Background Image

Leseprobe aus Heft 6/2008

Harman, Mark

Wie Kafka sich Amerika vorstellte


Daß Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika verbannte junge Held des Romans »Der Verschollene«, Kafkas liebstes Alter ego war, ist so gut wie sicher. Als Kafka seiner späteren Verlobten Felice Bauer das erste Kapitel schickte, bat er sie: »Nimm den kleinen Jungen freundlich auf, setze ihn neben Dich nieder und lob‹ ihn, wie er es sich wünscht.« Ich hoffe, daß Karl den Lesern ebenso ans Herz wächst wie mir beim Übersetzen des Buches und daß sie ein ganz anderes Bild von diesem ersten Roman Kafkas gewinnen, der immer noch viel zu sehr im Schatten seiner beiden späteren Romane steht. Dann würden Max Brods Worte wahr werden, »daß gerade dieser Roman einen neuen Weg zum Verständnis Kafkas zeigen« könnte.

"Der Verschollene« ist ein poetisch dichtes Werk, das man ganz unterschiedlich lesen kann: als episodenhafte pikareske Erzählung, als Bildungs- oder Initiationsroman, als Auswanderungs- oder Exilgeschichte, als düstere Vision der urbanen Zivilisation, als selbstreflexiven modernistischen Roman und schließlich als eine Verulkung des amerikanischen Traums voller trockenen Humors. Für sein Amerikabild nutzte Kafka eine Vielzahl von Quellen: Zeitungsartikel, Reiseberichte, Stummfilme und vermutlich auch die Autobiographie Benjamin Franklins, die er in dem berühmten Brief an den Vater angelegentlich erwähnt, in dem er sein lebenslanges Bemühen schildert, dessen Einfluß zu entkommen: »Manchmal stelle ich mir die Erdkarte ausgespannt und Dich quer über sie hin ausgestreckt vor. Und es ist mir dann, als kämen für mein Leben nur die Gegenden in Betracht, die Du entweder nicht bedeckst oder die nicht in Deiner Reichweite liegen.« Schließlich erkannte er wohl, daß die deutschen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts dazu neigten, die Neue Welt entweder als idyllische Zuflucht oder aber als Dystopie zu schildern.

Wie Kafkas Tagebücher und Briefe bezeugen, erwuchs seine Faszination für Amerika aus dem Gefühl, eingesperrt oder im inneren Exil zu sein. Seine Geburtsstadt Prag, von der er sagte: »Dieses Mütterchen hat Krallen«, war ihm nie »Heimat«. Am 20. August 1911 schreibt er von dem Wunsch, sich »in alle Weltrichtungen auszubreiten«. Dieser Drang, sich von Prag loszureißen, und sei es auch nur in der Phantasie, hat ihn nie verlassen. Nicht lange vor seinem Tode sah er im Festsaal des Prager Jüdischen Rathauses eine dort untergebrachte dichtgedrängte Gruppe von Auswanderern, und er schreibt an seine Geliebte Milena Jesenská: »wenn man mir freigestellt hätte, ich könnte sein was ich will, dann hätte ich ein kleiner ostjüdischer Junge sein wollen, im Winkel des Saales, ohne eine Spur von Sorgen, der Vater diskutiert in der Mitte mit den Männern, die Mutter dick eingepackt wühlt in den Reisefetzen ... und in paar Wochen wird man in Amerika sein.«

Als Edwin und Willa Muirs elegante erste englische Übersetzung 1938 in London erschien, war kaum bekannt, was Kafka über Amerika wußte, und da er nie den Atlantik überquert hatte, konnte man den »Verschollenen«, den er gern seinen »amerikanischen Roman« nannte, durchaus als reine Phantasie abtun. Doch dank der sorgsamen wissenschaftlichen Rekonstruktion der vernichteten Welt des deutschsprachigen Prager Judentums und der damaligen Debatten über Literatur, Religion, Philosophie, jüdische Identität und Zionismus, an denen Kafka beteiligt war, wirkt das Buch heute nicht mehr so unhistorisch und unpolitisch.

