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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-20-1

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Leseprobe aus Heft 6/2014

Hartmann, Sadakichi

Im Land der Düfte


Leser moderner Literatur stutzen sicher öfters angesichts der ständigen Bemerkungen zum Einfluß von Gerüchen auf das menschliche Gefühlsleben und zur Möglichkeit, die Parfümkunde zu einer Kunst mit Anspruch zu erheben. Die Andeutungen der Schriftsteller sind zu spekulativ, als daß sie praktischen Wert hätten. Zumeist sind es bloß persönliche, durch den Genuß eines Parfüms entstandene Eindrücke oder vage Ideen, wie man dieses neue ästhetische Wirkungsfeld entwickeln könnte. Sie zeigen lediglich, daß es in fast allen Ländern ernstzunehmende Geister gibt, nach deren Ansicht der Geruchssinn künstlerische wie intellektuelle Aufgaben übernehmen kann.

Von einem ähnlichen Glauben getrieben, habe ich das Problem vor einigen Jahren in Angriff genommen und mich bemüht, durch private Versuche und gelegentliche Experimente im Freundeskreis zu praktischen Schlußfolgerungen zu kommen. Die wissenschaftliche Literatur war dabei wenig hilfreich, da die Schriften über die Geruchsphysiologie von Bernstein, Vintschgau, Cloquet und Ramsay – um nur die wichtigsten zu nennen – vornehmlich die physischen Grundlagen von Gerüchen und vergleichende Studien über die Geruchsorgane und die chemische Zusammensetzung von geruchsbildenden Substanzen behandeln, aber nicht die ästhetischen Möglichkeiten untersuchen.

Der einzige Beitrag, der dieses Thema ernsthaft behandelt, ist die »Toiletten-Chemie« (Chimie des parfums et fabrication des essences, odeurs, bouquets et eaux composées, émulsions, pâtes, teintures, pommades, dentifrices, poudres etc.) von Dr. Septimus Piesse, dem französischen Chemiker, der das »Octophone « erfand: eine Skala von vierundsechzig verschiedenen Gerüchen, die so angeordnet sind, daß sie mit je einer Note auf dem Klavier korrespondieren. Die Gerüche sind komplementär und können zu Harmonien komponiert werden wie Töne zu einem Akkord. Für den Parfümeur ist das Octophone eine wertvolle, quasi wissenschaftliche Orientierungshilfe, denn man muß nur einen Akkord auf dem Klavier anschlagen und wissen, welche Gerüche die Noten des Akkords repräsentieren, um einen Vorschlag für eine neue Duftnote zu erhalten. Für ästhetische Experimente ist dieses System aber nur von geringem Wert. Die Affinität zwischen Klängen und Gerüchen ist rein spekulativer Natur. Obgleich nicht abzustreiten ist, daß das tiefste E auf der Tastatur mit dem schweren, fast aufdringlichen Geruch von Patschuli korrespondiert und das dreigestrichene F mit dem weichen, aber durchdringenden Aroma von Zibet, sind so klare Übereinstimmungen für die Mehrzahl der von Dr. Piesse für seine Skala ausgewählten Duftsubstanzen unmöglich festzustellen. Ihre Beziehung zu den korrespondierenden Noten beruht ausschließlich auf Gutdünken.

Es ist offensichtlich, daß die Kunst der Duftmischung nur dann perfektioniert werden kann, wenn ihre poetische Wirksamkeit auf den physiologischen Eigenschaften des Geruchssinns beruht, und nicht auf für andere Künste gültigen Gesetzen. Das begriff ich eines Tages, als ich verschiedene neue Kompositionen ausprobierte. Die Luft war mit dem schweren, extrem stechenden Duft konzentrierter Nelke gesättigt, und der erste Eindruck, den ich davon empfing, war in seiner Aufdringlichkeit fast überwältigend. Seltsamerweise vergingen nur wenige Minuten, bis mir die duftgeschwängerte Luft absolut geruchlos erschien. Als ich weitere, mit anderen Destillaten gefüllte Flaschen öffnete (weniger stark als die der konzentrierten Nelke), konnte ich die unterschiedlichen Gerüche zu meinem großen Erstaunen klar voneinander unterscheiden. Ich hatte erwartet, daß meine Geruchsnerven für alle anderen Eindrücke abgestumpft wären.

