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Heftarchiv – Leseproben

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Leseprobe aus Heft 4/2007

Bouton, Christophe

DIE FURIE DER ZERSTÖRUNG
Hegel und das Phänomen des Fanatismus


Der Fanatismus gehört zu Extremformen menschlicher Konflikte, weil er anders als der Krieg weder Waffenstillstand noch Frieden kennt, sondern für absolute, unversöhnliche Gegnerschaft steht. Der Fanatiker will seinen Gegner nicht überwinden, er will ihn auslöschen. Die jüngsten Ereignisse haben den Fanatismus erschreckend aktuell gemacht. Aber wie jeder weiß, gibt es das Phänomen nicht erst seit dem 11. September, obwohl es an diesem Tag seinen furchtbaren Höhepunkt erreichte. Es ist so alt wie die Zivilisation, deren Geschichte es immer wieder brandmarkt.

Hier ergeben sich mehrere allgemeine Fragen. Wie soll man den Fanatismus definieren, ohne ihn zu weit zu fassen, so daß man den Besonderheiten des Problems nicht gerecht wird? Kann man die Ursachen des Fanatismus feststellen? Ist er eine Art Wahnsinn, oder folgt er einer bestimmten Logik? Vor allem, gibt es Lösungen für dieses Übel? Ich schlage vor, diese Fragen anhand von Hegels Philosophie zu untersuchen: zum einen weil Hegel über den Fanatismus als religiöses und politisches Problem nachgedacht hat. (Die entsprechenden Texte sind nicht zahlreich, aber wichtig.) Und zum anderen, weil der Fanatismus für sein System eine Herausforderung darstellt. Für Hegel sind alle Konflikte – gleichviel, ob zwischen Individuen oder Staaten – dialektisch, der Konflikt ist reinste Dialektik und enthält sowohl seine Eskalation als auch seine Versöhnung. Denn der Fanatismus entwickelt sich sogar innerhalb von Staaten, er widersteht der Aufklärung, die ihn bekämpft, und er bedeutet die Rückkehr des verdrängten Irrationalen in eine Welt, die rational sein will und das Böse vergessen hat. Läßt sich dieses Phänomen in die Dialektik des Fanatismusbegriffs integrieren? Wie kann Hegel einen Konflikt denken, in dem es keine Versöhnung zu geben scheint?

 

 

Der Fanatismusbegriff der Aufklärung

 

Was bedeutete der Fanatismus vor Hegel? Um das herauszufinden, muß man ins 16. Jahrhundert zurückgehen, als Luther die sich vom entstehenden Protestantismus abspaltenden Sekten, vor allem die Wiedertäufer, bekämpfte. In den zwanziger Jahren wird Luther von der von ihm selbst ausgelösten antikatholischen Welle erfaßt. Er sieht sich genötigt, gegen die Schwärmer, wie er sie nennt – von essaim (Schwarm) –, zu predigen, gegen die Mordpropheten, die behaupten, direkt von Gott inspiriert zu sein, und mit Gewalt gegen die bestehende Ordnung vorgehen, um die religiöse Botschaft auch sozial und politisch umzusetzen. Luthers Schüler Melanchthon übersetzt Schwärmer mit fanatici oder fanatiques bzw. phantastiques. Er spielt dabei mit einer doppelten Etymologie: mit einer falschen, die das Wort vom griechischen phantasma ableitet, um das Wahnhafte ihrer Visionen zu unterstreichen; und mit der richtigen, die sich auf das lateinische fanum, Tempel, heiliger Ort, bezieht und bis in die römische Antike zurückreicht, wo man die inspirierten Wahrsager (fanatici) so nannte und auch jene Priester, die sich im Delirium manchmal selbst verstümmelten.

Der Begriff wandert nach Frankreich und England, um dann nach Deutschland zurückzukehren. Im 17. Jahrhundert ist er bereits ein gefährliches Etikett. David de Brueys schreibt eine »Histoire du fanatisme de notre temps« (1692), einen regelrechten Angriff gegen die Protestanten. Er definiert Fanatismus hier als geistige Umnachtung, als Wahnsinn, der jede politische Autorität ablehnt und mit dem Irdischen Reich Tabula rasa machen und es durch das Reich Gottes ersetzen will. Das englische Wort für Schwärmerei ist im 17. Jahrhundert zumeist enthusiasm, mitunter auch fanatick. In seiner »Anatomie der Schwermut« von 1621 analysiert Robert Burton Enthusiasmus als durch krankhafte Vorstellungskraft verursachte religiöse Schwermut. Hobbes verdammt im »Leviathan« (1651) den Enthusiasmus endgültig. Wer sich für inspiriert halte, dem fehle es lediglich an Vernunft, er sei Opfer einer rauschhaften Begeisterung, die in kollektive Raserei umschlagen könne; dies zeuge von ungeheuerlichem Hochmut, nämlich von dem Wahn, sich für Gott zu halten. Auch Locke sieht im Enthusiasmus eine gefährliche Krankheit, bei der sich Schwermut, Stolz und übersteigerte Vorstellungskraft vermischen. Enthusiasmus sei der Wille, die Offenbarung ohne Vernunft, kraft einer direkten Verbindung mit Gott zu bewerkstelligen. Doch damit zerstöre er den Glauben ebenso wie die Vernunft.

1708 veröffentlicht Shaftesbury seinen »Brief über den Enthusiasmus« dessen Hauptgedanken auch der junge Hegel kennt. Er markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung des Fanatismusbegriffs, weil er einen »edlen Enthusiasmus« deutlich von dessen »Fanatismus« genannten Entartung absetzt. Shaftesbury bezieht sich auf die griechische Wurzel des Wortes und mahnt, Enthusiasmus sei nicht nur eine Schwäche, sondern auch etwas Göttliches, eine in der menschlichen Natur angelegte, kraftvolle und ansteckende Leidenschaft, die Helden, Staatsmänner, Dichter, ja selbst Philosophen ergreife und inspiriere. Religiöser Fanatismus sei lediglich entarteter Enthusiasmus, hervorgerufen von Leidenschaften wie maßloser Liebe oder Furcht. Nur dieser unreine Enthusiasmus sei mit einer Krankheit zu vergleichen.