Obgleich Kafka die Neue Welt also gar nicht kannte, hatte er doch bestimmte Vorstellungen von ihr. So war er dagegen, daß Kurt Wolff 1913 den alten Stich eines in den Hafen von New York einlaufenden Segelschiffes als Titelbild für das als eigenständige Erzählung veröffentlichte erste Kapitel, »Der Heizer«, verwendete, da er ja »das allermodernste New York« darstellen wollte.
Die Manuskripte belegen die enge Beziehung zwischen den Hauptfiguren des »Heizers,« der »Verwandlung« und des »Urteils«, die eine Trilogie seiner häuslichen Tragödien bilden und das Schicksal von Söhnen schildern, die von ihren Eltern bestraft werden: In der »Verwandlung« schreibt er mehrmals Karl statt Gregor und im »Heizer« fünf Mal Georg - er ist die Hauptfigur im »Urteil« - statt Karl. Nur drei Tage, nachdem er in der Nacht vom 22. zum 23. September mit dem »Urteil« seinen literarischen Durchbruch geschafft zu haben glaubte, begann er seinen »amerikanischen« Roman. Aber anders als das »Urteil« war der »Verschollene« eine langwierige Angelegenheit - mit mindestens drei Versionen -, deren Wurzeln in Kafkas Vorstellungswelt schon früh erkennbar sind. Aus einer Tagebuchnotiz vom 19. Januar 1911 erfahren wir, daß er als Kind oder Jugendlicher eine Geschichte mit einem verwandten Thema schrieb, in der Amerika als Zufluchtsort fungiert. Im Winter 1911 begann er mit dem ersten - nicht erhalten gebliebenen - Entwurf, und zwischen September 1912 und Januar 1913 schrieb er die ersten sieben Kapitel. Doch dann widmete er sich anderen Projekten, so daß das letzte Kapitel erst im Oktober 1914, als er bereits am »Prozeß« arbeitete, fertig wurde. Der den Ort der Handlung betonende Titel der Ausgabe von 1927, »Amerika«, stammte von Max Brod, während Kafka in einem Brief an Felice Bauer vom November 1912 den Roman eindeutig »Der Verschollene « nennt und damit das ungewisse Schicksal des Helden hervorhebt.

In der Tagebucheintragung von 1911 über die Amerika-Geschichte erinnert sich Kafka, wie er bei einem Großelternbesuch - leider nennt er sein damaliges Alter nicht - an einem Roman über zwei Brüder schrieb, von denen der »gute« in einem europäischen Gefängnis blieb, während der andere nach Amerika fuhr, und ihm ein Onkel das Blatt wegnahm, es kurz ansah und zu den anderen sagte: »Das gewöhnliche Zeug«. Der Achtundzwanzigjährige bekennt, wie er durch dieses Urteil »einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt bekam« und sich »vertrieben« fühlte, ein Wort, das Karls Situation zu Beginn des »Verschollenen« antizipiert.

"Als der Sechzehnjährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.«
("As he entered New York harbor on the now slow-moving ship, Karl Rossmann, a seventeen year-old youth who had been sent to America by his poor parents because a servant girl had seduced him and borne a child by him, saw the the Statue of Liberty, which he had been observing for some time, as if in a sudden burst of sunlight. The arm with the sword now reached aloft, and about her figure blew the free winds.«)

Über diese Sätze haben die Kritiker viel Tinte vergossen, besonders über die Beschreibung der Freiheitsgöttin. Indem Kafka ihr statt einer Fackel ein Schwert in die Hand gibt, unterläuft er die realistischen Konventionen, und obwohl ein Rezensent im Mai 1913 darauf hinwies, hat Kafka diesen vermeintlichen Lapsus für die zweite Ausgabe des »Heizers«, 1916, für die er Kleinigkeiten änderte, nicht korrigiert. Das Schwert war also Absicht.