Diese Erfahrung machte mich mit drei wichtigen physiologischen Tatsachen vertraut: 1. Der erste Moment des Kontakts mit einem Geruch ist immer der intensivste. 2. Sogar die durchdringendsten Gerüche sind für die Riechschleimhaut schon nach wenigen Minuten nicht mehr wahrzunehmen (im Gegensatz zur Seh- und zur Hörempfindung, die so lange angesprochen werden, wie die Sinneseindrücke fortbestehen). 3. Verschiedene Gerüche, die sich in derselben Atmosphäre entfalten, vermischen sich nie, sondern machen sich, je nach spezifischer Schwere und vorherrschenden Luftbewegungen, von Zeit zu Zeit bemerkbar.

Die Unfähigkeit der Nasenschleimhäute, mehr als einen Geruch auf einmal wahrzunehmen, schließt alle Versuche aus, ein Publikum mehreren Düften gleichzeitig auszusetzen. Ästhetisches Vergnügen im Bereich der Düfte kann vorerst nur durch eine Abfolge einzelner Geruchsstoffe bereitet werden, die so gestaltet ist, daß die Sequenz eine künstlerisch geformte, entfernt an eine Melodie erinnernde Einheit bildet. Abgemildert werden kann die Monotonie einer festen Reihenfolge durch Kontraste, Wiederholungen in verschiedenen Intensitätsgraden, Rhythmisierung und die allmähliche Herbeiführung einer Klimax.

Nachdem ich eine hinreichende Theorie aufgestellt hatte, begann ich mit meinen Experimenten. Meine Instrumente waren Zerstäuber mit luftdruckbetriebenen Aufsätzen, die den Duftnebel knapp neun Fuß weit versprühten, sowie Verdampfer (wie sie für medizinische Inhalationen verwendet werden) mit duftgetränkten Schwämmen. Diese eignen sich nach meiner Erfahrung für Räume, in denen ein bis zwei Dutzend Personen bequem Platz finden. Weitere Einzelheiten des Mechanismus spare ich hier aus. Mein Material umfaßte die wichtigsten Standarddüfte, aus Parfümerien bekannte ätherische Öle und Tinkturen, aber auch Balsame, chemische Verbindungen wie Cumarin, natürliche Zutaten wie Muskatblüte und verschiedene flüssige Duftstoffe, darunter ein nach Bananen riechender Lack. Bisweilen benutzte ich die Öle und Tinkturen pur, wie sie im Großhandel angeboten werden, meist verdünnte ich sie aber mit Alkohol. All diese Stoffe gehörten naturgemäß zur Klasse der angenehmen Gerüche, denn mein Vorsatz war, ausschließlich Gefühle ästhetischer Art auszulösen, nicht etwa so elementare wie Bedrückung, Furcht und religiöse Ergebenheit, die das Verbrennen von Talg, Fleisch und Weihrauch hervorrufen kann – charakteristische Empfindungen jedes antiken Opferrituals. Mein erstes Ziel war herauszufinden, wie der Geruchssinn auf eine schnelle Abfolge von Eindrücken reagieren würde.

Durch verschiedene Experimente entdeckte ich, daß es unmöglich war, in einem gewöhnlichen Raum zehn oder elf für je zweiminütige Intervalle erzeugte Düfte klar zu unterscheiden, wenn nicht ein natürlicher Luftzug oder eine eigene Einrichtung zur Luftreinigung vorhanden war. Die ersten drei verdampften Duftstoffe wurden in etwa fünfeinhalb Metern Entfernung nach fünfundvierzig Sekunden (im Durchschnitt) wahrgenommen; bei den folgenden dauerte es etwas länger, aber kaum mehr als achtzig Sekunden. Nach dem elften Parfüm hatten die verschiedenen dufttragenden Schichten die Raumluft so angereichert, daß es über zwei Minuten dauerte, bis wieder eine Veränderung bemerkt wurde, und selbst dann war gelegentliches, die Nasengänge reinigendes Schniefen notwendig, um eine gewisse Intensität wahrnehmen zu können.