Shaftesburys Unterscheidung kehrt wieder in der Blütezeit der Aufklärung, als der Fanatismus zur Zielscheibe der Philosophen wird. Nun wird der Begriff weniger als Adjektiv (fanatisch) denn als Substantiv (Fanatismus) verwendet – ein Zeichen dafür, daß er schon etabliert ist. Während der Artikel im »Dictionnaire de l’Académie« von 1694 noch fehlt, hat er in Voltaires »Philosophischem Wörterbuch« (1764) bereits einen wichtigen Platz: »Der Fanatismus verhält sich zum Aberglauben wie der Wahn zum Fieber oder die Raserei zum Zorn. Wer in Ekstase verfällt und Visionen hat, wer Träume für Wirklichkeit nimmt und seine Einbildungen für Prophezeiungen, ist ein angehender Fanatiker, von dem viel zu erwarten ist: Bald wird er aus Liebe zu Gott zum Mörder werden können.« Voltaire faßt damit die Thesen zusammen, die er in der »Abhandlung über die Religionsduldung« (1763) entwickelt hat. Der Fanatismus sei eine Art Wahnsinn und unterscheide sich vom Enthusiasmus durch seine maßlose Gewalt. Mehr als zwei Jahrhunderte nach dem Zwischenspiel der Schwärmer seien die Protestanten von fanatischen Henkern zu Opfern des Fanatismus geworden. Voltaire meint damit Ereignisse wie den Fall Calas und vor allem die Bartholomäusnacht, was ihn freilich nicht hindert, die Massaker der Protestanten an den Katholiken in Irland unverhohlen zu benennen – wenn es denn stimmt, daß keine Religion ein Monopol auf Fanatismus hat. Wie seine Vorgänger im 17. Jahrhundert hält Voltaire den Fanatismus für eine Verwirrung der Einbildungskraft, für eine fast unheilbare Epidemie, eine himmlische Epilepsie, eine »Seelenpest«. Einziges wirksames Gegenmittel sei die Philosophie, die Ausbreitung der Vernunft, die zwar nicht heilen, dem Übel aber vorbeugen könnte, indem sie die Sittlichkeit stärke und den Aberglauben austreibe. Dieser Fanatismusbegriff wird durch die Französische Revolution »popularisiert« und ausgiebig auf die Feinde der Republik angewandt, vornehmlich auf Priester und auf die Religion. Am 29. Brumaire des Jahres II befiehlt der Konvent, zur Erinnerung an Calas, das »Opfer des Fanatismus«, eine Marmorsäule in Toulouse aufzustellen.

Aus diesen verschlungenen Pfaden lassen sich drei typische Kennzeichen für den Fanatismus am Ende des 18. Jahrhunderts herausarbeiten. Religiös gesehen entspringt der Fanatismus der Vorstellung, direkt von Gott inspiriert zu sein und eine unmittelbare und privilegierte Beziehung zum Göttlichen zu haben. Daraus ergeben sich einige psychologische Merkmale: übersteigerte Imagination, Ablehnung von Vernunft und Argumentation, ausschließender und intoleranter Glaube, die Gewißheit absoluter Wahrheit und der Wunsch nach deren allgemeiner Anerkennung, Haß auf jene, die keinen Anteil an dieser Wahrheit haben, ein an Irrsinn grenzender Wahn, zu guter Letzt Bruch des Mordtabus und die Einbildung, töten zu dürfen. Der deutlichste Unterschied zwischen Enthusiasmus und Fanatismus ist jedoch dessen politische Variante, die sich häufig als Kollektivverhalten äußert und danach trachtet, den Glauben auf die Welt zu übertragen, um sie zu »reinigen«, und dabei auch vor Gewalt nicht haltmacht. Kurzum, der Fanatiker begeistert sich nicht nur für Ideen, er fühlt sich als Werkzeug Gottes, er handelt, und dieses Handeln ist systematisch, zerstörerisch, mörderisch, eben das, was Leibniz als »Raserei für etwas Göttliches« bezeichnet. Fanatismus ist nicht nur das Gegenteil von Vernunft, ihr Erzfeind, er ist auch die Antithese zur Zivilgesellschaft, zum Staat, dem er sich ideologisch und physisch widersetzt.

Beim deskriptiven Fanatismusbegriff bleibt die heikle Frage nach seinem Ursprung im dunkeln. Leibniz zitiert dazu Vergils »Aeneis«: »Ob Götter die Glut in die Seele mir hauchen? Ob, Euryalus, jedem zum Gott sein stürmisches Herz wird?« In der Antike glaubte man, die fanatici seien von den Göttern inspiriert. Aber das Besondere des modernen Fanatismusbegriffs besteht darin, daß er diesen göttlichen Ursprung bestreitet. Zu Luthers Zeit hält man die Schwärmer für vom Teufel Besessene, die in der Hölle schmoren werden. Im Laufe des 17. Jahrhunderts werden solche unnatürlichen Deutungen allmählich von rationalen Erklärungen abgelöst. Von Robert Burton bis zu Voltaire, über de Brueys, Turretin, Locke, Hobbes, Leibniz wird der Fanatismus mit medizinischen Begriffen als eine Geisteskrankheit analysiert, die mit dem Teufel nichts zu tun hat, aber viel über die dunkle Seite des Wahnsinns verrät. Wie man schon bei Voltaire gesehen hat, will die Aufklärung dem Fanatismus mit Vernunft, durch den Kampf gegen Unwissenheit und Aberglauben vorbeugen. Während der Französischen Revolution halten viele »erleuchtete« Geister den Fanatismus für abgetan, für ein finsteres Relikt der alten Welt, das allmählich ausgelöscht wird.