Einige Kritiker vertreten die These, Kafka verwende das amerikanische Freiheitsemblem als Sinnbild der Gerechtigkeit und das Schwert richte sich nicht gegen die vom amerikanischen Kapitalismus verursachten sozialen Ungerechtigkeiten, sondern gegen Karls Gewissen (Heinz Politzer); andere sehen in dem Schwert ein »Symbol der Gewalt«, einen Vorgriff auf Karls Kampf gegen eine unmenschliche technische Zivilisation. Und wieder andere verweisen auf die Darstellungen der Justitia in der europäischen Malerei. Kafkas Freiheitsgöttin könnte freilich auch an die Cherubim mit dem bloßen hauenden Schwert erinnern, die - jedenfalls in der einflußreichen griechischen Version der Genesis - nach der Austreibung von Adam und Eva das Tor zum Paradies bewachen. Etliche hingegen halten den Roman eher für eine Traumerzählung, wenngleich diese Lesart genausowenig zu begründen ist wie die daraus ableitbaren psychologischen Interpretationen. Im allerersten Absatz, als Karl die Statue erblickt, ist im Manuskript ein Satz gestrichen: »Er sah zu ihr auf und verwarf das über sie Gelernte.« Aus dieser geradezu postmodern anmutenden Formulierung könnte man schließen, daß Karl der Statue seine eigenen Vorstellungen oktroyiert - genau die psychologische Deutung, die Kafka auszuschließen versuchte. Und so wie Gregor Samsas Gefühl, sein Körper habe sich über Nacht auf geheimnisvolle Weise in einen Käfer verwandelt, nicht einfach als Alptraum abzutun ist, so ist auch diese surreale Freiheitsgöttin nicht ohne weiteres als subjektiver Eindruck Karl Roßmanns wegzuerklären. In der »Verwandlung« steht eindeutig: »Es war kein Traum.« Und vielleicht wollte uns Kafka durch die Plazierung der abgewandelten Statue gleich am Anfang ja auch davor warnen, die Geschichte als einen realistischen Bericht über die Erlebnisse eines jungen Mannes in Amerika aufzufassen.

Man hat viel darüber debattiert, ob Karl sich wie der Held eines Bildungsromans entwickelt. Kafka selbst sah sich in der Schuld eines großen englischen Entwicklungsromans: »David Copperfield«, und er nennt die in beiden Romanen vorkommenden Motive: »Koffergeschichte, der Beglükkende (sic!) und Bezaubernde, die niedrigen Arbeiten, die Geliebte auf dem Landgut, die schmutzigen Häuser u.a.«. Allerdings bemängelte er Dickens’ »Klötze roher Charakterisierung«, die er, der viel von Flaubert, Kleist und, trotz der kitschigen Inszenierungen, auch von den Aufführungen des jiddischen Theaters in Prag gelernt hatte, zu vermeiden wußte. An Goethes klassischen Bildungsroman »Wilhelm Meister« erinnert der »Verschollene« nur durch parodistische Anklänge, um so mehr ähnelt er »Jakob von Gunten«, dem Anti-Bildungsroman des absonderlichen Schweizer Modernisten Robert Walser über einen Menschen, der auszieht, ein Niemand zu werden.

Wie ist es zu erklären, daß Karl Roßmann, der außer ein wenig Klavierspiel kaum künstlerische oder literarische Neigungen hat, plötzlich an die »Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel« denkt? Darüber geben Kafkas Tagebücher Aufschluß, vor allem etliche Eintragungen vom Juni 1910, in denen er oder vielmehr sein halb biographisches, halb fiktionales Alter ego darüber nachsinnt, daß seine Herkunft und Erziehung ihn daran gehindert haben, sich natürlich zu entwickeln, und daß er nun dasteht mit einer »toten Braut«, womit sein ungenutztes Potential gemeint ist. Kann es sein, daß auch in Karl ein solches Potential steckt? Auf jeden Fall deuten seine Träume von künstlerischen Erfolgen auf das letzte abgeschlossene Kapitel, in dem Karl sich einer riesigen Theatertruppe anschließt, wobei eine als Engel gekleidete Frau namens Fanny ihm versichert: »Du bist ja ein Künstler.«

