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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-19-5

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Leseprobe aus Heft 5/2014

Peter, Carmina

»eine lebendige Statue des Schmerzes»
Über M. Blecher


 

I

Als der Militärarzt und Dichter Saşa Pană im Frühjahr 1936 in die moldauische Provinz versetzt wird, nutzt er die Gelegenheit zu einem seit langem ersehnten Besuch und legt einen Zwischenaufenthalt in der Kleinstadt Roman ein. Der unermüdliche Verfechter der Bukarester Avantgarde ist nicht der einzige, den es an den unscheinbaren Ort im Nordosten Rumäniens zieht. Seit zu Jahresbeginn »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, das außergewöhnliche Prosabuch des jungen Autors M. Blecher, erschienen ist, pilgern Bukarester Schriftsteller in das Provinzstädtchen. Der in Roman aufgewachsene Blecher hatte die Stimmungen und die Abgelegenheit der Kleinstadt als Erfahrungsräume moderner Befindlichkeiten literarisch in Szene gesetzt. Seit 1934 lebt der Schwerkranke in einer einsamen Gegend am Stadtrand, wo er sich eine ungewöhnliche Lebens- und Arbeitsstätte geschaffen hat.

Blecher leidet an Knochentuberkulose und ist seit Jahren an ein fahrbares Rollbett gefesselt. Das malerische Haus mit Veranda und verwildertem Obstgarten, das er mit väterlicher Unterstützung erworben hat, vereint die Vorzüge eines Schweizer Sanatoriums mit der Vertrautheit der familiären Umgebung. Hier »am Rand der Welt«, wo allein Trompetenrufe der nahegelegenen Regimenter die Stille durchbrechen, schreibt er seine Prosa voll Empfindungsintensität und Wahrnehmungsunruhe. Auch der 1936 erscheinende Roman »Vernarbte Herzen« und das Sanatoriumstagebuch »Beleuchtete Höhle«, das Saşa Pană 1971 posthum herausgibt, entstehen hier. Gelegentlich empfängt Blecher Vertreter der Bukarester Literaturszene: Pană, Miron Grindea, Mihail Sebastian und den geliebten Geo Bogza, den er 1934 in der Gebirgsstadt Braşov kennenlernt und mit dem ihn fortan eine enge Freundschaft verbindet. Unter den zahlreichen literarischen Zeugnissen der Besucher sticht besonders Panăs Porträt hervor, das sich von der Betroffenheit des unmittelbaren Eindrucks löst - vielleicht auch weil es wiederholt bearbeitet und aus der Erinnerung überformt wurde. »Bleich« und »schön«, »wie eine lebendige Statue des Schmerzes« in ungewöhnlicher Körperhaltung auf dem Bett liegend, erscheint Blecher hier als das bewegende und zugleich kuriose Bild eines Schriftstellers bei der Arbeit: »Auf den kleinen Tischen rechts und links vom Bett türmten sich, soweit die elfenbeinernen Hände greifen konnten, eben erschienene gute Bücher und die allerneuesten Zeitschriften, die ihm Freunde aus dem Ausland zukommen ließen.« »Er lehnte ein Brett mit schräg angeschnittenen Stützbeinen gegen die Knie und hielt – in der gleichen Stellung, in der er schlief und seine Mahlzeiten einnahm – das Buch oder das Heft.« »Ein Leben in der immer gleichen Position: auf dem Rücken liegend, die Knie zu einem umgedrehten W versteinert.« ("Cu inima lângă M. Blecher«, Im Herzen bei M. Blecher, 1947) Wie ein unbeweglicher Schreibakrobat wirkt der kranke Autor in Panăs Darstellung, als wollte sich der Bukarester Surrealist Blechers unpathetischen Blick auf seine Krankheit zu eigen machen. Das Porträt erinnert an die traurige Faszination für jene Jahrmarktskünstler in »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, die artistisches Kapital aus ihren körperlichen Mängeln schlagen. Auf dem Jahrmarkt vereinigen sich für Blecher die Sehnsüchte der Welt: »Den ganzen Tag hindurch lief ich über den Jahrmarkt und vor allem über das angrenzende Feld, wo die Artisten und die Monster aus den Buden sich struppig und verdreckt um den Kessel mit dem Maisbrei versammelten, herabgestiegen von ihren schönen Dekors und ihrem nächtlichen Akrobatendasein als Damen ohne Unterleib und Sirenen in die allgemeine Sauce und das Elend ihrer unverrückbaren Menschlichkeit.« Blecher läßt seife- und steineschluckende hagere Alte auftreten, Mädchen, die ihre zarten Körper verrenken, einen Artisten mit künstlichem Kehlkopf, der unnachahmlich Zigarettenrauch durch den Hals ausatmet. Für Mitleid ist der Jahrmarkt nicht der rechte Ort. In das Staunen über Blechers Artisten mischen sich aber Erschrecken und Verblüffung, denn in ihren Darbietungen zeigt sich der Zwiespalt des Leibs in seiner Begrenzung und seinem Vermögen, in seiner Hinfälligkeit und seiner Schöpferkraft. Der Körper wird nicht auf seine Gebrechen reduziert, vielmehr werden diese zum Ausgangspunkt einer sonderbaren Artistik, die Grenzen und Mängel der Physis ästhetisch transzendiert. Diese Kunst der gegen sich selbst gerichteten Körper steht sinnbildlich für M. Blechers autobiographische Poetik.