Bei hinreichender Belüftung können fünfzehn bis sechzehn Gerüche unterschieden werden, danach sind die Schleimhäute überreizt und bedürfen einer beachtlichen Ruhezeit, bevor sie feinerer Differenzierungen wieder fähig sind. Strychnin, mit Zucker versetzt und als Schnupftabak eingenommen, verlängert die Empfänglichkeit der Geruchsnerven, kann jedoch nicht empfohlen werden.

Mit einem Zerstäuber verlief das Experiment weniger erfolgreich; der versprühte Duftstoff ist zu flüchtig, und obwohl er kraftvoller und damit plötzlicher auf die Schleimhaut trifft, reizt er die Nervenenden der Nasenschleimhaut nicht in gleicher Weise wie Verdunstetes. Wäßriger Dampf gibt allen Duftpartikeln bekanntermaßen mehr Kraft, wie sich leicht an Blumenbeeten beobachten läßt, die weitaus stärker riechen, sobald Sonnenstrahlen die von Regen oder Tau akkumulierte Feuchtigkeit des Bodens zerstäuben.

Diese Experimente können nur mit Gerüchen vorgenommen werden, die sich stark unterscheiden, und davon gibt es wenige. Die meisten sind zu subtil, als daß man den Wechsel merken würde. Orangen- und Magnolienblüten machen fast denselben Eindruck, und vergleichsweise wenige Menschen können zwischen Verbene und Zitrone oder Menthol und Tonkabohnen unterscheiden. Unter den zweihundert mir bekannten Duftsubstanzen – es gibt viel mehr – habe ich weniger als zehn Prozent mit einer ganz eigenen Note gefunden. Dazu gehören die wohlbekannten Gerüche Moschus, Zibet, Patschuli, Geranie, Bittermandel, Bergamotte, Wintergrün, Rosmarin, Veilchen, Tuberose, Wacholder und Nelke. Und selbst diese erkennt man nicht sofort, denn es gibt unzählige andere, die ihnen erstaunlich ähneln. Thymian und Majoran riechen wie Wacholder, Sandelholz erinnert mich an Patschuli. Zitrone und Verbene haben viel von Bergamotte. Kein Geruchsapparat kann Rosmarin von Lavendel unterscheiden, wenn sie aufeinanderfolgen, und nur wenn Lavendel zuerst kommt, scheint Rosmarin zwar ähnlich, aber durchdringender zu riechen. In einer künstlerischen Darbietung muß man darauf achten, die süßen und delikaten Parfüms zur Einführung zu wählen, die mittelschweren zur Entwicklung des Themas zu nutzen und die schärfsten und schwersten Düfte bis zuletzt aufzuheben, da sie die Eigenheiten der anderen auslöschen. Dem Kanonendonner vergleichbar, der unsere Ohren für leisere Töne taub macht, wirken purer Moschus und Patschuli lange nach und monopolisieren die Empfänglichkeit der Schleimhäute für mindestens zwei oder drei Minuten.

Nachdem wir die grundsätzlichen Schwierigkeiten untersucht haben, die mit der sukzessiven Abgabe von Duftstoffen einhergehen, können wir uns nun der emotionalen Wirkung widmen, die dadurch erzielt wird.

Die Suggestivkraft von Gerüchen ist verblüffend. Der Geruchssinn ist der emotionalste aller menschlichen Sinne. Rascher als jeder andere ruft er Gefühle und intellektuelle Assoziationen hervor, sorgt für augenblickliche Erleichterung von den prosaischen Pflichten des Lebens und erweckt Empfindungen unmittelbaren und interesselosen Wohlgefallens.

[…]

 

SINN UND FORM 6/2014, S. 750-759, hier S. 750-753

 

Aus dem Englischen von Elisa Primavera-Lévy