Wie ist der Fanatismusbegriff nach Deutschland gelangt? Vorm 19. Jahrhundert wird er kaum verwendet, im Wörterbuch der Brüder Grimm (ab Mitte des 19. Jahrhunderts) ist er noch nicht enthalten, weil er vermutlich im Schatten von Luthers Schwärmerei steht. In seiner vorkritischen Periode macht Kant sich die medizinische Erklärung zu eigen und zählt den Fanatismus zu den »Krankheiten des Kopfes«: »Dieser zweideutige Anschein von Phantasterei in an sich guten, moralischen Empfindungen ist der Enthusiasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden. Ganz anders ist es mit dem Fanatiker (Visionär, Schwärmer) bewandt. Dieser ist eigentlich ein Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk. Wenn der Ausbruch davon neu ist, wenn der betrogene Mensch Talente hat und der große Haufe vorbereitet ist dieses Gährungsmittel innigst aufzunehmen, alsdann erduldet bisweilen sogar der Staat Verzuckungen. Die Schwärmerei führt den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron und den Johann von Leyden aufs Blutgerüst.«

Wie die Erwähnung Johann von Leydens zeigt, übernimmt Kant Luthers Wort Schwärmer, wobei er die nachreformatorischen Erkenntnisse in seine Definition integriert, vor allem Shaftesburys Unterscheidung zwischen Enthusiasmus und Fanatismus. In Kants Charakterisierung des Fanatikers findet man wieder die erwähnten drei Merkmale: das Religiöse (die unmittelbare Verbindung mit dem Göttlichen), das Psychische (krankhafte Vorstellungskraft) und das Politische (Gefahr für den Staat) sowie die Verurteilung als Geisteskrankheit. In Kants kritischer Periode verschwindet der Begriff »Fanatismus«, das Gegensatzpaar heißt nicht mehr Fanatismus und Enthusiasmus, sondern Schwärmerei und Enthusiasmus. Der Enthusiasmus sei der Affekt, der die Idee des Guten begleitet, und offenbar von so erhabener Gemütsart, »daß man gemeiniglich vorgiebt: ohne ihn könne nichts Großes ausgerichtet werden«. Kant verwendet den Begriff, um das von den grandiosen Ereignissen der Französischen Revolution ausgelöste Gefühl zu benennen. An den Fanatismus erinnert die »Kritik der praktischen Vernunft« anläßlich der moralischen Schwärmerei, dieser »Überschreitung der Grenzen, die die praktische reine Vernunft der Menschheit setzt«. Der moralische Fanatismus sei wie eine Krankheit, die viele Gemüter »infiziere«; er entstehe aus der Illusion moralischer Reinheit, die sich keiner Pflicht unterwerfe, um Gutes zu tun, und die das Selbstopfer feiere. Kant erwähnt die Religionsschwärmerei nur, um sie aus seiner Betrachtung auszuschließen, denn diese Frage geht über die Moralphilosophie hinaus.

In Hegels Philosophie wird der Begriff Schwärmerei durch den Begriff Fanatismus ersetzt, klar getrennt von Enthusiasmus und Begeisterung, aber verbunden, was diese betrifft, mit der entscheidenden Triebfeder der Begeisterung, ohne welche, so die berühmte Formel, nichts Großes in der Welt auszurichten sei. Wie Kant sieht Hegel in der Revolution von 1789 ein Ereignis, das ein erhabenes Gefühl, einen Enthusiasmus des Geistes hervorruft. Das Wort Fanatismus wählt er vielleicht deshalb, weil die Revolutionäre in Frankreich es so massiv verwendeten. Das Wort Schwärmerei hat von Luther bis zu Hegel einen außergewöhnlichen Weg zurückgelegt, es ist vom enthusiasm in England bis zum fanatisme in Frankreich gewandert, um mit neuen Bedeutungen aufgeladen als Fanatismus nach Deutschland zurückzukehren.

Dieser Begriffswandel vollzieht sich in Hegels Jugendtexten, im Zusammenhang mit der Kritik der positiven Religion. In einem Fragment aus der Berner Zeit von 1794 konstatiert er die nicht reduzierbare Vielzahl der positiven Religionen. Gemäß den Traditionen der Aufklärung wendet er sich gegen die Verfolgung, den besten Verbündeten des Fanatismus. Denn »sobald durch öffentlichen Befehl oder Verbot einer gewissen Vorstellungsart eine Wichtigkeit darein gelegt wird«, könne »nicht nur die Gewissensfreiheit der Menschen gekränkt, sondern auch leicht ein gefährlicher Fanatismus angezündet werden«. Angesichts der Verschiedenartigkeit der Religionen schlägt er vor, nur jene Dogmen zuzulassen, die »so einfach als möglich sein, nichts enthalten sollen, was nicht die allgemeine Menschenvernunft anerkennt, – nichts, wodurch etwas bestimmt, etwas dogmatisch behauptet würde, das die Grenzen der Vernunft übersteigt, wenn die Befugnis dazu auch im Himmel selbst ihren Ursprung haben sollte«. Nach der Frankfurter Periode verwendet er den Fanatismusbegriff erneut, und zwar im Hinblick auf verschiedene Aspekte der jüdischen und der christlichen Religion: »Die lebenverachtende Schwärmerei kann sehr leicht in Fanatismus übergehen; denn um sich in ihrer Beziehungslosigkeit zu erhalten, muß sie dasjenige, von dem sie zerstört wird und das, sei es auch das Reinste, für sie unrein ist, zerstören, seinen Inhalt, oft die schönsten Beziehungen verletzen.« Der Fanatismus begnüge sich nicht damit, die Grenzen der Vernunft zu überschreiten, er wolle auch die Welt reinigen, indem er alles zerstöre, was ihm aufgrund seiner eigenen abstrakten, leeren Reinheit an ihr unrein erscheine, und alles auslöschen, was diese Reinheit zu beflecken drohe. Seine Kennzeichen seien Mißtrauen gegenüber dem Leben, Haß gegen Gesetz und Staat, Leugnung der Endlichkeit.

 

 

Die Freiheit der Leere

 

Im Fortgang seiner Überlegungen verlagert Hegel seine Untersuchung des Fanatismus immer mehr in den Bereich von Recht und Geschichte. Erst im Lichte dieser Entwicklungen ermißt man die Originalität – sowie das Rätselhafte – seiner Fanatismusdefinition in § 5 der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«. Fanatismus ist hier keine Form des Wahnsinns, keine Verirrung der Vernunft, sondern ein Moment in der Dialektik des freien Willens, eine Möglichkeit menschlicher Freiheit.

