Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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Eastlake, William
- 6/1982 | Der Tod des Adlers
Ebersbach, Volker
- 6/1980 | Dichtung der Azteken
- 1/1981 | Vergil oder Die Dialektik von Mythos und Geschichte
- 4/1983 | Ovid oder die Willkür in der Gnade
- 6/1986 | Aphorismen
Ebert, Carl
Ebert, Gertie
Ebert, Günter
- 5/1969 | Wirkung und Wagnis. Zum Wer Helmut Sakowskis
- 3/1972 | Poesie oder Dokumentation?
- 1/1975 | Handlung weit im Hinterland
- 4/1979 | Meinungen zu Claus Träger, »Revolution und Literatur bei Marx«
Ebert, Rumiana
- 6/2019 | Gefundenes Vergessen. Gedichte
Eckardt, Hans-Georg
- 1/1988 | Meinungen zu einem Streit - Im Schnellgang überwinden?
Eckart, Gabriele
- 2/1978 | Gedichte aus der DDR
- 2/1982 | Onkel Benno
- 5/1983 | Gedichte
- 2/1984 | Zwei Tonbandprotokolle aus dem »Havelobst«
- 4/1986 | Frankreich heißt Jeanne
- 5/1990 | Der Alte
- 4/1992 | Kamikaze-Kid oder Ein Vietnam-Veteran
Eckart, Nora
- 6/1990 | Sich Selbst als Ziel - Philippe Soupault
Eckenfelder, Ute
- 4/2017 | Aus heidnischen Tiefen. Gedichte
- 5/2019 | Lose Schatten. Gedichte
- 3/2021 | Am Rande des Kraters. Gedichte
- 1/2023 | Im Garten des Wissens. Gedichte
Eckert, Nora
- 6/2018 | Büchners ungeschriebene Theatertheorie
Eco, Umberto
- 2/1986 | Gespräch mit Mario Fusco
Edl, Elisabeth
- 1/1996 | Die Cahiers von Simone Weil
Edlund, Marten
- 2/1950 | Gustav
Edwards, Jorge
- 5/2004 | Erinnerungen an Pablo Neruda
- 2/2005 | Gespräch mit Joachim Meinert
- 2/2005 | Persona non grata
- 4/2006 | Das Zeitalter der Briefe und andere Betrachtungen, S. 205 Leseprobe
Edwards, Jorge
Das Zeitalter der Briefe und andere Betrachtungen
Das Zeitalter der Briefe
Die Kommunikation zwischen den Schriftstellern unserer Sprache war, wie wir bei einem literarischen Treffen feststellten, in den Sechzigern und Anfang der Siebziger viel besser als jetzt. Weshalb? Einer von mehreren Gründen liegt darin, daß es ergiebiger war, Briefe zu schreiben, als bloß zu telefonieren, zu mailen und was der Neuheiten mehr sind. Man erhielt und schrieb Briefe, manchmal mit Verspätung, oft in trägem Rhythmus, und doch war das Resultat in bezug auf Information, Freundschaftspflege, Nachdenken und Kritik dem heutigen überlegen. Wir in Chile wußten, wer die Schriftsteller in Argentinien, Peru, Mexiko und Uruguay waren. Hin und wieder traten wir auch mit denen in Spanien in Verbindung. Oder mit den Lateinamerikanern, die in Paris und anderen Städten der Welt vor Anker gegangen waren. Heute führt der Überfluß an Kommunikationsmitteln zu Kommunikationsmangel. Die Fülle der Medien, Bücher, Dinge erzeugt Armut: geistige Verarmung und ein armseliges Leben. Einen Brief zu schreiben hieß einstmals sich zurückzuziehen, zu sammeln, mit ein wenig Stille zu umgeben. Es war ein kreativer Akt, man betrat eine private Sphäre. Die tägliche Post wurde begierig, ja neugierig gesichtet. Heute sehe ich die Post auf dem Flurtisch und halte nicht einmal inne, um sie zu lesen. Sie besteht fast nur aus Werbung, Informationen von Banken und allerlei obskuren Institutionen sowie Einladungen zu Veranstaltungen, die ich mit Sicherheit nicht besuchen werde. Alle verkünden mir in emphatischem Stil Neuigkeiten, die mich kein bißchen interessieren.
Auf einem Kolloquium sprach der chilenische Lyriker Óscar Hahn kürzlich von der technischen Dehumanisierung. Die Funktion von Dichtung und Kunst bestehe darin, daß das echte Kunstwerk, das gute Gedicht, der anspruchsvolle Roman die letzten Zufluchten des Menschlichen bilden, Fluchtburgen gegen den Ansturm des Unmenschlichen, dem wir unablässig ausgesetzt sind. Ich meine, daß eine dieser Zufluchten vor nicht allzu langer Zeit das Genre des Briefes war. Gustave Flaubert zum Beispiel schrieb während der Jahre, in denen er an »Madame Bovary« saß, allabendlich an Louise Colet, seine Geliebte in Paris. Diese nach einem endlosen Arbeitstag niedergeschriebenen Episteln gaben ihm Gelegenheit, sich auszusprechen, seine Gedanken zu ordnen, Bilanz zu ziehen. Wer wissen will, was ein Roman ist, der lese aufmerksam diese Briefe. Auf dem Tiefpunkt berufsbedingter Deformation könnten wir sogar meinen, Flauberts Korrespondenz sei, als Korpus, als außergewöhnliches und einzigartiges Ganzes genommen, besser als sein eigentliches Werk. Das ist natürlich übertrieben. Doch sind die Briefe eine beachtliche literarische Schöpfung, die dasjenige ergänzen und bereichern, was man den Hauptstrang eines Werkes nennen könnte. Ein anderer Autor, der bemerkenswerte, amüsante, scharfe, oft mit einer kleinen Dosis Gift versehene Briefe schrieb, war Stendhal, Henri Beyle. Er unterzeichnete sie mit den verschiedensten Namen oder Spitznamen, da er ein unverbesserlicher Scherzbold und Mythenerfinder war, der sogar gefährlich werden konnte. In der erotischen Weltliteratur gehören James Joyces Briefe an seine Frau Nora zum Außerordentlichsten und Extravagantesten, das je zu Papier gebracht wurde. Joyce eiferte Rabelais und seinem Landsmann Jonathan Swift nach. Er war ein Mann, der bis an Grenzen ging, in gemeinhin verbotene Gefilde vordrang. In seinen Briefen an Nora finden wir eine erstaunliche Mischung aus Zärtlichkeit, Fleischeslust, ja Zoten. Er schrieb wie ein inspiriertes Schwein, das auch eine engelhafte Seite hat.
Tatsache ist, daß wir in der verflossenen Epoche des Briefeschreibens viel mehr von unseren Berufsgenossen, von den Menschen unserer Generation wußten. Ich erhielt damals, in Gestalt der Briefe von José Donoso, Jaime Laso, Jorge Sanhueza, ständig Nachrichten über die Welt und die Literatur. Als ich dann nach Paris übersiedelte und auf indirekte Weise, hinter den Kulissen, beobachten konnte, wie der sogenannte Boom des lateinamerikanischen Romans einsetzte, fand ich in der Post Sendungen von Mario Vargas Llosa, Julio Cortázar, Carlos Barral und Cristián Huneeus, der damals im englischen Cambridge studierte und an einer Dissertation über Joseph Conrad saß. Zahlreiche Zuschriften, meistens solidarisch, manchmal kritisch, bekam ich, nachdem ich »Persona non grata« veröffentlicht hatte, also Anfang 1974. Bald darauf wurde das Zeitalter der Briefe durch das des Telefonierens abgelöst, und damit begann, so scheint mir, der Abstieg. Vom Telefonieren gingen wir zum Faxen über, Faxe sind so etwas wie Pseudobriefe, und von da zum Mailen. Mails sind stets in Eile geschrieben, ohne Syntax, ja ohne Orthographie und oft voller Viren, welche der Lepra ähneln. So sind wir von den schönen Briefen früherer Zeiten zu einer leprösen Kommunikation gelangt, und dabei bilden sich manche Leute ein, wir hätten Fortschritte gemacht. Ich erkläre mit allem Nachdruck, daß wir keineswegs vorangekommen, sondern große Schritte rückwärts gegangen sind. Der Verfall des Briefeschreibens, der traditionellen Post, ist Symptom und Sinnbild einer tristen Realität.
Ich erinnere mich an Post, die voller Überraschungen steckte, an Schreiben, die poetische Objekte verkörperten, an lyrische Episteln, Briefe voll schwarzen Humors oder in allen Farben des Regenbogens. Jorge Sanhueza, dem man im Literaturbetrieb allenthalben begegnete und der doch nie ein Buch vollendete, war ein außerordentlicher Briefschreiber. Wären wir ein Land der Kultur, hätte man die ausgewählte oder vollständige Korrespondenz von Jorge, den wir alle nur Keke nannten, längst herausgegeben. Ein anderer großer Briefschreiber war Luis Oyarzún Peña, er füllte Blatt um Blatt mit seiner regelmäßigen, winzigen Schrift, zart wie Fliegenbeinchen. Lucho schilderte mir in zwei bemerkenswerten langen Briefen, die mit normaler Luftpost von Valdivia nach Paris gelangten, das geistige Klima, das während der Unidad Popular in der extremen Linken und der extremen Rechten herrschte. Heute würde sich kein Mensch diese scheinbar unnütze Mühe machen. Briefe gehören zu einer Zeit, als die Literatur noch weit davon entfernt war, lediglich eine Ware unter vielen zu sein. Briefeschreiben war ein schöner, uneigennütziger Zeitvertreib, eine Übung in Freiheit und Freundschaft.
Stets amüsant waren die Schreiben von Pablo Neruda, obwohl er für gewöhnlich schwer erfüllbare Wünsche äußerte. Neruda frönte dem abscheulichen Laster der Sammelwut. Mit Begeisterung häufte er allen möglichen Krimskrams an, und wir, seine Freunde, waren die bevorzugten Opfer dieser seltsamen Neigung. Einmal schrieb er mir einen langen Brief, in dem er mich bat, das Village Suisse, einen etwas besseren Flohmarkt in der Nähe des Eiffelturms, aufzusuchen und zwei schottische Regimentstrommeln zu erstehen. Die wären teuer, warnte er, aber ich sollte nicht feilschen, weil sonst die Gefahr bestünde, sie nie mehr zu ergattern. Am Rand hatte er verschiedene Trommeln skizziert. Manche waren durchgestrichen mit dem Hinweis: »die nicht«, andere unterstrichen, weil gewünscht. Ich übernahm den Auftrag, fragte im angegebenen Laden und suchte im ganzen Village Suisse, dann mußte ich ihm mitteilen, die entsprechenden Regimenter seien aufgelöst worden, die berühmten Trommeln auf immer verschwunden. Zur Antwort schrieb der Dichter, diese hallten immerfort in seinem Herzen nach, mit feierlich-traurigem Wirbel. Es war wie eine Klage aus der »Barkarole« oder einem anderen Gedicht aus »Aufenthalt auf Erden«.
Ich könnte von den Liebesbriefen erzählen, die ich in den langen Sommermonaten meiner Jugend- und Knabenjahre bekam, von manchem Geheimbriefchen, von einer Nachricht, die mit einer gezeichneten Schnecke begann. Eine Schreiberin versicherte mir, sie habe ihre Epistel auf einem Baumwipfel verfaßt. Es war ein furchtloses modernes Mädchen, das Albert Camus und Simone de Beauvoir las, ich hatte keinen Grund, ihre Behauptung anzuzweifeln. Jetzt, da ich mich dem vorgerückten Alter nähere, komme ich mir wie eine Reliquie aus der Epoche der Korrespondenz vor, ein allerletzter Briefschreiber. Anfang 1971 frühstückte ich im Quartier Latin mit Graham Greene, dem Autor von »Das Herz aller Dinge« und anderen Meisterwerken, und mit Cristián Casanova, dessen Romane zwar voll guter Absichten waren, aber nicht an die des englischen Schriftstellers heranreichten. Nach jener Begegnung korrespondierte ich mit Greene. Neben der Literatur verband uns damals hauptsächlich das Thema Kuba. Ich war jedesmal überrascht, wie rasch er meine Briefe beantwortete. Die Schriftsteller seiner Zeit waren zuverlässige Briefpartner. In Greenes Briefkopf stand eine Adresse im französischen Hafenstädtchen Antibes, sie lautete, wenn ich nicht irre, Quai aux Fleurs. Ein paar Briefe von Greene zu besitzen, dringliche Aufträge von Neruda, mit Zeichnungen verzierte Episteln von Keke Sanhueza, dazu das Liebesbriefchen eines Mädchens, geschrieben im Gezweig eines Baums, mit Blick auf das Meer im Süden Chiles – das alles hat sich gelohnt. Hätten wir damals schon Mail und Internet gehabt, wäre das alles unvorstellbar gewesen.
Vier Briefe an Jorge Edwards
Salvador Reyes
Athen, 27. Januar 1952
Lieber Freund,
wie zum Teufel bringen Sie es nur fertig – als ob nichts dabei wäre –, so tief in die Empfindungen einzudringen, die Figuren unter die Lupe zu nehmen und im Leser so starke Gemütsbewegungen hervorzurufen? »Gente de la ciudad« hat mich zauberhafte Momente genießen lassen. Ich mag das ganze Buch, doch vor allem »Cielo de los domingos« und »Rosaura«. Ich glaube, wir alle finden uns wieder in Doña Celinda, an jenen hellen, leeren Sonntagen in harmloser häuslicher Einsamkeit, welche dennoch die schreckliche und absolute Einsamkeit des Lebens ist.
Vor allem aber »Rosaura«. Mit welch unglaublicher Einfachheit Sie alle ihre Enttäuschungen resümieren. Das ist erlebt, und ich habe es mit Ihnen in der Wirklichkeit des Geschriebenen erlebt, die ja die wahre ist. Warum haben Sie später nicht mehr nach Rosaura gesucht? Warum habe ich nicht nach meinen Rosauras gesucht? Es hat mich wütend gemacht, auf Sie und auf mich.
Wenn inmitten der Dummheit und der Schulmeisterei im chilenischen Geistesleben noch eine Spur Geschmack übrig ist, muß Ihr Buch ein großer Erfolg werden.
Wann kommt ein Roman? Sie sind mehr als reif dafür.
Ich gratuliere Ihnen aufrichtig und danke Ihnen, daß Sie sich meiner erinnert haben, um mir Ihr Buch zu schicken.
Mit herzlichen Grüßen
Salvador Reyes
P. S. Ich schreibe Ihnen ins Ministerium, weil ich Ihre Privatadresse verlegt
habe.
Casilla 3674
Valparaiso (Chile)
14. Juni 1963
Lieber Jorge:
Die verstummten Trommeln hallen in mir nach und versetzen mich in schmerzenden Pessimismus. Das Hinscheiden des »Ruedo Ibérico« war diesen toten Trommeln zuzuschreiben. Claudio hat mir jetzt eine gute Nachricht verkündet. Er hat die Trommel, ohne die kein Leben möglich ist, auf dem Grunde des Loch Ness entdeckt.
Modus operandi: beiliegend findest Du eine Vollmacht, um meine restlichen Honorare bei Gallimard abzuheben. In Absprache mit dem genannten Véliz und sofern die Summe den Zwecken entspricht, wirst Du Claudio durch Vermittlung Profumos oder seiner Schönen oder über sonst einen Kanal einen angemessenen Betrag zukommen lassen. Es scheint, daß er die Trommelsache übernehmen wird.
Lieber Jorge: in Paris wird ein Buch von mir, auf spanisch, zum Verkauf angeboten.
Es heißt »Sumario« und war ich weiß nicht wo ausgestellt. Es ist ein drucktechnisches Meisterwerk. Obwohl ich kein Honorar dafür bekomme, bin ich daran interessiert, daß die Exemplare dieser von dem großen italienischen Drucker Alberto Tallone hergestellten Edition verkauft werden. Der einzige, der Dir sagen kann, wo es verkauft wird, ist der italienische Kulturattaché in Paris.
Ich sage Dir das, damit Du es Lesern von mir, denen Du unterwegs begegnest, empfiehlst. Wir sind begierig, Neuigkeiten, auch von der Familie, zu hören. Übrigens möchte ich, daß Du uns einen Deiner schalkhaften Briefe schenkst, die wir sofort zerreißen, aber auf immer in Erinnerung behalten.
Es umarmt dich
Pablo
Mario Vargas Llosa
Lima, 7. Juli 1966
Lieber Jorge,
ich habe es geschafft, Dir eine Ansichtskarte mit Rothäuten aus einem Nest in Colorado zu schicken, durch das wir auf dem Wege nach San Francisco mit dem Bus fuhren, aber ich bezweifle, daß Du sie erhältst, weil ich die Adresse nicht richtig angegeben habe. Wir waren ein paar Tage in New York auf dem PEN-Kongreß, eine riesige, langweilige Veranstaltung, dauernd Cocktails und Picknicks und Dinners, die Patricia und ich systematisch mieden. Das einzig Amüsante war die New Yorker Apotheose Nerudas, die fast eine sozialistische Revolution im Yankee-Paradies ausgelöst hat. Der erlauchte Dichter wandelte mit einem Gefolge von Kameraleuten, Fotografen und Autogrammjägern umher; er veranstaltete Lesungen vor großem, frenetisch begeistertem Publikum; seine Übersetzer küßten ihm die Hand auf dem Podium, und alle PEN-Gewaltigen widmeten sich der Aufgabe, ihm zu Diensten zu sein und ihn nachzuahmen. Dieser Erfolg war dem Romancier Sábato unerträglich, welcher 48 Stunden nach seiner Ankunft in New York nach Argentinien heimkehrte, von Neid zerfressen. Er zerrüttete auch die Nerven Nicanor Parras, der sich den ganzen Kongreß über in seinem Hotelzimmer verkroch, und wenn er sporadisch einmal daraus auftauchte, sah man ihn bärtig und schweigsam, deprimiert und neurotisch. Ebenfalls in New York waren der sympathische Martínez Moreno, Onetti (der wie eine Romanfigur von Onetti wirkt), Emir, der seine brandneue Zeitschrift verteilte (sie erschien mir miserabel, und Dir?) … Ich glaube, Schriftstellerkongresse sind eine Dummheit, nur dazu nutze, das Schlimmste zu zeigen, was Schriftsteller an sich haben (besser gesagt, was wir an uns haben).
Ich bin erst gestern abend in Lima angekommen, packe aber gleich wieder meine Koffer, um sofort aus diesem Loch zu verschwinden. Wir müssen zum Monatsende in Buenos Aires sein wegen des Primera Plana, und von da reisen wir nach Europa, direkt nach London, denn es wäre sehr schwierig, mit der Macht des Schicksals auf dem Buckel weitere Zwischenstationen einzulegen. Don Álvaro ist in diesem Monat noch dicker geworden und hat sagenhaft zugenommen, und wenn wir nicht bald abreisen, fürchte ich, daß sie uns im Flugzeug wegen seiner strammen Figur einen zusätzlichen Sitz berechnen. Ich weiß nicht, was wir nach der Ankunft in London machen, vielleicht kannst Du mir behilflich sein. Es sieht so aus, als ob wegen der Fußballweltmeisterschaft im perfiden Albion derzeit kein Hotelzimmer zu bekommen ist. Sind die Véliz immer noch dort? Ich habe seine Adresse nicht, um ihn zu bitten, uns bei der Suche nach einer nicht gar zu teuren Pension oder einem kleinen Apartment zu helfen. Könntest Du ihm ein paar Zeilen schreiben? Ich rechne, daß wir zwischen dem 15. und 20. August in London ankommen. Schon jetzt fordere ich Dich, mein lieber Alter, nachdrücklich auf, mich zu besuchen, auf daß wir lange und ausführlich über Millionen von Dingen reden können. Auch ich vermisse unsere sonntäglichen Gespräche sehr. Hier habe ich mit fast niemandem über Literatur geredet, und obwohl ich noch mit einigen Leuten verkehre, habe ich den Eindruck, daß mir kaum Freunde geblieben sind. In diesem Drecksland wird einem sogar die Freundschaft allmählich vermasselt.
Es freut mich zu hören, daß Du täglich schreibst und daß es mit dem Erzählungsband vorangeht. Ich bin mir sicher, es wird ein gutes Buch, denn ich erinnere mich deutlich an die Erzählungen, die Du mir vor meiner Abreise geliehen hast – vor allem an die Geschichte vom Hahn, vom kleinen Platz, vom alten Junggesellen und seiner Mutter –, und ich glaube, das ist der größte Triumph einer Erzählung oder eines Romans: daß sie im Gedächtnis bleiben. Ich habe einen ganzen Monat nicht geschrieben, wegen der Reise, aber jetzt will ich wieder arbeiten und den Roman vom Leibwächter ein Stück voranbringen. Obwohl ich über meine ganze Zeit verfügen kann, ist das deprimierende Peru derart deprimierend, daß es mich fürchterliche Anstrengung kostet, ein paar Stunden an der Maschine zu verbringen. Ich konnte dir »Das grüne Haus« nicht schicken, weil Barral wohl vergessen hatte, daß ich mich in Lima aufhielt, und die mir zustehenden 20 Belege in den Parc des Expositions schickte! Klingt wie ein Witz, stimmt aber. Bitte erklär das den Benedettis, den Flakolls, den Cortázars. Sie müssen sich gewundert haben, daß ich ihnen meinen Roman nicht schicke. Ich habe zwei Rezensionen dazu gelesen, eine von hier, die andere aus Buenos Aires. Die peruanische ist des Lobes voll, aber sehr dumm; die argentinische ist ernster zu nehmen, aber drischt kräftig auf mich ein.
Danke für die Dollars. Mach Dir keine Sorgen wegen dem Rest. Du kannst sie mir nach London schicken, sobald Du dazu in der Lage bist. Teile Umarmungen von mir an alle Freunde aus, an die Lihns, die Davids, an Benedetti etcetera.
Liebe Grüße an Pilar und die Neffen. Sei kräftig umarmt, Alter.
Mario
Sei mit dem Antworten nicht so träge wie ich und schreib mir bald.