 

II

1909 in Botoşani geboren, gehört Max Blecher, der bis 1934 Beiträge gelegentlich unter Pseudonym veröffentlicht, zu einer Generation rumänischer Intellektueller, die ihr Bewußtsein in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren theoretisch zu erkunden versuchen. Mircea Eliade betont in »Intinerariu spiritual« ("Geistiger Wegweiser«, 1927) den unbändigen Durst nach Erfahrung, und N. Steinhardt erinnert sich später fast wehmütig an eine Generation im »Aufruhr des Daseins«, »voller Rastlosigkeit, Hoffnung und erregter Eile« ("Geo Bogza: un poet al efectelor, exaltării, grandiosului, solemnităţii, exuberanţei şi patetismului«, »Geo Bogza, ein Dichter der Wirkungseffekte«, 1982). In der Enge der rumänischen Provinz stößt der schöpferische Drang jedoch schnell an Grenzen. Roman ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Beteiligt sich Blecher als Gymnasiast noch mit jugendlichem Elan am kulturellen Leben der Kreishauptstadt und verfaßt Filmrezensionen für die Lokalzeitschrift, so zeigt er sich später von der Kleingeistigkeit seiner Mitbürger regelrecht abgestoßen: »Wenn es das Schreiben nicht gäbe, hätte mein Leben keinen Sinn, denn was sich jenseits davon abspielt, erscheint mir uninteressant, reiz- und zusammenhanglos, die Menschen, denen ich hier begegne, sind stupide, banal, ohne Leidenschaft, es sind lebendige Tote, ganz besonders diese Kleinbürger, die ich so gut kenne und die mir unerträglich sind«, schreibt er am 7. Juli 1935 an Geo Bogza. Vom kulturellen Phlegma der Provinzstadt berichtet auch Miron Grindea, der spätere Herausgeber der Londoner Exilzeitschrift »Adam«. Bei einem Besuch in Roman 1937 wundert er sich darüber, daß der Ruf des Dichters Blecher noch immer hinter dem des angesehenen Vaters zurückgeblieben ist.

Wie Franz Kafka und Bruno Schulz stammt auch Blecher aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Der Vater hat eine kleine Terrakottafabrik geerbt und betreibt im Zentrum der Kleinstadt, wo die Familie seit Generationen ansässig ist, ein Geschäft mit Porzellan- und Glaswaren. Nach dem Gymnasialabschluß bereitet sich der junge Blecher auf das Medizinstudium vor. Mit dem Gesetz zur Einbürgerung der Juden 1923 werden die rumänischen Universitäten zunehmend zum Schauplatz antisemitischer Diskriminierungen und Gewaltakte. Mihail Sebastian schildert diese beklemmenden Umstände in seinem Tagebuch-Roman »Seit zweitausend Jahren« und löst damit 1934 den vielleicht größten Skandal der rumänischen Literaturgeschichte aus. Sie dürften auch eine Rolle gespielt haben, als sich Blecher für einen Studienort im Ausland entscheidet. Viele jüdisch-rumänische Schriftsteller leben und arbeiten zu diesem Zeitpunkt bereits in den westeuropäischen Metropolen. Insbesondere Tristan Tzaras und Benjamin Fondanes Paris wird zum Sehnsuchtsort für ihre Generationsgenossen. 1929 bricht Blecher mit einem Jugendfreund nach Paris auf. Letztlich schreibt er sich jedoch an der medizinischen Fakultät in Rouen ein. Nur wenige Monate später gibt ein Arztbesuch seinem Leben eine radikale Wendung. Als er seine immer wiederkehrenden Rückenschmerzen untersuchen läßt, erhält er die Diagnose Knochentuberkulose. Die Ärzte empfehlen einen Aufenthalt in Berck-sur-Mer, einer Sanatorienstadt an der französischen Ärmelkanal-Küste. Für den jungen Blecher beginnt eine Reise ins Ungewisse durch verschiedene europäische Kurorte: Berck, das schweizerische Leysin, Tekirghiol am Schwarzen Meer, das transsilvanische Braşov.