Die Dialektik des Willens, die er in der Einleitung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« entwickelt, enthält drei Elemente: Unbestimmtheit, Bestimmung und Selbstbestimmung, die zum objektivierten Willen des Rechts führe. Der Wille sei zunächst »reine Unbestimmtheit«, »die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst«. Ablehnung jedes festen Inhalts, jeder Beschränkung. Der Wille will nichts Besonderes, Determiniertes, er mißtraut der Vielzahl der endlichen Ziele, die ihm das Leben bietet. Seine Ziele sind eher abstrakt, er sucht absolute und von keiner Realität abhängige Werte, er ist auf reine Ideale fixiert. Der Wille will die absolute Abstraktion oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Abstraktion des Absoluten. Aus diesem Grunde müssen die Ideale des unbestimmten Willens universell sein, für alle und überall gelten – was sie noch abstrakter macht. Dieser Wille, der keine Grenzen akzeptiert, ist die Aufhebung aller Restriktionen, nichts kann ihn aufhalten. Er ist das »reine Denken seiner selbst«, denn er schließt sich in der Idealwelt seiner Ideen ein, anstatt sich der komplexen Realität auszusetzen.

Dem unbestimmten Willen entspricht eine spezielle Figur der Freiheit, »die negative oder die Freiheit des Verstandes«, die »Freiheit der Leere«. Sie steht für das absolute Vermögen, sich allem zu entziehen, in und um sich eine Leere herzustellen. Die menschliche Freiheit verkörpert sich zuerst in der negativen Unendlichkeit des Willens, einer zweischneidigen Angelegenheit. Die negative Freiheit ist einerseits die Fähigkeit zu verneinen, sich zu widersetzen, zu revoltieren, zu kritisieren. In der Philosophie manifestiert sie sich als Skeptizismus, diesem ängstlichen Abweisen jeglicher Bestimmtheit. Andererseits kann sie, in den Rang der einzigen und höchsten Freiheit erhoben, zu mehr oder weniger destruktiven Formen degenerieren. Hegel nennt im Zusatz zu § 5 als Beispiel den Selbstmord: »Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen.« In ihrer abstrakten und unbestimmten Form vermag die Negativität der Freiheit sich von allem zu lösen, selbst vom Leben. Daß die Gewalt der Freiheit destruktiv ist, ist freilich noch kein Fanatismus. Der entsteht erst, wenn die Freiheit der Leere sich »zur Wirklichkeit« wendet. Denn sie will ihre abstrakten Ideen uneingeschränkt und sofort umsetzen, der Wille muß einfach jene immer komplexer werdende Wirklichkeit zerstören. Durch den Kontakt mit dem Besonderen wird das rein Universelle zerstörerisch, da es sich nur in dieser Zerstörung des Besonderen beweisen kann: Die »Besonderung und objektive Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freiheit ihr Selbstbewußtsein hervorgeht«. Gefangen in dieser Logik, wird die negative Freiheit zum »Fanatismus der Zertrümmerung«, zur »Furie des Zerstörens«.

Ist der Zustand des Fanatismus zu Beginn der Dialektik des freien Willens eine logisch und historisch notwendige Etappe der Entstehung der Freiheit? Diesen Preis fordert die Dialektik des Willens gewiß nicht. Die Freiheit der Leere wird erst dann eine fanatische, wenn sie sich zur Wirklichkeit wendet, um in dieser ihre universellen Ideen uneingeschränkt umzusetzen. Solange sie in ihrer idealen Welt der reinen Gedanken verbleibt, ist sie völlig ungefährlich, zumindest für andere. Sicher, der Wille ist das Denken, das zur Wirklichkeit drängt, dieses Streben scheint ihm wie ein Schicksal eingeschrieben zu sein. Im seinem ersten Zustand ist der unbegrenzte Wille in einer Aporie gefangen. Entweder er verwirklicht sich nicht, bleibt der Reinheit seiner Ideen treu, die er nicht verraten will, hüllt sich lieber in sie ein, als sie durch seine Aktionen zu kompromittieren. Aber die Welt wird ihm dadurch fremd, unheimlich, der unbegrenzte Wille läuft Gefahr, sich zu verzehren, wodurch der schönen Seele à la Werther Verzweiflung und sogar Selbstmord drohen. Oder er versucht, seine Ideen auf die Wirklichkeit zu übertragen, aber verstrickt sich in den Widersprüchen von Gewalt und Fanatismus, wie es die finstere Epoche der Terreur gezeigt hat, die Hegel hier meint.

Unter den drei Elementen der Dialektik des Willens erscheint der Fanatismus nicht als notwendige Etappe, sondern als ein möglicher Anfang, der, sobald er zutage tritt, gleichsam ein Abgleiten der negativen Freiheit darstellt, eine Hybris der Negativität, deren Ursprung rätselhaft bleibt. In der Anmerkung zu § 5 der »Grundlinien« gibt es unverhohlene Anspielungen auf die Terreur von 1793. Aber Hegels Definition des Fanatismus will durchaus allgemein sein und dessen politische wie religiöse Formen erfassen. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gibt er, mit Blick auf den Islam, einen konzisen Fanatismusbegriff: »Die Abstraktion beherrschte die Mahommedaner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeisterung war Fanatismus, d. i. eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält; aber der mohammedanische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinlichen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden.«

Fanatismus ist die Begeisterung für eine abstrakte Idee, welche die Wirklichkeit zerstören wird. Dieser Begriff steht in der Tradition der Aufklärung, aber bricht auch mit ihr. Er enthält einige ihrer Merkmale wie die Gleichsetzung von Islam und Fanatismus, was man als ein durch Voltaire und vor allem durch sein Stück »Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète« (1745, deutsche Übersetzung von Goethe, »Mahomet« 1802) weit verbreitetes Vorurteil der Aufklärung erwähnen muß. Hegel übernimmt auch die Unterscheidung zwischen Enthusiasmus und Fanatismus in ihren verschiedenen Ausprägungen. Wie Voltaire notiert, ist Fanatismus ein allzeit gewaltbereiter Enthusiasmus, der sich gegen »Andersdenkende« und gegen den Staat selbst richtet. Wie verhält es sich mit der Psychologie des Fanatismus? Hegel tritt in die Fußstapfen der Aufklärung und verwendet auch die Worte Enthusiasmus, Leidenschaft, Furie. In den Vorlesungen von 1822/23 über die »Philosophie der Weltgeschichte« bemerkt er, der Fanatismus beruhe sowohl auf einer »Empfindung« als auch auf einer »Vorstellung«: »Die Empfindung ist gegen dieses Objektive fanatisch, nicht aber nur die Empfindung; sondern auch die Vorstellung des Einen, Abstrakten, die sich Wirklichkeit gibt, ist fanatisch.« Der Fanatismus bringt den Geist mit Hilfe des Gefühls und des Intellekts in seine Gewalt. Die Vorstellung, daß man automatisch die Wahrheit besitzt, stützt sich auf die Vorstellung, abstrakte Ideen zu verstehen, die als absolute dekretiert werden, und umgekehrt.