José Santos González Vera
Stgo., 9. Januar 1967
Lieber Freund Jorge,
ich habe Ihren Roman seinerzeit gelesen, weil Hernán del Solar ihn mir zukommen ließ. Ich habe ihn in zwei Nächten durchgelesen. Er ist faszinierend und hinterläßt im Gemüt ein schmerzliches Gefühl, vielleicht wegen des fürchterlich schäbigen Lebens des jungen Helden, vor allem die Szene, in der er angetrunken mit einer Frau loszieht, die ihn am Ende bestiehlt. Das Buch hat klare Konturen, und obwohl, glaube ich, inzwischen zwei Jahre vergangen sind, habe ich noch immer die Mutter und das Mädchen, die sympathischste Figur der ganzen Familie, vor Augen, und natürlich den Helden, gegen den ich etwas habe, nicht, weil er nicht real oder schlecht geschildert wäre, sondern weil ich eine instinktive Abneigung gegen ihn empfinde. Ihr Buch ist eines, das man nicht vergißt, vielleicht muß man es mehrfach lesen. Sobald ich das Exemplar zurückbekomme, das Sie mir geschenkt haben und dessen Empfang ich erst jetzt bestätige, werde ich es mir erneut vornehmen. Hier wurde es gut aufgenommen. Ich konnte Ihnen damals nicht schreiben, weil ich viele Monate lang Herzprobleme hatte, die mir allen Lebensmut raubten, jetzt aber, in der warmen Jahreszeit, schreibe ich meinen Freunden. Bitte grüßen Sie Ihre Frau und seien Sie umarmt von einem Freund und Bewunderer. (Die Leute, mit denen ich verkehre, mögen es alle, so daß Sie in aller Munde sind.)
González Vera
Aus dem Land der Schafe
In Erwartung schlafloser Nächte muß ich mich beim Zubettgehen mit Büchern umgeben. Und so bin ich stets mit mehr oder weniger schwerem Gepäck unterwegs. In den letzten Wochen lebte, reiste, ja schlief ich sogar mit einem dicken Band von Jonathan Swift, dem irischen Dekan, der in der zweiten Hälfte des 17. und bis weit ins 18. Jahrhundert (1745) in Irland und England lebte. In meiner Jugend las ich »Gullivers Reisen«, und später habe ich für einen Verlag, der nie wirklich existierte, die »Reise ins Land der Houyhnhnms« übersetzt. Als ich vor kurzem die Geschichten des Schiffsarztes und Kapitäns Lemuel Gulliver wiederlas, meinte ich, nie in solche Fernen wie er vordringen zu können. Geleitet vom Zufall, von Neugier und Abenteuergeist, kommt Gulliver auf jeder seiner Reisen – mit leichtem Gepäck, ohne den Anker von Büchern – von seiner Route ab und findet sich alsbald, wie in einem Traum versinkend, in einem seiner imaginären Länder wieder. Es handelt sich gewissermaßen um philosophische Fiktionen, aber zugleich um weit mehr. Neben Vorwänden oder Lehrfabeln sind es echte Gefilde der Imagination, beunruhigende Räume, in denen die präzisen Gesetze der phantastischen Literatur gelten. Daher rührt der Erfolg Swifts, eines keinesfalls einfachen, ja äußerst luziden, erbarmungslos-bitteren Schriftstellers, als Kinderbuchautor. Die Spiele der Lilliputaner mit ihren Juckreiz erzeugenden Pfeilen, der Riesen, der Bewohner einer fliegenden Insel, der edelmütigen Pferde sind als Metaphern zu lesen, aber auch als Erzählungen, die für sich stehen. Vergessen wir nicht, daß Doktor Samuel Johnson den Autor Swift in seine »Lebensbeschreibungen der Dichter« einreihte. Der irische Kleriker war ein gewaltiger satirischer Schriftsteller, ein leidenschaftlicher Kämpfer, ein wütender Feind der neuen, vom Geld und vom Bürgertum geprägten Zeiten, ein Verfechter archaischer, ländlicher, konservativer Lebensformen. Doch abgesehen davon schuf er, einer der größten Prosaschriftsteller englischer Sprache, auch Fiktionen. So jedenfalls hat ihn eine ganz anders geartete, anscheinend entgegengesetzte Persönlichkeit wie der ebenfalls aus Irland stammende James Joyce immer verstanden. Der historische Swift und der seiner Erfindungen sind in einem der komplexesten Romangebilde des 20. Jahrhunderts, in »Finnegan’s Wake«, miteinander verflochten. Da Joyce ein großartiger Parodist war, könnte man behaupten, er habe Swift gleichsam zu seinem Heteronym gemacht. Ohne Swifts »Tonnenmärchen« oder den »Bescheidenen Vorschlag« würde es Joyces gewaltiges Gelächter nicht geben.
Ich reiste also, einen dicken Band Swift im Gepäck, weit hinunter ins chilenische Patagonien, zu einer Buchausstellung in der Stadt Coyhaique. Und zwar völlig arglos, ohne Kenntnis und vorherige Erkundung der Gegend, ohne vorgefaßte Ideen. Just so, wie Gulliver reiste oder zu reisen behauptete. Als ich auf dem Flughafen Balmaceda landete und in einiger Entfernung die zwei roten Gebäude der argentinischen Zollverwaltung erblickte, dachte ich, hinter den verschneiten Bergen müßten sich Swifts Länder befinden, in die man nach dem Durchqueren eisiger, schon vor hundert Jahren niedergebrannter Wälder gelangte, vielleicht mitten in der Pampa gelegen, die sich dort bis nach Chile erstreckt. Ich behielt den Gedanken für mich. Es erschien mir unklug, derlei gegenüber den wildmähnigen jungen Männern und den Mädchen in plissierten Miniröcken zu äußern, die wie rasende Automaten zum Rap tanzten, und ebensowenig gegenüber den Einwohnern der zweiten Generation von Coyhaique, die in Erinnerungen an den »Krieg von Chile Chico«, die großen und blutig niedergeschlagenen Streiks auf den patagonischen Viehfarmen der zwanziger Jahre, schwelgten, von ihren Erlebnissen erzählten und gegen fast alles waren, zumal wenn es aus dem fernen, nicht faßbaren, ins Unwirkliche verschwimmenden Zentrum des Landes kam. Die wild zuckenden Raptänzer gehörten zur Rasse der in sich gekehrten Wesen, die Gulliver im Reich Laputa vorfand: »Ihre Köpfe«, erzählt der Schiffskapitän, denn man muß darauf bestehen, daß hier die imaginäre Gestalt Gulliver und nicht der Dekan von St. Patrick spricht, »waren sämtlich entweder nach der rechten oder nach der linken Seite geneigt; das eine Auge war einwärts gekehrt, das andere geradewegs empor gerichtet zum Zenit. Ihre Obergewänder zierten Bilder von Sonnen, Monden, Sternen, durchsetzt mit Geigen, Flöten, Harfen, Trompeten, Gitarren, Cembali und allerlei anderen, bei uns in Europa gänzlich unbekannten Musikinstrumenten.«
Die jedoch im fernen Patagonien mit seinen hohen, dünnstrahligen, auf den ersten Blick wie gefroren wirkenden Wasserfällen sowie den zahlreichen Höhlen mit heiligen Stätten und brennenden Kerzen die natürlichste Sache der Welt sind und sich samt ihren Zeichen und Symbolen deuten lassen. Die in Monde und Geigen gekleideten Gestalten, die auf der fliegenden Insel umherzogen, waren so in Gedanken versunken und pflegten ein derart schwindelerregendes Geistesleben, daß sie ab und zu durch einen leichten Klaps geweckt werden mußten. Sofern sie es sich leisten konnten, wanderten sie in Begleitung von Gehilfen, die Stöcke mit einer Blase voll Erbsen und Kieseln mit sich führten. Um sie damit auf Mund und Ohr zu patschen und wachzuhalten!
»Gullivers Reisen« reißen uns aus unserer Routine, lassen uns die Landschaft mit anderen Augen betrachten, indem sie auch uns zur Anregung und Warnung einen Klaps geben. Sie sind ein Lobgesang auf die Relativität aller Dinge, auf die Toleranz und die Unverzichtbarkeit der Kritik, aber auch auf die Notwendigkeit des Witzes. Nur ein eifriger Leser der englischen Satiriker wie Machado de Assis, der vor etwa einem Jahrhundert lebende brasilianische Autor, konnte uns im Vorwort zu seinem Roman »Don Casmurro« erklären, er habe sein Buch mit der »Feder des Witzes und der Tinte der Melancholie« geschrieben. Wenn eine menschliche Gesellschaft auf ein Zehntel ihrer Größe schrumpft oder sich um das Fünffache vergrößert, springt das Lächerliche bestimmter Situationen sofort ins Auge. Man kann Menschen, die zehnmal so klein sind wie wir, nicht lieben. Und auch nicht die Haut einer Riesin bewundern, mögen ihresgleichen sie auch als jung und glatt preisen. Das erzwingt die Feder des Witzes, wenn sie in reichlich mit Galle versetzte Tinte getaucht wurde. Die Bewohner von Lilliput zum Beispiel führen mit ihren Nachbarn aus dem Lande Blefuscu langwierige, grausame Kriege über die Frage, wie ein Ei aufzuschlagen sei. Es gibt die Rundendler, die es an der runden Seite aufschlagen, und ihre Widersacher, die ihr Leben für die entgegengesetzte Theorie einsetzen, daß man mit der Spitze beginnen müsse. Die grundlegenden Lehrbücher enthalten lediglich die Regel, daß die Anhänger des wahren Glaubens das Ei »am passenden Ende« aufschlagen sollten. Mit anderen Worten, die fanatisch verfochtenen Ideen, welche die Welt erschüttern, haben nicht den geringsten Sinn. Dies will uns Dekan Swift sagen, jener Mann, der zum Paladin der Torypartei wurde, weil er so vieles in den modernen Gesellschaften verabscheute. Seine politische Vision verband sich mit leidenschaftlichem Einsatz für die Rechte des Parlaments gegenüber dem Absolutismus. In seinen letzten Jahren wurde er zudem zu einem Verfechter der irischen Freiheitsrechte. Er war ein Andersdenkender, ein liberaler Konservativer, ein direkter Vorgänger von Schriftstellern aus der Familie von Aldous Huxley, Bernard Shaw und George Orwell. Die literarische Phantasie von »1984« oder der »Farm der Tiere« steht »Gullivers Reisen« nicht allzufern, doch erscheinen mir Swifts Fiktionen subtiler, geheimnisvoller, überraschender. Man könnte behaupten, Swift sei der englische Schriftsteller, der – trotz der gewaltigen Unterschiede – Kafka am nächsten kommt. Er befindet sich wie Joyce, sein literarischer Verwandter, in engster Nachbarschaft zu Rabelais.
Es ist eine einzigartige Erfahrung, Swift in den legendären Gefilden Patagoniens zu lesen, unter den Sternen des äußersten Südens unseres Planeten. Seine Methode besteht darin, die vermeintlich normale Wirklichkeit von fernen Landen aus zu betrachten, aus der Anormalität, und also entsprechend der Beziehung von Einbildungskraft und Anormalität. Er hat ein Genre erfunden, das wir die philosophische Reise nennen könnten, zu dem auch die »Persischen Briefe« Montesquieus gehören. Nun gibt es jedoch Gegenden, in denen jede reale Reise sogleich etwas Irreales bekommt. Natürlich vermittels Imagination und Literatur. Jemand schlägt mir einen Ausflug vor, um die Umgebung von Coyhaique zu erkunden. Nach einer hartnäckigen Legende gab es im Süden, hinter einem Gebirgszug, einen lauwarmen See, dessen Wasser das Leben verlängerten. Dort erhob sich die Stadt der Cäsaren, das patagonische Gegenstück zu El Dorado und vielen anderen magischen Räumen. Eines Morgens steigen wir im Dauerregen zu viert in einen Jeep und fahren auf einer Bergstraße zwischen Wasserfällen, Schluchten, Landschaften mit bemoosten, seit hundert Jahren verdorrten Bäumen dahin. In der Ferne erkennen wir die gewundenen Ufer des Lago Elisalde, der sich Dutzende von Kilometern durch die Ausläufer der Kordilleren zieht. Man hat uns von einem Haus auf einer
Landzunge zwischen zwei Seen berichtet, wo wir Unterkunft fänden. Dort ist alles verbarrikadiert, so daß wir an einen Irrtum glauben. Dicke, moosüberwucherte Baumstämme versperren uns den Weg. Der Besitzer des Jeeps ist genauso starrköpfig wie ich, wir gehen durch eine Pforte und stapfen durch den Schlamm, heftiger Regen peitscht uns ins Gesicht. Nach einer Weile erblicken wir vor uns zwei Gestalten: eine massige untersetzte Frau in gelbem Regenmantel und etwas, das wie ein fetter Hund aussieht und genauso groß ist wie sie. Die beiden Wesen nähern sich gemessenen Schrittes. Als sie herangekommen sind, erweist sich der vermeintliche Hund als ein riesiges Schaf, das gehorsam neben ihr her trottet, spitznasig, mit rötlichen, friedfertigen Äuglein. Wir fragen nach dem Mann, der das Haus weiter hinten verwaltet. Man hat uns was von einem großen Kamin vorgeschwärmt, von hohen Fenstern, die auf ineinander mündende Seen hinausgehen, von einem Lamm, das man uns auf Holzkohle grillen würde. »Lamentariamente«, sagt die Frau im gelben Regenmantel, »leider ist der Verwalter gestern oder vorgestern weggefahren, zu seinen Eltern.« Das massige Schaf blickt die Frau an. Dann uns, mit ironischer Miene, und mit geschlossenem Maul scheint es das falsche Wort zu korrigieren: »Lamentablemente«. Ich erkläre meinem Begleiter, daß wir im Land der Schafe angekommen sind, und er weiß nicht, ob ich es ernst meine. Ich wiederum vermute, daß die Schafe vom Lago Elisalde hochmütigere Geschöpfe sind als die Houyhnhnms, Gullivers Pferde, interessanter und angenehmer als die Yahoos, die entarteten Menschenwesen, die ihnen dienen, und daß sie einen bemerkenswerten Sinn für Grammatik und Philologie besitzen, im Unterschied zu den Bewohnern der fliegenden Insel, die nur etwas von Mathematik, Geometrie und Musik verstehen. »Was hast du entdeckt?« fragen mich die junge Journalistin und der ältere Schriftsteller, die im Auto geblieben sind. »Das erkläre ich euch noch«, erwidere ich. »Sobald wir ein Dach über dem Kopf und ein Glas Wein vor uns haben.«
Die Lilliputaner sind wir selbst, durch ein umgekehrtes Fernrohr betrachtet. Auch die Riesen sind wir, in vergrößerter Form. Die Bewohner der fliegenden Insel Laputa verkörpern den Irrwitz unseres logischen, mathematischen, musikalischen Verstandes, der tadellos und brillant funktioniert, aber gefährlich wird, sobald er darangeht, seine Theorien zu verwirklichen. Es sind Wesen, die zur Zerstreutheit, Geistesabwesenheit und Realitätsverweigerung neigen und die man deshalb wach halten muß. Die Pferde, die Houyhnhnms, sind die verkannten Edlen, die die Wahrheit unbedingt respektieren, eine Rasse, die sich elliptischer Wendungen bedienen muß, um den Begriff der Lüge auszudrücken, was nur die Menschen, zu ihrem Unglück, perfekt beherrschen. Die Yahoos sind degenerierte Menschen, Zerrbilder an der Schwelle zum Tierhaften. Gullivers neues Land, das der grammatisch und philologisch bewanderten Schafe, wartet noch auf seinen Erforscher und Erzähler. Womöglich entsprechen die Schafe einer Kategorie von Kritikern, die im »Tonnenmärchen« definiert wird, oder vielleicht müßte man sie als eine neue Kategorie erfassen. Swifts Humor erzeugt mitunter ein wahnsinnig machendes Ohrensausen. Man lese den »Bescheidenen Vorschlag, wie man es verhüten kann, daß die Kinder armer Leute in Irland ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen, und wie sie der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden können«, eine Sammlung von Ratschlägen und Rezepten, wie man in Hungersnöten die Kinder Irlands verspeisen könnte. Jonathan Swift, der Dekan von St. Patrick, hatte, so heißt es, den Verstand verloren, als er mit achtundsiebzig Jahren starb, und er wurde an einem Ort begraben, wo, wie die Grabinschrift sagt, »grimmige Empörung ihm
nicht mehr brechen kann das Herz«.
Übermaß
Es ist viel die Rede von den Problemen der Kultur, von der Notwendigkeit, sie zu fördern. Eine offensichtliche Schwäche der heutigen Kultur ist jedoch das Übermaß an Minderwertigem und Mittelmäßigem. Nehmen wir beispielsweise die Bücher. In Mexiko, so höre ich, hat man darüber nachgedacht. In Spanien, Argentinien, Chile hingegen fehlt eine solche Diskussion. Es gibt in der spanischsprachigen Buchproduktion ein deutliches Überangebot und ein sichtbares Absinken von ästhetischem Anspruch, intellektueller Strenge, handwerklicher Qualität. Man geht in irgendeine Buchhandlung in Madrid und ist erschlagen von der Fülle der Titel. Wird deshalb tatsächlich mehr gelesen? So sollte es sein, aber so ist es offenbar nicht. Eine Verlegerin erklärt mir, der Verkauf entspreche bei weitem nicht der erheblich gesteigerten Produktion. Sie sieht eine Krise heraufziehen und prophezeit eine baldige, dramatische Korrektur. In Frankreich habe man diese bereits vorgenommen, sagt sie. Dort überlege man jetzt zweimal, ehe man sich für einen neuen Autor, eine neue Übersetzung, eine neue Buchreihe oder einen neuen Themenstrang entscheide. Gleiches stehe in Spanien und der hispanischen Welt bevor.
In meiner Jugend war Schreiben eine ausgefallene, originelle Berufung. Heute ist es lediglich ausgefallen, keine literarischen Ambitionen zu haben und keine Romane oder Gedichte zu verfertigen. Ein großes Gedicht oder ein herausragender Roman sind Inseln inmitten des allgemeinen Scheiterns, Zufluchtstätten des Menschlichen. Die Vermehrung der Schreiberlinge garantiert jedoch nicht, daß weiterhin solche Werke geschaffen werden. Die Literatur bedarf weniger Schriftsteller und eines großen Kreises anspruchsvoller Leser. Zur Zeit vollzieht sich die umgekehrte Entwicklung.
Das Übermaß, paradoxerweise begleitet von Verarmung, ist eines der Hauptphänomene heutigen Lebens. Ich weiß nicht, ob es dafür eine Lösung gibt. Wir treten auf die Straße und sind sofort mit einem Überfluß an Autos, Läden, Musikkonserven und Werbebotschaften konfrontiert. Wir kommen auf einen Flughafen und meinen, alle Welt sei auf Reisen. Die Menschen schlafen auf Bänken, auf dem Fußboden, in irgendeinem Winkel. Nach allem und jedem muß man sich anstellen, und obendrein gerät man in Streiks. In Zeiten von Verkehrsüberlastung, sommerlicher Hysterie und massenhaften Reiseverkehrs entfaltet ein Streik letale Wirkung. In einer Gesellschaft, in der alle Druck machen, dem schnellen Geld nachjagen, unverhohlen triumphalistischen Ideologien folgen, ist es nicht verwunderlich, daß Gruppen in vorteilhaften Positionen diese zumindest zeitweise auszunutzen versuchen. Wenn ich Pilot bin und sehe, wie ruhelose, rauschhaft getriebene Massen von mir abhängen, ist es kein Wunder, daß ich davon profitieren will. Ich glaube, das täten die meisten. Daß es sich um Faschisten handele, die noch in der Franco-Luftwaffe dienten, diese Erklärung überzeugt mich nicht. Ich denke, es sind Menschen des modernen Lebens, der modernen Gesellschaften. Mit ihren vielfältigen Formen des Übermaßes führen sie uns alle zum Exzeß und zum Irrsinn.
Ich sehne mich nach der Zeit, als es wenige, aber gute Bücher gab, reizvolle, faszinierende Bücher, und man sich vornahm, sie alle zu lesen. Obwohl man es letztlich nicht schaffte. Jetzt stehe ich vor den überladenen Büchertischen und spüre die Last, auswählen zu müssen. Oft nehme ich am Ende doch nichts. Ein andermal bin ich in einer fremden Wohnung, ziehe ein Buch aus dem Regal, einen mir unbekannten Text oder einen Klassiker, der mir aus dem Sinn gekommen war, und verschlinge ihn. Es gibt zu viele Bücher und sogar, wage ich zu behaupten, zu viele Schriftsteller. Früher wurde mir bisweilen angetragen, eine Werkstatt für »kreatives Schreiben« zu organisieren (wie schwer, diesem Anspruch gerecht zu werden!), ich schlug als bescheidenere Alternative eine Lesewerkstatt vor. Wer eine solche leitet, muß lesen, bis ihm der Kopf platzt, und wie der gewitzte Leser weiß, sind Exzesse nie heilsam. Wenn man mir heute eine Werkstatt oder ähnliches antrüge, würde ich einen Kurs zur Schreibentwöhnung vorschlagen. Wir alle haben das Recht zu schreiben, wie mir jemand mal sagte, aber auch ich habe das Recht zu erklären, daß ein guter Leser einen mittelmäßigen Autor tausendmal aufwiegt. Er beteiligt sich nicht daran, die Welt mit bedrucktem Papier zu verstopfen, sondern steckt andere mit seiner Leselust an.
