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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 6/2008

Chesterton, Gilbert K.

Essays über Eugenik


An den Leser
Ich veröffentliche diese Essays zum jetzigen Zeitpunkt aus einem besonderen Grund, der mit der gegenwärtigen Situation zusammenhängt und den ich kurz benennen und erläutern möchte.
Wiewohl sich die meisten Schlußfolgerungen, vor allem zum Ende hin, auf Ereignisse der jüngsten Vergangenheit beziehen, wurde der größte Teil der vorbereitenden Notizen über die Wissenschaft der Eugenik vor dem Krieg geschrieben. Es war eine Zeit, als dies das Thema der Stunde war; als es in den Illustrierten von eugenischen Babys - die sich von anderen nicht merklich unterschieden - nur so wimmelte; als Nietzsches Evolutionsphantasien bei den Intellektuellen der letzte Schrei waren; und als Mr. Bernard Shaw und andere meinten, Menschen wie einen Droschkengaul zu züchten sei der richtige Weg, um jene höhere Zivilisation intellektuellen Großmuts und mitfühlenden Verständnisses zu erlangen, die man bei Droschkengäulen findet. Es mag deshalb den Anschein haben, daß ich diese Meinung zu polemisch genommen habe und, wie ich meine, manchmal wohl auch zu ernst. Doch aus der Kritik an der Eugenik wurde rasch eine allgemeinere Kritik an der neuzeitlichen Manie für wissenschaftlichen Bürokratismus und eine strikte Gesellschaftsorganisation.
Und dann kam die Stunde, als ich - geradezu erleichtert - das Gefühl hatte, nun alle meine Aufzeichnungen ins Feuer werfen zu können. Das Feuer war sehr groß, und es verbrannte größere Dinge als solchen Humbug. Und ohnehin wurde die Sache ganz anders entschieden. Der wissenschaftliche Bürokratismus und die Organisation in dem Staate, der sich darauf spezialisiert hatte, führten Krieg gegen die ältere Kultur des Christentums. Entweder würde das Preußentum gewinnen, und Protest wäre aussichtslos, oder das Preußentum verlöre, und Protest wäre unnötig. Als sich dann der Krieg vom Giftgaskrieg zum Piratenkrieg gegen Neutrale entwickelte, zeigte sich immer deutlicher, daß der wissenschaftlich organisierte Staat nicht beliebter wurde. Egal, was geschah, kein Engländer würde sich je wieder dem Gestank dieses infamen Labors aussetzen. Deshalb hielt ich alles, was ich geschrieben hatte, für belanglos und schlug es mir aus dem Kopf.
Es betrübt mich zutiefst, sagen zu müssen, es ist nicht belanglos. Allmählich hat sich meinem erstaunten Blick gezeigt, daß die herrschenden Klassen in England weiterhin davon ausgehen, Preußen sei ein Vorbild für die ganze Welt. Zwar sind Teile meines Buches schon fast neun Jahre alt, aber die Prinzipien und Prozeduren dieser Klassen sind wesentlich älter. Sie können uns nur dieselbe pedantische Wissenschaft anbieten, dieselbe einschüchternde Bürokratie und denselben Terrorismus zehntklassiger Professoren, die das Deutsche Reich zu seinem jüngsten augenfälligen Triumph geführt haben. Deshalb stelle ich drei Jahre nach dem Krieg mit Preußen diese Aufzeichnungen zusammen und veröffentliche sie.
G.K.C.