Die Gesellschaftskritik ist im »Verschollenen« deutlicher als sonst in Kafkas Werk. Daß Amerika für Karl ein Land ist, in dem man auf Mitleid nicht hoffen darf und wo nur die Glücklichen »ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen« scheinen, bestätigt ihm alles, was er über die Vereinigten Staaten gelesen hat. Indem Kafka hier auf die Reiseberichte verweist, aus denen er sein Wissen hatte, macht er oder jedenfalls Karl sich die scharfe Kritik am amerikanischen System zu eigen. Übrigens hielten die ersten Kommentatoren den »Verschollenen« für ausgesprochen sozialkritisch. Adorno meinte, Kafkas »hermetische« Methode dürfe nicht über seinen scharfen Blick für die ökonomischen Tendenzen hinwegtäuschen, und Wilhelm Emrich fand gar: »Der geheime ökonomische und psychologische Mechanismus dieser Gesellschaft und seine satanischen Konsequenzen werden hier schonungslos bloßgelegt.« Ob man nun so weit wie Emrich gehen möchte oder nicht, der Text hat zweifellos Momente, in denen Kafkas Sicht der amerikanischen Gesellschaft auffällige Ähnlichkeit mit der von Theodore Dreiser in »Schwester Carrie« (1900) und Edith Wharton im »Haus der Freude« (1905) hat. Wenngleich Kafkas Roman, anders als diese eher konventionellen Porträts der amerikanischen »Raubritterzeit«, eine Herausforderung an den Realismus darstellt, seziert er den amerikanischen Traum doch ebenso sarkastisch wie diese. Vom Charakter her neigt Karl nicht eben zur Selbstbeobachtung, sonst könnte er zu ähnlichen Schlüssen gelangen wie Edith Whartons Lily Bart am Ende ihres sozialen Abstiegs: »Ich habe mich mit aller Kraft bemüht – aber das Leben ist schwierig, und ich bin eine ganz nutzlose Person. Man kann kaum sagen, daß ich eine unabhängige Existenz hätte. Ich war nur eine Schraube oder ein Rädchen in der großen Maschine, die man Leben nennt, und als ich herausfiel, merkte ich, daß ich nirgends von Nutzen war.« Doch während Wharton die genaue Ursache für Lilys Tod im dunkeln läßt, bleibt Karls Schicksal ganz und gar offen.

Aber viel typischer für den Roman sind jene Passagen, in denen Kafka die abstrakte Kritik an der modernen städtischen Zivilisation in lebensvolle Gemälde umwandelt und damit die frühen Filmklassiker wie Fritz Langs »Metropolis« oder Charlie Chaplins »Moderne Zeiten« antizipiert. Nehmen wir nur die Schilderung des Telegrafensaals in der Firma von Karls Onkel, wo der rechte Arm eines Angestellten auf einem Tischchen lag, »als wäre er besonders schwer, und nur die Finger, die den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch«; oder die Szene im Hotel Occidental, wo es heißt, die Köpfe der Auskunft erteilenden Unterportiers würden so heiß, daß sie mit Wasser begossen werden müßten. Durch derartige Details verweist Kafka ja vielleicht auf Analogien zwischen der Geschäftswelt und den amerikanischen Fabriken, die er nie von innen zeigt. Allerdings konnte er sich als Angestellter einer Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, der Fabriken in ganz Böhmen besuchte, die Arbeitsbedingungen in Amerika natürlich gut vorstellen.

Schreibanfängern wird oft empfohlen, nur über das zu schreiben, was sie kennen. Diesen an sich vernünftigen Ratschlag hat Kafka bei seinem ersten Roman wohl in den Wind geschlagen. Aber immerhin hat er sich über Amerika informiert. Er las die in der »Neuen Rundschau« in Fortsetzungen abgedruckten Reportagen des ungarischen jüdischen Sozialisten Arthur Holitscher und kaufte sich auch die spätere Buchausgabe »Amerika Heute und Morgen«, und er besuchte die Vorträge des tschechischen Sozialisten František Soukup, die in dem Buch »Amerika. Eine Reihe von Bildern aus dem amerikanischen Leben« gesammelt waren. Für Holitscher und Soukup ist die alles beherrschende Profitgier schuld an der Hektik des amerikanischen Lebens, und sie wenden sich: »Gegen dies mörderische Tempo, gegen diese Hetzjagd, die nur am Grabe innehält, gegen die ganze widersinnige Tollheit des Systems.«

Kafka hat derartiges Material also durchaus verarbeitet, aber in schöpferischer Weise. Nehmen wir seine Freiheitsgöttin. Obwohl er Ellis Island nicht beschreibt, scheint er seiner Statue ein Element aus Holitschers Insel-Reportage aufgepfropft zu haben: »kein Blake vermöchte den Racheengel zu zeichnen, zu singen, der über Ellis in einer Wolke von Angst, Wimmern, Folter und Gotteslästerung thront all diese Tage, die wir im freien Land verleben«. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn Kafka sich Blakes Engel entlehnt hätte, um ihn, unter ironischer Verwendung des bei Holitscher hochsarkastischen Adjektivs »frei«, auf den Sockel der Freiheitsstatue zu stellen.