Der mit dem spanischen Liberalen und Chilereisenden José Joaquín de Mora befreundete englische Romantiker William Blake sagt in einem Gedicht, die Straße des Exzesses führe zum Palast der Weisheit. Mag sein, daß dies für die Moral zutrifft, aber nicht für Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur. Die Tore des Übermaßes haben uns den Weg ins Chaos erschlossen, in eine nicht mehr verkraftbare Vermehrung von Produkten. Ich betrachte auf einem Markt die Stände und denke angesichts der Fülle von Nahrungsmitteln, daß gesundes Gemüse, Obst und Gewürz immer seltener werden. Obwohl ich mit dem Rauchen aufgehört habe, gilt meine Sympathie eher den Tabakbefürwortern. Tabak nimmt das Hungergefühl und hilft beim Abnehmen. Gern hätte ich einen Beweis dafür, daß er schädlicher ist als Milch, Sahne, Vanilleeis, Mayonnaise und sämtliche Saucen. Müßte man nicht auch achtzig Prozent dieser Produkte mit einem kleinen Totenkopf oder sonst einer Warnung versehen? Der Tabak bringt uns um, aber desgleichen das Übermaß an Spirituosen, Gebäck und Süßigkeiten. Der Gegensatz zwischen unserem Überfluß und dem Elend, den Hungergesichtern, die uns aus dem tiefsten Afrika anstarren, ist eine der großen Tragödien der modernen Welt.
In Chile und vielerorts im sogenannten Lateinamerika stoßen wir immer wieder auf die schlimmste Seite des Mangels. Die wenigen Bücher etwa, die oft auch noch schlecht sind. Als die Schriftsteller sich ihren Lebensunterhalt noch anderweitig verdienten, schrieben sie nach ihrem eigenen Rhythmus, gaben jedem Text Zeit, ließen ihn liegen, um ihn nach sechs, acht Monaten wiederzulesen. Sie lieferten ihn den Lesern nicht aus, ehe sie sicher waren, daß die Zeit dafür gekommen war. Das sind Sitten, die längst der literarischen Prähistorie angehören. Wir Schriftsteller spüren den enormen Druck des Marktes, der allein durch seine Präsenz auf uns einwirkt. Wenn du nicht jedes Jahr ein Buch herausbringst, fällst du leicht unter den Tisch. Man vergißt dich, dein Name wird von der Flut neuer Namen weggeschwemmt. Das Leben als Schriftsteller, einst eine Berufung, eine Form der Auseinandersetzung mit der Welt, ein Privileg, ist zu einer immer hastigeren, atemlosen Karriere geworden. Um deine Bücher auf einer Messe signieren zu können, mußt du zwei Wochen vorher ein Buch auf den Markt werfen. Dann aber zwingt dich dein Verlag, auf jeder Messe und in jeder Talkrunde aufzutreten. Dort sollst du Wellen der Sympathie auslösen und deinen Schnabel wetzen. Sonst bist du kein gutes Schlachtroß. Wir müssen Nicanor Parra bitten, eine neue Version seiner »Laster der modernen Welt« zu schreiben. Seine wohl aus den vierziger Jahren stammende Fassung ist ziemlich veraltet. Die Laster rennen, während wir, wie Nicanor sagte, durchs Gestrüpp kriechen.
Ich schlage vor – wohl wissend, daß ich nicht mit gutem Beispiel vorangehe –, weniger zu reisen, Museen gemächlicher, weniger häufig und lange zu besuchen und die Annehmlichkeiten des eigenen Patios zu erkunden. Eine junge Journalistin erzählt mir, daß sie übers Wochenende von Madrid nach Menorca fliegt. Auf einen Flugplatz zu rasen, sich durch eine erhitzte und aufgeregte Menge zu drängeln, um sich dann am Strand zu sonnen, ist, nach ihrem Ton zu urteilen, lebensnotwendig und ein Zeichen von Überlegenheit. Ich rate ihr, statt dessen durch den Botanischen Garten zu bummeln, zwischen Mangobäumen, Platanen, Araukarien, karibischen Jasminsträuchern zu wandeln. Sie schaut mich verstört an, wie einen geistig Minderbemittelten oder einen unbegreiflichen Provokateur. Ich versuche sie mit Argumenten zu überzeugen: daß die unbekannten Pflanzen, die man im 18. Jahrhundert von Amerika nach Spanien brachte, hier gediehen, daß sie Krisen und Bürgerkriege trotz völliger Vernachlässigung, ja sogar ohne Bewässerung überstanden. Und duftigen Schatten spenden, der dem der Sonnenschirme und Sträucher Menorcas nicht nachsteht. Die Journalistin geht darauf gar nicht ein, und ich festige meinen Ruf als Sonderling, der immer mehr zu einem alten Sturkopf wird.
Das Übermaß an Information, um einen anderen Fall zu nennen, schlägt mehr und mehr um in einen Mangel an Wissen. Wir schauen in die Zeitung, schalten den Fernseher ein, surfen ein Weilchen im Internet, und schon werden wir bombardiert mit Nachrichten aus Moskau, den USA, Ekuador, Tibet, Paraguay und Argentinien. Am Ende des Tages wissen wir ein bißchen von allem und doch nichts Genaues, Gesichertes über irgend etwas. Der mediale Überschuß macht uns zu aufgeklärten Ignoranten. Früher wußte man absolut nichts über Tschetschenien. Heute wissen wir ein bißchen was über Tschetschenien, über Chiapas, Tibet und Buenos Aires, über sonstige Orte auf der Welt, aber dieses bißchen ist in gewisser Weise weniger als nichts. Oder sehe ich reizbarer alter Griesgram das falsch, und wir nähern uns mit Riesenschritten der besten aller Welten? Ich hätte nichts dagegen, blicke aber, offen gestanden, mit sehr gedämpftem Optimismus auf die Dinge dieser Welt.
Aus dem Spanischen von Joachim Meinert
SINN UND FORM 4/2006, S. 437-451
Eggebrecht, Jürgen
- 3/2011 | Briefwechsel 1945-47
Eggerath, Werner
- 2/1975 | Die fröhliche Beichte
Ehlers, Heinrich
Ehrenburg, Ilja
- 1/1954 | Dem Gedenken Julian Tuwims
- 1/1960 | Über die Wahrheit in der Kunst
- 1/1961 | Französische Notizen
- 3/1961 | Pablo Picasso
- 2/1962 | Berliner Impressionen, 1921-1923
- 6/1967 | Emile Zola
- 4/1983 | Das schwerste Jahr
Ehrhardt, Kurt
- 1-2-3/1957 | Stimmen der deutschen Bühne zum Tode Brechts
Ehrlich, Lothar
- 1/1974 | Bertolt Brecht und die deutsche Klassik
Ehrsam, Thomas
- 1/2017 | »Aber mich selbst anzulügen gelingt mir nicht«. Mopsa Sternheim, Versuch eines Porträts, S. 40 Leseprobe
Ehrsam, Thomas
„Aber mich selbst anzulügen gelingt mir nicht“. Mopsa Sternheim, Versuch eines Porträts
Gescheitert – so hat sich Mopsa Sternheim, ihr Leben bilanzierend, immer wieder gesehen. Gescheitert vor allem deshalb, weil es ihr, die lebenslang in deutschen und französischen Künstlerkreisen verkehrte, nicht gelang, ein Werk zu schaffen, ihren Roman zu vollenden. Trotz dieser Selbsteinschätzung lohnt sich ein Blick auf diese Frau und ihr Leben. Dabei soll es weniger um ihre zahlreichen Affären und Bekanntschaften als um ihr intellektuelles Profil gehen, ihren Mut (und Hochmut), mit dem sie auch in verzweifelten Lagen immer an einem trotzigen Dennoch festgehalten hat.
Mopsa Sternheim war die uneheliche Tochter des Dramatikers Carl Sternheim und seiner Geliebten Thea Löwenstein. Sie wurde am 10. Januar 1905 als Elisabeth Dorothea Löwenstein geboren: Der Mann der Mutter, Arthur Löwenstein, erkannte das Kind als sein eigenes an. In der Familie wird es Moiby, später Mopsa genannt, und Mopsa hieß auch die erwachsene Frau für alle ihre Freunde. Nach der Scheidung 1907 und der Heirat der Mutter mit Sternheim muß das Kind mit seiner älteren Schwester Agnes bei Löwenstein bleiben und darf erst 1912 zu seinen Eltern. Sie erlebt den Ersten Weltkrieg in Belgien und wird von ihrer Mutter und Hauslehrern, darunter dem belgischen Dadaisten Clemens Pensaers, unterrichtet. Nach dem Krieg zieht die Familie in die Schweiz nach Uttwil am Bodensee und im Sommer 1922 aufgrund der Inflation nach Dresden. Schon als Kind liest Mopsa Kleist, Dostojewski, Tolstoj und Schiller; Pensaers sagte von der Zwölfjährigen: »Sie hat den Verstand einer Fünfzigjährigen. Was denkt sie? Keiner weiß es. Wen liebt sie außer der Mutter?« (Tagebuch Thea Sternheim, 21. April 1917) Diese Liebe zur Mutter begleitete sie lebenslang und ging weit über das übliche Maß hinaus: Später hat sie bedauert, kein Mann zu sein, da Thea so auf Männer fixiert gewesen sei, und gelegentlich sogar Briefe an die Mutter mit »Dein Gatte MIP« unterzeichnet. Das hat die Beziehung zwischen beiden natürlich nicht vereinfacht.
In Dresden besucht Mopsa 1923 die Kunstschule und geht ein Jahr später nach Köln, um sich bei dem Bühnenbildner Carl Pillartz ausbilden zu lassen. Unter Gustav Hartung und an weiteren Theatern gestaltet sie mit Erfolg Bühnenbilder und Kostüme für einige Sternheim-Aufführungen. Aber Sternheims große Zeit ist bald vorbei, und für andere Inszenierungen wird Mopsa nicht engagiert. Das mag an der Zeit gelegen haben, die von einer Sternheim-Tochter nichts mehr wissen will, wahrscheinlich hat es ihr aber auch an Durchsetzungskraft gefehlt.
1925 hat sie eine kurze, intensive Affäre mit Gottfried Benn (einem Freund ihrer Mutter), die mit einem Selbstmordversuch endet und Mopsa bleibend prägt. Noch Jahrzehnte später nennt sie jedesmal Benn, wenn sie sich in ihrem Tagebuch fragt, wer ihr in ihrem Leben etwas gegeben habe. Außerdem noch Sternheim, den surrealistischen Dichter René Crevel und den Verleger Walter Landauer – Frauen werden dabei nicht erwähnt, obwohl sie immer wieder kürzere oder längere lesbische Affären hat, etwa mit Annemarie Schwarzenbach. Der letzte Brief an ihre Mutter endet mit dem Nachsatz: »Sage Gottfried dem Grossen einmal, wie sehr ich, dreissig Jahre lang – etc – – ja sag es ihm doch einmal. Immerhin hat er EINE grosse, von allen äusseren Belangen unabhängige Passion hervorgerufen. Weiss er das wohl – vielleicht ist’s ihm egal?«
In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre gehört sie mit Pamela Wedekind (der späteren Frau Carl Sternheims!), Erika und Klaus Mann (mit dem sie bis zu seinem frühen Tod befreundet bleibt) zu den ›Dichterkindern‹ und zur Jeunesse dorée Berlins, nimmt Drogen und frequentiert schwul-lesbische Lokale. Für Mopsa ist der Drogenkonsum mehr als Episode und Experiment: Seit einem Motorradunfall 1927, nach dem man sie mit dem Morphium-Präparat Eukodal behandelt hat, ist sie süchtig und bleibt es (wie ihr jüngerer Bruder Klaus) mit Unterbrechungen lebenslang. Daran scheitert auch die geplante Ménage à trois mit dem homosexuellen französischen Schriftsteller René Crevel und dem Wiener Abenteurer und Graphiker Carl Rudolf von Ripper: Aufgrund der Drogensucht Mopsas und Rippers zieht sich Crevel zurück. In der Folge heiratet Mopsa Ripper (mit Benn als Trauzeuge) – der Beginn eines jahrelangen Absturzes in Drogen, Entziehungskuren, dadurch bedingte Krankheiten und Geldnöte, was 1936 schließlich zu einem erneuten Selbstmordversuch führt. Angewidert von den Intrigen und Lügen des Paares bricht Thea Sternheim zeitweise den Kontakt zur Tochter ab. Auf ihre Vorhaltungen antwortet Mopsa am 27. Juli 1936: »Gewiss hast Du in vielen Dingen recht (…). Ich weiß es besser als irgendwer. Ich lüge viel, ich lüge gut, aber mich selbst anzulügen gelingt mir nicht.« Das Tagebuch, von dem noch die Rede sein wird, legt davon das beste Zeugnis ab.
Seit 1933 lebt Mopsa, meist getrennt von ihrem Mann, in Paris. Bald ist sie in deutschen Emigrantenkreisen wie in französischen Künstlercliquen zuhause. Hier wohnt auch ihre Mutter, die Berlin bereits 1932 aus Abscheu vor dem Nationalsozialismus verlassen hat. Mopsa, der es trotz ihrer Drogensucht nie an Mut fehlt, kämpft gegen den Faschismus, schreibt für den »Manchester Guardian « antifaschistische Artikel und arbeitet mit dem kommunistischen Verleger Willi Münzenberg am »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitler-Terror« (1933). Ripper verteilt 1934 die Braunbücher in Berlin, wird geschnappt und kommt für einige Monate ins berüchtigte Columbia-Haus und ins KZ Oranienburg. Mopsa setzt sofort alle Hebel zu seiner Befreiung in Bewegung; schließlich wird er auf Vermittlung der österreichischen oder französischen Gesandtschaft (die Quellen sind nicht eindeutig) entlassen. 1938 publiziert er eine beeindruckende Folge großformatiger antifaschistischer Kaltnadelradierungen unter dem Voltaire-Titel »Écrasez l’Infâme« (Zermalmt das Niederträchtige). Das amerikanische »Time Magazine« veröffentlicht im Januar 1939 ein Blatt daraus, das Hitler an der Totenorgel zeigt, unter dem Titel »Man of 1938. From the unholy organist a hymn of hate« als Cover. Das führt 1941 zu Rippers und Mopsas Ausbürgerung. Sie ist nun staatenlos, was ihre ohnehin schwierige Situation als Exilantin und Tochter des Halbjuden Sternheim zusätzlich erschwert. Sie bekommt keine Identitätskarte mehr, sondern nur ein papier d’éloignement, also eine Ausweisungsbescheinigung, die alle zwei Wochen, später alle zwei Monate verlängert werden muß. Um nicht aufzufallen, wohnt sie seit Kriegsausbruch im kleinen Studio ihrer Mutter.
Mit der Absicht, ihrem jüdischen Freund Michel Zimmermann die Flucht nach England zu ermöglichen, nimmt sie Anfang 1942 Kontakt zur Résistance auf und arbeitet für diese, ohne Wissen der Mutter, unter Sidney Jones als Sous-Lieutenant mit der Funktion eines Verbindungsoffiziers im Agentennetz (Réseau) Inventor, das zu den Réseaux Buckmaster des britischen Geheimdienstes SOE in Frankreich gehört. Am 2. Dezember 1943 wird sie im Haus einer Freundin von der Gestapo verhaftet und an der Avenue Henri Martin gefoltert, auch Zähne werden ihr ausgeschlagen. Sie bleibt standhaft und verrät nichts. Anschließend kommt sie ins Gefängnis Fresnes und im Januar 1944 ins Lager Compiègne, das Abschiebelager nach Deutschland. Am 31. Januar wird sie mit 958 Französinnen ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück deportiert. Weil sie deutsch spricht, wird sie Blockowa (Blockälteste) in Block 8 im Krankenrevier und ist für Ordnung und Sauberkeit sowie die Essensverteilung zuständig. In ihrem Block finden sich zwei- bis vierhundert Kranke, die an Typhus, Scharlach oder Ruhr leiden. Sie stellt sich, ihr eigenes Leben aufs Spiel setzend, ganz in den Dienst der Häftlinge und rettet mehrere von ihnen, indem sie sie als verstorben von der Deportationsliste streicht und im Krankenblock im oberen Teil der Stockbetten versteckt. Der Einsatz für ihre Schützlinge (den mehrere Affidavits von Mithäftlingen nach dem Krieg bezeugen) und ihr arrogantes Auftreten gegenüber der SS führen dazu, daß sie zur Stubenältesten degradiert und in Block 5 des Industrieblocks versetzt wird, wo Häftlinge Uniformen schneidern und flicken müssen.
In letzter Minute, am 23. April 1945, wird sie als eine von etwa siebentausend Frauen vom schwedischen Roten Kreuz im Rahmen der Aktion Bernadotte aus dem völlig überfüllten und immer chaotischeren Lager, in dem das Morden weitergeht, gerettet und nach Schweden gebracht. Hier wird sie aufgepäppelt und schließlich nach Paris geflogen, wo sie am 26. Juni 1945 eintrifft. In den ihr verbleibenden neun Lebensjahren versucht sie, zunehmend von Krankheiten geplagt, im Alltag wieder Fuß zu fassen. Sie betreibt Wiedergutmachungsprozesse für sich und ihre Mutter und kämpft um das Erbe ihres 1942 verstorbenen Vaters. Die Früchte dieser Bemühungen kann sie nicht mehr ernten, wohl aber die geliebte, im Krieg völlig verarmte Mutter. Im Frühsommer 1948 fährt Mopsa nach Hamburg, um im 4. Ravensbrück-Prozeß als Zeugin gegen den Lagerarzt Benno Orendi und die Schwester Martha Haake auszusagen.
An einer unglücklichen Liebe zu dem Geschäftsmann Henri Taourel leidet sie in den späten vierziger Jahren so sehr, daß sie im Rückblick sogar Ravensbrück weniger schlimm findet. Ständig in Geldnöten, hält sie sich mit Filmszenarien über Wasser; einmal noch, 1951, kann sie ein Bühnenbild für Sternheims »Snob« in Nürnberg machen, aber der Erfolg nützt ihr nichts: Weitere Pläne scheitern nicht an ihr, sondern daran, daß geplante Inszenierungen nicht zustande kommen. In all den Jahren versucht sie, ihren Roman zu vollenden – vergeblich. Im Winter 1953 / 54 erkrankt sie an Krebs, am 12. September stirbt sie qualvoll, noch nicht fünfzigjährig, umsorgt von Freundinnen und Freunden: Die Morphiumpräparate zur Linderung der Schmerzen schlagen bei der Süchtigen nicht mehr an. Kurz vor ihrem Tod gelingt ihr endlich so etwas wie eine Versöhnung mit ihrem Leben, das sie immer wieder an den Abgrund geführt, in dem sie aber auch viel Mut gezeigt hat. In einer Nacht schrecklicher Schmerzen notiert sie in ihr Tagebuch: »Und trotz diesem Albtraum-Leben, das das meine ist seit so langer Zeit, / ist eine tiefe Bejahung oder sogar eine glühende Verehrung des ›Lebens an sich‹ in mir. / Nicht des meinen, sicherlich, das nicht mehr ist als Vergeudung, obwohl sogar in diesen schrecklichen Momenten etwas bleibt wie ein ›JA‹, das stärker ist als ich, UNABHÄNGIG vom Ich – Doch in dieser Nacht wünschte ich sehr demütig EINE RUHEPAUSE.« (5. April 1954, Original auf französisch)
[...]
SINN UND FORM 1/2017, S. 40-47, hier: S. 40-43
- 6/2019 | Friedo Lampes »zarte Traumgeburt« im Dritten Reich
Eich, Günter
- 5-6/1962 | Verlassene Staffelei
- 3/2011 | Briefwechsel 1945-47
- 5/2015 | Das Wolburg-Fragment (1945).
Mit einer Vorbemerkung von Axel Vieregg, S. 696 Leseprobe
Eich, Günter
Das Wolburg-Fragment (1945). Mit einer Vorbemerkung von Axel Vieregg
Vorbemerkung
Am 25. April 1946 schrieb Günter Eich an Karl Krolow, der ihn anscheinend um einen Prosa-Beitrag für ein »eigenes Zeitschriften-Projekt« gebeten hatte: »Ansonsten hätte ich noch einen Dramenakt aus einem aufgegebenen Stück. Schreiben Sie mir, ob es überhaupt in Frage kommt, dann würde ich es überarbeiten. (Es ist eine erste Niederschrift. Prosa. Zeithintergrund: Inflation.)« Zur Veröffentlichung und damit Überarbeitung kam es nicht. Auch wurde das Fragment, dessen Bedeutung von den Herausgebern damals nicht erkannt worden war, wie einige andere Texte auch, weder in die erste Ausgabe von Eichs Gesammelten Werken (1973) noch in die revidierte Ausgabe von 1991 aufgenommen und geriet so in Vergessenheit.
Erst beim Wiederlesen, nach der auf die Neuausgabe folgenden Debatte um Eichs Leben 1933–1945, erschloß sich mir der Stellenwert des Textes: als Wendepunkt und Neubeginn von Eichs Schaffen in der Stunde Null, die hier tatsächlich als solche erfaßt und faßbar wird. Es ist nach Eichs berühmtem und höchst konkretem Gedicht »Inventur« aus demselben Jahr eine Inventur auf einer anderen, parabelhaften Ebene: Wo war ich? Wo stehe ich? Wo will ich hin? Daß er diese Selbstbefragung auf den schwankenden Boden der Inflationszeit verlegt, ist eben jenem Schweigegebot geschuldet, das der Text zum Thema hat: Von der Gegenwart des Jahres 1945 zu sprechen und damit die »dunkle« Vergangenheit des Protagonisten als die eigene offenzulegen, war Eich nicht möglich. Wie er überhaupt sein Privatleben weitgehend abschirmte und Fragen zum Biographischen als irrelevant zurückwies. Wieviel mehr galt das für eine Zeit, in der schmerzende, wohl auch peinliche Erinnerungen frisch und die Berührungsängste groß waren – hinter der Zurückhaltung steckte auch Rücksichtnahme, wie sich zeigen wird. Dazu kommt, daß in den ersten Nachkriegsjahren eine Druckgenehmigung seitens der Alliierten nur mit dem berüchtigten »Persilschein« möglich war, in dem manches ungesagt bleiben bzw. beschönigt werden mußte. Es war Hermann Kasack, der Eich die Gefälligkeit erwies. Das Schweigen – Beschweigen und Verschweigen – wurde dann zu einem Grundkonsens der frühen Bundesrepublik.
