ein Meister dieser modernen Philologie des Reisens.
Das Unsichtbare zu sehen, nicht das Triviale, Offensichtliche, setzt eine Vertrautheit mit den Meistern des Reisens voraus, deren Werke Praz zum Teil in einer Vorrede kommentiert. Jeder Meister des Reisens ist, auch wenn er in einer bestimmten Tradition steht, ein einzigartiger Künstler, der dazu auffordert, selbst einer zu werden. Als Schüler der großen Reisenden und selbst Reisender bleibt Praz er selbst, und seine Einzigartigkeit wird hier sogar am deutlichsten. Wo immer er sich befindet, er braucht nur ein paar für gewöhnliche Menschen unsichtbare oder uninteressante Spuren, um ein vergessenes Universum wiederzuerwecken, das nur auf ihn zu warten schien. Welcher Mexiko-Tourist hat schon dem Palast von Chapultepec Beachtung geschenkt? Wer hat erkannt, daß dieses im Maya-Land gestrandete Überbleibsel des 19. Jahrhunderts mit den Jesuitenkirchen von Miramare bei Triest verwandt ist, wo ein einsames neugotisches Schloß steht? Praz erkundet diesseits und jenseits des Ozeans das Abenteuer von Maximilian und Charlotte, das noch bizarrer und tragischer ist als das Leben Ludwigs II. von Bayern. Und in Rio de Janeiro, der angeblich schönsten Bucht der Welt mit ihren Stränden und dem berühmten Karneval? Dort liegen unbekannte Reste der Herrschaft Pedros II., und diese in die Hitze der Tropen versetzte europäische Monarchie hat, wenn sie uns wieder ins Gedächtnis gerufen wird, etwas ebenso Irritierendes wie die klassizistischen Giebel und Symmetrien im Schnee und Eis von St. Petersburg.
Das Unsichtbare zu sehen ist auch eine nie versiegende Quelle der Heiterkeit und eine Übung in Humor. Wie der über einem Autofriedhof in der Washingtoner Vorstadt aufragende Palazzo Vecchio zum Hintergrund für die blauen Neonbuchstaben einer Alka-Seltzer-Werbung wird, ist nur eines von vielen Emblemen des modernen Eklektizismus, der seine Marken auf pharaonischen Pyramiden ebenso hinterläßt wie in den Medinas des muslimischen Orients. Soll man darüber spotten oder sich ärgern, wenn man mit Praz die Villa Hillwood bei Washington entdeckt? Sie ist das Werk der Erbin eines Nahrungsmittelimperiums, deren Mann Botschafter in der Sowjetunion war. Allegorien von Bouguereau und Gemälde im Stil von Winterhalter verraten einiges über den naiven Geschmack der steinreichen Familie. Aus der Sowjetunion brachten sie Schätze eines anderen Reiches mit: Geschirr, Kultobjekte und Einrichtungsgegenstände vom Hofe Nikolaus’ II. und der Seinen, die deren Mörder den Tycoons der Tiefkühlkost verkauften. Nur Praz’ Ohr hörte den schrillen und so modernen Unterton in diesem Museum. Seine Beschreibung der Cloisters und der Pierpont Morgan Library in New York, seine Glossen zur amerikanischen Museographie, die heute zum weithin nachgeahmten Modell geworden ist, sind heilsame Mittel gegen einen in Europa verbreiteten Geisteszustand, den Trotzki (das Wort rettet ihn) in bezug auf die Webbs, sozialistische Reisende in der UdSSR, als »Anbetung von vollendeten Tatsachen« bezeichnete.
