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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-47-8

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Leseprobe aus Heft 3/2019

Dieckmann, Friedrich

Fontanes Lücken


Fontane hat mich in jungen Jahren irritiert. »Schach von Wuthenow« gab den Anlaß, der Roman kam mir an zentraler Stelle mißlungen vor. Kürzlich habe ich abermals nach dem Buch gegriffen, neugierig darauf, ob sich der Eindruck von einst erneuern werde, und wirklich, wie einst an der Oberschule kam mir die Geschichte, deren Umschlagspunkt, die Peripetie, in der Achse des Buches durch eine Auslassung bezeichnet ist, realiter verfehlt und künstlerisch ausflüchtig vor. War dieses Aussparen des Delikaten, das sowohl das Unbegreifliche wie das Unaussprechliche war, ein Ausfluß jener stillen gesellschaftlichen Zensur gewesen, die die Leser der Zeitungen und Zeitschriften, auf deren Vorabdruck der Autor angewiesen war, über sein Schreiben verhängten, oder überstieg die Darstellung ebenso wie die Motivierung des Vorgangs (ein ebenso schöner wie schönheitsversessener Offizier verführt bei einer Zufallsgelegenheit die blatternarbige Tochter einer begehrenswerten Mutter) die epischen Mittel eines Autors, der, im geistreich parlierenden Dialog zu Hause, keine Sprache für einen solchen Überfall des Kreatürlichen besaß?

Am Ende mochte beides zusammenkommen, um die Lücke zu bewirken. Fontane, der Theaterkritiker, ist als Epiker ein Antidramatiker, der nach dem Plot greift, damit die Geschichte einen Kern bekommt, der diesen Plot, wenn es um seine Darstellung geht, aber der Vorstellungskraft des Lesers anheimstellt, der sich das Unerklärliche als geschehen zusammenreimen muß. Ähnlich geschieht es in »Effi Briest« und noch andernorts und ist charakteristisch für beide, den Autor und die Gesellschaft, in der er und für die er schreibt. Beide haben keine Sprache für das Kreatürlich-Elementare, das inkommensurabel Hervorbrechende, weil sie keine dafür haben dürfen; Dezenz spart den Raum des Unbeschreiblichen aus.

So könnte man denken und vergäße dabei, daß Fontane jene Leerstellen gleichsam symbolisch setzt, für die Schwäche der von ihm beschriebenen Gesellschaft und derer, die in ihren Normen befangen sind. Die Lücken, die er an charakteristischen Stellen läßt, stellen dieses Symbolhafte sicher; würde er sie beschreibend ausfüllen, wäre ihr Zeichenhaftes ästhetisch geschwächt. Diese Figuren erliegen dem Über-Ich der Konvention nicht, weil sie an diese glauben, sondern weil sie – und damit »die Gesellschaft« – übermächtig ist, auch in ihrem Innern. Sei es in »Schach von Wuthenow « die aufgeklärte Frau von Carayon, die zum König geht, um den Rittmeister zur Ehe mit ihrer Tochter zu zwingen, sei es in »Effi Briest« der aus dem Brieffund im Sekretär seiner Frau wider besseres Wissen die Duell-Notwendigkeit ableitende Ehemann oder in »Stine« der liberale Onkel, der dem die Näherin zur Ehe begehrenden Neffen die gesellschaftliche Ausstoßung ankündigt, worauf dieser, ein tapferer Offizier, sich bedacht erschießt – der Unentrinnbarkeit der gesellschaftlichen Norm unterliegen gerade die, welche sich zuvor plaudernd-geistreich ihrer Unabhängigkeit versichert hatten. Auf die Probe der Realität gestellt, erweist sich diese als haltlos. So zivil diese Fälle im einzelnen sind: Der Mann fällt darin allemal auf dem Feld der Ehre, im Duell oder von eigener Hand, die Frauen aber schwinden dahin, falls nicht, wie im phantastischen Falle des sich unmittelbar nach der erzwungenen Heirat erschießenden Rittmeisters v. Schach, dem irrationalen Schäferstündchen ein gesunder Knabe entspringt.

Die innere Widerstandslosigkeit gegenüber dem drohenden oder dem verhängten gesellschaftlichen Makel ist auch auf seiten der Frauen symbolisch gesetzt; das zeigt sich an der »realen« Effi Briest (auch hier hatte Fontane nach dem Leben, also nach einer wirklichen Geschichte gearbeitet), die, ihrer Kinder beraubt, nach der Verstoßung durch den adligen Gatten keineswegs wie ihr Gegenbild im Roman vor sich hin kümmerte, sondern eine berufstätige Existenz begründete, die der Hohlheit männlicher Normergebenheit einen emanzipatorischen Eigensinn entgegensetzte. Eben das konnte und wollte Fontane im Roman nicht gebrauchen, es hätte die Energien des Widerspruchs, die er im Leser wecken wollte, auf die Figur übertragen und damit abgeschwächt. Dieser sollte lieber mit dem Verfasser und der von ihm geschaffenen Figur hadern, als sich am schönen Beispiel – der Ausnahme statt der Regel – zu genügen. Brecht hat zwei Generationen später die Frage, warum die Courage in seinem Stück nichts lernt, mit dem Satz beantwortet: »Der Zuschauer soll lernen.«