Neu an Hegels Denken ist, daß er, im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz, den medizinischen Diskurs ausschließt. In seinem Aufsatz »Über den patriotischen Enthusiasmus« unterscheidet etwa Solger zwischen echtem Enthusiasmus, der von Gott inspiriert ist und sich in den Dienst ewiger Ideen wie Vaterland, Wahrheit etc. stellt, von seiner entarteten, heuchlerischen Form, die von Willkür und Hochmut geprägt ist und sich anmaßt, die Menschheit durch Gewalt reformieren zu können. Obwohl er diesen blinden, gefährlichen Enthusiasmus nicht als Fanatismus bezeichnet, vergleicht er ihn doch mit »sentimentaler Narrheit«. Für Hegel, der diesen Text durch seine Besprechung von Solgers nachgelassenen Schriften kannte, ist Fanatismus kein Wahnsinn, sondern eine Form des maßlosen Willens, der abstrakten Freiheit. Zwar bezeichnet er ihn, den medizinischen Diskurs anscheinend aufnehmend, mehrmals als Furie der Freiheit, aber dieser aus der antiken Mythologie stammende Begriff meint eine unaufhaltsame Gewalt, keine Geisteskrankheit. Furie ist der römische Name für Erinnyen, Rachegöttinnen, die den Mörder jagen und ihn ohne Unterlaß peinigen. Obwohl sie ihn in den Wahnsinn treiben – Hegel beschreibt in seiner »Ästhetik« die »Raserei« des Orest –, sind sie selbst keine Opfer des Wahnsinns.

Der zweite Bruch in Hegels Konzeption entsteht durch das Religiöse des Fanatismus. Wir haben, von Luther bis zur Aufklärung, gesehen, daß der Fanatiker sich einbildet, in direkter Verbindung mit dem Göttlichen zu stehen. Hier nimmt Hegel eine bezeichnende Verschiebung vor. Für ihn kann der Fanatismus religiöse wie auch politische Formen annehmen. Er ist eine aktive, gewalttätige Begeisterung für abstrakte Werte und entsteht durch die Verknüpfung des unbegrenzten Willens mit Ideen, wobei es nahezu gleichgültig ist, ob diese religiös sind oder politisch: »Insofern aber dies negative Verhalten nicht bloß eine innere Gesinnung und Ansicht bleibt, sondern sich an die Wirklichkeit wendet und sich in ihr geltend macht, entsteht der religiöse Fanatismus, der, wie der politische, alle Staatseinrichtung und gesetzliche Ordnung als beengende, der inneren, der Unendlichkeit des Gemüts unangemessene Schranken und somit Privateigentum, Ehe, die Verhältnisse und Arbeiten der bürgerlichen Gesellschaft usf. als der Liebe und der Freiheit des Gefühls unwürdig verbannt.«

 

Die Wirkungen des religiösen und politischen Fanatismus sind gleich: sie zerstören den Staat und die Sittlichkeit. Nur ihre Herkunft ist unterschiedlich. Wenn die abstrakten Ideen des unbegrenzten Willens aus der Religion stammen (die Liebe Gottes, die Suche nach dem Heil, nach der Reinheit etc.), ist der daraus hervorgehende Fanatismus religiös. Die Religion will den Staat abschaffen und eine Theokratie errichten wie seinerzeit Johann von Leyden. Stammen die Ideen indes aus der Politik (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc.), handelt es sich um politischen Fanatismus. Hier geht es um eine Umkehrung der Idee des Staates, mit dem Ziel, diesen durch die Religion zu ersetzen, das Gewissen der Bürger zu kontrollieren und einen Kult zu etablieren. In beiden Fällen vermischen sich Religion und Politik. Bei dieser Säkularisierung des Fanatismuskonzepts geht es jedenfalls darum, die Ereignisse von 1793 einzubeziehen. Wenn Hegel von religiösem Fanatismus spricht, spielt er des öfteren auf diese Zeit an. Man sieht es bei dem zum Präzedenzfall erhobenen Islam: »La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur.« Solche Vergleiche findet man auch in Hinblick auf klerikale Exzesse. Im 16. Jahrhundert sei die Inquisition wie eine »ungeheure Pest« über Europa gekommen, sie habe eine »Wut gegen das Böse« entfacht, die allein auf Verdächtigungen und Aberglauben beruhte. Der politische Fanatismus der Terreur stehe dem religiösen der Inquisition in nichts nach: »In gleicher Fürchterlichkeit erscheint dieses Prinzip des Verdachts unter der römischen Kaiserherrschaft und unter der Schreckensherrschaft Robespierres, wo die Gesinnung als solche bestraft wurde.« Der Fanatismus ist keine Erkrankung der Vernunft, von der die Menschheit durch die Aufklärung nach und nach geheilt worden wäre, er ist eine Möglichkeit der Freiheit, die der Aufklärung an sich innewohnt und ein ganz neues philosophisches Problem darstellt.

 

 

Figuren des Fanatismus

 

Was sind die historischen Figuren des religiösen Fanatismus? Im § 5 der »Grundlinien« evoziert Hegel den »Fanatismus der indischen reinen Beschauung «. Das höchste Ideal eines Hindus sei es, Brahmane zu werden. Der Hindu suche seine reine Identität, den Rückzug an den leeren Ort der Innerlichkeit. Einerseits hat diese Askese etwas Fanatisches, denn sie entsagt dem Leben und jedem konkreten Ziel, sie ist ein Kult der leeren Abstraktion. Andererseits ist sie eigentlich kein Fanatismus, denn sie impliziert keinerlei Gewalt gegen andere. Deshalb bezieht Hegel den Fanatismusbegriff nicht mehr auf den Hinduismus. Gleichwohl betont er alles, was diesen dem Fanatismus annähert: die Asketen (Yogi), die ihr Leben lang in derselben Position verharren oder jahrelang marschieren, ohne zu schlafen; die Witwenverbrennung; die Selbstopfer wie das Sich-Hinunterstürzen in die Quellen des Ganges – all die Figuren einer abstrakten Freiheit, die sich erst in der Zerstörung verwirklicht. Hegel schließt aus diesen Beispielen, bei den Indern sei »das menschliche Leben etwas Verachtetes, Geringgeschätztes – es gilt nicht mehr als ein Schluck Wassers. […] Das Leben erhält Wert nur durch Negation seiner selbst.« In der »Phänomenologie des Geistes« sagt er über die Terreur, der Tod habe keine größere Bedeutung mehr als »das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers«. Mißtrauen gegen das Leben ist für Hegel allen Fanatismen gemeinsam.

