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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 5/2010

Rack, Jochen

Gespräch mit Odo Marquard. Über das Alter (2004)


JOCHEN RACK: Sie haben in Ihren philosophischen Essays immer wieder betont, daß Erfahrung für die Philosophie unersetzlich sei. Sie sind jetzt 76 und insofern durchaus qualifiziert, über das Altern zu sprechen. Wann beginnt es eigentlich?

ODO MARQUARD: Man sagt, normalerweise um die fünfzig, aber für mich ist das kein Einschnitt gewesen. Der erste Einschnitt kam schon mit 28, als ich anfing, über mein Leben nachzudenken, ein anderer war natürlich die Emeritierung mit 65. Ich habe drei Jahre vor der Zeit aufgehört, weil ich mir sagte, es wird nicht lange dauern, bis ich sterbe, und dann habe ich wenigstens vom Ruhestand noch was gehabt. Außerdem gibt es so viele gute junge Leute, die nur darauf brennen weiterzukommen. Etwa mit siebzig erfuhr ich, daß ich Altersdiabetes habe. Ich brauche zwar nicht zu spritzen – das läßt sich mit Pillen beherrschen –, aber es waren Signale, die mir zeigten, daß es nicht mehr lange weitergehen würde. Und nun bin ich ganz überrascht, daß ich schon elf Jahre im Ruhestand bin. Ich habe mich eingerichtet und mache jetzt, was ich immer gemacht habe, nur intensiver, nämlich schreiben. Das Alter bringt Probleme, aber auch Erleichterungen, und die Konzentration aufs Schriftstellerische ist sicher eine Erleichterung. Ich muß keinen Verwaltungskram und auch keine Vorlesungen mehr machen. Das waren ja keine leichten Aufgaben, im Gegenteil. Mit 65 hatte ich das Gefühl: endlich hast du gelernt, wie man Vorlesungen macht, und jetzt hörst du auf. Auch das ist ein Problem des Alters.

RACK: Sie sagten, mit 28 sei Ihnen dieses Problem zum ersten Mal aufgegangen. Das erinnert mich an Montaignes Ausspruch, philosophieren lernen heißt sterben lernen. Ist denn der Philosoph zur Pflege dieses Endlichkeitsbewußtseins besonders disponiert und erlebt er den Schock des Alters so gesehen vielleicht weniger stark?

MARQUARD: Möglicherweise ja. Montaigne sagte übrigens, Philosophieren ist sterben lernen. Aber das hat er von Platon. Ob die Philosophie an sich eine gewisse Nähe zum Alter hat? Ich würde sagen, ja, aber das trifft nicht für jede Philosophie zu. Für die analytischen Philosophen insbesondere aus dem angelsächsischen Bereich gilt das wohl eher nicht, die betonen mehr das Formale, das, was man in der Jugend macht. Ernst Tugendhat, der aus dieser Richtung kommt, ist deswegen eine interessante Ausnahme, weil er fragt, wie man diese Philosophie mit dem Sterbenlernen verbinden kann.

RACK: Platons Staatstheorie, die »Politeia«, beginnt mit einem Gespräch zwischen Sokrates und einem älteren Mann. Dieser Kephalos meint, philosophisch denken könne man erst mit fünfzig. Es scheint so zu sein, daß Philosophie mit Erfahrung verknüpft ist, insbesondere mit der Erfahrung des Alters.

MARQUARD: Aristoteles argumentierte ähnlich, aber nicht mit Bezug auf die Philosophie im allgemeinen, sondern auf die Ethik. Er meinte, erst ab vierzig könne man ethisch verantwortlich handeln, eine Position, die mir auch sehr nahe ist. Daß sie in unserer modernen Welt kein Gehör mehr findet, geht in gewisser Hinsicht auf Kant zurück. Die Grundnorm des kategorischen Imperativs gilt a priori, und a priori heißt unabhängig von aller Erfahrung. Doch wie ist Ethik ohne Lebenserfahrung möglich?

RACK: Diese Bewegung weg von der Erfahrung ist zugleich ein Aufbruch in die Moderne. Die damit verbundene Beschleunigung sowie der allgemeine Fortschrittsglaube scheinen die traditionelle Vorstellung vom Alter verändert und seine Wertschätzung verringert zu haben.