Selbstbefragung und Schweigegebot wurden von Eich noch ein weiteres Mal zum Thema gemacht, und zwar in dem Hörspiel »Die gekaufte Prüfung« von 1950, von dem noch zu sprechen sein wird. Wieder ist der Boden, auch der moralische, schwankend. Nun sind es die Schwarzmarktjahre, und die Hauptfigur heißt noch einmal Wolburg. Eich hatte den Namen mit Bedacht gewählt: er erscheint unter seinen Vorfahren. In dem hier erstmals abgedruckten, im Manuskript unbetitelten Fragment geht es um einen Mann, dessen Vergangenheit ihn ins Gefängnis bringen könnte und der daher seine Identität aufgeben und, als vermeintlich »verlorener Sohn«, in die Haut eines anderen schlüpfen muß. Er »schämt sich« zwar seiner Lüge und / oder seiner Vergangenheit, will aber sein Möglichstes tun, um dem hehren Bild zu entsprechen, das »Vater« Fahrwasser und »Schwester« Anna von ihm haben. Er will diejenigen, die ihn »Sohn und Bruder nennen, nicht enttäuschen«. Dieser Satz wurde auf dem letzten Blatt des Manuskripts zwischen den Zeilen eingefügt. Er meint das Entscheidende: den Vorsatz, einen Neuanfang zu machen, den Versuch einer Rehabilitierung. Mit der Unterschrift, die »Wolburg« am Ende leistet, zieht er einen Schlußstrich unter seine frühere Existenz. Seine Zukunft gründet er damit allerdings auf eine Lüge, denn er weiß: »Ich kann nicht mehr zurück.«
Eichs Plan war wohl, wie die Notizen zu weiteren Akten zeigen, daß Wolburg am Ende die Wahrheit zugeben und damit zu seiner Vergangenheit stehen muß, er aber dann soweit geläutert und in »seiner« Familie angekommen ist, daß ihm verziehen wird. Die autobiographischen Züge sind nicht zu übersehen: In einer Art Wunschbiographie verschmelzen zwei Orte, zwei Familien. Zum einen der Ort von Eichs früher Kindheit, das Straßendorf Arenzhain bei Finsterwalde in der Niederlausitz, wo sein Vater einen Gutshof mit Ziegelei gepachtet hatte. Mit dem Kaleidoskop der Erinnerungsfetzen in seinem langen Gedicht »Ziegeleien zwischen 1900 und 1911« setzte Eich dieser Kindheit später ein Denkmal. Zum anderen der Ort der Niederschrift, Geisenhausen in Niederbayern, wo Eich Ende 1944 im Haus der Spenglerfamilie Schmid eine Zuflucht gefunden hatte, die ihm – nach den Jahren in der verhaßten Armee – eine beglückende Geborgenheit, eine »Familie« zurückgab. In einem Brief vom 16. Dezember 1945 an Jutta Raschke, die Frau seines Dresdner Freundes Martin, der als Kriegsberichterstatter an der Ostfront umgekommen war, liest sich das so: »Als die Entlassungen begannen, wählte ich Geisenhausen. Wohin sollte ich? Ich wußte von niemandem. So bin ich nun seit Anfang Juli wieder bei Schmids, wie vordem als Soldat. (…) Frau Schmid, eine Witwe mit sechs Kindern, ist eine fromme Frau von unbeschreiblicher Gutmütigkeit. Ich werde wie ein Sohn behandelt.« Unter diesen sechs Kindern war auch eine Anna, die der Anna im Fragment ihren Namen gegeben haben mag.
In seiner umfassenden Studie »Am Rande der Welt. Günter Eich in Geisenhausen 1944–1954« zeichnet Roland Berbig ein Bild dieses ungewöhnlichen Zusammenlebens. Er kann zeigen, wie Eich in dieser seinen Erfahrungen in der Großstadt Berlin, beim NS-Rundfunk und in der Armee so völlig entgegengesetzten Umwelt »Lebensfreude« und damit auch die Schaffensfreude zurückgewann. Auch diesem Ort setzt Eich ein Denkmal im Gedicht. Den ersten Entwurf von »Geisenhausen« legte er auf einem unpaginierten Blatt dem Wolburg-Fragment bei und unterstrich so noch einmal, daß beides zusammengehört:
Das Gras auf dem Turmgesimse
erzittert beim Glockenschlag
Der Zeiger der Uhr läuft schneller
unter dem Dohlengewicht.Das Fragment ist bisher übersehen und daher auch nirgends ausgewertet worden. Somit fehlte ein aufschlußreiches Zwischenglied in einer ganzen Reihe von Selbstbefragungen Eichs, das für eine stimmigere Deutung späterer Texte Beweiskraft hat. In dem Fragment hatte er keine Lösung für Wolburgs Gewissensqualen gefunden, eine Absolution, die er für den späteren Verlauf geplant haben könnte, bleibt aus. Zwei Jahre später greift Eich die Figur wieder auf. In einem Brief an Jürgen Eggebrecht schreibt er 1947: »bin eben über einem ausgewachsenen [Hörspiel] (ein Zeit- und Schwarzhandelsthema)«, brauchte dann aber noch einmal zwei Jahre, um es abzuschließen. Nur ist aus dem an »Günter« anklingenden Namen Walter Wolburg nun ein Martin Wolburg geworden. Scham und Gewissensqualen sind geblieben, ebenso das Schweigen als Option.
»In Zeiten, in denen es uns gut geht, sind gewisse Grundsituationen, in denen der Mensch über sich selbst zu Gericht sitzt, rar geworden«, heißt es in der Vorbemerkung zu dem Ende 1949 überarbeiteten Hörspiel »Die gekaufte Prüfung«. Mit ihm beginnt, einige Kindersendungen nicht eingerechnet, die Reihe der großen Hörspiele, die Eich nach dem Krieg berühmt machten. Und es steht nicht von ungefähr am Anfang: Das Hörspiel schildert die Situation des Studienrates Martin Wolburg, der – um in Hungerzeiten mit seiner Familie zu überleben – käuflich geworden ist und einem schwachen Schüler zum Abitur verhilft, der ihn mit Schwarzmarktwaren besticht. Der erste Tag des neuen Schuljahrs bricht an, in seinen Alpträumen fühlt sich Wolburg moralisch verurteilt, im Wachen gesteht er, daß er »etwas zu bereuen« habe, und meint: »Vielleicht werde ich rot vor Scham, wenn ich vor der Klasse stehe«. Eich läßt offen, wie er sich verhalten sollte: schweigen und weiterarbeiten oder die Schuld öffentlich eingestehen und damit in Schimpf und Schande aus dem Beruf ausscheiden. Statt dessen forderte er den Zuhörer auf, er selbst solle »wie ein Richter das Urteil sprechen«. Die Hörer – einige tausend Zuschriften! – erteilten Wolburg die Absolution.
Roland Berbig kann berichten, daß Eich, ehe er das Hörspiel an den Rundfunk schickte, die Familie Schmid befragte. Es ist nicht überliefert, wie der »Testlauf« ausging, doch es zeugt schon von der subtilen und verschmitzten Hintergründigkeit, die sein späteres Werk kennzeichnet, daß er ein wohlwollendes Urteil über Martin Wolburg ausgerechnet von denen erhoffte, die er als Walter Wolburg »nicht enttäuschen« wollte.
Eichs »Vorbemerkung« schließt mit den Worten: »Die Situation unsres Hörspiels aber, so alltäglich sie damals gewesen sein mag, hat Gewicht und verweist auf Fragen, mit denen wir noch nicht fertig geworden sind.« [Hervorhebung A. V.] Noch nicht fertig geworden war er auch mit der Frage nach der Schuld. Er wurde nie damit fertig, denn sie verjährt nicht: »Geschichte gilt nicht, / wir wollen schuldig bleiben«, schrieb er in dem späten Gedicht »Sklaveninsel« für den Band »Nelly Sachs zu Ehren«. Und in seinem Alptraum hört Martin Wolburg: »Der Angeklagte verdient den strengsten Spruch. Er wird verurteilt, weiter zu leben.« Nämlich mit der Schuld.
Es ist – jenseits aller Kollektivschuld und Kollektivscham – auch die Frage nach dem, was Eich als seine eigene Schuld und Scham empfand. Denn nur vordergründig geht es in »Die gekaufte Prüfung« um die Schwarzmarktzeit, ebenso wie es in dem Wolburg-Fragment nur vordergründig um die Inflationszeit ging. Worum es vor allem geht, ist Eichs Mitwirken im Rundfunk der NS-Zeit, speziell bei der weitaus beliebtesten, bekanntesten und mit 75 Sendungen umfangreichsten Funkserie des Dritten Reiches, dem »Deutschen Kalender. Monatsbilder vom Königswusterhäuser Landboten«, die von 1933 bis 1940 zur besten Sendezeit lief. Brauchtum, Volkstum, Volksgemeinschaft – Hans-Ulrich Wagner charakterisiert die Reihe in einer äußerst kritischen Untersuchung wie folgt: »Die KWL-Sendungen sind ein Aushängeschild des NS-Rundfunks: sie preisen eine völkische Ideologie«, und zitiert aus einer Rundfunkzeitschrift vom April 1940: »So wandert der ›Landbote‹ auch im Krieg weiter durchs Funkland und führt die Städter zur völkischen Urheimat – zum Acker und zum Bauern«. (Wagner, »›Der Weg in ein sinnhaftes, volkhaftes Leben‹. Die Rundfunkarbeiten von Martin Raschke«, in: Wilhelm Haefs, Walter Schmitz, Hgg.: »Martin Raschke (1905–1943) Leben und Werk«. Dresden 2002) Der Ende 1939 als Funker und Fahrer zur Luftwaffe eingezogene Eich war an den letzten Sendungen nicht mehr beteiligt.
Wie sehr Eich den Vorgaben der NS-Rundfunkoberen folgen mußte, aber auch, wie widerwillig er es tat, zeigen seine Briefe aus dieser Zeit. Am 25. November 1933 schrieb er an seinen Freund Adolf Artur ("Addi«) Kuhnert: »Den Königswusterh. Landboten mache ich übrigens mit Martin zusammen. Ich habe es schon so satt – aber bei diesen Zeiten.« Im selben Brief schreibt er, warum er trotzdem die Arbeit fortsetzt: »Oh diese verfluchte Villa an der Ostsee!« Unüberhörbar die Ironie: Es war nur ein bescheidenes Holzhaus mit Grundstück an der Pommerschen Küste, finanziell aber war es eine Falle.
Martin, das war Martin Raschke, der schon genannte Dresdner Freund und Herausgeber der kurzlebigen (1929–1932) »Zeitung der Jungen Gruppe Dresden«, später »Die Kolonne. Zeitschrift für Dichtung«, die zahlreichen jungen Autoren wie Peter Huchel, Horst Lange, Elisabeth Langgässer, Theodor Kramer und auch Eich ein Forum geboten hatte. Mit ihm wechselte sich Eich Monat um Monat bei der Arbeit am Landboten ab. Raschke kaufte sich von seinem Honorar später eine Biedermeier-Villa in bester Hanglage in Dresden-Loschwitz. Man geht wohl nicht fehl, wenn man in »Martin Wolburg« die Verschmelzung von Raschke und Eich zu einer Figur sieht, wenn also der Sündenfall des Käuflichwerdens nur parabelhaft am Beispiel des Studienrates verhandelt wird. Was dahinter aufscheint, ist die Abhängigkeit beider Autoren von einem Geldgeber, von dem Eich sich innerlich zunehmend distanzierte, dem Raschke aber bis zu seinem Ende auch ideologisch verpflichtet blieb. Wenn Wolburg sich fragt, ob er noch einmal vor seine Klasse treten könne, ohne »rot vor Scham« zu werden, so vernimmt man darin auch Eichs Frage, ob er noch einmal ohne Scham vor seine Leser / Hörer treten dürfe.
Nicht zu bezweifeln ist, daß er mit seiner Stellung im NS-Rundfunk haderte. So schreibt er am 18. Juni 1936 an Kuhnert: »Ich sehe ein, daß meine Bemühungen ein Schriftsteller zu sein, d. h. ein brauchbares Glied der menschlichen Gemeinschaft, vergeblich sind. Ich meine nicht des Geldes oder des Erfolges wegen – das habe ich ja beides bis zu einem gewissen Grade gehabt und kann es weiter haben. Aber ich werde nie und nimmer glücklich sein in dieser Rolle, das Verbogene in diesem Lebenszustand hält mich ewig in schlechtem Gewissen.« [Hervorhebung A. V.] In seinem im selben Jahr entstandenen Hörspiel »Radium« gibt er diesem schlechten Gewissen in der Figur des Chabanais (nach dem 1946 geschlossenen Pariser Bordell) Gestalt, der sich als »Hausdichter« und »Reklamemann « bei einem verbrecherischen, mit Radium spekulierenden Unternehmen verdingt. Wird Martin Wolburg wegen seiner hungernden Familie käuflich, so Chabanais wegen der teuren Behandlung seiner krebskranken Frau. Das Radium, das als Therapiemittel zunächst segensreich schien, wird jedoch zum Fluch, als sich seine tödliche Wirkung auf die ahnungslos mit ihm umgehenden Arbeiterinnen herausstellt. Eine schreckliche Ernüchterung erfaßt ihn: »Ja, die Kälte kriecht mir ins Herz, der eisige Zweifel, ob es das Göttliche war, wofür ich schrieb.«
Wie es möglich war, daß dieses so mutige Hörspiel ("daß keiner vergißt, wie die Welt voll Sünde und Bosheit ist«) im September 1937 vom Reichssender Berlin ausgestrahlt werden konnte, bleibt ein Rätsel. Jeder für Zwischentöne empfängliche Hörer muß die Parallelen zum Regime gespürt haben. Vielleicht gab es deswegen auch keine Wiederholung, obwohl sie vorgesehen war. Chabanais flieht in den afrikanischen Urwald. Eich bleibt in Berlin und begibt sich, da er wegen einer Wohnung im »Alten Westen« »horrende Schulden« hat (an Kuhnert, 21. April 1937), erneut in die verwünschte Abhängigkeit. Mit dem von der NS-Presse hochgelobten anti-englischen Propaganda-Hörspiel »Rebellion in der Goldstadt« von 1940 beendete Eich seine erste Rundfunkkarriere. Er war nicht stolz darauf.
Hat er nun geschwiegen, wie es das Wolburg-Fragment und »Die gekaufte Prüfung« nahezulegen scheinen? Ilse Aichinger, seine Frau, kleidete Eichs Scheu vor seiner Vergangenheit in ein Paradox:
»Aber er erzählte wenig. Auch was er seinen Kindern berichtete – von seiner frühen Zeit, von seinen Reisen, sollte sie nicht unsicher machen. Möglicherweise hörten sie diesen Erzählungen deshalb um so lieber zu, weil er nicht von ihnen verlangte, ihm zu glauben. Im Sinne der Gedichtzeile ›Alle wissen, daß Mexiko ein erfundenes Land ist‹. So kommt das Wissen wieder ins Spiel. Und die Möglichkeit, ihm zu entgehen.« ("Was ich weiß«. Eröffnungsgruß zur Potsdamer Günter-Eich-Ausstellung, Der Tagesspiegel, 28. März 2000)
Offen hat er nie gesprochen, sich statt dessen in »Erzählungen« versteckt. So hat er seine Rolle im NS-Rundfunk stets heruntergespielt und in einer autobiographischen Notiz von 1946/47 die Jahre zwischen 1932 und 1939 schlicht ausgelassen. Gerade sie aber werden zum Resonanzboden seines Nachkriegswerks. Verführbarkeit und Schuldigwerden, oder Schuld und Leiden anderer auf sich zu nehmen, um sie zu teilen oder zu mildern, Sühnen und Dienen sind die immer wieder variierten Themen seiner Hörspiele nach dem Krieg. Und so offenbart er sich doch – in Gleichnissen, die nun allerdings in hohem Maße »unsicher machen«, einem den vertrauten Boden unter den Füßen wegziehen: sei es im Persönlichkeitstausch der reichen Ellen mit der armen Camilla in »Die Andere und Ich« (1951), sei es in der die Schuld auf sich nehmenden Spiegelfigur des Idealisten, der den Verlockungen des Geldes erliegt ("Zinngeschrei«, 1955), sei es im Dienst an den Leprösen in »Das Jahr Lazertis« (1953) oder im Teilen des Leidens der Verdammten in »Festianus, Märtyrer« (1958). »Radium« war das Vorspiel, mit »Die gekaufte Prüfung« beginnt eine exemplarische Trauerarbeit. Nur weil er an sich selbst die »Grundsituation« erfahren hatte, »in der der Mensch über sich selbst zu Gericht sitzt« und sein Schuldigwerden reflektiert, konnte Eich jene Gestalten schaffen, die seinen Nachkriegsruhm begründen. Erst aus der Einsicht heraus, daß er mit seinen mehr als 160 Rundfunkarbeiten das »Dritte Reich« gestützt hatte, gewann Eichs berühmte Forderung: »Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt« ihre beschwörende Kraft. Der Schritt vom frühen zum reifen Eich vollzieht sich symbolisch im Wolburg-Fragment.
Axel Vieregg
Heinrich Fahrwasser, Ziegeleibesitzer
Richard, sein Sohn
Anna, seine Tochter
Walter Wolburg
Paul Kuntschaft, Faktotum
Wilhelm Nowak, GutsbesitzerDie Handlung spielt im Jahre 1923 in der Mark Brandenburg
Portier
Kellner
DameBegonnen am 30. Oktober 1945
1. SZENE
(Vorraum eines kleinen Hotels. Portier über Bücher gebeugt. Kuntschaft in einem Sessel schlafend.)
PORTIER: Sechzig Millionen Mark Trinkgeld an einem Abend und man soll Vertrauen in die Welt haben! Wo geht das hin? Das geht in die Hölle gradewegs. Und der da schläft. Der schläft, während die Welt zur Hölle fährt! Wie kann man da schlafen! He! He!
KUNTSCHAFT (verschlafen): Ja was, was ist. Ist er gekommen?
PORTIER (betroffen): Er ist nicht gekommen, das ist es. Er ist nicht gekommen und die Welt bleibt verdammt.
KUNTSCHAFT: Wovon reden Sie? Ich meine Herrn Fahrwasser von Zimmer 12!
PORTIER: Die Welt geht unter und Sie meinen Herrn Fahrwasser von Zimmer 12. Die Menschen sind sonderbar.
KUNTSCHAFT: Ich meine, ob er schon zurückgekommen ist?
PORTIER: Niemand ist gekommen.
KUNTSCHAFT: Wecken Sie mich bitte, wenn er kommt. Ich bin müde.
PORTIER: Ich wundere mich immer, daß man in einer solchen Zeit schlafen kann. Ich kann nicht schlafen.
KUNTSCHAFT: Ich bin seit 24 Stunden unterwegs. Und es ist nachts um zwei.
PORTIER: Ich fürchte immer, daß mir die Posaune das Trommelfell zerreißt mitten im Schlaf.
KUNTSCHAFT: Davor habe ich keine Angst. Ich war Militärmusiker.
PORTIER: Außerdem: Ich habe es Ihnen schon gesagt. Sie dürfen da nicht schlafen. Das geht über meine Befugnisse. Ich bin Portier, nichts weiter.
KUNTSCHAFT: Wenn die Welt untergeht, kommt es auf die Befugnisse nicht mehr an.
PORTIER: Also glauben Sie es auch, daß sie untergeht! Die Zeichen sind zu deutlich. Allein dies: 60 Millionen Mark Trinkgeld an einem Abend!
KUNTSCHAFT: Das ist die Inflation. Es steht in der Zeitung. Das hat nichts mit Herrn Jesus zu tun. Morgen früh können Sie sich ein Brötchen kaufen für Ihre 60 Millionen.
PORTIER: Und sollten das keine Zeichen sein? Sie sehen zu wenig in den Himmel. Tagsüber in den Wolken sind schon besondere Figuren und die Sonne geht unter phosphorgrün oder violett. Mir fällt es auf die Brust wie mit Zentnern, daß wir soviel Zeit versäumen. Wachet, spricht der Herr, denn die Seele sündigt im Schlaf.
KUNTSCHAFT (seufzend): Er hat es mit seinem Geschwätz erreicht, daß ich munter werde.
PORTIER: Geschwätz! Wie können Sie sagen »Geschwätz«! Wer sind Sie, daß Sie das sagen dürfen!
KUNTSCHAFT (verbeugt sich): Paul Kuntschaft aus Arenzhain, Kreis Calau, Niederlausitz.
PORTIER: Nichts sind Sie. Ein Sünder sind Sie wie wir alle, Sie und ich und Herr Fahrwasser.
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser – was wissen Sie von Herrn Fahrwasser?
PORTIER: Ich weiß, daß er ein Sünder ist! Oder was halten Sie davon, daß jemand das Mittagessen als Frühstück nimmt, wie? Was noch am meisten wie Arbeit aussieht, ist, daß er am Nachmittag auf den Straßen herumläuft und die Leute angafft. Aber sowie es dunkel wird, dann hat er seine liebste Beschäftigung gefunden – ich weiß nicht, in was für Spelunken er herumsitzt, aber wenn er ins Hotel kommt, um Mitternacht oder gegen Morgen, dann riecht das ganze Treppenhaus nach Schnaps, daß ich den Ventilator anstellen muß. Was denken Sie, was das Strom kostet!
KUNTSCHAFT: Es hat aber den Vorteil, daß man die Liederlichkeit in Kilowattstunden ausdrücken kann.
PORTIER: Ein alter Mann und so dem Trunk verfallen! Wo hat er das Geld her? Ziegeleibesitzer, heißt der Eintrag. Brennt er die Taler aus Lehm? Täte er nicht besser heimgehen an seinen Ziegelofen?
KUNTSCHAFT: Sie haben einen Portiersverstand, der reicht nicht für alles aus. Herr Fahrwasser ein Säufer, eine Idee zum Einrahmen! Wenn in Arenzhain jemand ein Säufer ist, dann bin ichs!
PORTIER: Dann ist es also die Großstadt, die verträgt nicht jeder. Er hätte zu-hause bleiben sollen.
KUNTSCHAFT: Denken Sie, er ist zum Vergnügen in Berlin?