Hier liegt das Geheimnis der Irritation, die Fontanes Gesellschaftsromane damals und auch heute noch zu erregen wissen. Das Lebensferne und Lebensfremde der gesellschaftlichen Normen, denen sich die Eliten des wilhelminischen Preußens unterwarfen, sollte in der Widerstandslosigkeit, mit der seine Figuren den Tod einem Leben außerhalb der etablierten Gesellschaft vorziehen, kenntlich werden; mit künstlerisch-immanenten Mitteln war so das Defizit bezeichnet, an dem das glorreich emporgestiegene preußisch-deutsche Reich nach nur zwei Generationen unterging; seine politische Gestalt hieß Reformunfähigkeit. Dem mitteldeutschen Rumpfpreußen, das aus seinem Untergang hervorging, sollte es unter anders hierarchischen Verhältnissen ähnlich ergehen. Doch an jede Gesellschaft, nicht nur an die hierarchisch durchdrungene, ergehen die Fragen, die Mahnungen, die Fontanes Romane an die preußische stellten. Moralvorstellungen, die sich von der Lebenswirklichkeit ablösen und, blind ihre Geltung behauptend, die sozialen Strukturen immer mehr unterhöhlen, sind keine Spezialität illiberaler Ordnungen.

Der Romanautor, der in seinem letzten Werk, dem »Stechlin«, alles Plotmäßige von sich tat und im Dialog zweier älterer Herren das Parlando der Lebenserfahrung spielen ließ, ist der eine, der spätere Fontane. Ihm geht der Flaneur voran, der das eigene Land episch durchstreifende Wandersmann mit seinem wissenden Blick für dessen Bewohner und für eine Geschichte, die ihm an immer neuen Geschichten aufgeht. In frühen und späteren Jahren: Stets ist der Lyriker und der Briefschreiber am Werk. Ein Wort, das er im Blick auf Adolph Menzel geprägt hat, daß »erst der Fleiß das Genie« mache, ist wie auf ihn selbst gemünzt.

Fontane der Lyriker – auch er will immer wieder entdeckt sein, von den englischen Balladen, in denen die dramatischen Momente, auch die erotischen, keinesfalls ausgespart sind, bis hin zu jenen Altersgedichten in Knittelversen, in denen Welt- und Selbsterkenntnis wie beiläufig das Wort nimmt. Parlando auch hier, mit spielendem Witz, wissender Melancholie, einer ausgefeilten Sprachkunst. Entdeckt sein will das Gesamtwerk, das mit den »Wanderungen« des Vierzigjährigen in das Stadium der Reife eintritt; es ist ein Ganzes in denkbar reichen Facetten. Fontane hat einem Preußen, das zwei Generationen nach dem tiefen Fall von 1806 aufs neue in die Weltgeschichte eintrat, in Vers und Prosa ein Gesicht gegeben, das fernab aller offiziellen Ruhmredigkeit lag. In seinen späteren Jahren registrierte er die Anzeichen des Niedergangs; er selbst ist der Hermundure, der sich – »Veränderungen in der Mark« heißt das Gedicht von 1890 – von Odin Urlaub erbittet, um in Berlin nach dem Rechten zu sehen, und, zurückkehrend nach seinen Eindrücken befragt, antwortet: »Gott, ist die Gegend ’runtergekommen.«

An aller Welt Enden ist sein Ruhm dabei nicht gedrungen; er schrieb »Verzeiht« über ein Gedicht, in dem er mit dem Understatement, das seine Spezialität war, den »Weitsprung« verschwor:

Der faßt es so, der anders an,
Man muß nur wollen, was man kann;
Mir würde der Weitsprung nicht gelingen,
So blieb ich denn bei den näheren Dingen.

Die näheren Dinge, das sind die betreffenden, die überdauernden; so kommt es, daß dieser Zweihundertjährige, dem Heinrich Mann attestierte, daß er den modernen Roman »für Deutschland erfunden, verwirklicht [und] auch gleich vollendet« habe, trotz des Abstands der Zeiten fast wie ein Mitlebender zu uns spricht, und das nicht, weil die Straßennamen noch oder wieder die alten sind: Behrenstraße und Gendarmenmarkt, Wilhelmstraße und

Unter den Linden. Sollte auch in der Situation, die er im Alter an Preußen wahrnahm, etwas Bezügliches stecken? Deutschland hat sich nach einer Niederlage, die viel schlimmer noch als die preußische von 1806 war, aufs neue zu einer Weltgeltung erhoben, die es selbst manchmal gar nicht wahrhaben mag und durch ein besonders musterhaftes Verhalten glaubt rechtfertigen zu müssen. Das Fatale ist, daß man mit einer völlig konträren Haltung denselben Fehler machen kann wie mit der Überspanntheit, in der Fontane die Keime des preußischen Untergangs erkannte. Das Verbindende zwischen beiden ist der Mangel an Selbstbewußtsein.

SINN UND FORM 3/2019, S. 424-426