MARQUARD: Ich glaube, daß diese Diagnose der modernen Welt zwar richtig, aber unvollständig ist. Wir halten die Beschleunigung des Fortschritts und den ständigen Wechsel nicht aus, sondern brauchen als Gegengewicht eine Kultur der Kontinuität. Es wird immer mehr weggeworfen, weil etwas Neues kommt, aber es wird auch immer mehr aufbewahrt: in Museen, Büchern, anderen Medien. Während die harten Wissenschaften darauf aus sind, alles immer besser und immer neu zu machen, sammeln die Geisteswissenschaften das Ausrangierte und halten es präsent. Ich nenne das Kompensation.

RACK: In der Alterserfahrung sind eben lebensweltliche Geschichten aufgehoben, die angesichts von Rationalisierung und immer rasanterem Fortschritt Orientierung bieten. Wir wollen uns aber jetzt keine Illusionen machen und das Alter ausschließlich als Ressource von Weisheit sehen. Die Wertschätzung des Alters, die Sie einfordern, haben wir im Augenblick nicht, Frank Schirrmacher spricht sogar von Altersrassismus.

MARQUARD: Ich habe etwas gegen Versuche, die Nützlichkeit des Alters zu beweisen – da sieht man gleich den erhobenen Zeigefinger. Ich versuche mir an mir selber klarzumachen, was am Alter Elend und was Kompensation des Elends ist. Mein Lehrer Johann Ritter sprach in einem Aufsatz vom »Alter als Elend und Bürde«.

RACK: Aber er hat auf ein wichtiges Problem hingewiesen, nämlich daß Alte deshalb abgewertet werden, weil sie aus dem Arbeitsprozeß herausfallen und weil unsere Gesellschaft zwischen Berufstätigkeit und Rente einen Schnitt macht. Simone de Beauvoir hat Ritters These weiter zugespitzt. In ihrem Buch über das Alter schrieb sie, der Umstand, daß ein Mensch in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren seines Lebens nur noch Ausschuß ist, offenbare das Scheitern unserer Zivilisation.

MARQUARD: Das stimmt wohl nicht so ganz, so negativ sehe ich die Sache nicht. Im Alter wird man theoriefähig, man entwickelt eine besondere Fähigkeit zu sehen, was ist, weil man nicht mehr durch die Zukunft korrumpiert wird. Natürlich gibt es da nicht bloß Erfreuliches zu berichten, aber man gewinnt zumindest einen Überblick.

RACK: Kommen wir noch einmal auf die Kränkungen des Alters zurück, die körperliche Seite. Vor zwei Jahren hatten Sie einen Schlaganfall. Wie ist es Ihnen damit ergangen?

MARQUARD: Ich sage jetzt mal was Provozierendes. Natürlich hat ein Schlaganfall, den man einigermaßen heil übersteht, auch sein Gutes: Früher mußte ich immer überlegen, mit welcher Begründung ich die wöchentlich eingehenden Vortragsanfragen absage. Plötzlich wurde das ganz einfach. Man sagt: Ich hatte einen Schlaganfall und muß jetzt kürzertreten, ich bitte um Ihr Verständnis. Und schon ist man die Sache los. So gewinnt man unglaublich viel Zeit, auch zum Nachdenken. Ich hatte nach meinem Schlaganfall keine Lähmungen, sondern eine Aphasie und mußte zum Logopäden. Ich hatte Schwierigkeiten, mich in der jeweiligen Situation auszudrücken, weil mir bestimmte Worte nicht einfielen, und mußte eine Art Slalomtechnik entwickeln, um diese Worte zu umgehen und sie durch andere zu ersetzen. Wenn man das einmal gelernt hat, merken es die anderen kaum noch. Ich spreche heute langsamer als früher und habe sogar ein gewisses Vergnügen daran, diesen Slalom zu beherrschen. Vielleicht geht es Skifahrern genauso. Mein erster Gedanke nach dem Schlaganfall war: Meine Eltern und Großeltern sind daran gestorben, es wird wohl nicht mehr lange dauern. Das war aber eher eine nüchterne Feststellung und weckte keine besondere Angst bei mir.