PORTIER: Natürlich denke ich das. Ich habe noch nicht bemerkt, daß er arbeitet.
KUNTSCHAFT: Ihre Beschränktheit bringt mich in Wut, Herr.
PORTIER: Seine Arbeit ist die Ziegelei. Wer besorgt denn die Ziegelei?
KUNTSCHAFT: Ich zum Beispiel, wenn Herr Fahrwasser nicht da ist. Gewiß, manchmal ist er wochenlang weg, wenn er eine Spur hat.
PORTIER: Eine Spur.
KUNTSCHAFT: Ja, eine Spur. Eine Spur von seinem Sohn. Er sucht seinen Sohn, wenn Sie es wissen wollen. Es ist kein Geheimnis.
PORTIER: Wo hat er ihn verloren? War er im Krieg?
KUNTSCHAFT: Davongelaufen ist er, als er noch ein Junge war. Sicherlich wird er im Krieg gewesen sein. Was weiß ich!
PORTIER: Aber jedenfalls lebt er, das weiß Herr Fahrwasser, nicht wahr?
KUNTSCHAFT: Garnichts weiß er. Und ich bin sicher, daß Richard längst tot ist. Alle glauben das, nur Herr Fahrwasser nicht. Aber er hängt so daran, man darf ihm den Glauben nicht nehmen.
PORTIER: Das müßte ja schon über zehn Jahre her sein.
KUNTSCHAFT: Es dürften bald zwanzig sein.
PORTIER: Mein Gott, der arme Herr Fahrwasser! Ich habe den Splitter in seinem Auge gesehen. Ich schäme mich. Kann ich nichts für ihn tun?
KUNTSCHAFT: Sie werden seinen Sohn auch nicht finden.
PORTIER: Ich weiß es. Er wird Hunger haben, wenn er kommt. Ich stelle ihm ein kaltes Geflügel aufs Zimmer. Ja, das tue ich. Er soll eine Freude haben. Und ich tue eine gute Tat und hoble damit meinen Balken kleiner.
KUNTSCHAFT: Hobeln Sie sich lieber das Brett vorm Kopf ab! – Aber es ist et-was Wahres dran an seinem Geschwätz. Wir versäumen die Zeit, Herr Fahrwasser, wir versäumen die Zeit! (Er geht auf und ab.) (Fahrwasser tritt durch die Eingangstür.)
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser!
FAHRWASSER: Geh, ich will dich nicht sehen.
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser, Ihre Tochter schickt mich.
FAHRWASSER: Ich will nicht, hörst du! Was schert mich meine Tochter! Biete mir meinen Sohn als Tausch für sie! Ich gebe sie dreimal her!
KUNTSCHAFT: Das heißt einen Engel verfluchen.
FAHRWASSER: Was scheren mich Engel! Meinen Sohn will ich, nichts weiter!
KUNTSCHAFT: Gut, suchen Sie weiter nach Ihrem Sohn, wenn Sie die Mittel dafür aufbringen. Der Zahlungsbefehl von Ihrem Freund Nowak ist da.
FAHRWASSER: Nowak, einen Zahlungsbefehl? Das ist nicht ernst gemeint.
KUNTSCHAFT: Sie können sich jetzt schon ausrechnen, wann die Ziegelei versteigert wird.
FAHRWASSER: Es gibt ein einfaches Mittel dagegen.
KUNTSCHAFT: Sie wissen, daß Anna Nowak nie heiraten wird.
FAHRWASSER: Es ist ihre Sache. Ich mische mich nicht herein.
KUNTSCHAFT: Aber es wäre Ihnen recht, wenn sich Ihre Tochter verkaufte.
FAHRWASSER: Es ist mir gleichgültig.
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser, alle Schwierigkeiten ließen sich leicht beheben. Wenn Sie dawären und dablieben, gäbe Ihnen der oder jener einen Kredit und Sie könnten Herrn Nowak befriedigen. Die Ziegelei kann das tragen, wenn Sie da sind. Es fehlt dem Betrieb der Kopf.
FAHRWASSER: Ich bin aber nicht mehr da und ich will auch nicht mehr da sein, wenn ich ohne meinen Sohn bin.
KUNTSCHAFT: Ihr Besitztum geht zugrunde, Herr Fahrwasser.
FAHRWASSER: Laß es zugrunde gehen, ich brauche keinen Besitz! Ich bin es müde.
KUNTSCHAFT: Aber Sie brauchen Geld, um Ihren Sohn zu suchen. Wenn Sie die Ziegelei verlieren, fehlen Ihnen die Mittel.
FAHRWASSER: Ich kann auch als Bettler meinen Sohn suchen.
KUNTSCHAFT: Und wenn Sie ihn finden, was wollen Sie ihm geben?
FAHRWASSER: Erst muß ich ihn finden, und wenn darüber alles zugrunde geht. Ich gehe nicht mehr unverrichteter Dinge zurück wie so oft. Ich bin es leid, ich will nicht mehr. Und wenn ich darüber zum Bettler werde und meine Tochter zur Hure, ich will nicht mehr, hörst du, ich will nicht mehr! Gib dir keine Mühe, Paul, du machst mich nicht weich. Paul, ich bin müde, grenzenlos müde! (Er geht die Treppe hinauf.)
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser!
PORTIER (der herabkommt): Gute Nacht, Herr Fahrwasser. Und wenn Sie noch Hunger haben – ich habe Ihnen ein Nachtmahl auf den Tisch gestellt. Ein Hühnerbein, delikat, zart! Schlafen Sie gut!
FAHRWASSER (entfernt): Gute Nacht.
PORTIER: Nun?
KUNTSCHAFT: Gut, er wird seinen Sohn bekommen. Bis morgen früh hat er ihn.
PORTIER: Tatsächlich? Wie mich das freut. War die Spur richtig?
KUNTSCHAFT: Herr Fahrwasser hat die Sache nur falsch angepackt. Das liegt daran, weil er zu wenig über der Sache steht. Sehen Sie, bei mir liegt das ganz anders! Du lieber Gott – daß ich nicht eher daran gedacht habe! (Er geht hinaus.)
PORTIER: Wohin denn jetzt mitten in der Nacht?(Vorhang)
ZWEITE SZENE
(Bar von schäbiger Eleganz. Im Vordergrund Tische in abgeteilten Kabinen. Musik und Tanz, die eben enden. Richard und eine ältere Dame nehmen an einem Tisch im Vordergrund Platz.)
DAME: Ah, mir wird vom Tango immer ganz heiß.
RICHARD: Aber Liebling, so ein ruhiger, gemessener Tanz!
DAME: Und wenn du Liebling sagst, wird mir noch heißer. Nicht der Tanz ist daran schuld. (Sie trinken) Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute böse mit dir zu sein.
RICHARD: Aber warum, um Himmels willen?
DAME: Ist das eine Art, daß ich Mauerblümchen sein muß? Habe ich dich jemals schlecht bezahlt?
RICHARD: Wie? Hat sich keiner meiner sechs Kollegen deiner angenommen?
DAME: Kollegen! Du weißt, daß ich nur mit dir tanzen will!
RICHARD: Entschuldige, aber dieser – dieser Herr ließ mich nicht los.
DAME: Er hatte ja einen prächtigen Vollbart. (Sie lacht) Zu komisch sah er aus.
RICHARD: Er drückte mir dies in die Hand.
DAME: Ein veritables Goldstück.
RICHARD: Damit ich ihm helfe, seinen Sohn zu finden.
DAME: Seinen Sohn? Das ist ja zu komisch.
RICHARD: Er hat ihn mir genau beschrieben. Aber die Beschreibung war völlig veraltet.
DAME: Wieso? Woher weißt du das?
RICHARD: Trotzdem hat er eine gute Nase gehabt, als er sich an mich wandte. Ich hätte ihm etwas sagen können, aber ich hatte keine Lust dazu.
DAME: Du kennst also diesen verlorenen Sohn wirklich?
RICHARD: In der Tat, ein bemerkenswerter Zufall. Prost! Es war nämlich mein Vater, und ich bin selber dieser verlorene Sohn. (Die Musik beginnt. Er erhebt sich und verbeugt sich leicht vor ihr. Sie gehen zur Tanzfläche ab.) (Kuntschaft kommt herein und setzt sich an einen anderen Tisch. Ein Kellner kommt.)
KELLNER: Wünschen der Herr Sekt oder Wein?
KUNTSCHAFT: Kognak.
KELLNER: Ein Kognak, bitte sehr!
KUNTSCHAFT: Nicht ein Kognak, sondern eine Flasche Kognak.
KELLNER: Erwarten der Herr noch jemand?
KUNTSCHAFT: Meinen Sie, ich schaffe die Flasche nicht allein? Aber Moment, eigentlich erwarte ich wirklich noch jemanden. Bringen Sie gleich zwei Gläser.
KELLNER: Eine Flasche Kognak mit zwei Gläsern, sehr wohl, mein Herr. (Ab)
KUNTSCHAFT: So, nun wollen wir mal sehen, was sich machen läßt! (Er sieht sich um und summt die Melodie der Musik mit. Ein zerlumpter Mann [Walter Wolburg] tritt ein und auf Kuntschaft zu.)
WOLBURG: Streichhölzer! Heftpflaster!
KUNTSCHAFT: Nein, danke! (Der Kellner bringt das Getränk. Wolburg wendet sich in den Hintergrund.)
KELLNER: He, Sie! Hier dürfen Sie nichts verkaufen.
WOLBURG: Nur etwas Heftpflaster und Streichhölzer wollte ich –
KELLNER: Nichts da! Machen Sie, daß Sie herauskommen. Was wäre denn das für ein Betrieb, wenn hier alles Gesindel hereinkommen und die Gäste belästigen dürfte. Raus! Ihr Anblick schädigt das Geschäft. (Wolburg wendet sich zum Gehen.)
KUNTSCHAFT: Halt! Sie, junger Mann! Kommen Sie doch mal her! (Zum Kellner:) Das ist nämlich der Herr, den ich erwarte. (Zu Wolburg:) Setzen Sie sich!
KELLNER (geht kopfschüttelnd ab): Solches Publikum verkehrte hier früher nicht.
KUNTSCHAFT (schenkt ein): Trinken Sie, junger Mann!
WOLBURG: Vielen Dank! (Sie trinken)
KUNTSCHAFT: Und jetzt gestatten Sie, daß ich Sie ausfrage: Wie alt sind Sie?
WOLBURG: 28.
KUNTSCHAFT: Vier Jahre zu jung. Aber das macht nichts. Haben Sie Angehörige, Eltern, Frau, Kinder?
WOLBURG: Nein, meine Eltern sind tot, ich war das einzige Kind. Verheiratet bin ich auch nicht, Verwandte – (Er zuckt die Schultern.) Sonst noch Wünsche, Herr Kriminalkommissar?
KUNTSCHAFT: Ausgezeichnet, daß Sie keine Angehörigen haben, ausgezeichnet!
WOLBURG: Ich finde das durchaus nicht ausgezeichnet.
KUNTSCHAFT: Beruhigen Sie sich. Sie kriegen welche.
WOLBURG: Sie sprechen in Rätseln.
KUNTSCHAFT: Waren Sie im Krieg? Erzählen Sie ein bißchen von sich! Trinken Sie?
WOLBURG: Da ist nicht viel zu erzählen. Ich komme aus Berlin. 1914 hatte ich mein Abitur gemacht, mein erstes Semester Philosophie hinter mir, als der Krieg ausbrach.
KUNTSCHAFT: Mein Gott, da sind Sie ja ein gebildeter Mensch!
WOLBURG: Ich wurde eingezogen, war erst im Westen, dann im Osten, wurde gefangen genommen und war bis vor einem Jahr in Sibirien.
KUNTSCHAFT: Da ist es wohl sehr kalt, wie?
WOLBURG: Ach, es geht. Aber freiwillig geht da keiner hin.
KUNTSCHAFT: Und als Sie zurückkamen?
WOLBURG: Waren die Eltern tot und zum Studium hatte ich kein Geld und in Sibirien hatte ich nichts gelernt als Sand und Steine karren. Und als ungelernter Arbeiter finde ich in Deutschland nur tage- oder wochenweise Beschäftigung.
KUNTSCHAFT: Und jetzt leben Sie –
WOLBURG: Vom Verkauf von Streichhölzern, Heftpflaster und diskreteren Dingen.
KUNTSCHAFT: Hören Sie mal: Sie sind der Mann, den ich brauche. Sie möchten vorwärtskommen, Sie möchten eine Lebensstellung. Ich könnte Ihnen etwas verschaffen.
WOLBURG: Sehr schön. Aber was für Fähigkeiten muß ich haben?
KUNTSCHAFT: Gar keine.
WOLBURG: Das scheint das Passende für mich zu sein.
KUNTSCHAFT: Sie müssen nur mit Überzeugung lügen können.
WOLBURG: Wenn es sein muß, opfere ich meine moralischen Hemmungen.
KUNTSCHAFT: Sehr löblich. Wenigstens für den Anfang. Es handelt sich um Folgendes: Sie heißen von heute ab Richard Fahrwasser. (Die Musik hat inzwischen geendet. Richard und die Dame kehren an den Nebentisch zurück.)
RICHARD: Vielleicht wäre etwas Besseres aus mir geworden, wenn ich Henkelohren gehabt hätte, Triefaugen und einen schlechten Mundgeruch.
DAME (bricht in Gelächter aus.)
KUNTSCHAFT: Wissen Sie was, wir werden woanders hingehen, wo wir ungestört sind.
WOLBURG: Bitte sehr, mir ist ein Ort so unsympathisch wie der andere.
KUNTSCHAFT: Ober, zahlen! (Während des Folgenden kassiert der Kellner und verläßt später mit Kuntschaft und Wolburg die Bühne.)
RICHARD: Ich will damit aber nicht etwa sagen, daß mir das Bessere besser gefiele. Nur in den Augen der richtenden Welt bin ich ein verlorener Sohn. Ich selbst komme mir vor, als hätte ich die Schlacht gewonnen.
DAME: Bravo: Moral ist nur für die Dummen.
RICHARD: Für die auch. Aber es gibt merkwürdiger Weise heute auch kluge Menschen, die nicht über die Moral hinauskommen. Meine Gnädigste, ich habe einen furchtbaren Verdacht.
DAME: So philosophisch heute! –
WOLBURG: Das nennt er Philosophie. Aber eigentlich bin ich auch nicht weiter gekommen. (Kuntschaft, der die angebrochene Flasche Kognak eingesteckt hat, und Wolburg gehen ab.)
DAME: Wollten die was von uns?
RICHARD: Nein.
DAME: Und was ist Ihr Verdacht?
RICHARD: Daß all diese Leute mit Moral Henkelohren haben oder irgendwas, was schlecht riecht. Übrigens; falls ich es Ihnen noch nicht gesagt habe: Ihr Parfüm ist bezaubernd.(Vorhang)
DRITTE SZENE
(Hotelzimmer. Fahrwasser vorm Spiegel, wäscht sich.)
FAHRWASSER (Beim Abtrocknen, innehaltend): Guten Morgen, Herr Fahrwasser! Wünsche, wohl geruht zu haben. – Wenn ich Sie so ansehe, kommen Sie mir recht unbekannt vor, als wenn ich Sie zum ersten Mal erblickte. Alt sind Sie geworden, Herr Fahrwasser, zwanzig Jahre älter. Zuletzt sah ich Sie – wann war es? – in Elisas sterbenden Augen: Es war ein Spiegel, der mich besser machte. Jetzt bleicht das Haar über dem Schädel wie Gras auf einem Boden, der unfruchtbar ist. Die Gedanken wie Engerlinge, sie kriechen nie aus. Wie verwunderlich, daß das alles noch lebt, diese Hände, diese Füße, während es doch schon verwest seit zwanzig Jahren. Das Sterben ist nur eine Beglaubigung von Amts wegen. Und doch, Herr Fahrwasser, es könnte eine Wiedergeburt geben. Die Larven kriechen aus, und sie haben Flügel, das tägliche Licht ist strahlender in den blinden Augen – Wiedergeburt, Wiedergeburt – (Er seufzt. Er zieht sein Jackett an. Es klopft. Er überhört es. Es klopft wieder, dann tritt Kuntschaft ein.)
FAHRWASSER: Ich habe dir doch gesagt –
KUNTSCHAFT: Der Zug geht um 9 Uhr 15.
FAHRWASSER: Dann mußt du dich beeilen.
KUNTSCHAFT: Ich sehe, Sie sind auch schon bereit.
FAHRWASSER: Sage Anna und Nowak einen schönen Gruß, und sie haben meinen Segen.
KUNTSCHAFT (gähnt): Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen. Berlin, die Großstadt – ich bin in die Mexiko-Bar gegangen. Da sind Sie wohl auch öfter?
FAHRWASSER: Schon möglich.
KUNTSCHAFT (kichert): Der Treffpunkt der Landwirte. Es ist, als wenn man in Arenzhain wäre.
FAHRWASSER: Wieso?
KUNTSCHAFT: Ihren Sohn Richard habe ich auch dort getroffen.
FAHRWASSER (nach einer Pause): Wenn du mich verhöhnen willst.
KUNTSCHAFT: Ich habe ihn gleich mitgebracht. Richard! Komm herein! (Wolburg tritt ein) (Fahrwasser bleibt sekundenlang unfähig, sich zu rühren. Dann stürzt er mit einem tierischen Laut auf Wolburg zu und preßt ihn mit wilder Zärtlichkeit an sich.)
FAHRWASSER: Nein, du sollst dich nicht schämen, mein Sohn, du sollst dich nicht schämen. Ich bins, der sich schämen muß.
WOLBURG: Doch ich schäme mich.
FAHRWASSER: Ich frage dich nach nichts, du bist wieder da, du bist mein Sohn, du warst immer mein Sohn.
WOLBURG: Ich schäme mich, Herr Fahrwasser – (Kuntschaft macht empört Zeichen.)
FAHRWASSER: Du kennst mich nicht mehr. Ich bin dein Vater. Hörst du, dein Vater! Sage das: Vater.
WOLBURG: Ich muß es erst lernen, wie ein Kind.
FAHRWASSER: Va-ter. (Kuntschaft macht ermunternde Zeichen)
WOLBURG: Va-ter.
FAHRWASSER (glücklich): Ja, du bist mein Kind. Ich brauche deinen Namen nicht zu lernen, ich habe ihn jede Nacht vor mich hin gesprochen: Richard, Richard.
KUNTSCHAFT: Der Zug geht 9 Uhr 15.
FAHRWASSER: Ich hätte dich nicht erkannt. Als ich dich das letzte Mal sah, warst du ein Kind. (Kuntschaft macht das Zeichen 12)
WOLBURG: Ich war zwölf Jahre alt.
FAHRWASSER: Ja, du weißt es schon.
KUNTSCHAFT: Meine Herren, Wiedersehen nach langer Trennung in Ehren, aber wir haben jetzt keine Zeit, Richard, sei du wenigstens vernünftig! Ich hab dir erzählt, wie es um den Betrieb steht. Jede Stunde kann eine Katastrophe eintreten. Der Zug geht 9 Uhr 15. In zwei Stunden können wir in Arenzhain sein.
WOLBURG: Also gut, fahren wir! Oder hast du in Berlin noch etwas zu erledigen, Vater?
FAHRWASSER: Ich habe alles, was ich brauche – dich! Gut, wenn du sagst, wir fahren, dann fahren wir. Du bist jetzt der Herr in Arenzhain. Ich bin froh, daß ich abtreten darf.
KUNTSCHAFT: Ist Ihr Koffer gepackt? Es ist gleich neun.
FAHRWASSER (setzt den Hut auf): Ich zahle schnell unten. (Geht hinaus, ruft von außen:) Richard!
WOLBURG: Ja, wir kommen gleich nach!
KUNTSCHAFT (klappt den Koffer, in den er Waschzeug und dergleichen hereingetan hat): Wer A sagt, muß auch B sagen, junger Freund! Kommen Sie! (Geht hinaus. Wolburg wartet einen Augenblick, den Blick auf die Tür gerichtet, dann nimmt er das Hühnerbein vom Teller und beißt gierig hinein.)(Vorhang)
VIERTE SZENE
(Wolburg im Büro. Anna tritt ein)
ANNA: Die Post, Richard.
WOLBURG: Ja, danke. Was Besonderes?
ANNA: Ich glaube nicht.
WOLBURG (die Post flüchtig durchsehend): Hm – Hast du sonst noch was, Anna?
ANNA: Nein, eigentlich nicht.
WOLBURG: Schön. (Er vertieft sich in die Post.)
ANNA: Das heißt, eigentlich doch.
WOLBURG: Wie?
ANNA: Ich meine, eigentlich habe ich doch noch etwas.
WOLBURG: Ja, und?
ANNA: Darf ich mich einen Augenblick setzen?
WOLBURG: Aber natürlich.
ANNA: Danke. (Pause)
WOLBURG (sieht nach der Uhr): Beeil dich, ich habe noch viel zu tun.
ANNA (seufzend): Wenn du keine Zeit hast. –
WOLBURG: Natürlich, etwas Zeit habe ich schon.
ANNA: Siehst du, alles ist jetzt anders, seitdem du da bist.
WOLBURG: Hm.
ANNA: Vater ist ein anderer Mensch geworden, glücklich, jünger.
WOLBURG (unbehaglich): Ja.
ANNA: Und was zum Beispiel Paul betrifft, unsern alten Paul Kuntschaft – er kichert den ganzen Tag vor sich hin und reibt sich vergnügt die Hände.
WOLBURG: Ja, der alte Kuntschaft.
ANNA: Alle sind zufrieden, daß du da bist und freuen sich. Es geht wieder vorwärts mit dem Betrieb, du arbeitest für mindestens zwei, und du bist – ja, ich weiß nicht, wie ich sagen soll, so ehrlich, so anständig – alle Menschen mögen dich gern.
WOLBURG: Bitte, Anna, laß das doch alles, es ist mir alles so unangenehm, so peinlich –
ANNA: Ich kenne überhaupt nur zwei Menschen, die nicht mit dir zufrieden sind.
WOLBURG: So? Jedenfalls weiß ich noch einen Dritten – das bin ich selber.