Und wenn, wie manche Kritiker meinen, das Hotel Occidental, wo Karl als Liftjunge eingestellt wird, auf das Hotel Athenäum in Chautauqua, New York, zurückgeht, dann hat Kafka Holitschers beinahe begeisterte Beschreibung dieses Grand Hotels, in dem die Liftjungen abends in der Halle mit den gutbetuchten Gästen plaudern, doch erheblich abgeschwächt. Aus dem Graduierten der Columbia Universität und jetzigen Kandidaten der Medizin, der im Athenäum als Portier arbeitet, ist eine Umkehrung der pädagogischen Mentorfigur des traditionellen Bildungsromans geworden: der völlig ausgebrannte Medizinstudent »Schwarzer Kaffee«, der Karl klarmacht, wohin es führt, wenn man Tag und Nacht arbeitet oder studiert. Und Soukups Auswandererschiff, das aussieht wie »ein Lagerhaus, in dem man Menschen wie Waren nach Amerika verfrachtet«, erinnert an die klägliche Kabine des Heizers, in der »ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp neben einander wie eingelagert standen«. Kafka fügt dem sozusagen seine ganz persönliche Note hinzu, einen Hauch von Humor, ohne dabei die Gesellschaftskritik ganz zu tilgen.

Auf seine Amerika-Lektüren spielt Kafka in einer Szene an, in der Karl sich beim Anblick des Iren Robinson erinnert, irgendwo gelesen zu haben, daß man sich in Amerika vor den Irländern hüten solle – bei Holitscher heißt es: »Diese Rasse hat nämlich in Amerika den höchstentwickelten und erfolgreichsten Typus des politischen Padrone, des Boss, Sklavenhalters und Stimmenfängers hervorgebracht« –, und er zitiert die hoffnungsvolle Frage eines Zwischendeckpassagiers: »Wie lange muß man in Amerika leben, um ein Irländer zu werden?« Wie Anthony Northey in seiner vorzüglich recherchierten Studie »Kafkas Mischpoche« berichtet, hatte Kafka Verwandte in Amerika: den Onkel Otto, wohl auch ein Vorbild für Karls Onkel Jakob, sowie einen Vetter Franz oder Frank, der wie Karl als Sechzehnjähriger auswanderte. Wie Jakob war Otto ein Selfmademan, der nach einem abenteuerlichen Leben in Südafrika und Südamerika in die USA ging, wo er schließlich reich genug wurde, um sich in Tarrytown, New York, ein Haus neben der Rockefeller Mansion zu kaufen. Im Spätherbst 1911, als Kafka am »Verschollenen« arbeitete, besuchte Otto mit seiner neuen Frau Alice Stickney, der Tochter einer damals bekannten amerikanischen Familie und vermutlich ein Vorbild für Klara Pollunder, die Verwandten im böhmischen Kolin, und wahrscheinlich erfuhr Kafka von ihnen, welchen Eindruck die beiden Amerikaner machten. Jedenfalls gab Otto gerne einen Spruch von sich, der auch gut aus dem Munde von Jakob hätte kommen können: »Wer befehlen will, muß erst gehorchen lernen.« Sachlich und selbstbewußt, wie er war, ließ er sich von keinem einschüchtern, auch nicht von Leuten mit Macht und Beziehungen. So verklagte er seinen Kompagnon, General Coleman T. Dupont (einen aus der bekannten Industriellenfamilie stammenden ehemaligen Postminister) – eine Schlagzeile in der New York World vom 29. Januar 1918 lautete: »Kafka droht Du Pont mit Prozeß« –, und ein paar Jahre später den mexikanischen Außenminister Adolfo de la Huerta. Und auch Ottos Eheprobleme kamen an die Öffentlichkeit — »Er ließ die Familie mittellos sitzen, sagt Kafkas Frau«, stand in der New York Times vom 25. November 1923.

Im September 1918 ersuchte Otto den Stellvertretenden Generalstaatsanwalt mit einer Bittschrift um Entlassung aus dem Gefängnis, wo er wegen des Verdachts der Spionage zu Unrecht einsaß. Otto Kafka sagte, er habe in Amerika als Transportarbeiter in einer Korsettfabrik mit 5 Dollar die Woche angefangen. Also ist es wohl kein Zufall, daß Karls Onkel Jakob stolz darauf ist, so viele Packträger zu haben. Doch derlei verführerische Details sind mit Vorsicht zu genießen, da biographische Quellen, angelesenes Amerika-Wissen und Fiktionen nicht immer ganz leicht zu trennen sind. Obwohl Otto sich ähnlich wie Jakob äußert, haben diese Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten doch auch fast immer etwas Gattungstypisches.

