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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 3/2008

Kanterian, Edward

Über den unterschiedlichen Wahrheitsgehalt von Holocaust-Tagebüchern


Im Oktober 1941 wurden auf dem Friedhof der südgalizischen Stadt Stanisławów über zehntausend Juden von deutschen Polizeieinheiten und ukrainischen Hilfstruppen ermordet. Die Überlebenden wurden in ein neuerrichtetes Ghetto gesperrt. Unter ihnen war die junge Eliszewa Binder, die bald begann, den Ghettoalltag in ihrem Tagebuch zu dokumentieren. Die letzte Eintragung stammt vom 19. Juni 1942, vermutlich ihr letzter Lebenstag, denn das Tagebuch wurde in einem Straßengraben in der Nähe des Friedhofs gefunden, auf dem das Massaker stattfand. Zehn Tage zuvor hatte sie angesichts der drohenden Vernichtung – der Judenrat hatte 800 Menschen zum Friedhof beordert – kommentiert: »Nun ja, diese ganze Kritzelei hat keinen Sinn. Tatsache ist, daß wir nicht überleben werden. Die Welt wird auch ohne meine weisen Notizen von allem erfahren.«

Objektiv betrachtet liefern ihre Aufzeichnungen tatsächlich kaum historische Informationen. Eliszewa Binder konnte nicht wissen, daß solche Massaker bald in allen Gebieten unter deutscher Herrschaft stattfinden würden. Im Januar 1942 wurden auf der Wannseekonferenz die Details der Endlösung beschlossen. Im März 1942 begann die »Aktion Reinhardt«, der die Juden im polnischen Generalgouvernement zum Opfer fielen. Eliszewa Binder schreibt nichts über diese Fakten; sie artikuliert einzig und allein ihre Gedanken und Gefühle, die sich zwischen völliger Verzweiflung und zaghafter Hoffnung bewegen. Diese Beobachtung trifft für nahezu jedes persönliche Zeugnis zu, besonders natürlich für Tagebücher und Briefe. Und sie führt zu dem Einwand, ob solche Texte nicht ohnehin viel zu subjektiv sind, um objektives Wissen über den Holocaust zu vermitteln. Sollte man sie nicht vor allem als dramatische Fallbeispiele oder als Veranschaulichung der furchtbaren Tragödie lesen? Oder anders gefragt: Würden uns wesentliche Umstände des historischen Geschehens verborgen bleiben, wenn wir die Tagebücher von Eliszewa Binder, Anne Frank oder Mihail Sebastian (um den es hier in erster Linie gehen soll) ignorierten?

Gewiß enthalten etliche dieser Tagebücher wichtige Informationen, vor allem, wenn ihre Autoren an herausgehobener Position wirkten wie Adam Czerniaków, der Vorsitzende des Warschauer Judenrats, wie Herman Kruk, der in der Ghettobibliothek in Wilna arbeitete, wie Raymond-Raoul Lambert, der Vorsitzende der Union Générale des Israélites des France, oder wie Abraham Lissner von der kommunistischen Widerstandsgruppe Ftp-Moi in Paris. Sie geben tiefere Einblicke in die Interaktion zwischen Judenräten und deutschen Dienststellen, aber auch in die Verhältnisse der jüdischen Gemeinschaft, in die einzelnen Fraktionen, die Widerstandsinitiativen und nicht zuletzt auch in die materiellen Aspekte des Ghettolebens. Aber von solchen Tagebüchern sind nur wenige erhalten geblieben, weshalb sich die Holocaustforschung in ihrer Frühphase auch auf die Täter konzentrierte, die ihre Verbrechen minutiös geplant und oft auch genauso minutiös dokumentiert haben, so daß wir heute Bescheid wissen über die Logistik und Befehlsstruktur von Deportationen und Massentötungen, über die Befehlsgeber, Befehlsempfänger und Handlanger. Hinzu kommt, daß auch Tagebücher und Briefe sowohl hochrangiger als auch subalterner Täter existieren, die das Bild ergänzen. Warum also auf die diffusen, wenn nicht gar irreführenden Auskünfte der Menschen hinter dem Stacheldraht zurückgreifen, wenn genügend Informationen von denjenigen vorliegen, die den Stacheldraht aufzogen?

Die gemäßigte skeptische These lautet: Von einigen wenigen Zeugnissen abgesehen, läßt sich die Realität des Holocaust ohne die Stimmen der Opfer beschreiben. Adam Czerniakóws Tagebuch ist eine unersetzliche historiographische Quelle, das Tagebuch von Eliszewa Binder oder Mihail Sebastian dagegen nicht. Etliche Einträge Sebastians wie etwa der vom 18. Dezember 1941 sind geradezu unverständlich: »Die neuen Anführer der Juden Streitman und Vilman! Heute von Lecca berufen«. Um zu begreifen, wieso ein Mitglied der rumänischen Regierung die neuen Anführer der Juden beruft, braucht man Hintergrundkenntnisse, die Sebastian nicht liefert, weil er sie auch nicht hat. Radu Lecca war in der Antonescu-Regierung der Beauftragte für jüdische Angelegenheiten und damit zuständig für die Deportationen und in dieser Funktion der Partner von Adolf Eichmann, der die Bildung von Judenräten angeordnet hatte. Sie sollten die jüdischen Gemeinschaften kontrollieren und der Vernichtungsmaschinerie zuarbeiten.