ANNA: Nein, du kannst mit dir zufrieden sein.
WOLBURG: Na ja. Und wer sind die beiden andern?
ANNA: Der eine ist Nowak.
WOLBURG: Er ist böse, daß er die Ziegelei nicht bekommen hat.
ANNA: Die Ziegelei war ihm weniger wichtig. Sie interessierte ihn nur, wenn er mich dazu bekommen hätte.
WOLBURG: Willst du mir vorwerfen, daß ich dich hindere, ihn zu heiraten?
ANNA: Vorwerfen? Danken will ich dir dafür!
WOLBURG: Aber ich hindere dich nicht.
ANNA: Du verhinderst es, weil du da bist. Es war alles so dumpf, so ohne Ausweg, ohne einen Halt für mich. Ich hatte das Gefühl, ich müßte mich aufopfern, ich müßte mich verkaufen an ihn.
WOLBURG: Vater meinte es gut mir dir. Nowak ist der reichste Mann in der Gegend.
ANNA: Vater haßte mich, solange du nicht da warst. Daß ich kein Sohn war, hat er mir nie verziehen. Und – daß Mutter starb, als ich geboren wurde. – Ach, wäre sie noch da gewesen, vielleicht wäre alles besser gekommen.
WOLBURG: Ja, vielleicht.
ANNA: Daß ich Mutter nie gekannt habe. Du mußt mir einmal von ihr erzählen.
WOLBURG: Es ist schon so lange her.
ANNA: Ja, freilich.
WOLBURG: Und du magst also Nowak nicht?
ANNA: Weißt du, wenn ich das Wort Teufel höre, stelle ich mir immer Nowak vor.
WOLBURG: Wie, diesen harmlosen Menschen?
ANNA: Das wäre ein schlechter Teufel, dem man es gleich ansähe, daß er es ist.
WOLBURG: Meine weise Schwester. Aber jetzt muß ich arbeiten.
ANNA: Und willst du nicht wissen, wer der andere Mensch ist, der nicht mir dir zufrieden ist?
WOLBURG: Hm –
ANNA: Ich bin es.
WOLBURG: Du?
ANNA: Siehst du, ich habe mir etwas ganz anderes unter meinem Bruder vorgestellt.
WOLBURG: Kann ich etwas dafür?
ANNA: Früher war mir der Bruder, den ich nur aus Erzählungen kannte, ein Schreckgespenst voller Geheimnis. Später, als ich mich immer verlassener fühlte, war er wieder der Prinz, der eines Tages kommen würde, um mich zu erlösen. Es war so etwas Strahlendes, Helles, dem man sich anvertrauen konnte.
WOLBURG: Du darfst es mir nicht verübeln, daß ich den Idealgestalten deiner Träume nicht entspreche.
ANNA: Doch, du könntest ihr ungefähr entsprechen. Aber du bist wie verkleidet, du verbirgst es, daß du der Prinz bist. Du spielst eine Rolle, um mich zu täuschen.
WOLBURG: Eine Rolle?
ANNA: Ich warte immer darauf, daß du sie abwirfst wie einen Mantel und mir sagst: Siehst du, Schwester, da bin ich.
WOLBURG: Und wieso spiele ich eine Rolle?
ANNA: Du bist so kalt, so fremd zu mir, so unfreundlich.
WOLBURG: Bin ich es wirklich?
ANNA: Ja, bist du es wirklich? Oder ist der Mantel? Sieh, ich bin so stolz auf meinen Bruder –
WOLBURG: Anna, ich bin es nicht gewöhnt, geliebt und bewundert zu werden. Kannst du nicht verstehen, daß mir das unangenehm ist?
ANNA: Du bist zu bescheiden.
WOLBURG: Bescheiden? Nein, natürlich kannst du es nicht verstehen, es ist unmöglich, daß du es verstehen kannst. Du nennst es Bescheidenheit – Scham ist es.
ANNA: Worüber hättest du dich zu schämen? Nein, mißverstehe mich nicht, Richard, ich sage es nicht aus Neugierde, sondern weil ich überzeugt bin, daß du dich nicht zu schämen brauchst.
WOLBURG: Es liegt mir auf der Zunge, dir ein Geständnis zu machen.
ANNA: Nein, Richard! Nur eines sollst du. Sei ein wenig freundlicher zu mir.
WOLBURG: Ich verspreche es dir, daß ich mir Mühe geben will. (Anna umarmt ihn und küßt ihn, tritt dann von ihm weg.)
ANNA: Und jetzt mußt du arbeiten, mein großer Bruder. (Sie öffnet die Tür, um hinauszugehen. Nowak tritt ein.)
NOWAK: Ich hoffe nicht, daß ich störe. Guten Tag, Fräulein Fahrwasser. Ich hatte schon mehrfach angeklopft, offenbar haben Sie mich überhört. Guten Tag, Herr Fahrwasser. (Anna geht hinaus.) Ah, schon davon, das Fräulein Schwester. Sie ist scheu wie ein Vogel, ein ungezähmter. Aber wenn man Geduld hat, kann man es dazu bringen, daß einem der Vogel aus der Hand frißt.
WOLBURG: Was führt Sie zu mir, Herr Nowak? (Er deutet auf einen Sessel.) Zigarre, Zigarette?
NOWAK: Ich bin immer für das Flotte, das Moderne gewesen, also Zigarette. (Sie rauchen.) Keine Vorurteile, war immer mein Wahlspruch.
WOLBURG: Ihre Lebensphilosophie ist außerordentlich anregend, Herr Nowak.
NOWAK: Freut mich, daß Sie dafür Verständnis haben. Aber ich will Ihrem Wunsche nachkommen und den Kern der Sache angehen. Es betrifft –
WOLBURG: Unsere Geldangelegenheiten sind doch wohl geregelt?
NOWAK: Aber gewiß, wer spricht auch von Geld? Nicht Geld und Gut, die Ideale sind es doch, die den Wert des Lebens ausmachen.
WOLBURG: Und wegen der Ideale sind Sie also bei mir?
NOWAK: Sie haben es erraten. Es handelt sich um eine Liebe, die rein und ideal ist und ohne jeden Gedanken an Geld und Gut.
WOLBURG: Ah! Eine Liebe! Darf man gratulieren?
NOWAK: Hoffentlich, hoffentlich, junger Mann! Um nicht zu sagen: Herr Fahrwasser!
WOLBURG: Es ist gewiß etwas Schönes um den Gleichklang zweier Seelen.
NOWAK: Gleichklang? Der muß erst hergestellt werden.
WOLBURG: Ah, Sie haben Differenzen?
NOWAK: Kurz und gut: Sie werden mir ihr reden, nicht wahr?
WOLBURG: Ich? Und mit wem?
NOWAK: Stellen Sie sich nicht dumm! Anna meine ich, Ihre – nun: Ihre Schwester. Sie wird tun, was Sie ihr sagen.
WOLBURG: Ich habe keinen Grund, meiner Schwester irgendwelche Vorschriften zu machen. Ich habe nicht einmal die Absicht, ihr auch nur einen Rat in dieser Hinsicht zu geben. Soweit ich im Bilde bin, hat Anna schon mehrfach Ihre Anträge zurückgewiesen.
NOWAK: Das tut nichts. Ich bin der Ansicht, daß jetzt, wo Sie da sind, der Augenblick günstiger ist.
WOLBURG: Ich glaube, das Gegenteil.
NOWAK: Sie irren sich. Ich sagte Ihnen bereits: Anna vertraut Ihnen, und was Sie ihr mit dem nötigen Nachdruck sagen, wird sie tun – selbst wenn es ihr unangenehm ist.
WOLBURG: Es ist ihr unangenehm.
NOWAK: Das macht nichts.
WOLBURG (lachend): Das ist in der Tat eine ideale Liebe.
NOWAK: Sie werden bald aufhören zu lachen.
WOLBURG: Und was soll mich veranlassen, meiner Schwester zu etwas zu raten, was ihr widerwärtig ist?
NOWAK: Meine Liebe wird sie dazu veranlassen.
WOLBURG: Herr Nowak, Ihre Liebe in Ehren, aber ich habe den Eindruck, gestatten Sie, daß ich es sage, daß sie Ihren Verstand in Verwirrung gebracht hat.
NOWAK: Keineswegs. Ich rechne ganz kühl. Denn ich biete Ihnen etwas dafür, was Sie annehmen müssen, ob Sie wollen oder nicht: mein Schweigen. (Pause.)
WOLBURG: Erklären Sie sich deutlicher, ich verstehe nicht im geringsten.
NOWAK: Ich glaube, Sie verstehen mich recht gut. Oder sollten Sie nichts zu verbergen haben?
WOLBURG: Ich wüßte nicht was. Außerdem würde ich das, was ich zu verbergen hätte, nicht Ihnen anvertrauen.
NOWAK: Das ist in diesem Fall nicht nötig, da ich auch ohne Ihr Vertrauen informiert bin.
WOLBURG: Ich freue mich, daß ich endlich jemand treffe, der besser über mich Bescheid weiß als ich selbst.
NOWAK: Das erleichtert freilich die Selbsterkenntnis.
WOLBURG: Sie machen mich neugierig, beginnen Sie!
NOWAK: Beginnen und enden ist da ziemlich eins. Es läßt sich in einem Satz zusammenfassen: Sie sind nicht Richard Fahrwasser.
WOLBURG: Aha, der falsche Waldemar! Sehr interessant. Und weiter?
NOWAK: Was weiter? Genügt Ihnen das nicht?
WOLBURG: Nein. Sie müßten Ihre kühnen Behauptungen noch beweisen.
NOWAK: Dies werde ich mir für eine gelegenere Zeit aufsparen.
WOLBURG (höhnisch): Schade, ich wäre so gern mit Ihnen ins Geschäft gekommen.
NOWAK: Sie lehnen es also ab?
WOLBURG: Als die Taube auf dem Dach saß, kam der Fuchs und rief: »Komm herunter, damit ich dich fressen kann!« Was meinen Sie, was die Taube antwortete?
NOWAK: Nur ähneln Sie einer Taube verdammt wenig.
WOLBURG: Möglich. Aber recht habe ich umso mehr.
NOWAK: Entweder Sie spielen Vabanque oder Sie sind wirklich Richard Fahrwasser.
WOLBURG: Ich wußte nicht, daß die zweite Möglichkeit überhaupt besteht.
NOWAK: Verlassen Sie sich darauf: Ich bringe Klarheit in die Sache!
WOLBURG: Mir ist nichts unklar.
NOWAK: Sie gefallen mir ganz gut, weil Sie so konsequent lügen und keine Angst bei Ihrem Spiel haben, oder so tun, als hätten Sie keine. Schade, wir könnten gut Hand in Hand arbeiten. Aber wenn Sie nicht für mich sein wollen, gut, dann bin ich eben gegen Sie. Die Kriegserklärung ist gesprochen, mein Herr.
WOLBURG: Ich bin Pazifist.
NOWAK: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
WOLBURG: Ich werde mich verteidigen.
NOWAK: Nur einen Rat will ich Ihnen geben: Lassen Sie Anna in Ruhe, sie gehört mir.
WOLBURG: Die Absurdität Ihrer Behauptungen wirkt auf die Dauer langweilig.
NOWAK: Was ich will, wird Wirklichkeit. Ich werde Anna besitzen, vielleicht nicht ihr Herz, aber mit Haut und Haaren, sie wird mir Scham und Ehre, Stolz und Gedanken opfern, mir, dem alten Nowak, nicht Ihnen, junger Mann. Sie bleiben entweder ihr Bruder oder gehen ins Gefängnis.
WOLBURG: Und Sie, Herr Nowak, verlassen nunmehr das Haus Fahrwasser und betreten es nie wieder. Was ich will, wird Wirklichkeit.
NOWAK: Dennoch werden Sie mich wiedersehen.
WOLBURG: Gehen Sie!
NOWAK: Und mindestens werden Sie sehr deutlich merken, daß ich da bin. (Er geht hinaus. Wolburg sieht ihm nach und schließt dann die Tür. Er zieht ein Taschentuch und wischt sich die Stirn. Kuntschaft tritt durch eine andere Tür ein.)
KUNTSCHAFT: Heiß?
WOLBURG: Ziemlich. Du kommst im rechten Moment.
KUNTSCHAFT: Man muß seine Ohren überall haben.
WOLBURG: Ich mag nicht, daß du horchst.
KUNTSCHAFT: Du hast nicht das richtige Talent zum Lügen. Man muß auf dich aufpassen wie auf einen Klippschüler.
WOLBURG: Es fehlt mir der Ehrgeiz in dieser Sparte.
KUNTSCHAFT: Du brauchst vor Nowak keine Angst zu haben, er weiß garnichts.
WOLBURG: Wissen läßt sich leichter täuschen als ein guter Instinkt. Aber ich habe viel mehr Angst vor mir selber.
KUNTSCHAFT: Willst du kneifen? Wer A sagt, muß auch B sagen.
WOLBURG: Ich glaube, ich bin schon viel weiter im Alphabet und fürchte nur, eines Tages gehen mir die Buchstaben aus. Ich kann nicht mehr zurück. Ich kann sie nicht enttäuschen, die mich Sohn und Bruder nennen!
KUNTSCHAFT: Durchhalten oder ins Gefängnis!
WOLBURG: Du siehst, wofür ich mich entscheide. (Er unterschreibt.) Ich begehe hiermit Urkundenfälschung.
KUNTSCHAFT: Du hast dich für das Durchhalten entschieden.
WOLBURG: Ich glaube eher, für beides!(Vorhang)
(Plan)
1) Die Heimkehr. Verschiebung der Verlobung. Enthüllung für Zuschauer.
2) Geldforderungen. Verdacht des Gläubigers. Geständnis an Emilie ( =Anna )
3) Der richtige Sohn
4) Tod des richtigen Sohnes
5) EndeZiegelei.
Nowak hat den echten Sohn, Richard, geholt. Wolburg bekennt.
Teiche
Fahrwasser – Richard
________________________________________Nowaks Verdacht muß vorher begründet werden!
Fahrwasser läßt (durchgestrichen: Richard) Wolburg unterschreiben
SINN UND FORM 5/2015, S. 581-601
- 4/2022 | Alte Wolfsfährte. Hörstück. Mit einer Nachbemerkung von Roland Berbig
Eigner, Gerd-Peter
- 3/2015 | Schlangen und Betschwestern. Gedichte
Eilers, Alexander
- 1/2020 | Kiesel. Aphorismen, S. 80 Leseprobe
Eilers, Alexander
Kiesel. Aphorismen
Horch! Da braust das Malmen
Der Kiesel, die Wellen zurücksaugen, und
–Wiedergekehrt – an den hohen Strand schleudern,
Das ertönt, erstirbt und wiederum ertönt,
Langsam, mit bebender Kadenz, und
Den ewigen Klang der Trauer mit sich führt.
Matthew Arnold, »Dover Beach« (1867)Realismus: Boden ohne Faß.
Dem Spiegelbild das Ich anbieten.
Eine stehengebliebene Uhr zeigt das Wesen der Zeit an.
Was uns einzigartig macht, verdanken wir unseren Wiederholungen.
Das Kratzen im Hals hat die Todesangst verdrängt.
Nichts Junges wirkt alterslos.
Bücher – ins letzte Leinen gebunden.
Lupenreine Plagiate sind der Restbestand der Authentizität.
Wer den letzten Stein wirft, bleibt ohne Schuld.
Die Utopie beginnt dort, wo sie endet.
Beim Rückzug steht einem die Gefolgschaft im Wege.
Das Neue hat das Alte erfunden.
Von uns bleibt nur der Fortschritt.
Größe zeigt sich im Kniefall.
Im Alter ist die Vergangenheit unbestimmter als die Zukunft.
Lächeln untergräbt das Lachen.
Seitdem er nicht mehr dagegen war, sprach nichts mehr dafür.
Die Kreativen ahmen die Schöpferischen nach.
Stürbe die deutsche Sprache aus, wäre ein Stein kein Stein mehr.
SINN UND FORM 1/2020, S.80
- 6/2022 | Rußpartikel. Aphorismen
Einhorn, Hinnerk
- 1/1989 | Gedichte
Einstein, Albert
- 2/1989 | Würdigungen
Eisenberg, Peter
- 1/2024 | Lars Gustafsson – auf der Suche nach gutem Deutsch. Von Hartmut Haberland und Peter Eisenberg
Eisenstein, Sergei
Eisenstein, Sergej
- 5/1977 | Was mir Lenin gegeben hat
- 5/1980 | Briefwechsel mit Léon Moussinac
- 5/1988 | Brief an Maxim Schtrauch
Eisler, Hanns
- 6/1951 | Brief nach Westdeutschland
- 6/1952 | Aus: Doktor Faustus
- 1/1955 | Arnold Schönberg
- 1-2-3/1957 | Notenhandschrift: Zu Brechts Tod
- 1-2-3/1957 | Bertolt Brecht und die Musik
- 3/1958 | Über die Dummheit in der Musik. Gespräch auf einer Probe
- 4/1958 | Über die Dummheit in der Musik. Zweite Folge
- 5-6/1958 | Über die Dummheit in der Musik. Dritte Folge
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Die Situation des modernen Komponisten und die I. internationale Arbeitermusikolympiade in Strasbourg
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | An Tibull
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Einiges über die krise der kapitalistischen Musik und über den Aufbau der sozialistischen Musikkultur
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Aus Beiträgen in der »Roten Fahne«
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Einiges über das verhalten der Arbeiter-Sänger und Musiker in Deutschland
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Aus der Tätigkeit der »Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger«
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Über Beethoven
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Über Mozart
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Ideen zur Ästhetik
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Interview über Johannes R. Becher
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Hanns Eisler/André Gisselbrecht. Gespräch über Schweyk und den deutschen Militarismus
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Briefe an Nathan Notowicz
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Hanns Eisler/Thomas Mann. Briefwechsel über »Faustus«
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Für Hanns Eisler. Beiträge von Freunden, Mitarbeitern und Schülern
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Hanns Eisler vor dem Komitee zur Untersuchung unamerikanischer Tätigkeit
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Gespräche
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Rezitativ und Fuge über B-A-C-H
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Kleines Requiem über die unbekannten Proleten
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Zwei Briefe an Bertolt Brecht
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Über die Musik zu Nestorys »Höllenangst«
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Von alter und neuer Musik
- 1-2/1965 | Brief an Arnold Schönberg
- 4/1988 | Briefe
Eisner, Freia
- 4/1986 | Ansätze zu einem Lebenslauf
Eisold, Norbert
- 5/1985 | Gedichte aus der DDR
Eissler, Kurt R.
- 1/1990 | Die Branconi-Episode
- 3/1992 | Leonardo da Vinci. Die Mona Lisa
- 4/2008 | Über das Wiederlesen großer Werke, S. 536 Leseprobe
Eissler, Kurt R.
Über das Wiederlesen großer Werke
Es ist immer wieder gesagt geworden, eine literarische oder auch sonstige Kritik Shakespeares müsse zuvorderst bedenken, daß er für das Theater schrieb. Mit Blick auf dieses Medium meint man viele Eigenarten, die etliche Literaturkritiker zu wahrlich recht abwegigen Interpretationen verleitet haben, allein mit dem Hinweis auf seine überragenden dramaturgischen Fähigkeiten, das heißt mit seinem Sinn für Publikumswirkung, erklären zu können.
Dieser These habe ich in der vorliegenden Studie des öfteren widersprochen, da sie nicht berücksichtigt, was der Zuschauer eigentlich bemerkt. Das möchte ich jetzt modifizieren; dieser Einwand stimmt so nicht, und sei es auch nur, weil er die Wirkung unbewußter Wahrnehmung außer acht läßt.
[...]Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 4/2008, S. 536-547
Elgrably, Jordan
- 2/1988 | Gespräch mit James Baldwin
Eliade, Mircea
- 4/1996 | Initiation und Literatur
Elias, Norbert
- 2/1988 | Das Schicksal der deutschen Barocklyrik - Zwischen höfischer und bürgerlicher Tradition
- 4/1989 | Gespräch mit Wolfgang Engler
- 4/1989 | Die Ballade vom armen Jakob
Eliot, T. S.
- 5/2023 | Erfindungen des Märzhasen. Gedichte
Elsner, Jürgen
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Zur melodischen Gestaltung der Kampflieder Hanns Eislers
Eluard, Paul
- 4/1952 | Die Gelegenheitsdichtung
Emmerich, Wolfgang
- 1/1992 | »Hoffnungsfroh im trüben Hausend«
- 6/1994 | Heilsgeschehen und Geschichte - nach Karl Löwith
- 2/1996 | Begegnung und Verfehlung. Paul Celan - Ingeborg Bachmann
Endler, Adolf
- 6/1970 | Georgische Volkspoesie
- 6/1970 | Versuch über die georgische Poesie
- 6/1971 | Im Zeichen der Inkonsequenz
- 4/1972 | Weitere Aufklärungen
- 2/1973 | Über Erich Arendt
- 4/1973 | Eine Reihe internationaler Lyrik
- 1/1974 | Der zweimal entdeckte Wilhelm Tkaczyk
- 1/1975 | Sarah Kirsch und ihre Kritiker
- 5/1976 | Abschied von Georgien
- 1/1979 | Fragt mich nicht wie
- 5/1985 | Stimmungsbericht
- 6/1987 | Der Stuhl. Eine Ermutigung
- 2/1993 | Der sterbende Dichter
- 3/2002 | Zwei Liebesgeschichten
- 2/2010 | Gespräch mit Claus-Ulrich Bielefeld (2005)
Engdahl, Horace
- 6/2013 | Wagner und das Wunderbare
Engel, Rudolf
- 6/1982 | Aus dem Helene-Weigel-Archiv. Gespräch mit Matthias Braun
Engelberg, Achim
- 3/2004 | Gespräch mit Gitta Sereny und Thomas Grimm
- 1/2006 | Gespräch mit István Eörsi
- 2/2016 | »Wir leben in einer Zeit der Übergänge.« Gespräch mit Stefan Hertmans, S. 346 Leseprobe
Engelberg, Achim
»Wir leben in einer Zeit der Übergänge» Gespräch mit Stefan Hertmans
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen.
AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir kamen beide aus der österreich-ungarischen Kultur. Primo Levis Werke und die der anderen habe ich gelesen. Sie waren älter als ich, zehn oder zwanzig Jahre. Ein beträchtlicher Unterschied. Ich war damals noch ein Kind und konnte keine Memoiren schreiben, dazu muß man bewußt erlebt haben, was geschehen ist. Deshalb stellte sich die Frage für mich etwas anders. Ich konnte nur Literatur schreiben, keine Erinnerungen. Ich fing mit Gedichten an, die aber keinen Wert haben, weil ich in meiner Heimatstadt Czernowitz nur ein Jahr zur Schule gegangen bin. Nach Palästina kam ich 1946, mit fast vierzehn Jahren. Ich konnte weder die Sprache, noch verfügte ich über Bildung. Und es war anstrengend, Hebräisch zu lernen. In einem Kibbuz, wo man uns zu Bauern machen wollte, schrieb ich erste Erzählungen. Ohne meine Eltern, ohne die Familie war ich ziemlich verloren. Vieles war mir fremd. Czernowitz war zwar keine große, aber eine schöne Stadt. Die Lyrikerin Rose Ausländer lebte in derselben Gasse wie ich, es gab außerdem viele Dichter, Schriftsteller, Künstler und eine deutschsprachige Universität. Die meisten Schüler auf dem Gymnasium waren Juden.
In Israel konnte ich mich nicht einfügen in dieses heroisierte, optimistische Leben, die ideologisierte Kultur. Ich trug an meiner Last. Dort aber hieß es: Vergeßt, laßt die Vergangenheit hinter euch, lebt in der Gegenwart. Ich wollte aber mit meinen Eltern leben, den Großeltern, den Bekannten. So geriet ich in Opposition zum damaligen Israel. Glücklicherweise fand ich mit Mitte Zwanzig meinen Vater wieder. Wir hatten beide lange befürchtet, der andere könnte nicht überlebt haben. Mein Vater war in Czernowitz ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen, nun hatte er alles verloren. Ich hatte inzwischen auch studiert und gute Lehrer gefunden: Gershom Scholem, Martin Buber oder Samuel Bergman waren assimilierte Juden, die sich mit dem jüdischen Schicksal auseinandersetzten. Später wurden sie meine Freunde. Scholem war nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller. Sein »Sabbatei Zwi. Der mystische Messias« ist große Literatur. Auch Buber war ein Meister.
ENGELBERG: Mittlerweile sind Sie selbst ein klassischer israelischer Schriftsteller.
APPELFELD: Aber damals war ich noch zu sehr mit der Vergangenheit verbunden. Ich schuf mir erst meine Welt, ich war eher ein deutscher Autor. Deutsch war ja meine Muttersprache.
ENGELBERG: Hatten Sie Mentoren? Wie äußerten sich Ihre Lehrer zu Ihrer Literatur?
APPELFELD: Buber war mein erster Leser. Ich war 27 oder 28 Jahre alt, als ich ihm eine Erzählung gab. Es ging um Leute, die die Schoah überlebt hatten und einsam und verloren nach Israel gekommen waren. Sie konnten hier weder mit ihrer Vergangenheit noch in der Gegenwart leben, sie hatten keine Zukunft. Buber gefiel das Faktische, daß es wenige Adjektive, keine Idealisierung und nichts Didaktisches gab. Ich kam aus der Kafka-Kleist-Tradition. Sie waren meine großen Meister. Ich las beide sehr langsam auf deutsch. Besonders Kafka war mir nah, weil er mit seinem Judentum kämpfte, ähnlich wie Jean Améry. Das Judentum mit seiner langen Geschichte verbindet uns.
ENGELBERG: Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was steht am Anfang?
APPELFELD: Gefühle, Stimmungen, Bilder. Es sind Details zu unserem Haus in Czernowitz oder dem in den Karpaten, wo ich meine Großeltern besuchte. Das führt mich voran, Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich eine Idee. Das heißt nicht, daß ich diese leicht definieren kann. Es beginnt mit etwas Kleinem, einem Tisch etwa, doch dann kommt die allgemeine Idee. Es ist eine Reise. Nehmen wir diesen Raum. Hier gibt es viele Sachen – die Bilder von meinem Sohn Meir hängen an den Wänden –, aber um ihn so zu beschreiben, daß er dem Leser vor Augen steht, brauche ich nur zwei Details. Diese muß man aber erst einmal finden. Ich bin kein nostalgischer Schriftsteller, aber ich liebe meine Figuren. Deren Vorbilder habe ich kennengelernt, während des Krieges und danach. Viele lebten und leben hier in Israel. Das ist die Quelle.
ENGELBERG: Ich las, daß Sie im Kaffeehaus schreiben. Ist das immer noch so?
APPELFELD: Seltener. Ich schreibe nur in Kaffeehäusern ohne rauschende Musik, davon gibt es immer weniger. Das ist aber die Bedingung für mich. Die richtigen Kaffeehäuser verbinden mich mit denen zu Hause in Czernowitz. Da gab es viele – wie in Wien.
ENGELBERG: Sie schreiben aber immer noch mit der Hand, anschließend mit der Maschine?
APPELFELD: Ich glaube, jeder Schriftsteller, vielleicht jeder Künstler sollte das Physische, das Sensuelle mit Papier und Handschrift empfinden. Ich schreibe alles zuerst mit der Hand, aber jetzt benutze ich keine Schreibmaschine mehr, sondern eine Frau kommt und ich diktiere und korrigiere gleichzeitig. Jedes Buch benötigt einige Fassungen. Die Sätze sollen schön sein.
ENGELBERG: Sie erschrieben sich eine Welt aus Worten, ein Werk von fünfundvierzig Bänden. Trotz mancher Kritik haben Sie Buch um Buch veröffentlicht. Wann kam der Durchbruch?
APPELFELD: Am Anfang gab es in Israel diese primitive Reaktion auf meine Literatur: »Du lebst noch dort, nicht hier.« Sie wollten den großen starken Juden. Ich hatte es schwer, bis sie begriffen, daß ich über Leute schreibe, die wie ich hier in Israel leben. Damals waren rund fünfzig Prozent der Bevölkerung Überlebende der Schoah. Der Durchbruch kam allmählich, vor allem nach der ersten englischen Übersetzung. Der renommierte Kritiker Irving Howe schrieb eine Rezension des Romans »Badenheim«, das Buch erschien auf der Titelseite der New York Times Book Review.
ENGELBERG: Howe war zwar in der New Yorker Bronx geboren, aber seine Eltern kamen aus Osteuropa, genauer: aus Bessarabien. Viele der Gründungsväter Israels stammen, politisch wie kulturell, aus dieser Region. Tel Aviv nannte man in den fünfziger Jahren auch »Lodz am Mittelmeer«.
APPELFELD: Es war nicht nur Lodz. Sie kamen aus verschiedenen Ländern. Viele waren Verlorene, sie tranken reichlich Wodka, spielten Karten, gingen zu Prostituierten. Es war eine Reaktion auf die Lager, aus denen sie kamen. Aber sie wurden zu meinen Helden.
ENGELBERG: Über zwanzig Jahre waren Sie Professor in Be’er Sheba, der Hauptstadt der Negev-Wüste, wo Sie noch einmal ein ganz anderes Milieu kennenlernten.
APPELFELD: Meine Vorlesungen waren gut besucht. Ich verglich die jüdischen Literaturen verschiedener Kulturen, wobei mich vor allem die deutsche interessierte, Kafka, Heine, insbesondere seine Prosa. Ich schrieb auch einige Aufsätze, etwa über Isaac Bashevis Singer, der rechtzeitig aus Polen in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.
ENGELBERG: Er siedelte sein Werk in ähnlichen Gegenden an wie Sie, hat ähnliche Trennungen wie Sie erlebt. Seinen Sohn, der mit seiner Mutter nach Moskau, später nach Palästina emigriert war, sah er zwei Jahrzehnte lang nicht. Seine Nobelpreisrede hielt er 1978 auf Jiddisch.
Plötzlich ertönt eine Sirene. Wir stehen auf. Es ist Jom haSikaron, der Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus, auf den der Unabhängigkeitstag folgt. Aharon Appelfeld ist sichtlich bewegt und bleibt die zwei Minuten, in denen der Ton zu hören ist, stehen.
APPELFELD: Letzte Woche war Jom haScho’a, der Gedenktag an die Schoah.
Heute nun dieser Tag. Das weckt viele Erinnerungen.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 168-175, hier S. 168-171
- 3/2017 | »Zum Streit reizet allzu langer Frieden«. Ein Gespräch über Krieg, Kunst und Mut. Mit Rolf Hochhuth
- 2/2018 | »Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Aharon Appelfeld über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart , S. 346 Leseprobe
Engelberg, Achim
»Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Aharon Appelfeld über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen.
AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir kamen beide aus der österreich-ungarischen Kultur. Primo Levis Werke und die der anderen habe ich gelesen. Sie waren älter als ich, zehn oder zwanzig Jahre. Ein beträchtlicher Unterschied. Ich war damals noch ein Kind und konnte keine Memoiren schreiben, dazu muß man bewußt erlebt haben, was geschehen ist. Deshalb stellte sich die Frage für mich etwas anders. Ich konnte nur Literatur schreiben, keine Erinnerungen. Ich fing mit Gedichten an, die aber keinen Wert haben, weil ich in meiner Heimatstadt Czernowitz nur ein Jahr zur Schule gegangen bin. Nach Palästina kam ich 1946, mit fast vierzehn Jahren. Ich konnte weder die Sprache, noch verfügte ich über Bildung. Und es war anstrengend, Hebräisch zu lernen. In einem Kibbuz, wo man uns zu Bauern machen wollte, schrieb ich erste Erzählungen. Ohne meine Eltern, ohne die Familie war ich ziemlich verloren. Vieles war mir fremd. Czernowitz war zwar keine große, aber eine schöne Stadt. Die Lyrikerin Rose Ausländer lebte in derselben Gasse wie ich, es gab außerdem viele Dichter, Schriftsteller, Künstler und eine deutschsprachige Universität. Die meisten Schüler auf dem Gymnasium waren Juden.
In Israel konnte ich mich nicht einfügen in dieses heroisierte, optimistische Leben, die ideologisierte Kultur. Ich trug an meiner Last. Dort aber hieß es: Vergeßt, laßt die Vergangenheit hinter euch, lebt in der Gegenwart. Ich wollte aber mit meinen Eltern leben, den Großeltern, den Bekannten. So geriet ich in Opposition zum damaligen Israel. Glücklicherweise fand ich mit Mitte Zwanzig meinen Vater wieder. Wir hatten beide lange befürchtet, der andere könnte nicht überlebt haben. Mein Vater war in Czernowitz ein tüchtiger Geschäftsmann gewesen, nun hatte er alles verloren. Ich hatte inzwischen auch studiert und gute Lehrer gefunden: Gershom Scholem, Martin Buber oder Samuel Bergman waren assimilierte Juden, die sich mit dem jüdischen Schicksal auseinandersetzten. Später wurden sie meine Freunde. Scholem war nicht nur Historiker, sondern auch Schriftsteller. Sein »Sabbatei Zwi. Der mystische Messias« ist große Literatur. Auch Buber war ein Meister.
ENGELBERG: Mittlerweile sind Sie selbst ein klassischer israelischer Schriftsteller.
APPELFELD: Aber damals war ich noch zu sehr mit der Vergangenheit verbunden. Ich schuf mir erst meine Welt, ich war eher ein deutscher Autor. Deutsch war ja meine Muttersprache.
ENGELBERG: Hatten Sie Mentoren? Wie äußerten sich Ihre Lehrer zu Ihrer Literatur?
APPELFELD: Buber war mein erster Leser. Ich war 27 oder 28 Jahre alt, als ich ihm eine Erzählung gab. Es ging um Leute, die die Schoah überlebt hatten und einsam und verloren nach Israel gekommen waren. Sie konnten hier weder mit ihrer Vergangenheit noch in der Gegenwart leben, sie hatten keine Zukunft. Buber gefiel das Faktische, daß es wenige Adjektive, keine Idealisierung und nichts Didaktisches gab. Ich kam aus der Kafka-Kleist-Tradition. Sie waren meine großen Meister. Ich las beide sehr langsam auf deutsch. Besonders Kafka war mir nah, weil er mit seinem Judentum kämpfte, ähnlich wie Jean Améry. Das Judentum mit seiner langen Geschichte verbindet uns.
ENGELBERG: Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was steht am Anfang?
APPELFELD: Gefühle, Stimmungen, Bilder. Es sind Details zu unserem Haus in Czernowitz oder dem in den Karpaten, wo ich meine Großeltern besuchte. Das führt mich voran, Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Wenn ich ein Buch schreibe, habe ich eine Idee. Das heißt nicht, daß ich diese leicht definieren kann. Es beginnt mit etwas Kleinem, einem Tisch etwa, doch dann kommt die allgemeine Idee. Es ist eine Reise. Nehmen wir diesen Raum. Hier gibt es viele Sachen – die Bilder von meinem Sohn Meir hängen an den Wänden –, aber um ihn so zu beschreiben, daß er dem Leser vor Augen steht, brauche ich nur zwei Details. Diese muß man aber erst einmal finden. Ich bin kein nostalgischer Schriftsteller, aber ich liebe meine Figuren. Deren Vorbilder habe ich kennengelernt, während des Krieges und danach. Viele lebten und leben hier in Israel. Das ist die Quelle.
ENGELBERG: Ich las, daß Sie im Kaffeehaus schreiben. Ist das immer noch so?
APPELFELD: Seltener. Ich schreibe nur in Kaffeehäusern ohne rauschende Musik, davon gibt es immer weniger. Das ist aber die Bedingung für mich. Die richtigen Kaffeehäuser verbinden mich mit denen zu Hause in Czernowitz. Da gab es viele – wie in Wien.
ENGELBERG: Sie schreiben aber immer noch mit der Hand, anschließend mit der Maschine?
APPELFELD: Ich glaube, jeder Schriftsteller, vielleicht jeder Künstler sollte das Physische, das Sensuelle mit Papier und Handschrift empfinden. Ich schreibe alles zuerst mit der Hand, aber jetzt benutze ich keine Schreibmaschine mehr, sondern eine Frau kommt und ich diktiere und korrigiere gleichzeitig. Jedes Buch benötigt einige Fassungen. Die Sätze sollen schön sein.
ENGELBERG: Sie erschrieben sich eine Welt aus Worten, ein Werk von fünfundvierzig Bänden. Trotz mancher Kritik haben Sie Buch um Buch veröffentlicht. Wann kam der Durchbruch?
APPELFELD: Am Anfang gab es in Israel diese primitive Reaktion auf meine Literatur: »Du lebst noch dort, nicht hier.« Sie wollten den großen starken Juden. Ich hatte es schwer, bis sie begriffen, daß ich über Leute schreibe, die wie ich hier in Israel leben. Damals waren rund fünfzig Prozent der Bevölkerung Überlebende der Schoah. Der Durchbruch kam allmählich, vor allem nach der ersten englischen Übersetzung. Der renommierte Kritiker Irving Howe schrieb eine Rezension des Romans »Badenheim«, das Buch erschien auf der Titelseite der New York Times Book Review.
ENGELBERG: Howe war zwar in der New Yorker Bronx geboren, aber seine Eltern kamen aus Osteuropa, genauer: aus Bessarabien. Viele der Gründungsväter Israels stammen, politisch wie kulturell, aus dieser Region. Tel Aviv nannte man in den fünfziger Jahren auch »Lodz am Mittelmeer«.
APPELFELD: Es war nicht nur Lodz. Sie kamen aus verschiedenen Ländern. Viele waren Verlorene, sie tranken reichlich Wodka, spielten Karten, gingen zu Prostituierten. Es war eine Reaktion auf die Lager, aus denen sie kamen. Aber sie wurden zu meinen Helden.
ENGELBERG: Über zwanzig Jahre waren Sie Professor in Be’er Sheba, der Hauptstadt der Negev-Wüste, wo Sie noch einmal ein ganz anderes Milieu kennenlernten.
APPELFELD: Meine Vorlesungen waren gut besucht. Ich verglich die jüdischen Literaturen verschiedener Kulturen, wobei mich vor allem die deutsche interessierte, Kafka, Heine, insbesondere seine Prosa. Ich schrieb auch einige Aufsätze, etwa über Isaac Bashevis Singer, der rechtzeitig aus Polen in die Vereinigten Staaten ausgewandert war.
ENGELBERG: Er siedelte sein Werk in ähnlichen Gegenden an wie Sie, hat ähnliche Trennungen wie Sie erlebt. Seinen Sohn, der mit seiner Mutter nach Moskau, später nach Palästina emigriert war, sah er zwei Jahrzehnte lang nicht. Seine Nobelpreisrede hielt er 1978 auf Jiddisch.
Plötzlich ertönt eine Sirene. Wir stehen auf. Es ist Jom haSikaron, der Gedenktag an die gefallenen israelischen Soldaten und Opfer des Terrorismus, auf den der Unabhängigkeitstag folgt. Aharon Appelfeld ist sichtlich bewegt und bleibt die zwei Minuten, in denen der Ton zu hören ist, stehen.
APPELFELD: Letzte Woche war Jom haScho’a, der Gedenktag an die Schoah.
Heute nun dieser Tag. Das weckt viele Erinnerungen.
[…]
[S. 168-171]
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Enzensberger, Hans Magnus
»Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno 1955 – 66
Vorbemerkung
Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio besonders für Studierende die Verbindung zur deutschsprachigen Wissenschaft und Kultur vor 1933 wieder her, die wesentlich von Intellektuellen mit jüdischem Familienhintergrund geprägt wurden. Zudem galt er als überragender Rhetor, der es wie wenige verstand, hochkomplexe Gedanken frei vor seinem Publikum zu entwickeln.
Wurde durch Adorno die Erinnerung an die europäische Bedeutung der deutschsprachigen Philosophie, Musik und Literatur vor dem Zivilisationsbruch aktiviert, so schien Enzensberger einen Weg in die Zukunft für all diejenigen zu weisen, die zu spät auf die Welt gekommen waren, um sich im Nationalsozialismus schuldig zu machen. Dadurch, daß er erst Ende 1929 geboren wurde, war Enzensberger sogar zu jung gewesen, um als Menschenmaterial verheizt zu werden. Als man ihm 1945 eine Waffe in die Hand drückte, war der Krieg schon so gut wie vorbei. Der hochbegabte Jugendliche ergriff sofort die Gelegenheit, sich auf die veränderten Bedingungen einzustellen. Anders als den meisten seiner Kameraden ging es ihm dabei nicht nur ums nackte Überleben und um eine bescheidene Teilhabe am relativen Wohlstand der amerikanischen Besatzer. Enzensberger war auch bildungshungrig: Er wollte von den GIs lernen, er wollte raus in die Welt und wurde, ehe er sich’s versah, zum Dolmetscher und Leser von Weltliteratur. Denn die GIs brachten nicht nur Exotika wie Dosenfleisch der Marke Spam oder Nescafé, sondern auch eine Form von Verpflegung, die jene Soldaten, die mit dem jungen Sprachkünstler rasch fraternisierten, selbst für vollkommen nutzlos hielten: eine Kiste voller amerikanischer Bücher. Für den Schüler Hans Magnus allerdings wurde diese zum ersten Handapparat, zum ersten Museum der modernen Poesie.
Unter anderem enthielt die Kiste eine der berühmten Lyrik-Anthologien von Louis Untermeyer:
»Anscheinend war in Washington irgendjemand zu der Überzeugung gelangt, daß die Truppe unbedingt William Carlos Williams, T. S. Eliot, Marianne Moore und Wallace Stevens lesen wollte …« (»Wie ich fünfzig Jahre lang versuchte, Amerika zu entdekken «, in: »Scharmützel und Scholien«, 2009) Noch erstaunlicher war, daß Enzensberger in ihr auch bislang verbotene deutsche Meisterwerke entdecken konnte. So habe er zum ersten Mal den »Zauberberg« und den »Process« gelesen, und zwar in englischer Übersetzung.
Der kalifornische Zirkel um die Familie Mann, zu dem auch Adorno gehörte, war ihm damit schon nähergerückt, als er es jemals hätte ahnen können. In der Rückschau erscheint vieles zielgerichtet und sinnvoll, was im Augenblick des Erlebens nur zufällig gewesen ist, eine Möglichkeit unter vielen. Durch sein früh ausgeprägtes Gespür für maßgebliche Stimmen der internationalen Moderne wurde Enzensberger später als Lyriker, Essayist und Herausgeber wegweisend für das Programm des Suhrkamp Verlags und für mindestens zwei Generationen literarisch Interessierter. Hinzu kam das seltene Talent, gesellschaftliche Debatten zu provozieren und zu forcieren, mit dem er seine anfangs ebenfalls bei Suhrkamp veröffentlichte Zeitschrift »Kursbuch« zwischen 1965 und 1970 zum wohl wichtigsten Organ der Studentenbewegung machte. Enzensbergers Ausnahmebegabung hatte sich bereits zu Beginn seiner Laufbahn gezeigt, besonders bei seinen Radioarbeiten.
Daher wirkt es fast selbstverständlich, daß er in den fünfziger Jahren auf Adorno und Horkheimer stieß, und dies noch bevor er selbst Suhrkamp-Autor wurde. Die »Dialektik der Aufklärung« besorgte er sich in der seinerzeit schwer erhältlichen Ausgabe von 1947, und die Lektüre des grundlegenden Werkes der Kritischen Theorie wurde zum Anlaß jenes Briefes, den er Adorno am 24. August 1956 aus einem nagelneuen Hochhaus im Stuttgarter Süden schrieb. Er markiert den Beginn des eigentlichen Austauschs zwischen beiden. Daß das Denken Adornos und Horkheimers einen fünfundzwanzigjährigen Intellektuellen in der Adenauerzeit herausforderte und inspirierte, ist nicht erstaunlich. Überraschend hingegen, daß der renommierte und durchaus statusbewußte Adorno dem talentierten, aber noch weitgehend unbekannten Enzensberger antwortete, als wäre er ein einflußreicher Kollege. Wie kam es dazu?