RACK: Weshalb wird in unserer Gesellschaft das Alter so wenig anerkannt? Hängt das damit zusammen, daß wir den Tod nicht mehr so leicht in unser Weltbild integrieren können wie unsere religiös geprägten Eltern, die noch eine gewisse metaphysische Gewißheit hatten?

MARQUARD: Da ist sicher etwas dran. Aber ich bin auch der Meinung, daß die Zeit der aufgeklärten Moderne, die mit Religion nichts anfangen konnte, schon wieder vorbei ist. Es kommt zu einer Wiederkehr der Religionen und damit auch zu einer Öffnung für Jenseitsvorstellungen. Ich persönlich finde immer mehr Geschmack an den institutionellen Seiten der Religion, habe aber als Philosoph Schwierigkeiten mit bestimmten Sachen, beispielsweise mit dem Jenseits, mit dem Leben nach dem Tode. Ich gehöre nämlich zu den Leuten, die Auferweckungen fast nur negativ erfahren. Schon die Vorstellung, morgens oder nach dem Mittagsschlaf das Bett zu verlassen, ist bei mir negativ belegt. Wenn der liebe Gott es gut mit mir meint, wird er mir die Auferweckung im Jenseits vielleicht ersparen und mich schlafen lassen.

RACK: Der Schlaf als Bruder des Todes ist allerdings eine antike Vorstellung und keine christliche.

MARQUARD: Das stimmt.

RACK: Mit dem Tod beschäftigte sich auch ein Philosoph, dessen Denken im Widerspruch zu Ihrem steht: Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung. Für ihn war der Tod die letzte vorstellbare Utopie, ein Übergang, ein Aufbruch ins Ungewisse. Können Sie damit etwas anfangen?

MARQUARD: Ich kann viele philosophische Positionen nachvollziehen. Das bedeutet aber nicht, daß ich sie akzeptiere oder daß sie mir sympathisch sind. Blochs Prinzip Hoffnung ist für mich das Prinzip Unbelehrbarkeit. Ich halte schon den Ansatz seiner Philosophie für falsch.

RACK: Unser Denken über den Tod muß doch zwangsläufig spekulativ bleiben, weil kein Toter je zurückgekehrt ist, um davon zu berichten.

MARQUARD: Sicher, aber es gefällt mir nicht, den Tod im Sinne einer Utopie zu interpretieren. Vielleicht gehört Bloch zu jenen alten Philosophen, die im Kontakt mit Jungen noch einmal jung sein wollen. Ich nenne sie die Revoltiergreise. Marcuse war wohl auch so einer. Die Großelternrolle besteht unter anderem darin, Kindern Süßigkeiten zu geben. Wenn die Kinder größer sind, bekommen sie statt dessen süße Theorien. Das scheint mir bei Bloch und bei Marcuse das Problem zu sein.

RACK: Sie sprachen eben von der Illusionsresistenz des Alters. Das heißt doch auch, Sie wehren sich gegen die Vorstellung des Alters als Vollendung. Bei Bloch ist von »Reife«, »Weinlese« und »Kälte« die Rede, er hat die Vorstellung eines Lebenslaufes, der sich runden kann.

MARQUARD: Schön wäre es, aber ich habe meine Zweifel. Vom runden Leben ist es nicht weit zur runden Philosophie. Lieber mehrere Dinge verfolgen, die vielleicht nicht zusammenpassen, als unbedingt etwas Rundes schaffen wollen.

RACK: Das ist doch eine Zumutung für den einzelnen.

MARQUARD: Natürlich. Aber ich möchte weitergeben, wie für mich das Alter aussieht.

RACK: Das wäre ein Plädoyer für Bescheidenheit, dafür, das eigene Leben als etwas Unfertiges anzunehmen, wozu auch Scheitern und Abbrechen gehören.

MARQUARD: Man sollte davon Abstand nehmen, das Lebensende als Ziel zu betrachten. Es ist mehr Ende als Ziel.

SINN UND FORM 5/2010, S. 611-614