Raul Hilbergs frühes Meisterwerk »Die Vernichtung der europäischen Juden« ist paradigmatisch für die methodologische Ausrichtung auf die Dokumente der Henker. In »Die Quellen des Holocaust«, seinem letzten Buch, präsentiert Hilberg eine Typologie der Holocaustquellen. Zwar lehnt er die Zeugnisse der Opfer nicht rundweg ab, was ja auch seiner Editionsarbeit an Czerniakóws Tagebuch, das er als ein Schlüsselzeugnis ansieht, widerspräche, aber er stellt eine Art Zuverlässigkeitshierarchie auf, nach der die von Tätern während des Ereignisses verfaßten (amtlichen) Dokumente tendenziell bedeutsamer sind als die (persönlichen) Zeugnisse der Opfer. Auf der untersten Stufe stehen reine Erfindungen wie Binjamin Wilkomirskis »Bruchstücke: Aus einer Kindheit 1939–1948« (1995) sowie Täterberichte, die nach dem Krieg verfaßt wurden und der Entlastung dienen sollten (man denke an Albert Speers Memoiren). Hilberg ist auch kritisch gegenüber der Oral history, da sie dem Ideal des ursprünglichen, unmittelbaren, nicht revidierten Zeugnisses kaum entspreche. Aus ähnlichen Gründen hat er sogar Vorbehalte gegen die Erinnerungen von Überlebenden. Die Tagebücher von Opfern, oder jedenfalls einige davon, stuft er höher ein, am höchsten aber die deutschen Dokumente, obwohl auch sie Mängel und blinde Flecken aufweisen, wie er anhand vieler Beispiele zeigt.

Wenn aber keine Quelle ganz verläßlich ist, wie kann dann unser Wissen über den Holocaust objektiv sein? Ist dann nicht jede Quelle letztlich problematisch? Darauf scheinen Hilbergs Schlußbemerkungen hinauszulaufen: »Alle Ergebnisse befinden sich stets in einem Zwischenstadium. Wohl ist die Historiographie auch eine Kunstform, die das Streben nach Vollendung fordert, aber die Wirklichkeit der Ereignisse ist nicht rekonstruierbar.« Diese vorsichtig formulierte Skepsis ließe sich zuspitzen. Erstens: Die Quellen des Holocaust sind nicht aus zufälligen historischen, sondern aus notwendigen, in der Natur der Sache liegenden Gründen begrenzt. Zweitens: Alle Vergangenheitsquellen sind in dieser Weise begrenzt. Womit die Vorstellung von einem objektiven Zugang zur Geschichte eine Chimäre wäre. Ein solch radikaler Skeptizismus ist philosophischer Art. Er unterscheidet sich nur thematisch von Descartes’ in den »Meditationen« (1641) angestellter Überlegung, es gebe kein unanfechtbares Kriterium, das uns versichert, daß wir nicht träumen, wenn wir wach zu sein glauben – und nur in der Formulierung von Bertrand Russells Behauptung in der »Analyse des Geistes« (1921), es sei kein logischer Beweis dafür möglich, daß die Welt nicht erst vor fünf Minuten entstanden ist, inklusive aller Menschen und aller ihrer Erinnerungen an eine angebliche Vergangenheit.

Philosophischer Skeptizismus ist nur philosophisch zu beantworten. Am besten gelang dies Wittgenstein in seinen postum veröffentlichten Bemerkungen »Über Gewißheit« (1969). Doch wir müssen Hilberg nicht mit Wittgenstein gegen den Vorwurf allzu radikaler Skepsis verteidigen. Seine historiographische Praxis belegt eine andere Überzeugung als die oben skizzierte, hält er sich doch, zumal in seinem frühen Hauptwerk, an das erwähnte Hierarchiemodell, indem er den einzelnen Quellenkategorien von vornherein einen unterschiedlichen Wahrheitsgehalt zuschreibt. Danach sind Tagebücher wie die von Binder oder Sebastian Zeugnisse von »Privatpersonen« und damit weniger bedeutsam als die von Czerniaków oder Lambert. In epistemischer Hinsicht stehen sie jedoch über den Quellen, die aus dem Rückblick entstanden. Hier könnte uns jedoch ein weiterer skeptischer Gedanke verunsichern, daß nämlich gerade die Verankerung eines Tagebuchs im Hier und Jetzt sein größter Mangel wäre, da ja das Hier und Jetzt naturgemäß flüchtig, bruchstückhaft und zudem geprägt ist von der Persönlichkeit des Autors, seinen Lebensumständen und seiner Weltsicht. Derlei Argumente sind nicht bloß eine theoretische Möglichkeit. Man begegnet ihnen in Diskussionen über Holocaust-Tagebücher, wo ihnen kaum widersprochen wird, weil sie der Weisheit letzter Schluß zu sein scheinen.
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SINN UND FORM 3/2008, S. 343-352