Unsichtbares zu sehen heißt keineswegs sich dem Offensichtlichen zu verweigern. Als Historiker, Philologe und reisender Dichter ist Mario Praz empfänglich für die Schönheiten der Natur. In Tahiti, auf dem Nil oder in Palmyra am Ende der Wüste feiert dieser wählerische Geist mit wunderbar lyrischen Worten die Göttlichkeit des Lichts, die geheiligte Unschuld des Wassers und die Pracht des unberührten grenzenlosen Raums. Doch es ist nicht die naive Faszination durch das Erhabene, die ihn dazu treibt; der Grand Canyon läßt ihn kalt: »Die ganze Landschaft ist tot. Ein Mythos, der sie beseelt, ist nicht erkennbar. Die tiefen Bergschluchten in Norwegen erinnern an die Edda, man kann sich die Kämpfe zwischen Zwergen und Riesen vorstellen, man kann an Odin und seine zwei Raben denken oder an die rasenden Walküren, Femmes fatales, die unter der Esche Yggdrasil hausen, nordische Parzen, die das Schicksal bestimmen, das Leben der Söhne, der Männer und das Los der Helden lenken. Die Sagen und die Spuren gegenwärtigen Lebens mildern hier die Strenge der Szene, vermenschlichen sie, bevölkern sie mit würdevollen, aber begreiflichen Phantomen. Der Grand Canyon dagegen ist stumm und unbelebt.«
Erhabenheit entsteht bei Praz erst durch die Stimme der Erinnerung und die Beschwörung der Götter, die der Schönheit einer Landschaft menschliches Maß gibt. Palmyra, der Nil, Tahiti sprechen den Reisenden an, weil dort die Elemente nicht roh sind. Erst durch spirituelle Präsenzen, anderswo und indirekt gehörte Rufe, die an diesen Orten eine ergreifende Antwort finden, tritt die Erinnerung zutage. Tahiti etwa ist für Mario Praz nicht das Reich Gauguins, dessen Museum ihm eher sein künstlerisches und moralisches Scheitern anzuzeigen scheint. Tahiti ist der wiedergefundene Garten Eden, die sicht- und fühlbar gewordene Idee jenes geistigen Orts, der so viele Dichter und Maler zur Darstellung inspirierte, die ihnen aber nur so weit gelang, daß sie bei anderen die Sehnsucht danach weckte: »Wenn selbst Dante, der die reinen Farben der Miniaturisten kannte, von der Pracht des Feuerhimmels überwältigt war, wie wollen wir dann glauben irgend etwas von diesem Eden auf dem Papier festhalten zu können? Das Bild verlischt wie der Glanz der Leierschwanzfedern beim Präparieren. Es gibt jedoch einen Dichter, der, ohne daß er dort war, das Wesen dieser paradiesischen Natur erahnte. Das fiel mir ein, als ein Schauer aus einer vorüberziehenden Wolke wie eine Weihwasserbesprengung wirkte, eine sanfte, sogleich weggewischte Liebkosung; so etwas passiert oft in diesem ewigen Frühling, daß eine silbrige oder bleigraue Wolke hinter einem bewaldeten Hügel aufsteigt, den klaren Himmel kurz verhüllt und die Erde mit ihren tausend luftigen Kristallfingern sanft streichelt, um gleich wieder in der zurückkehrenden Sonne zu schmelzen. ›I bring fresh showers for the thirsting flowers‹ – diese ersten Worte aus Shelleys ›Wolke‹ fallen mir ein. Shelley, der die flüchtigen Schauer aus einer fröhlichen Wolke besang, die unterseeische, von unsagbaren Schätzen erstrahlende Wunderwelt in seiner ›Ode an den Westwind‹, die schimmernden Paradiese aus Düften und Farben in den Chören des ›Entfesselten Prometheus‹, Shelley, über dessen abstrakte Vorstellung von Engeln, die im Leeren mit den Flügeln schlagen, wir uns so oft geärgert haben, ist eben auch der, der das Wesen dieser gesegneten Landschaft, die er nie sah, erfaßt hat. Er hatte diese Ahnung am Mittelmeer, wo wir uns nichtsahnend auf einmal im Paradies wiederfinden.«
Alles ist vorhanden: ein ursprünglicher Mythos, der für die zivilisierte Menschheit von Bedeutung ist, als Mittler ein großer Text, der diesen Mythos zu Literatur und Poesie formt, und die Landschaft in ihrer Präsenz, ihrer berückenden Wirklichkeit, die an den Mythos und die Verse des großen Dichters gemahnt; mit einem Glücksgefühl geht das literarische Bewußtsein bis zur Idee, zum prophetischen Text zurück, und indem es das eine mit dem anderen verknüpft, findet es wieder einmal die Schönheit.