Wie von Jorge Luis Borges erkannt und wie vor allem von Robert Alter nachgewiesen, hat Kafka Karls amerikanische Abenteuer oft mit religiösen, zumal alttestamentarischen Motiven durchwirkt und für uns Leser Fragen aufgeworfen: In welchem Maße ist eine Metropole wie New York City, mit den hunderttausend »Augen« ihrer vielen, dem Turm von Babel gleichenden Wolkenkratzer den Winden und der »Unruhe« ausgesetzt, die vom Meer herüberziehen? Was sollen wir von der merkwürdigen Zugluft halten, die das riesige Landhaus bei New York durchweht, besonders in der Nähe der Kapelle, die von dem übrigen Haus abgesperrt werden soll … Wie sollen wir einen Vergleich wie diesen deuten: »als werde über der Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen«?

Doch so düster die Lage seiner Helden auch sein mag, Kafka verliert nie seinen Sinn für Humor. Zuweilen ist der Gegensatz zwischen Karls unerbittlicher Ernsthaftigkeit und den oft komischen Abenteuern, in die er hineingerät, so kraß, daß man trotz allen Mitgefühls in sich hineinlachen muß: etwa seine Dialoge mit dem Iren Robinson, die durchsetzt sind mit minutiösen Beschreibungen von dessen ekelhaften Eßmanieren, oder das Baderitual von Brunelda, einer grotesken Figur, die ihrem Wagnerschen Namen alle Ehre macht. Obendrein verursacht Karls nicht sehr ausgeprägtes Persönlichkeitsgefühl komische Zwischenfälle, man denke an die Szenen mit seinen Kumpanen Delamarche und Robinson. Und auch der Name des Dienstmädchens, das ihn verführt hat – Kafka verwendet gern sprechende Namen: Brummer –, ist treffend, aber auch beunruhigend, da Karls Nachname ja das Wort Roß enthält.

Vielleicht wundert sich der Leser über das faszinierende letzte Kapitel, das ebenfalls rätselhaft ist, zumal es im Roman direkt davor eine Lücke gibt. Nach einem kurzen Bericht über Karls Betreten eines bordellähnlichen Etablissements mit der industriemäßigen Bezeichnung Unternehmen Nummer 25 bricht die Erzählung ab, und wir befinden uns ohne jede Überleitung vor einem Plakat, auf dem ein mysteriöses Theater freie Stellen anbietet. Als Kafka sich 1914 wieder mit dem Schlußkapitel befaßte, das Brod, obwohl es im Manuskript keinen Titel hatte, »Das Naturtheater von Oklahoma« nannte, wollte er vielleicht ebenso verfahren wie beim »Prozeß«, also erst den Schluß schreiben und dann die Leerstellen auffüllen. Da ihm dies hier genausowenig gelang wie dort, werden die Leser nach diesem Kapitel, ja nach dem ganzen Roman, zu den unterschiedlichsten Interpretationen gelangen, je nachdem, welche Sinnebene sie bevorzugen: die soziale, metaphysische oder psychologische, die Apotheose oder Parodie des amerikanischen Traums und so fort. Vielleicht bringt ja auch Kafkas Spiel mit der Doppelbedeutung von »Laufbahn« anläßlich einer Diskussion über Robert Walser in einem Brief von 1909 an Direktor Eisner – er war einer seiner Vorgesetzten auf seiner ersten Stelle in der Assicurazioni Generali – Licht in seine ansonsten ziemlich dunkle Entscheidung, die Aufnahmekanzlei für das Theater von Oklahama auf einer Rennbahn einzurichten.