Der Fanatismus des Hinduismus ist rein passiv, da er nur gegen diejenigen Gewalt anwendet, die ihrerseits fanatisch sind, im Unterschied zum eigentlichen, aktiven Fanatismus, der gegen alle gewalttätig wird. Gleiches gilt für das, was Hegel im Katholizismus den »Fanatismus der Duldung« oder »Fanatismus, den wir als Heiligkeit verehren sollen« nennt. Die Martyrien der Urchristen werden kultisch verehrt und in der Malerei abgebildet. Die grausamsten Leiden erleben Märtyrer wie eine Gnade, eine Vereinigung mit Gott. Diese eigentümliche Frömmigkeit, dieses beharrliche Entsagen erinnert Hegel »an das Abstruse der Peinigungen«, welche »sich die Inder gleichfalls freiwillig zu religiösen Zwecken auferlegen«. Aber während diese innere Heiterkeit und Überwindung des Bewußtseins suchen, geht es den christlichen Märtyrern um den Schmerz an sich. Dadurch wird dieser Fanatismus noch unerträglicher und absolut unvereinbar mit der Idee des Lebens.

Dem aktiven Fanatismus begegnet man nicht nur im Islam, sondern auch im Christentum, im Katholizismus mit seiner Inquisition ebenso wie im Protestantismus. In bezug auf die Wiedertäufer, die von Luther bekämpften Schwärmer, hält Hegel sich ziemlich zurück. Er erwähnt sie, als er vom Puritanismus spricht, dieser »erreicht […] die Spitze der Innerlichkeit, welche, in eine objektive Welt ausschlagend, teils fanatisch erhoben, teils lächerlich erscheint. Diese Fanatiker, wie auch die in Münster, wollten den Staat unmittelbar aus der Gottesfurcht regieren, wie ebenso fanatisiert die Soldaten ihre Sache im Felde betend ausfechten mußten«. Der Puritanismus der Schwärmer ist manchmal lächerlich – wie Shaftesbury betont –, manchmal fanatisch, wie der Fall des Johann von Leyden zeigt.

Betrachtet man Hegels Analysen insgesamt, stellt man fest, daß den meisten Religionen – Judaismus, Hinduismus, Islam, Katholizismus, Protestantismus – die Möglichkeit des Fanatismus inhärent ist, und daß dieser nie die wahre Religion darstellt, sondern die Zerstörung jeder ethischen Ordnung, auch der Religion.

Anders als die Philosophen der Aufklärung zielt Hegel eher auf den, wie er sagt, politischen Fanatismus als auf den religiösen. Auf die Begeisterung für 1789 folgt das Entsetzen über 1793. Man kennt die Untersuchung der Terreur in der »Phänomenologie des Geistes«. Obwohl Hegel in diesem Kapitel nicht von »Fanatismus« spricht, meint er, wie seine späteren Vorlesungen zeigen, genau ihn. Dort wird die Terreur als »Fanatismus der Freiheit« bezeichnet. Die Tyrannei Robespierres »mußte zugrunde gehen; denn alle Neigungen, alle Interessen, alle die Vernünftigkeit selbst war gegen diese fürchterliche konsequente Freiheit, die in ihrer Konzentration so fanatisch auftrat«.

Was kennzeichnet eigentlich diesen Fanatismus der Aufklärung? Zunächst die absolut errichtete Freiheit oder die absolute Freiheit. Sie zerstört alles, was sich ihr widersetzt, sie unterdrückt alle Besonderheiten und Unterschiede des Lebens. Nach der von Hegel für notwendig erachteten Auslöschung des Ancien Régime müssen sich die Stände, Zünfte, Assoziationen sowie die drei Gewalten samt Wohlfahrtsausschuß unter das Joch der absoluten Freiheit beugen. Je weiter die Negativität des abstrakten Willens um sich greift, desto stärker entwickelt sich die Revolution in Richtung Fanatismus. Denn wenn die Freiheit nichts mehr verwerfen kann, kann sie nur noch sich selbst verwerfen und ihre Repräsentanten physisch unterdrücken. »Kein positives Werk noch That kann also die allgemeine Freyheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Thun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.« Die Terreur ist eine Form des politischen Fanatismus, eine Furie der Freiheit, die aber kalt bleibt und den Tod quasi bürokratisch verwaltet, ohne Rücksicht auf den Wert des Lebens. Das einzige Werk der allgemeinen Freiheit ist folglich »der Tod, und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat«.

Als Beispiel nennt Hegel die Revolutionstribunale und ihre finstere Devise – Freiheit (Freispruch) oder Tod (Guillotine) – sowie das Gesetz der Verdächtigung. Als Beleg mag das Dekret der Nationalversammlung vom 9. Brummaire des Jahres II gegen die Stadt Lyon dienen, die sich am 29. Mai 1793 gegen die jakobinische Stadtverwaltung erhoben hatte: »Art. 3. – Die Stadt Lyon wird zerstört (…). Art. 4. – Der Name Lyons wird von der Tafel der Städte der Republik gelöscht (…). Art. 5. – Auf den Trümmern der Stadt Lyon wird eine Säule errichtet, die der Nachwelt die Verbrechen und die Bestrafung der Royalisten dieser Stadt verkündet, mit folgender Inschrift: Lyon führte Krieg gegen die Freiheit; Lyon gibt es nicht mehr

 