Im alten Europa hat man natürlich auf Praz gewartet. Über England, das er doch so gut kennt, verliert er in »Il mondo che ho visto« kein Wort. In Italien, wo Gemeinplätze lauern, wird er durch die rasenden macchine, die ihm sogar Siena vergällen, und das bis an die Tore des platonischen Palasts der Montefeltros in Urbino reichende Gelärme der Luna Parks und Lautsprecher von den hohen Orten abgelenkt. Praz sympathisiert mit den Exzentrikern, deren fixe Idee sie vor der alles überschwemmenden Vulgarität rettet: mit dem Pfarrer im Sieneser Hinterland, der in seinem Pfarrhaus eine überquellende, naive Wunderkammer eingerichtet hat, oder mit den Napoleon-Fans, die sich auf der Insel Elba treffen. Nur ein Italiener mit seinen Litotes kann ihren Charme einfangen und zugleich ihre Trivialität zeigen. Praz’ Essay über Paris von 1950 hat schon heute historischen Wert: Er gibt ein Bild von dem unversehrten, hinfälligen Nachkriegs-Paris, der Stadt des 19. Jahrhunderts par excellence. Es wurde in den dreißig glorreichen Jahren danach teils durch eine Modernisierung mit New Yorker Tropismen entstellt und, wo es davon verschont blieb, mit der unpersönlichen Kälte der »renovierten Antike« ausgestattet, der einzigen heute erlaubten Vergangenheitsform. Diese Seiten Praz’ über Paris, über das alte Palais von Elie und Liliane de Rothschild, gehören zu den schönsten und bewegendsten dieses Bandes, der davon viele enthält. Praz zeigt sich hier als Komponist, Interpret und verletzlicher Hörer dieser »Zivilisationsmusik«, die wir genauso brauchen wie das Brot. Er leidet unter ihren Dissonanzen ebenso, wie er für ihre unwahrscheinlichen und unerwarteten Harmonien empfänglich ist. In diesem Buch, das trotz seiner Kürze eine richtige kleine Reisebibliothek ist und zugleich ein Abriß über die Kunst des Reisens, erweist sich das ästhetische Empfinden, im Verbund mit solchem Wissen, als eine Art, mit wachen Sinnen in der Welt zu sein, und als eine der stärksten Formen der Liebe. Als »fröhliche Wissenschaft«, die sich die Tränen verbeißt.
Aus dem Französischen von Brigitte Große
SINN UND FORM 1/2010, S. 35-54
- 1/2013 | Im vollen Bewußtsein der Gefahren. Gespräch mit Philippe-Emmanuel Krautter
- 1/2013 | Die Fee Elektrizität und ihre Optik, S. 512 Leseprobe
Fumaroli, Marc
Die Fee Elektrizität und ihre Optik
Elektrizität hatte zu Napoleons Zeit eine ähnliche Bedeutung wie das Christentum unter Tiberius. Allmählich zeichnete sich ab, daß diese allgemeine Innervation der Welt folgenschwerer sein und das künftige Leben tiefgreifender beeinflussen würde als alle politischen Ereignisse von Ampère bis heute.
Paul Valéry
Die Nachfahren Talbots, Daguerres und der Brüder Lumière, diese glücklichen Zwerge auf den Schultern großer Entdecker, sehen sich als Erben und Privatiers der jüngst durch das Internet noch verstärkten und beschleunigten Bilderfluten: Wir fahren die reiche Ernte der Saaten unserer Urgroßväter ein, der Erfinder, ersten Konsumenten und Multiplikatoren der von Herschel als Lichtmalerei, Photographie, bezeichneten Technik (in Abgrenzung von der Schattenmalerei, der Skiagraphie antiker Künstler). Damals ging es bloß um Dunkelkammern, in denen sich die Wirkung von Tageslicht auf lichtempfindliche Glasplatten zeigte. Das Kino und erst recht Fernsehen, Computer- und Digitaltechnik konnten nur durch die Verfügbarkeit von Elektrizität aufkommen. Die Welt, die sie uns zeigen, unsere Lebenswelt, ist auf Elektrizität angewiesen und wird im wesentlichen von Lampen, Scheinwerfern und Blitzlichtern erhellt. Eine moderne Apokalypse begänne mit einem allgemeinen Stromausfall. Unser Auge, unsere Sinne, unser Dasein haben sich an künstliches Licht, an seine künstliche Wärme gewöhnt, und wir leben in einem elektrischen Kokon alltäglicher Science-Fiction, die den alten Planeten und sein Licht ersetzt. Die gesamte Prähistorie dieser sekundären Welt und die ihr entstammenden, unter anderer Sonne entstandenen Relikte rühren von einem unvorstellbar archaischen Universum, einer langen Höhlenzeit, deren ursprüngliche Beleuchtung sich allein der »Blick aus der Ferne« phantasievoller Ethnologen und Archäologen noch vorzustellen vermag. Damit dieser Blick dem Kameraauge und unserer elektrischen Optik zuzumuten ist, muß man uns mit technologischen Kniffen darüber hinwegtäuschen, daß die Vergangenheit, jede Vergangenheit, die der Künstler wie die ihrer Kunden, sich bei Tag und bei Nacht unter anderen Lichtverhältnissen abspielte als unser Leben. Der Maler schlechthin, der Schöpfer, der in der Genesis die erhabenen Worte »Fiat lux« aussprach, diese »Sonne der Geister«, wie der Heilige Augustinus ihn nennt, tut sich verständlicherweise schwer, in der von elektrischen Zauberern geschaffenen Kunstwelt der Bequemlichkeit, des Komforts und der Antriebsloigkeit präsent zu bleiben.
