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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-16-4

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Leseprobe aus Heft 2/2014

Hartwig, Julia

Wohin gehöre ich
Amerikanische Gedichte


DIESER SONNENUNTERGANG

Dieser unvergleichliche Sonnenuntergang, dargebracht im täglichen Opfer.
Ite missa est. Der Tag ist vorüber. Der dunkelnde Ozean empfängt die Hostie.
Vögel, kluge Vögel, sagt, wo ich bin.
Im Fegefeuer des Nichtseins. Am Steilufer der Hoffnung.

(1971–74)


WACHEN AN DER BUCHT

Sie schlief ein aber selbst im Schlaf spülte der Ozean Sand an und rauschte
von allen Farben entblößt so wie sie ihn meist bei Tagesanbruch sah
Der Wind rüttelte an der Tür und schlug an die Fensterläden
Auf dem Stuhl ein hingeworfener Band mit Schauergeschichten
und die Zeitung mit dem aufmerksam studierten Polizeibericht
Die Furcht wohnte in ihr
wie ein Stein den noch immer Wasserrauschen umspült
Eine Frau mit offenem Haar
und im fußlangen Arbeitsrock
verbrennt Laub vom letzten Jahr das sie achtsam zur Mitte des Feuers kehrt

In ihrem Rücken der Ozean
Er versucht sie bei jeder Ebbe mit sich zu reißen
als wäre sie die Geisel eines geheimen
in der Vergangenheit geschlossenen Pakts
Mit dem Ozean leben heißt leben zwischen der täglichen Angst
und der Angst die wie ein unter den Wellen verborgener Fels
die Ablagerungen der seit Jahrtausenden von Ozean
Wind riesigen Fischen und Vögeln herangetragenen Ängste erkennen läßt
Aber jeder muß sich irgendwann einem Element hingeben
ihm Treue schwören
Warum nur wußte ich nicht daß der Ozean schon dort war
vor dem Fenster meines alten Hauses
Muß man deshalb bis ans andere Ende der Welt fahren
ans gegenüberliegende Ufer

(1970–74)


WIE DEN ORT EHREN

Ein Schriftzug markiert die hier verlaufende Wasserscheide
zwischen Pazifik und Atlantik
Ein Fluß der in dieser Gegend entspringt
muß sich gut überlegen
welchem der beiden Ozeane er angehören will
zu welcher Mutter er sich bekennt
in wessen Schlund er für immer verschwinden
und seinen Namen verlieren will

Wie diesen einzigartigen Ort ehren
mit einem Schrei mit Stille
Ich stehe auf der Wasserscheide
wie auf dem Rücken eines breitbeinigen Bisons
den die Sonne blendet Die Fluten des Regens
fließen an seinen zwei glänzenden Seiten hinab

Ich aber
wohin gehöre ich

(1979)


STÄDTISCHES WIEGENLIED

Abend in der Stadt Die Bahnsteige glänzen
die Subway ist randvoll beladen
mit Müdigkeit und Schlaf
auf die Sichtschutzzäune malt jemand nachts
kämpfend ineinander verschlungene Lettern

Hinter dir Schritte in der dunklen Straße
nachmittags eine Schießerei in der Bar
das leuchtende Chrom der Auslagen und Glassplitter
der Rettungswagen verschluckt ächzend die Trage
unter der graubraunen Decke eine reglose weiße Gestalt

Von oben schauen spottende Wolkenkratzer auf uns herab
ihnen vertrauen wir uns zur Nachtruhe an
in den Schlaf wiegt uns das Brummen des Ventilators
der mit den Flügeln schlagende metallene Vogel

Frühmorgens wecken uns von der Straße Sirenen
und die Kräne stecken ihre Köpfe ins Fenster
die weißglühende Sonne blendet wie Quecksilber
aber du findest keinen Schutz unter dem Baum
der abgenagt ist wie das Skelett eines Fisches

Gehe vorwärts spute dich einsamer Passant
hinter dir der spöttische Schatten
in dir die blutende Zeit

(1983)