Dieses Dekret der Vernichtung, das von Collot d’Herbois und Fouché nach Kräften umgesetzt wurde, veranschaulicht perfekt jene Furie der Zerstörung. Hegels Sicht der Terreur beruhte nicht auf dem Denken der Aufklärung, das diesen Ereignissen weit voraus lag, sondern auf August Wilhelm Rehbergs »Untersuchungen über die Französische Revolution«, die 1793 erschienen und bereits warnten. Nach Rehbergs konservativer These führe jeder Versuch, eine allgemeine Theorie der Vernunft auf die Realität anzuwenden, aufgrund der Komplexität der Praxis, bestenfalls zur völligen Verkehrung der Theorie, schlimmstenfalls zur absoluten Zerstörung der Realität. Die Revolutionäre hätten fälschlicherweise versucht, die Metaphysik von Rousseaus »Gesellschaftsvertrag «, der in der Theorie vielleicht richtig, in der Praxis allerdings gefährlich sei, zu verwirklichen. Rehberg geißelt die »absolute Freiheit« des »Gesellschaftsvertrags« und verdammt das Unternehmen der Revolutionäre, das nur auf die Etablierung einer »allgemeinen Zerstörung« abziele: »Aber in dem Augenblicke, da er durch die wirklich Welt aus dem Traum geweckt wird, entdeckt er mit Entsetzen einen ungeheuren Contrast unter der Verfassung der bürgerlichen Gesellschaften, und der Idee von dem, was jenen Grundsätzen zufolge seyn sollte. Diese Empfindungen erregen alsdenn bey denjenigen, welche sich dem Einflusse allgemeiner Sätze nicht so unbedingt ergeben, und durch Gefühl und practisches Urtheil mehr als durch solche allgemeine Grundsätze des Verstandes leiten lassen, eine skeptische Verzweiflung an der Wahrheit aller allgemeinen Grundsätze, und bey manchen leicht eine unsichre Nachgiebigkeit gegen die Convenienz des Augenblicks: in eigensinnigen und blinden heftigen Köpfen aber erregen sie, den nach ihrem eignen Gefühle heroischen, nach dem Urtheile des kältern Zuschauers hingegen, rasenden Entschluß, alles zu zerstören, was den angenommenen Grundsätzen widerspricht, und die Menschheit zu zwingen, sich in dieselben zu fügen: worauf es die französischen Reformatoren angelegt haben.«

 

Wenngleich Rehberg die zerstörerische Tendenz der abstrakten Freiheit hervorhebt, die sich am reinsten in der Terreur zeige, vergleicht er sie nie mit dem Fanatismus. Der erste, der eine polemische Verbindung zwischen Fanatismus und Revolution herstellt, ist Burke, von dem Rehberg übrigens seine Ideen entlehnte. Seine »Betrachtungen über die Französische Revolution« (1790) erschienen 1791 erstmals auf Deutsch, dann wieder 1793 in der Übersetzung von Friedrich Gentz, einem Freund Rehbergs. Schon hier liest man, daß es gefährlich sei, die reine Theorie auf die Gesellschaft zu übertragen: »Die eingebildeten Rechte dieser Theoretiker sind lauter Extreme: und je mehr sie im metaphysischen Sinne wahr sind, desto mehr sind sie im moralischen und politischen falsch.« Hegel hat etliche Bewertungen Burkes übernommen, vorzüglich die der Revolutionäre: »Etwas müssen sie durchaus zerstören, wenn sie nicht glauben sollen, daß sie umsonst existieren.« Ihre politische Metaphysik müsse im Kreis der reinen Gedanken eingeschlossen bleiben, vor allem dürften sie nicht daraus entkommen und »aus ihrer Höhle hervorbrechen wie ein Sturm aus Osten, alles vor sich wegfegen auf der Erde und die Brunnen der großen Tiefe eröffnen, um uns zu ersäufen«. Die Furie der Revolutionäre vergleicht Burke mit dem Fanatismus der Wiedertäufer:

 

»Als die Anabaptisten von Münster Deutschland im 16ten Jahrhundert durch ihr wildes Gleichheitssystem und ihre gefährlichen Grundsätze über das Eigentumsrecht in Verwirrung setzten, welches Land in Europa zitterte nicht bei den Fortschritten ihrer Wut? Es gibt nichts, was die Weisheit so sehr in Schrecken setzt als ansteckender Fanatismus, weil gegen diesen Feind ihre Waffen am allerohnmächtigsten sind. Wir sehen jetzt täglich, daß eine Menge von Schriften, die man mit unglaublichem Eifer und ungeheuren Kosten verbreitet, und eine Menge von Predigten, die auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Versammlungsörtern zu Paris gehalten werden, den Geist einer atheistischen Schwärmerei in alle Gemüter blasen.«

 

Der Vergleich der Schwärmer mit den Revolutionären ist gewagt, zumal er drei Jahre vor den Ereignissen von 1793 erfolgt. Letztlich ist dieser Text, soweit ich weiß, das erste Zeugnis einer expliziten Verbindung von religiösem und politischem, »atheistischem« Fanatismus. Bei Burke, und nicht bei Rehberg, konnte Hegel ein nachsichtiges Urteil über die Terreur in Begriffen des Fanatismus vorgebildet finden. Dennoch hat er Burkes Konservatismus keineswegs geteilt. Denn der Fanatismusbegriff erscheint ihm lediglich verwendbar für die Episode der Terreur, die den unermeßlichen Fortschritt der bis zur letzten Vorlesung von 1831 als »herrlichen Sonnenaufgang« gepriesenen Französischen Revolution nicht in Frage stellt. Während Burke und Rehberg in der Revolution einen Auswuchs des Vernunftglaubens sehen, hält Hegel sie für eine Versöhnung von Vernunft und Welt, die tatsächliche Umsetzung des Freiheitsgedankens. Man muß lediglich herausfinden, wie die terroristischen und schöpferischen Figuren der Freiheit sich artikulieren, wie sie miteinander verbunden sind. Anders gefragt: Ist das Fanatismusproblem zu lösen?

 

 

Und wie?