Bis ins späte 19. Jahrhundert gingen die Künstler davon aus, die Rezeption ihrer religiösen und weltlichen Bilder erfolge bei Tageslicht – ihrem Gegenstand und zugleich Verbündeten – selbst wenn sie es in ihren Ateliers oder mit Hilfe einer camera obscura einfingen. Das Sonnenlicht, mit dem das Bewußtsein von Morgen und Abend einherging, fand nachts eine Fortsetzung in Form eines anderen natürlichen Lichts, des lebendigen und magischen Scheins brennender Kerzen, Wachsfackeln und Öllampen. Eine ganze Gruppe abendländischer Maler von Luca Cambiaso bis Caravaggio, ter Borch und de la Tour benutzte die öl- oder wachsbrennende Flamme als spirituelles Motiv, das sich von der umgebenden Dunkelheit absetzt, oder gar als Symbol der Gnade, die sich ihren Weg durch die undurchdringliche und dunkle Materie bahnt. Als Erbe einer bis ins alte Ägypten reichenden Tradition verfaßt Swift noch Anfang des 18. Jahrhunderts eine Hommage an die Bienen, die er trotz ihres unscheinbaren Äußeren als Quellen natürlicher Inspiration und Energie darstellt und mit den Musen vergleicht, mit denen wir heute fälschlicherweise unsere Elektrizitätswerke vergleichen würden. Sammelten Swifts Bienen nicht Nektar und Pollen, das Kostbarste, was die Menschen vom Himmel empfingen, die nahrhafte Süße des Honigs und das wohltuende Licht des Wachses? Das Tageslicht mit seinen zahllosen Abstufungen und schillernden Nuancen stand stets für die Gegenwart des Göttlichen in der wahrnehmbaren Welt. Der unsichtbare und unvorstellbare Gott der Bibel offenbart sich hinter dem Schleier der Meteorologie. Und Cézanne empfing seine Besucher mit der Losung der Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts: »Sortons au soleil!« (Gehen wir hinaus in die Sonne!) Ahnte Richard Wagner als erster die Verbannung des Auges ins Kunstlicht, die zu beheben fortan die unlösbare Aufgabe der Kunst sein würde? In der »Geburt der Tragödie« läßt Nietzsche ihn sagen, die Zivilisation (im Sinne Buffalo Bills) werde von der Musik aufgehoben »wie der Lampenschein vom Tageslicht«. Er wußte noch nicht, daß Fernwärme das Holzfeuer und seine tanzenden Flammen verdrängen würde, denen etwas vom brennenden Dornbusch innewohnt, vor dem Moses bedeutet wurde, seine Sandalen auszuziehen. Die stillen Kräfte des Traums und der Phantasie, wachgerufen vom Lodern und Knistern des Holzes, diesem unerschöpflichen, sich ständig erneuernden Schauspiel, wichen dem zapping am Bildschirm, der den offenen Kamin heute ersetzt.
Wir sind derart auf mit Kunstlicht geschaffene und beleuchtete Bilder konditioniert, daß wir Glaswände in Museen und Ausstellungen oft verhängen und Fenster vor dem Sonnenlicht verschließen, um die alten und modernen Bilder mit grellen Scheinwerfern zu beleuchten. Wir tun so, als wüßten wir nicht, daß die Restaurateure hinter den Kulissen alles versuchen, um die alten Bilder wie ihre bei Scheinwerferlicht angefertigten Reproduktionen aussehen zu lassen. Das elektrische Licht ist für uns zur Norm geworden. Das natürliche Licht ist die Ausnahme, die wir unbewußt der Norm angleichen. Jean Baudrillard konnte schreiben, die Städte und Landschaften der Vereinigten Staaten seien riesige, im Studio gebaute Simulakren, die nur auf Scheinwerfer und Kameras warteten. Die Bemerkung ist geistreich, doch wäre es unangebracht, sie nur auf die Vereinigten Staaten zu beziehen. Sie zeigt die Gewöhnung des modernen Auges an die Fotografie, die den Unterschied zwischen der »Amerikanischen Nacht« des Studios und dem hellen Tag selbst nicht wahrzunehmen oder wiederzugeben vermag, die uns in eine für Scheinwerfer und Kameras prädestinierte und präkonditionierte Welt einschließt. Wir haben das elektrische Auge verinnerlicht, das alles, was es erfaßt, irrealisiert und im gleichen Licht vereinnahmt und nivelliert, abstrakt wie ein Objektiv. Es ist ein wissenschaftliches, klinisches Auge, geeignet für Operationssaal, Labor, Fabrik, Gefängnis. Man mußte den Dimmer erfinden, um die spektrale Wahrheit, welche diese Art des Blicks festzuhalten berufen ist, zu verschleiern und zu modulieren, wie das Farbfilter und Photoshop tun. Bei Kunstlicht ist Fleisch nur noch Materie, sind Werke des Geistes und der Hände nur noch Tand. Die nächtliche Neonbeleuchtung von Bussen und U-Bahnen verwandelt deren Abteile in ebensoviele danteske Höllenkreise und mobile Leichenhallen, an denen sich heutige Fotografen delektieren, als passe dieses morbide Aussehen der Lebewesen am besten zu den Linsen ihrer Kameras, die unser natürliches Auge ersetzen.