Die Anarchie von oben
Eine lautlose Anarchie zerfrißt unsere Gesellschaft. Bei diesem Wort muß ich innehalten, weil der eigentliche Charakter der Anarchie meistens verkannt wird. Anarchie muß keineswegs gewalttätig sein; und sie muß auch nicht von unten kommen. Eine Regierung kann ebenso anarchisch werden wie ein Volk. Der sentimentalere Tory benutzt das Wort Anarchie nur als Schimpfwort für Rebellion; dabei übersieht er einen höchst wichtigen gedanklichen Unterschied. Eine Rebellion mag falsch und verheerend sein; aber selbst, wenn sie falsch ist, ist sie nie Anarchie. Wenn sie nicht Selbstverteidigung ist, ist sie Usurpation. Ihr Ziel ist es, das alte Regime durch ein neues zu ersetzen. Sie kann in ihrem Wesen nicht anarchisch sein - weil sie ein Ziel hat - und erst recht nicht in ihren Methoden, denn Menschen müssen organisiert sein, wenn sie kämpfen, und die Disziplin in einer Rebellenarmee muß ebenso gut sein wie im königlichen Heer. Diesen grundlegenden Unterschied muß man sich klarmachen. Nehmen wir ihrer Symbolik wegen jene zwei geistlichen Erzählungen - ganz gleich, ob wir sie nun für Mythen oder Mysterien halten -, die so lange die beiden Angelpunkte der gesamten europäischen Moral waren. Der Christ, welcher der eingesetzten Obrigkeit im allgemeinen wohlwollend gegenübersteht, denkt an Rebellion unter dem Bilde des Satans, der sich gegen Gott empörte. Aber Satan, wiewohl ein Verräter, war kein Anarchist. Er erhob Anspruch auf die Krone des Kosmos; und wäre er siegreich gewesen, hätte er erwartet, daß seine Engel das Rebellieren einstellten. Hingegen wird der Christ, der eher Sympathien für die berechtigte Notwehr der Unterdrückten hegt, lieber an Jesus denken, der den Hohenpriestern die Stirn bot und die reichen Händler mit der Geißel traktierte. Aber ob Jesus nun, wie manche behaupteten, Sozialist war oder nicht, ein Anarchist war er ganz bestimmt nicht. Jesus erhob wie Satan Anspruch auf den Thron. Er errichtete eine neue Autorität gegen eine alte. Doch er errichtete sie mit positiven Geboten und einem verständlichen Plan. In diesem Licht hätten alle Menschen im Mittelalter - ja, bis vor kurzem noch alle Menschen - Fragen der Rebellion beurteilt. John Ball hätte sich erboten, die Regierung zu stürzen, weil sie schlecht war, nicht, weil sie eine Regierung war. Richard II. hätte Bolingbroke nicht des Friedensbruchs, sondern der Usurpation bezichtigt. Anarchie im üblichen Wortsinn ist also etwas ganz anderes als eine berechtigte oder unberechtigte Rebellion. Sie ist nicht unbedingt zornig; sie ist, zumindest in den Anfangsstadien, nicht unbedingt schmerzhaft. Und wie gesagt: oft ist sie absolut lautlos.
Anarchie ist jener Zustand des Geistes oder der Methoden, in dem man nicht mehr innehalten kann. Sie ist ein Verlust der Selbstkontrolle, die zur Normalität zurückzukehren vermag. Es ist nicht Anarchie, wenn Menschen mit Aufruhr und Ausschweifung beginnen und sich in Experiment und Gefahr stürzen dürfen. Es ist Anarchie, wenn Menschen damit nicht aufhören können. Es ist nicht häusliche Anarchie, wenn an Silvester die ganze Familie lange aufbleibt. Es ist häusliche Anarchie, wenn die Familienmitglieder noch Monate danach lange und immer länger aufbleiben. Es war keine Anarchie, wenn in der römischen Villa während der Saturnalien die Sklaven zu Herren und die Herren zu Sklaven wurden. Es war - aus Sicht der Sklavenbesitzer - Anarchie, wenn die Sklaven sich nach den Saturnalien weiter saturnalisch aufführten; die Geschichte zeigt, daß sie es nicht taten. Es ist nicht Anarchie, ein Picknick zu veranstalten; aber es ist Anarchie, wenn man keine Mahlzeiten mehr kennt. Es wäre, glaube ich, Anarchie, wenn wir, einem abstoßenden Vorschlag folgend, uns einfach von der Anrichte bedienten. Das würden Schweine tun, wenn Schweine Anrichten hätten; Schweine haben keine festen Feiertage; sie sind ungewöhnlich fortschrittlich, eben Schweine. Diese Unfähigkeit, nach einer legitimen Extravaganz in vernünftige Grenzen zurückzufinden, ist die eigentlich gefährliche Unordnung. Die moderne Welt ist wie der Niagara. Sie ist großartig, aber nicht stark. Sie ist schwach wie Wasser - wie der Niagara. Der Einwand gegen einen Wasserfall ist nicht, daß er ohrenbetäubend oder gefährlich oder gar zerstörerisch ist, sondern, daß er nicht aufhören kann. Offensichtlich können die Kräfte, die eine Gesellschaft regieren, ebenso leicht von dieser Art Chaos besessen sein wie die solchermaßen regierte Gesellschaft. Und im heutigen England sind hauptsächlich die regierenden Kräfte davon besessen - sie sind wahrhaftig von Teufeln besessen. Diese Wendung - in ihrer handfesten alten psychologischen Bedeutung - ist nicht zu stark. Der Staat ist plötzlich ganz still und leise verrückt geworden. Er redet Unsinn und kann damit nicht aufhören.