SCHWARZER COMIC

Shine ist ein kleiner schwarzer Junge aus einem Comic
Seine besondere Eigenschaft ist die Unsterblichkeit
Wenn Shine unsterblich ist
muß sein Vater dann sterben
Ja alle anderen sterben
nur Shine ist unsterblich
Jetzt fliegt er einen Düsenjäger
und seine Geschwindigkeit
übertrifft alle bisherigen Rekorde

Neben mir sitzt ein junger Schwarzer
er hört eine Vorlesung über schwarze Literatur
Auf dem Pult vor ihm die zerknitterte Cellophan-Hülle
eines Stücks Rocky-Road-Schokolade aus dem Automaten
eine zerrissene Kekspackung
und ein zerknüllter Cola-Pappbecher
Er lauscht so gebannt daß sein Mund die Wörter nachformt
die der Dozent spricht
man kann den Blick kaum von seinem lebhaften Gesicht abwenden

Der Dozent liest jetzt das Gedicht einer schwarzen Dichterin vor
es handelt von einem samstäglichen Fest in ihrem Elternhaus im Süden
Die Mutter hat Brot gebacken ein alter Phonograph spielt
die Kinder tanzen und springen festlich gekleidet umher
die Großmutter steht lächelnd mit dem Braten in der Tür
der kranke Großvater stützt sich in seinem Holzbett auf die Ellbogen
und bewegt den Kopf im Takt der Musik

Den Studenten gefällt das Gedicht sie klatschen Beifall
Aber jetzt ist wieder die Rede von Shine
dem mythischen Comichelden
Der junge Student in der Aula weiß er ist Shine
und alles woran er denkt ist möglich

(1970–1974)


GLÜCK

Ein Sonntag nachmittag
Über dem East River das graue Netz des Himmels
und kreisende Möwen
Eine alte Frau setzt sich auf eine Bank
und stemmt die Fersen der starr ausgestreckten Beine in den Boden
Wonne Der Sonntag gleitet dahin wie ein Motorboot
und versprüht silbernes Licht
Ein Schwarzer mit Hut regt sich auf
Liza läßt immer alles fallen
und jetzt muß man Schlüssel Notizbuch Schminke
aus dem Laub sammeln
Die alte Frau döst mit offenen Augen
Der Anblick des Flusses und der Passanten
fällt in sie hinein wie in einen vergessenen Briefkasten
Ach welche Wonne
Nichts ängstigt sie sie muß nirgends hineilen
der Wind zaust sanft das graue Haar über der Stirn

(1986)


GEDANKEN ÜBER DEM BUCH EINES JUNGEN DICHTERS

Das Zimmermädchen wird sich am Morgen wundern
wenn es neben dem Hotelbett dieses Buch findet
denn ich werde es wohl hierlassen
weil meine Koffer schon randvoll gepackt sind
Ich wäge aber trotzdem noch einmal die Last des Bandes
gegen das Gewicht der darin enthaltenen Gedichte
Er ist ja in seinen Versuchen wahrhaftig
wenn ich trotz der Julihitze
an den Schneeregen im November glaubte
der ihn nach dem Verlust seines Mädchens in die Bar trieb
und an den Morgen an dem er plötzlich begriff
wie wenig ihm sein Elternhaus noch bedeutete
also packte er seine Sachen und verließ es für immer
Später lebte er von Gelegenheitsjobs
lebte schnell und erwachte am Boden der Gleichgültigkeit
mit dem Wunsch einzuschlafen und nie mehr zu erwachen
all das hat er bestimmt nicht aus einem fremden Leben gestohlen
auch nicht die Gedichte aus fremden Gedichten
Ist das nicht Grund genug das Buch zu behalten?
Loslassen war noch nie meine Stärke
alles was mir begegnet trage ich in mir
wie etwas Hinterlegtes das auf den verspäteten Besitzer wartet
Vielleicht haben ja diejenigen recht
die sich leicht von allem Überflüssigen befreien
und direkt auf ihr Ziel zusteuern
Sie lachen bestimmt über mein Abwägen

(1979)