 

III

Als Blecher 1929 in Berck eintrifft, hat die späte Blütezeit der Sanatorien bereits begonnen. Fünf Jahre zuvor hatte Thomas Mann im »Zauberberg« die Lebenswelt der Tuberkulose-Kranken zum symbolischen Ort des Untergangs einer Kulturepoche gemacht. In der Topographie der Moderne wird das Sanatorium zur Flucht- und Verweilstätte einer geschäftigen Bevölkerung, der in den großstädtischen Agglomerationen die Luft zu knapp geworden ist. Das Fischerdorf Berck entwickelt sich, nachdem Kaiserin Eugénie 1868 hier das Maritime Krankenhaus zur Behandlung der auch »Pott’sche Krankheit« genannten Knochentuberkulose gegründet hat, zu einem florierenden Kurort, der Kranke wie Touristen beherbergt. Doch Berck ist kein Ableger des mondänen Davos, die Krankheit prägt das Erscheinungsbild der Stadt. Bei der Knochentuberkulose handelt es sich um eine bakterielle Entzündung insbesondere der Wirbelsäule, die in chronischen Phasen zu Eiterbildung und zur Zerstörung der Knochensubstanz führt. Zu Blechers Zeiten wird sie durch Eingipsung und komplette Ruhigstellung der betroffenen Körperteile behandelt. Man glaubt, die orthopädische Behandlung durch Sonnen- und Meeresluftkuren unterstützen zu können. In dieser malerischen Szenerie ist der Patient zu monatelanger Unbeweglichkeit verurteilt.

Ein Schnappschuß, aufgenommen an der Küste von Berck, zeigt den in einer Spezialkutsche liegenden, elegant gekleideten Blecher. Den linken Arm hat er unter dem Kopf angewinkelt, was lässig aussehen könnte, wäre da nicht die Anspannung der gesamten Körperhaltung. Vor dem Gespann steht aufrecht die Mutter, Bella Blecher. Sie wirkt befremdet, als wolle sie jeden Anschein von Müßiggang vermeiden. Diese Fotografie gibt einen Einblick in die verkehrte Welt der Krankenstadt, die Blecher später mit großer Wahrnehmungsschärfe und Sinn für das Groteske ausgestaltet. Das »Leben in der Horizontale« wird zum Hauptgegenstand seiner literarischen Reflexionen, zum Zeichen für die Kontingenz des Daseins, das alle Denk- und Verhaltensgewohnheiten in Frage stellt. Wie einem insolite quotidien, einer ausgefallenen Alltäglichkeit werden seine Figuren dieser unheimlichen Realität der Körper begegnen und ihr Menschsein in der kaum auszuhaltenden Spannung zwischen Gipspuppe und närrischem Pojaz, zwischen lebendiger Statue und Akrobat wiederfinden.