Kafka hatte zwei Schlußvarianten erwogen. Laut Brod wollte er den Roman versöhnlich enden lassen, und sein junger Held sollte, wie er lächelnd zu sagen pflegte, in diesem »fast grenzenlosen Theater Beruf, Freiheit, Rückhalt, ja sogar die Heimat und die Eltern wie durch paradiesischen Zauber wiederfinden«. Doch in der Tagebucheintragung vom 30. September 1915 vergleicht er ausdrücklich Karls und K.’s Schicksal: »Roßmann und K., der Schuldlose und der Schuldige, schließlich beide unterschiedslos strafweise umgebracht, der Schuldlose mit leichterer Hand, mehr zur Seite geschoben als niedergeschlagen«. In typischer Unentschiedenheit bezüglich des Endes und nach dreijähriger immer wieder unterbrochener Arbeit am Roman hat er dann irgendwann seine Pläne für Karls Schicksal geändert.

Im Kapitel über das Theater von Oklahama – der Name ist durchgängig falsch geschrieben – behauptet das »größte Theater der Welt«, alle Bewerber brauchen zu können. Aber wie glaubwürdig ist die Organisation? Wird sie Karl eine gewisse Erfüllung gewähren? Die einen sehen in dem Theater das Modell einer religiösen Erlösung, die anderen eine Gesellschaftsutopie und die dritten eine surreale Version des amerikanischen Traums. Doch wie sollen wir es verstehen, daß Karl, der seine Legitimationspapiere verloren hat, sich nun als »Negro« ausweist, mit dem Rufnamen aus seinen letzten, aber nie näher beschriebenen Stellungen? Die Bezeichnung Negro wählte Kafka mit Bedacht. Zuerst schrieb er »Leo« – vielleicht eine Anspielung auf ein Alter ego, Leopold S., das im Tagebucheintrag vom 15. August 1913 einen offenkundig autobiographischen, wiewohl rätselhaften fragmentarischen Dialog mit einer Felice S. führt –, aber ersetzte den Namen dann neun Mal durch »Negro«. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch Kafkas Bemerkung in einem Brief an Milena Jesenská vom August 1920, daß er und Milenas jüdischer Mann »das gleiche Negergesicht« hätten.

An dieser Stelle gibt es im Roman Anzeichen für eine Wende zum Besseren. So hat Karl einige verheißungsvolle Begegnungen mit Menschen aus seiner Vergangenheit – was für Kafkas angeblichen Plan für ein positives Ende spräche. Betrachtet man jedoch die Abbildung in Holitschers Amerika-Buch, ein Foto von einer Gruppe grinsender Weißer, die beim Lynchen zuschauen, mit der sarkastischen Unterschrift »Idyll aus Oklahama« (mit der derselben Schreibung wie bei Kafka), neigt man vielleicht zu einer düstereren Interpretation sowohl dieses Kapitels als auch Karls letzter Reise.

Der mehrsprachige Kafka wußte, daß Übersetzer oft konträre sprachliche und literarische Belange miteinander in Einklang bringen müssen. Zwar lobt er seine erste tschechische Übersetzerin Milena Jesenská, aber gibt ihr zu bedenken: »ob nicht Tschechen Ihnen die Treue, das was mir das Liebste an der Übersetzung ist … vorwerfen«. Erhellend sind seine Kommentare zu den ersten beiden Sätzen des Romans, die zu dessen schwierigeren Passagen gehören. Wie ist es zu verstehen, daß Karl von seinen »armen Eltern« nach Amerika geschickt wurde? Kafka war nicht glücklich mit Milenas Lösung, den Doppelsinn von »arm« durch Hinzufügen von »chudy«, das materielle Armut bezeichnet, aufzuheben und dadurch den Eindruck zu erwecken, daß Karls Eltern verarmt seien. »Arm«, erläuterte er, »hat hier auch den Nebensinn: bedauernswert, aber ohne besondere Gefühlsbetonung«. Doch könnte der Verweis auf die »armen Eltern« nicht auch ein ironischer, ja sogar sarkastischer Erzählerkommentar sein? Kafka suggeriert noch eine andere Deutung, wenn er Milena erklärt, die Wendung spiegele ebenso »ein unverstehendes Mitleid das auch Karl mit seinen Eltern hat«. Und über »die freien Lüfte«, welche die Statue umwehen, schreibt er, daß der deutsche Begriff »ein wenig großartiger« als Milenas »freie Luft« sei. Wie im Englischen ist auch im Tschechischen »Luft« nicht ohne weiteres im Plural zu verwenden – doch um die Grenzen des Übersetzens wissend, räumt Kafka ein: »aber da ist wohl kein Ausweg«.