 

Hegel bleibt der von Locke und Bayle eingeführten Tradition der Toleranz treu, die in Deutschland von Lessings »Nathan dem Weisen« abgelöst wurde. Seit seinen Jugendtexten betont er die Unsinnigkeit der Glaubensverfolgung: »Will der Staat fest an seinem Ganzen hängen und mit Gewalt die überströmende Kirche von seinen Ufern abhalten, so wird er unmenschlich und ungeheuer und wird den Fanatismus erzeugen, der, weil er die einzelnen Menschen, die menschlichen Beziehungen in der Macht des Staates sieht, ihn in ihnen und so sie damit zertrümmert.«

Intoleranz ist der beste Gärstoff des religiösen Fanatismus. In diesem Text zeigt sich Hegel noch reserviert gegenüber Lockes These von der Trennung von Staat und Kirche, und zwar wegen seiner Vorliebe für das organische Modell der schönen antiken Stadt. Aber in den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« bezeichnet er diese Trennung als die Grundlage des modernen Staates. Natürlich ist die Religion – für Hegel vor allem der Protestantismus – nicht vom Staat zu trennen, denn sie ist seine eigentliche Basis, eines der grundlegenden Elemente der Sittlichkeit. Aber eben nur die Basis. Die Kirche darf sich keine politische Rolle anmaßen, sie muß den Staat anerkennen und sich seinen Gesetzen beugen. Daß der Staat seine Wurzeln in der Religion hat, heißt, daß er sich immer weiter von dieser entfernt. Der Staat wiederum darf sich nicht die Funktionen der Religion anmaßen, es ist seine Stärke, daß die aus dem Recht auf Subjektivität und Besonderheit hervorgehenden Glaubensrichtungen toleriert werden. Denn »auf den Inhalt, insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich der Staat nicht einlassen«. Je stabiler ein Staat ist, desto liberaler und toleranter kann er sein, auch, so Hegel, gegenüber Sekten wie den Quäkern und den Wiedertäufern. In die Sittlichkeit des Staates integriert, haben die alten Schwärmer nichts Fanatisches mehr. Fanatismus entsteht vor allem durch die mangelnde Übereinstimmung in den Beziehungen von Identität und Differenz, die zwischen Religion und Staat bestehen, durch eine Vertauschung der Rollen, sei es, daß die Religion den Platz des Staates einnimmt (theokratischer Despotismus), sei es, daß dieser ihre Macht an sich zu reißen versucht (Terreur). Politisch und juristisch läßt sich das Fanatismusproblem lösen, indem man auf der strikten Trennung der spirituellen und weltlichen Bereiche von Kirche und Staat und gleichzeitiger Einbeziehung der Religionen in die Sittlichkeit besteht.

Eine Doppeldeutigkeit aber bleibt in Hegels Fanatismusbegriff. Der religiöse wie auch der politische Fanatismus gehören von Beginn an zur Dialektik des freien Willens. Entweder ist dieses Phänomen eine notwendige Determination des Freiheitsbegriffs – nämlich der Negation aller Determination –, was allerdings bedeuten würde, daß jede Zivilisation, jedes Individuum die Erfahrung des Fanatismus durchmachen muß, was ja nicht der Fall ist. Aus diesem Grunde habe ich diese Hypothese von vornherein ausgeschlossen. Oder dieses Phänomen ist, wie ich vorgeschlagen habe, eine einfache Möglichkeit der unbestimmten Freiheit, woraus sich folgende Fragen ergeben: 1. wie vollzieht sich der Übergang von dieser leeren Freiheit zur zerstörerischen Tat, zum Auftauchen des Fanatismus; 2. wie überführt man diesen daraufhin von der fanatischen Freiheit zum bestimmten Willen, zur schöpferischen Freiheit? Was den ersten Punkt betrifft, betont Hegel die überragende Bedeutung der historischen Umstände. Er unterstreicht die Phase des Niedergangs, der Heuchelei, des Sittenverfalls und der positiven Religion, des Elends und der Tyrannei im revolutionären Frankreich. Aber damit läßt sich der Terror nicht gänzlich erklären. Zwangslagen führen nicht automatisch zu Fanatismus. Vom unbestimmten Willen zur fanatischen Aktion, vom Vorhaben zur Tat macht die Freiheit einen nicht völlig nachvollziehbaren Qualitätssprung. Was die zweite Frage, das Umschlagen des Fanatismus, angeht, so glaubt man, die zerstörerische Freiheit ende in der Selbstverleugnung, gehe auf in einer selbstzerstörerischen Aktion, im Bild der Mänaden, die in der griechischen Religion der apollinischen Gestalt des schönen Gymnasten Platz machen. Doch nichts garantiert uns diese Selbst-Erschöpfung, diese Selbst-Verneinung, die eine Einschränkung der Freiheit und den Sieg des Rechts nach sich zöge. Wir wissen, daß der Fanatismus manchmal nur zu Gegengewalt führen kann, mit der er sich wechselseitig erhitzt, anstatt wie ein glühendes Eisen langsam zu erkalten. Der Fanatismus ist gleichsam ein Pfahl im Fleische der Dialektik, durch die von ihm ausgehende Irrationalität gefährdet er unablässig ihre Kohärenz.

Die Aufklärung glaubte den Fanatismus besiegen zu können, indem sie ihn in die dunkle Epoche der Menschheit verlegte oder zu den noch unaufgeklärten Völkern. Selbst Hegel bleibt dieser Einstellung verhaftet, wenn er vom mohammedanischen Fanatismus spricht. Der Fanatiker ist immer der andere. Diese Distanzierung findet man wieder in der Erklärung des Phänomens als einer Geisteskrankheit, die zwar gefährlich, aber letztlich an den äußersten Rand des Seelenlebens verdrängt ist. Daher waren Vernunft und Philosophie dafür die besten Mittel. Durch das schreckliche, faszinierende Spektakel der Terreur erkennt Hegel den Fanatismus als das Andere der Vernunft, das der Vernunft innewohnt. Es handelt sich um eine Möglichkeit jedes menschlichen Individuums, jeder Zivilisation und eben auch der Aufklärung. Der Fanatismus ist keine Entfremdung, sondern eine irrationelle Form von Freiheit. In diesem Sinne ist er menschlich und unmenschlich zugleich. Menschlich, weil er in der Freiheit des Menschen wurzelt und ihren abstrakten und freien Willen repräsentiert, der zur Tat wird. Unmenschlich, weil diese Freiheit der Leere ein Synonym für Gewalt und Zerstörung ist, die Negation all dessen, was die Größe des Geistes ausmacht, die Sittlichkeit, der Staat, die Religion selbst. Indem Hegel den Fanatismus in die Dialektik des Willens integriert, will er diesen keinesfalls legitimieren, sondern seine Existenz unterstreichen, die so gefährlich ist, weil sie uns nahe ist. Sie steckt in jedem von uns und kann sogar inmitten aufgeklärter Zivilisationen zum Vorschein kommen.

Aus dem Französischen von Matthias Weichelt

 

SINN UND FORM 4/2007, S. 437-453