 

IV

 

Während der Bercker Jahre von 1929 bis 1933 gewinnen Blechers literarische Bemühungen zunehmend an Kontur. Von Beginn an gilt sein Interesse den Ästhetiken des Modernismus und der Avantgarden. Die ersten, 1929 in Berck-Plage verfaßten Krankenporträts »Herrant« und »Don Jazz« veröffentlicht er in Tudor Arghezis satirischer Zeitschrift »Bilete de papagal«. Das in Rumänien einzigartige Miniaturblatt steht für ästhetische Originalität, Nonkonformismus und Experimentierfreude und ist daher das geeignete Publikationsorgan für Prosaskizzen, die ein ausgeprägtes Bewußtsein für Spracheffekte verraten. Blecher bringt verblüffende Vergleiche, spart konkrete Details aus oder verfremdet sie. Der Kranke ist eine bizarre Figur, die nicht wegen ihres Leidens, sondern als unbegreifliche, paradoxe Erscheinung ästhetisch interessant ist. Damit beginnt seine Auseinandersetzung mit der Krankheit im Medium der Sprache. Später, im Porträt »Jenică« (1933) oder in der literarischen Reportage »Berck, Stadt der Verdammten« (1934), wird er auch zu empathisch-ironischen Betrachtungen finden.

Noch bevor seine ersten Prosaminiaturen erscheinen, findet Blecher in Berck Anschluß an den Surrealismus. 1931 begegnet er dem gleichaltrigen Dichter Pierre Minet, einer schillernden Figur aus dem Kreis um die Zeitschrift »Le Grand Jeu«. In einem Tagebucheintrag beschreibt Minet, wie eng für Blecher die Krankheit mit der ästhetischen Suche zusammenhängt. Worüber Blecher auch nachdenke – ob über die Poesie oder über die Philosophie Nietzsches –, im Grunde gehe es ihm stets um die Auswirkungen der Krankheit auf sein Bewußtsein und seine Gefühlswelt; er verstricke sich andauernd in Widersprüche, mache aus schwarz weiß und aus weiß schwarz. Es ist kein schmeichelhaftes, aber ein erkenntnisreiches Porträt. Vor allem eins vermutet Minet hinter Blechers verzweifelten Denkanstrengungen, nämlich den Willen, die zerstörerischen Folgen der Krankheit abzuwehren und sich selbst nicht aufzugeben: »Er diszipliniert sich, um sich nicht zu verlieren (eine lauernde, tödliche Gefahr)«. Diesen Eindruck bestätigt auch der rumänische Avantgardedichter Bogza, Blechers engster Freund und literarischer Weggefährte, der für ihn sogar in die Rolle des Literaturagenten schlüpft. Wie kein anderer nimmt er am Leben und Schaffen des ans Bett Gefesselten Anteil und schreibt ihm zahlreiche Briefe, aus denen dieser in seiner Isolation Kraft schöpft. Für Bogza ist bereits das erste Prosabuch des Freundes, »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, in dem die Krankheit nur eine untergeordnete Rolle spielt, von einer Art Revolte gegen die biologischen Gegebenheiten bestimmt. Blecher gibt an keiner Stelle seines Werks der Versuchung nach, dem physischen Leid eine Sinndimension abzugewinnen, im Gegenteil. In »Beleuchtete Höhle« ächtet er es als angebliche Quelle schöpferischer Inspiration. Er nimmt die surrealen Aspekte der Welt der Tuberkulosekranken in den Blick und hält die Erinnerung daran gleichsam auf Distanz. Schreiben ist bei ihm stets Einübung in eine unpersönliche Betrachtung der Krankheit. Davon zeugt schon sein antipathetischer Stil. Auch in Zeiten größter Verzweiflung, in denen die Resignation in seinen Briefen deutlich zum Ausdruck kommt, lotet sein fiktionales Ich die Grenzen zwischen Traum, Wirklichkeit und Erinnerung aus und behält sich das Recht vor, das Pathos der Existenz auf der »inneren Bühne« mit imaginären Gummitierchen zu brechen , die Akrobatenkunststücke und komische Salti machen: »Es bleibt sich mithin gleich, ob wir nun träumen oder leben. (…) Wenn wir dann trotzdem versuchen würden zu glauben, die Tatsachen seien von uns unabhängig, reichte es, in einem tragischen Moment die Augen zu schließen, um eine so strikte und hermetische innere Unabhängigkeit vorzufinden, daß wir darin jede Erinnerung, jeden Gedanken und jedes Bild, alles, was uns beliebt, plazieren zu können.« Bis zuletzt bekunden seine literarischen Ich-Figuren eine ungebrochene Faszination für die »leicht verrückte« Wirklichkeitsbetrachtung »aus einer gewissen Distanz außerhalb der Realität« (Beleuchtete Höhle, 2008), die das persönliche Leidensschicksal hinter sich läßt.

 

SINN UND FORM 5/2014, S. 658-663