Ich habe mich bei meiner Übersetzung für eine Wendung entschieden, die wie Milenas nicht so gehoben ist wie die deutsche, letztlich auch deshalb, weil ich das schlichte, aber klangvolle »frei« bewahren wollte. Im allgemeinen habe ich mich bemüht, die Interpretationsmöglichkeiten nicht einzuengen und Kafka auch dann zu folgen, wenn er offenbar absichtlich unbestimmt bleibt und über die Konventionen spottet. So verwendet er bei der Schilderung des Theaters von Oklahama nie direkte, eindeutige Verben wie »einstellen«, und das habe auch ich nicht getan und die englische Fassung so offen wie möglich gehalten. Das gleiche gilt für die Zeichensetzung, die viele Leser irritiert. Nach einigen Fragen setzt er ein Fragezeichen, nach anderen nicht. Hier muß man bedenken, daß er seine Manuskripte, bis auf das »Heizer«-Kapitel, nicht mehr durchgesehen hat. Aber auch aus stilistischen Gründen setzte er wenige Zeichen, und diese Sparsamkeit hat dazu beigetragen, daß seine Prosa, die so ungeheuer reich an genauen Beobachtungen ist, dennoch, wie im ersten Kapitel zu sehen, ganz wunderbar leicht dahinfließt.

Bereits der Titel, »Der Verschollene«, ist nicht genau zu übersetzen. Meine Annäherung ist »The Missing Person«, der Vermißte; er ist von typischer Kürze – substantiviertes Perfektpartizip plus bestimmter Artikel –, aber auch widersprüchlich, denn er enthält die metafiktionale Frage nach der Herkunft dieser Geschichte über einen jungen Mann, der spurlos, ja klanglos – ohne Schall, verschallen – verschwunden ist.

Max Brod hat offensichtliche Flüchtigkeitsfehler korrigiert, so die Brücke, die New York mit Boston verbindet, einen plötzlichen Währungswechsel von Dollar zu Pfund sowie Karl Roßmanns unterschiedliches Alter, sechzehn und siebzehn. Edwin und Willa Muir haben nach der Brodschen Ausgabe übersetzt. Die neueren deutschen Herausgeber dagegen haben nichts geändert, da sie einen Text vorlegen wollten, der Kafkas Fassung letzter Hand möglichst nahe kommt. Ich habe mich nach Jost Schillenheits kritischer Ausgabe gerichtet, aber einiges stillschweigend korrigiert, zum Beispiel die inkonsequente Schreibung von New York, mal zusammen, mal auseinander und mal mit Bindestrich, ebenso Hotel Occidental, das im Original meist klein geschrieben ist.

Die größte Herausforderung bestand für mich darin, daß ich einen englischen Text schaffen mußte, der anscheinend so grundverschiedene Züge zum Ausdruck bringt wie Kafkas »geradezu provozierend ›klassisches‹ Deutsch« (Reiner Stach), seine Detailgenauigkeit, seine »Springlebendigkeit« (Nicholas Murray) und sein modernistisches Festhalten an der begrenzten Sicht der Hauptfigur. Daß einige deutsche Kritiker sich am Stil des »Verschollenen« stießen – so lobte der aus Prag gebürtige Heinz Politzer den kleistisch verschachtelten ersten Satz, aber bemängelte den zweiten als »kunstlos« –, halte ich für eine Verkennung der erstaunlichen Modernität, die unter Kafkas stilistischem Konservatismus oft verborgen ist. Es liegt viel Modernes in dem ständigen Wechsel zwischen indirekten inneren Monologen und dem zurückhaltenden Erzähler, der dem Leser verstohlen zuzwinkert und dadurch auf die Ironie und den Humor aufmerksam macht, die der viel zu ernsthafte junge Romanheld ja gar nicht bemerkt.

Obwohl Brods anfangs allgemein akzeptierte Ansicht von Kafkas Werken als religiösen Allegorien nicht überdauerte, hatte er vielleicht doch nicht ganz unrecht mit der Vermutung, daß »Der Verschollene« einen neuen Weg zum Verständnis Kafkas zeigen könne und – zumindest in Amerika, wo er seltsamerweise immer noch viel zuwenig wahrgenommen wird – zu einer Würdigung dieses womöglich »amerikanischen«, aber ganz sicher spannenden Romans.

Aus dem Englischen von Heide Lipecky

SINN UND FORM 6/2008, S. 794-804