Das beste uns bleibende Zeugnis des Tageslichts, gewissermaßen sein Museum (sofern man die Bilder in ihrem eigenen Licht ausstellt), sind die unglaublichen Pleinairgemälde der Impressionisten. Man könnte meinen, sie hätten sich, von jenem ahnungsvollen Furor getrieben, der noch Cézanne, Seurat und den Landschaftsmaler Balthus beherrschte, beeilt und angestrengt, in ihren Bildern gerade noch rechtzeitig die Wunder und Geheimnisse einer im Tageslicht wahrgenommenen Welt einzufangen und festzuhalten, ehe der Vorhang fiel und das menschliche Auge umschwenkte, die Natur bei Tag und bei Nacht dem Kunstlicht, dem fotografischen Blick, der Imagination des Kinos angepaßt wurde. Dank dieser letzten, ihrer Rolle bewußten Zeugen können wir noch die Schönheit der Dinge entdecken und schätzen, wenn wir beim Spaziergehen auf sie stoßen, ein klarer Bach, ein Wäldchen, ein kleiner Garten, eine Wiese. Betroffen von der Erinnerung an das, was die Freilichtmaler uns gezeigt haben, sehen wir plötzlich wie sie, wie früher. Diese Offenbarung kommt selten allein: Sobald wir sehen, was uns sonst verborgen ist, bemerken unsere lärmverstopften Ohren, geruchsentwöhnten Nasen und styroporbetäubten Hände auch Vogelzwitschern, Insektengesumm, Glockenschläge in der Ferne, den Gesang der Welt.
Just als die »Fée Electricité«, wie man den Strom in Frankreich gerne nennt, ihre unverzichtbaren und unleugbaren Annehmlichkeiten zu bereiten begann, machten die europäischen Landschaftsmaler dieses Wunder kurz vor seinem Verschwinden noch einmal sichtbar, das jeder, ob arm oder reich, für selbstverständlich gehalten und unbewußt genossen hatte, die festliche Gastfreundschaft der Engel des Tags und der Nacht, die nach den Wesen und Dingen der Welt schmeckt, eine alltägliche Theophanie. Die durch künstliche Beleuchtung geschaffene sekundäre Welt ist bei weitem nicht so egalitär. Hier, unter den Spots, ein Übermaß an Helligkeit, dort Düsternis unter der einzigen nackten Glühbirne, die Picasso in »Guernica« zum Symbol von Weltende und namenlosem Grauen gemacht hat. Es ist auch nicht verwunderlich, daß Monets Werk mehr als jedes andere den Zorn von Bilderstürmern und die Verehrung der nostalgischen Menge auf sich gezogen hat. »Aktionisten«, die impressionistische Bilder zerstechen, ziehen als gute Logiker die letzte Konsequenz aus einer »zeitgenössischen Kunst«, die nicht duldet, daß man abseits von Neonlicht und Kathodenbad lebt. Die Fee Elektrizität kennt nur ein Fest: geblendet von Blitzlichtern und Sunlights, belagert von Schwärmen von Paparazzi mit Menschenleibern und Köpfen aus schwarzem Metall; Stadt, Land und Feld will sie nur gefilmt zur Kenntnis nehmen; im »Zeitgenössischen« hat sie endlich die Kunst gefunden, die sie brauchte, nämlich eine Großkonsumentin von Kilowattstunden, die ohne Schalter nichts ist.
Aus dem Französischen von Andreas Jandl
SINN UND FORM 1/2013, S. 84-87
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