Selbstverständlich sollte und muß eine Regierung ebenso zu außergewöhnlichen Methoden greifen dürfen wie ein Haushaltsvorstand, der ein Picknick veranstaltet oder Silvester die ganze Nacht aufbleibt. Wenn er vernünftig ist, kann der Staat oder der Haushaltsvorstand solche Ausnahmen als Ausnahmen behandeln. Derlei verzweifelte Maßnahmen sind womöglich nicht einmal rechtens; aber sie sind erträglich, solange sie als verzweifelte Maßnahmen deklariert werden. Dazu gehört natürlich der Lebensmittelkommunismus in einer belagerten Stadt; das offizielle Dementi der Verhaftung eines Spions; die Anwendung des Kriegsrechts auf einen Teil des bürgerlichen Lebens; die Sperrung von Verbindungswegen bei Seuchen; oder jene schwerste Entartung des Gemeinwesens, wenn Soldaten nicht gegen fremde Truppen, sondern gegen ihre eigenen aufständischen Brüder eingesetzt werden. Manche dieser Ausnahmen sind richtig und manche nicht; aber alle sind richtig, soweit sie als Ausnahmen verstanden werden. Die moderne Welt ist verrückt, nicht so sehr, weil sie das Anormale zuläßt, sondern weil sie nicht wieder normal werden kann.
Wir sehen das an der unbestimmten Ausweitung von Strafen, etwa von Gefängnisstrafen; oft wollen gerade jene Reformer, die zugeben, daß das Gefängnis schlecht für Menschen ist, sie durch ein bißchen mehr davon bessern. Wir sehen das an einer panischen Gesetzgebung wie nach dem Weißen-Sklaven-Horror, als die Prügelstrafe für alle möglichen, nicht näher definierten verschiedenartigen Typen von Menschen wieder eingeführt wurde. So verrückt waren unsere Väter nie, selbst wenn sie Folterer waren. Sie streckten einen Menschen auf der Folterbank. Sie streckten nicht die Folterbank, wie wir es tun. Als die Leute Hexen verbrannten, sahen sie vielleicht überall Hexen - weil ihr Denken auf Hexerei fixiert war. Aber sie sahen nicht überall Dinge, die verbrannt werden sollten, weil ihr Denken keinen Halt mehr hatte. Wenn sie eine sehr unbeliebte Hexe auf den Scheiterhaufen banden, fest davon überzeugt, daß sie eine spirituelle Tyrannei und eine Pest verkörperte, sagten sie nicht zueinander: »So ein bißchen Brennen würde sich meine Tante Susan gegen ihre Rückenschmerzen wünschen«, oder: »Ein paar von diesen Reisigbündeln würden deinem Vetter James guttun und ihn lehren, daß man mit der Liebe armer Mädchen nicht spielt.«
All das nennt man Anarchie. Nicht nur, daß es nicht weiß, was es will, es weiß
nicht einmal, was es nicht will. Es wuchert in der eher amerikanischen Art englischer Zeitungen. Wenn diese neuartigen Neu-Engländer eine Hexe verbrennen, steht die ganze Prärie in Flammen. Diese Leute haben nicht die Entschlossenheit und die innere Distanz dogmatischer Zeitalter. Sie sind außerstande, eine ungeheuerliche Tat zu begehen und sich deren Ungeheuerlichkeit bewußt zu sein. Wo sie hintreten, wächst kein Gras mehr. Sie können ihre Gedanken nicht bremsen, obwohl sich diese in den Abgrund ergießen.
Ein abschließendes Beispiel, das sich viel knapper darstellen läßt, findet sich in dem allgemeinen Sachverhalt, daß die Definition fast jedes Verbrechens immer vager geworden ist und sich wie eine immer flacher und dünner werdende Wolke über immer größere Gebiete erstreckt. Kindesmißhandlung, so meinte man, sei so unverkennbar, so ungewöhnlich und entsetzlich wie Vatermord. Heutzutage wird sie auf nahezu jede Verwahrlosung angewendet, die es in einem bedürftigen Haushalt geben kann. Mit dem einzigen Unterschied natürlich, daß solche Verwahrlosungen bei den Armen, die im allgemeinen nichts dagegen tun können, bestraft werden, bei den Reichen, die es im allgemeinen könnten, aber nicht. Doch darum geht es hier gar nicht. Hier geht es darum, daß wir auf dem besten Wege sind, Maria und Josef - nur weil sie ihr Kind im Tempel verloren haben - eines Verbrechens zu bezichtigen, das wir instinktiv mit Herodes und der Blutnacht der unschuldigen Kinder verbinden. Angesichts eines kürzlichen Falls - eine zugegebenermaßen gute Mutter, die ins Gefängnis kam, weil ihre zugegebenermaßen gesunden Kinder kein Wasser zum Waschen hatten - wird dies, glaube ich, niemand für eine unzulässige schriftstellerische Übertreibung halten. Das ist genau so, als könnte man nun all das Entsetzen und die harten Strafen, die bei primitiven Stämmen mit Vatermord einhergehen, auf jeden Sohn anwenden, der etwas getan hat, das seinem Vater vermutlich Kummer bereitet und ihn somit gesundheitlich geschädigt hat. Kaum einer wäre da sicher.
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Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol


SINN UND FORM 6/2008, S. 725-729