EMILY DICKINSON

Zwei kurze Strophen Beide lassen sich notieren
zwischen dem Aufschlagen der Eier fürs Omelett und dem Erhitzen der Pfanne
Die Inspiration kam von Sonntagspredigten
vom Duft des Klees und von Grabinschriften
Ich bin Niemand – schrieb sie morgens am Fenster
vor dem wie ein Vorhang der Nebel Neuenglands sich senkte
von den rostroten Eichen des Herbstes
Diejenigen die deine Notizen fanden
wußten nicht was sie damit anfangen sollten so viele waren es
Man nahm die Meisterwerke heraus
wie Kastanien aus dem Feuer

(1990)


ZUM ENTSATZ

Allein, allein! Ich bin glücklich allein!
– ruft der Dichter William Carlos Williams während er nackt vor dem Spiegel tanzt
Glücklich allein! Aber oben im Hinterzimmer
schlafen seine Frau Kathleen das Kind und das junge Kindermädchen
alle bereit herbeizueilen
wenn er nur nach ihnen riefe

(1997)


BEIM ÜBERSETZEN DER WERKE AMERIKANISCHER DICHTER

Umzüge wie diese gefallen ihnen bestimmt nicht
aus Long Island Santa Barbara oder dem Buchladen Lightning House in
San Francisco
aus der Trapperhütte am klaren Fluß in Pate Valley
aus den Betten in denen sie noch halb schlafend liegen
aus verrauchten Tavernen und Klubs
aus Motels wo sie nach einem Tagesmarsch durch ein sumpfiges Tal müde
die Stiefel abstreifen
von der abgelegenen Farm in Missouri aus dem wohlhabenden Haus inWashington
aus der Nachtbar in New York
und sie rebellieren jetzt gegen die unerbetene Umsiedelung
nach Osteuropa von dem sie so wenig wissen
obwohl ja nicht ihr selbst zu uns kamt sondern nur eure Gedichte
und ihr wißt nicht welch warmer Empfang ihnen zuteil wurde
aus Gründen die ich nur raten kann ohne ganz sicher zu sein:
weil ihr in ihnen eure Sorgen und eure Eitelkeiten respektiert
eure Krankheiten und eure Lächerlichkeiten eure Autos und eure Blumen
eure Reisen und die unterwegs gesammelten Landschaften
euren Haß auf die großen Städte und das Berauschtsein von ihnen
Chicago New York New Orleans Golden Gate und Brooklyn Bridge
Namen von denen europäische Schuljungen seit Jahren träumten
verbunden mit der Hoffnung auf große Veränderungen und Ruhm
und genau das ist die Mitgift die ihr beisteuert
in Gedichten die nicht auf Größe zielen sondern den Alltag zeigen
mit den Augen eines Farmers Neurasthenikers und Hypochonders
einer vom Leben trunkenen Nymphomanin und Landstreicherin
oder eines von einer Gang von Fehlschlägen und Unglücken Verfolgten
eines auf seine Demokratie Stolzen der ihren Mißbrauch verdammt
Wie großartig wenn man frei ist sein Land zu betrachten
wie einen Menschen dessen Vorzüge und Schwächen man ohne Furcht
erörtern kann

(1998)


BEGEGNUNG

Der Brooklyn Park ist erfüllt
von Seidenkaftanen und schwarzen Hüten
Unter den blühenden Bäumen
ziehen sie im Kreis ihrer Familien ruhig und gesammelt vorbei
wie in einem geträumten langsamen Film
Es sind gerade die Feiertage
Passover
Festlich gekleidete Kinder
junge Männer und kleine Buben mit Kippas
auf hellem und dunklem Haar
Mädchen in festlichen Kleidern
in denen sie aussehen wie englische Königskinder
Meine schönen Juden! Ich betrachte euch durch die Folie meines eigenen Lebens
in dem auch eure Geschichte enthalten war
Ich sah euch ganz anders
getrieben durch die Straßen von Lublin und Warschau
in der schlimmsten Zeit der Vernichtung
Euch hier zu sehen
wie ihr sicher zwischen Blüten und Grün spaziert
ist für einen Zeugen jener Tage ein tröstlicher Anblick

(1998)

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann


SINN UND FORM 2/2014, S. 196-202