Abgesehen davon, daß Adorno der Ton, den der junge Autor anschlug, imponiert zu haben scheint, wird es daran gelegen haben, daß er Enzensberger in den Monaten zuvor bereits persönlich kennengelernt hatte. In dieser Zeit machte Alfred Andersch den Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart zu einer wichtigen Adresse für ambitionierte Schriftsteller und Wissenschaftler, die mit ihren Arbeiten über die Fachkreise hinaus wirken wollten. Adorno gehörte mit seinen Radiovorträgen zu Anderschs bevorzugten Mitarbeitern, und Enzensberger war seit 1955 sein Assistent.
Enzensberger hielt es nicht lange auf dem Posten eines festangestellten Rundfunkredakteurs aus. Dennoch verdankt er der Stuttgarter Zeit und seinem ersten Mentor viel: Andersch zeigte ihm, wie man als Redakteur und Schriftsteller professionell arbeiten konnte, und machte ihn, was oft vergessen wird, mit einer Reihe wichtiger deutschsprachiger und internationaler Autoren bekannt. Ihre Texte sendete Andersch nicht nur im Rundfunk, er veröffentlichte sie auch in der von ihm zwischen 1955 und 1957 herausgegebenen Zeitschrift »Texte und Zeichen«, die in manchem dem späteren »Kursbuch« ähnelte.
In einem unveröffentlichten autobiographischen Gespräch erinnerte sich Enzensberger 1974 an seine Anfänge beim Rundfunk und daran, daß es immer ein besonderes Ereignis gewesen sei, wenn Adorno aus Frankfurt zu Aufnahmen nach Stuttgart kam. Der Philosoph sei dabei stets von ausgesuchter Höflichkeit gewesen: »Er trat vor das Mikrophon im Studio, er war leutselig, er hat einen freundlich begrüßt, auch den jungen Redakteur (…). Wenn der dann wirklich etwas Inhaltliches dazu gesagt hat, zu dem Vorhaben, hat er sehr geneigt zugehört (…), manchmal sogar ist er auf den Gedanken eingegangen, der geäußert wurde. Und das war schon ungewöhnlich genug. Und das hat ihn vom Mandarin unterschieden.« (Autobiographisches Interview, geführt von Gaston Salvatore, Abschriften, dritte Mappe, S. 9, DLA Marbach, A: Enzensberger, Hans Magnus) Adorno habe immer frei gesprochen, frei und druckreif, was dem jungen Enzensberger zutiefst imponierte. Im Rhetorischen wurde er für ihn zum unerreichbaren Vorbild. Erst in späteren Jahren seien Enzensberger auch Adornos persönliche Schwächen und Defizite aufgefallen, die Verletzungen, die sein Leben geprägt hatten, und vor allem sein unerfülltes Künstlertum.
Anfang 1960, nach Peter Suhrkamps Tod, wurde Enzensberger auf Siegfried Unselds Wunsch Lektor im Suhrkamp Verlag. Zufälle oder persönliche Beziehungen sorgten dafür, daß er in der Frankfurter Westendstraße in unmittelbarer Nähe der Adornos eine Wohnung fand und von seinem Balkon aus in den Kettenhofweg blicken konnte. In Frankfurt sei er »sein Nachbar« gewesen, erinnerte sich Enzensberger später: »Das heißt, an der anderen Seite des Blocks war die Wohnung von Adorno, eine einigermaßen großbürgerliche Wohnung im Westend in Frankfurt. Und da ergab sich, er nahm auch Notiz davon, das war ja dieser junge Mann da, aus dem Radio, und der ist jetzt hier im Verlag, und der hat auch dieses und jenes veröffentlicht. (…) Und dann wurde man da auch eingeladen. Da gab es diese Abende bei Adorno. Und ich ging auch in die Universität gelegentlich, um ihn zu hören. Und immer war da diese imponierende rhetorische Fähigkeit von ihm, die war einfach unwiderstehlich. Hinreißend. Und er hat nicht memoriert gehabt, es war produziert beim Sprechen.« (Ebd.)
Die Frankfurter Anstellung bei Unseld blieb für Enzensberger kaum mehr als ein Zwischenspiel, genau wie jene beim Süddeutschen Rundfunk. Von 1962 an zog er es vor, mit seiner norwegischen Frau Dagrun und ihrer Tochter Tanaquil auf der abgelegenen Insel Tjøme zu leben. Diesen Rückzug aus Westdeutschland verstand er durchaus auch als Antwort auf den Provinzialismus des Literaturbetriebs, in dem er zugleich immer erfolgreicher agierte. Spätestens der Band »Einzelheiten« aus demselben Jahr machte Enzensberger zum maßgeblichen Essayisten seiner Generation. Eröffnet wird das Buch mit einem Versuch über die »Bewußtseins-Industrie«, den man als eine unmittelbare Reaktion auf die »Dialektik der Aufklärung« lesen kann und der von Adorno genau so verstanden wurde. Nun verwandelte sich die intellektuelle Beziehung zwischen Adorno und Enzensberger tatsächlich in einen Austausch zwischen Gleichgesinnten, die allerdings so weit voneinander entfernt wohnten, daß die Post oft mehrere Tage benötigte. So reichte es nur noch zu gelegentlichen Treffen im Umfeld des Suhrkamp Verlags und zu jenem Briefwechsel, der hier erstmals veröffentlicht wird, soweit er in Hans Magnus Enzensbergers Papieren im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, und im Historischen Archiv des SWR überliefert ist.
In den legendären Anfangsjahren der Zeitschrift »Kursbuch« erschien letztlich nie ein Beitrag Adornos, so sehr sich Enzensberger auch darum bemühte. Reizvoll und politisch akut wäre eine Kritik am Parteiprogramm der SPD gewesen, die sich Adorno im Herbst 1965 vornahm. Darüber, warum er diesen Essay niemals schrieb, kann nur spekuliert werden. Am Willen und an Sympathie für Enzensberger und dessen Projekte scheint es nicht gefehlt zu haben. Wahrscheinlich fühlte sich Adorno tatsächlich aus inhaltlichen Gründen gehemmt, wie Enzensberger in dem autobiographischen Gespräch vermutete. Er erinnerte sich, Adorno bei einer persönlichen Begegnung einmal nach den Gründen gefragt zu haben, im Vertrauen, unter alten Bekannten. Adorno habe auf entwaffnende Weise zugegeben, »Angst« gehabt zu haben vor dieser »Kritik des Godesberger Programms «, mit der er sich in die Tradition von Karl Marx’ Kritik des Gothaer Programms gestellt hätte: »Und so unbegründet, so irrational diese Angst gewesen sein mag, das war eine Antwort, die war sehr gut, weil sie wahr war. Das war der Grund.«
Erinnerungen dieser Art sollte man nicht unbedingt trauen, Enzensberger selbst hat dies 2014 mit seinem autobiographischen Großversuch »Tumult« exemplarisch vorgeführt. Unabhängig davon kann man ihm allerdings getrost zustimmen, daß es eher für als gegen Adorno sprach, sich einer intellektuellen und publizistischen Herausforderung auch einmal nicht gewachsen gefühlt zu haben.
Jan Bürger
SINN UND FORM 5/2021, S.581-613, hier S. 581-584
Eörsi, István
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- 5/1997 | Notizen zu Hiob
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Reif, Adelbert
Adelbert Reif, Ruth Renée Reif »LUKÁCS WAR BEREIT, SEIN LEBEN FÜR EINE SACHE HINZUGEBEN» Gespräch mit István Eörsi
ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben mitbestimmt habe und daß Sie wahrscheinlich bis zum Lebensende in der Auseinandersetzung mit ihm stehen würden. Wann sind Sie Georg Lukács zum ersten Mal begegnet?
ISTVÁN EÖRSI: Ich habe Lukács zunächst durch sein Buch über den historischen Roman kennengelernt. Das war 1946. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und seine Ausführungen begeisterten mich ungemein. Bis heute bin ich davon überzeugt, daß es einen tiefen Zusammenhang gibt zwischen Weltgeschichte und Genre und daß die persönlichen Lebensprobleme der Autoren nur von der Geschichte her verständlich und entzifferbar sind. Später als Gymnasiast las ich noch eine Menge anderer Bücher von Lukács. Das waren die, die er während des Exils in der Sowjetunion geschrieben hatte, sowie Bücher und Artikel, die in den ersten Jahren nach dem Krieg in Ungarn entstanden waren, als noch – ungeachtet der sowjetischen Präsenz im Lande – eine Demokratie zu spüren war, ein Mehrparteiensystem existierte und in gewissen Grenzen Meinungsfreiheit gegeben war. Die Bücher dienten mir als geistige Wegweiser in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. So wurde ich zu einem Schüler von Lukács, noch bevor ich ihm persönlich begegnete.
REIF: Wo fand die erste Begegnung statt?
EÖRSI: Das war an der Budapester Universität. 1949 begann ich zu studieren. Lukács war Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie, und ich schrieb mich in sein Seminar ein. Einige Monate zuvor hatte im Anschluß an den Rajk-Prozeß, einen der großen stalinistischen Schauprozesse, bei dem der Außenminister László Rajk des »Titoismus« angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, die Lukács-Debatte stattgefunden. Es herrschte eine Atmosphäre von Furcht und Schrecken und gegen Lukács wurde eine Hetzjagd betrieben. Ihre Ursache habe ich erst viel später verstanden: Solange die aus der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei hervorgegangene Partei der Ungarischen Werktätigen die Macht noch nicht errungen hatte, brauchte sie den weltbekannten Philosophen Georg Lukács, um die Intellektuellen für sich zu gewinnen. Daher hielt sich die Parteiführung mit ihrer Kritik zurück und gestattete ihm die Veröffentlichung seiner Theorien, aus denen deutlich wurde, daß er die sowjetische Literatur nicht als die Spitze der Weltliteratur ansah. Nachdem es der Partei aber gelungen war, die Macht zu ergreifen, war ihr Lukács mit seinen ketzerischen Ansichten unangenehm. Jetzt wollte man ihn mundtot machen, weil man fürchtete, daß er Einfluß auf die Jugend ausüben könnte. Immerhin hatte sich bereits eine Anzahl Schüler um ihn geschart. Stein des Anstoßes war insbesondere seine »Partisanentheorie«, nach der ein Parteidichter – und Lukács schloß hier auch den Philosophen ein – immer Partisan sei, also einer, der sich mit der historischen Mission der Partei und ihrer strategischen Linie zwar in Einklang befinde, innerhalb dieser Einheit aber eigene Wege gehen müsse.
Lukács’ offizieller Gegner in der von der Parteiführung initiierten Debatte war der Parteiphilosoph László Rudas. Er war Direktor der Zentralen Parteischule und hatte bereits in der sowjetischen Emigration versucht, Lukács das Leben schwerzumachen. Mit einer Mischung aus Herablassung und denunziatorischem Eifer hatte er erklärt, Lukács habe keine Ahnung vom Marxismus und verleumde Lenin. Wer mit dem damaligen Sprachgebrauch der Partei vertraut ist, weiß, daß Vorwürfe dieser Art einem Todesurteil gleichkamen. Lukács übte denn auch »Selbstkritik«. Er hatte in anderen Fällen, vor allem in der Sowjetunion, gesehen, wie schnell solche Anschuldigungen zur Tragödie, das heißt zu Gefängnis, Lager oder sogar zum Tod führen konnten. Wie er mir später erzählte, hatte er nicht gewußt, daß ein geheimes Parteidekret existierte, wonach gegen niemanden, der als Kommunist im sowjetischen Exil gelebt hatte, vorgegangen werden durfte. Dieses Dekret war von Mátyás Rákosi, dem stalinistischen Führer der ungarischen Partei, erlassen worden, weil er sich damit selbst schützen wollte.
REIF: 1949 hielt immer noch die stalinistische Phase an. Wie verhielt sich Lukács nach der Debatte? War er vorsichtig oder ängstlich?
EÖRSI: Vorsichtig war er. 1952 fand noch eine weitere Debatte statt, die ebenso berühmt wurde wie die »Lukács-Debatte«: nämlich um den Schriftsteller Tibor Déry und seinen Roman »Antwort«. Ich wurde dazu eingeladen, vermutlich weil ich stalinistische Gedichte geschrieben hatte. Für mein Rákosi-Gedicht habe ich sogar einen Preis bekommen, was ich insofern wiedergutgemacht habe, als ich seitdem für nichts mehr einen Preis bekam. Bei dieser Debatte spielte der Kulturminister József Révai die Hauptrolle. Er war der Kulturpapst der Partei und sehr gefährlich, ein absoluter Inquisitorentyp und ein tödlicher Stalinist. Ursprünglich war er ein Schüler von Lukács gewesen und hatte auch derselben Landtagsfraktion angehört wie er, aber diese dann verraten. Das Verhältnis der beiden war äußerst kompliziert. In den dreißiger Jahren hatte Révai sehr gute Essays geschrieben. Nach 1945 aber, als er aus dem sowjetischen Exil nach Ungarn zurückkehrte und als Mitglied des Führungskreises der Kommunistischen Partei zu immer mehr Macht gelangte, schrieb er nichts mehr, was sich heute noch lohnen würde zu lesen.
Ich hatte die Absicht, Déry gegenüber Révai zu verteidigen, und sagte das Lukács. Ich war damals 22 Jahre alt. »Schauen Sie, machen Sie das!« erwiderte Lukács. »Aber vergessen Sie nicht, daß der Révai ein besonders kluger Mensch ist und Verdienste hat. Sie müssen Ihren Ton mit Bedacht wählen.« Er wollte mir nicht abraten. Ich glaube, er fürchtete, daß mein strahlender kommunistischer Glaube kaputtgehen würde, wenn ich nicht sprechen durfte. Als die Sitzung dann stattfand, begann ich meine Wortmeldung mit der Feststellung, daß ich mit dem Genossen Révai nicht einverstanden sei. Ich stand auf und da sah ich, wie Révais Kopf zu zittern begann. Es war schrecklich. Niemand wagte, mich auch nur anzuschauen. Ich hielt meine Rede zu Ende. Anschließend war Pause.
Ich stand völlig allein da. Nur zwei wagten es, zu mir zu kommen, Déry und Lukács. Ich hatte mich am Vortag beim Fußballspielen am Auge verletzt und trug einen Verband. Déry wollte wissen, was passiert sei. »Ein Schriftsteller sollte nicht Fußball spielen«, war seine Antwort auf meine Erklärung. Dann kam Lukács und erkundigte sich ebenfalls nach meinem Auge. »Und wie ist das Spiel ausgegangen?« fragte er, als ich ihm davon erzählte. Das war der Unterschied.
Als ich wieder allein stand, sah ich, wie Lukács meine Gedichte mit in den Saal brachte und zu Révai lief, um sie ihm zu übergeben. Er fürchtete, man werde mich nicht frei aus dem Gebäude hinausgehen lassen. Darum wollte er Révai zeigen, was für ein begabter kommunistischer Dichter ich war.
REIF: Freute es Sie, daß er Sie schützen wollte, oder waren Sie enttäuscht, daß er Ihren Mut konterkarierte und Ihre Verteidigungsrede als Ausrutscher hinstellte?
EÖRSI: Seine Sorge um mich und die Hilfsbereitschaft, mit der er meine Verhaftung zu verhindern suchte, schätzte ich sehr. Diese Pfadfindertugenden mochte ich an ihm. Aber noch im selben Jahr erlebte ich meine erste Enttäuschung. Das war am 60.Geburtstag von Rákosi, dem Generalsekretär der Partei und späteren Ministerpräsidenten. Ich hatte, wie gesagt, ein Lobgedicht auf ihn geschrieben, weil ich ihn lieben wollte. Sicher habe ich ihn nicht geliebt, aber weil ich es unbedingt wollte, suchte ich nach Argumenten. Da sah ich die Ankündigung, daß Lukács zum 60.Geburtstag von Rákosi in der sogenannten Storchburg der Universität eine Rede halten würde. Ich ging hin, um sie mir anzuhören. Aber Lukács wiederholte nur die Platitüden, die in allen Zeitungen standen. Das war meine erste kleine Enttäuschung.
Meine zweite Enttäuschung war komplizierter. Ich hatte im Juni 1953, als nach dem Tode Stalins die sowjetische Führung Rákosi zwang, das Amt des Ministerpräsidenten zugunsten von Imre Nagy aufzugeben, begonnen, Gedichte über die stalinistische Vergangenheit zu schreiben. Damals kamen die Menschen nach und nach aus den Gefängnissen und erzählten die schrecklichsten Geschichten. Es stellte sich heraus, daß Rákosi ein Massenmörder war und kein Held. Das war für mich eine unglaubliche Enttäuschung, nicht nur weil ich mich belogen fühlte, sondern auch weil ich feststellen mußte, daß ich selbst zum Mittler der Lüge geworden war. Das empfand ich als eine große Schande. Ich wurde zum Oppositionellen und kam dann sogar ins Gefängnis.
1954 schrieb ich ein Gedicht, in dem ich diese kommunistischen Führer mit den alten aristokratischen Herrschern und Kapitalisten verglich. Von der Redaktion der kommunistischen Jugendzeitung, in der ich damals arbeitete, wurde es gedruckt. Als Gedicht ist es sehr schlecht, aber inhaltlich halte ich es auch jetzt noch für richtig. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung besuchte ich Lukács. Wir aßen zu Mittag, und beim anschließenden Kaffee sagte er zu mir: »Schauen Sie, ich habe Ihr Gedicht gelesen. Ich sage nicht, daß es keine Wahrheit enthält. Da ist eine Menge Wahrheit drin. Aber Sie dürfen die Kommunisten, auch wenn sie gemordet haben, nie mit Mitgliedern der herrschenden Klassen vergleichen. Damit schwächen Sie den Wahrheitsgehalt Ihres Gedichtes.« Auf eine solche Äußerung war ich nicht vorbereitet. Aber ich erinnere mich, ein schlechtes Gefühl gehabt zu haben. Ich fand nicht richtig, was er gesagt hatte.
REIF: Haben Sie ihm widersprochen?
EÖRSI: Damals wußte ich keine Antwort. Aber später habe ich ihn gefragt, ob man etwa zwischen humanistischen und antihumanistischen Todeslagern unterscheiden solle. Diese Frage konnte ich 1952 noch nicht formulieren. Aber als Gefühl war sie schon da. Ich habe mich damals sehr ausführlich mit Lukács befaßt und auch meine ersten Lukács-Übersetzungen angefertigt. Ich übersetzte seinen Thomas-Mann-Essay »Auf der Suche nach dem Bürger« und einige andere Sachen. Er nahm mich als Doktoranden an. Ich wollte eine Arbeit über den Lyriker Attila József schreiben. Das wurde 1955 wegen meiner oppositionellen Haltung verhindert. 1956 aber war ich wieder akzeptiert. Mit der Arbeit konnte ich dennoch nicht beginnen, denn jetzt brach die Revolution aus. Ich kam ins Gefängnis und Lukács wurde nach Rumänien verschleppt. Bis 1960 blieb ich in Haft, und zwei Jahre lang hat Lukács meiner Familie regelmäßig geholfen und meiner Frau jeden Monat Geld gegeben. Ich weiß bis heute nicht wieviel. Er konnte seine Unterstützung allerdings nicht bis zu meiner Freilassung fortsetzen. Jemand hatte es verraten. Er mußte damit aufhören, denn man ließ ihn nur unter der Bedingung aus Rumänien nach Ungarn zurückkehren, daß er nicht politisierte. Und so einem alten Fuchs wie Lukács glaubte man nicht, daß es nichts mit Politik zu tun hat, wenn er der Frau eines Verhafteten Geld gibt. Aber er hat stets seine Bereitschaft zur Hilfe signalisiert. Er war wirklich ein Lehrer.
[...]
SINN UND FORM 4/2013, S. 463-483
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Erb, Roland
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Erbe, Günter
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Ernaux, Annie
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Ernst, Rudolf
- 5/2020 | Die Familie Mann und das grüne Gift
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Ernst, Rudolf
Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook
Tony Buddenbrook mit ihrer charmanten Naivität und ihrem ausgeprägten Standesbewußtsein ist für viele Leser von Thomas Manns »Buddenbrooks« die heimliche Heldin des Romans. Der Verlust ihrer großzügigen Mitgift als Folge des »Bankerotts« ihres Ehemanns ist für sie, die sich in so hohem Maße über ihren Status und das Vermögen ihrer Familie definiert, ein Schicksalsschlag. Daher sind die Hintergründe dieses Wendepunkts in ihrem Leben von besonderem Interesse. Sie erklären sich durch reale Vorgänge, denen die Romanhandlung nachgebildet wurde. Bisher blieb die Frage offen, wie es überhaupt zu diesem Unglück, dem Verlust der Mitgift durch die Pleite des ersten Ehemanns von Tony Buddenbrook alias Elisabeth Mann kommen konnte. Wie war es möglich, daß so erfahrene Kaufleute wie der fiktive Jean Buddenbrook oder der reale Johann Siegmund Mann der Jüngere sich in der Person des Bendix Grünlich im Roman und Ernst Elfeldt in der Realität derart täuschen konnten?
Informationen dazu finden sich im sogenannten Lula-Brief, der in Sinn und Form 2 / 3 / 1963 erschien und in dem Julia Mann (in der Familie »Lula« gerufen) ihrem Bruder Thomas das Leben ihrer gemeinsamen Tante, Elisabeth Mann, schildert. Sie schreibt: »Schon als er um E’s Hand anhielt, hatte er [also Ernst Elfeldt] vor dem Ruin gestanden, er legte jedoch seinem Schwiegervater gefälschte Bücher vor und täuschte ihn dadurch über seine Verhältnisse. « Der Lula-Brief ist ein faszinierendes, aber umstrittenes Dokument, das die subjektive Rückschau Elisabeth Manns in der Überlieferung durch ihre Nichte wiedergibt. Der Wert der Quelle liegt darin, daß sie Thomas Mann als Inspiration für »Buddenbrooks« diente und er ausgiebig davon Gebrauch machte. Der Brief ist aber kein zuverlässiger Beleg, denn vieles wird darin falsch dargestellt. So wird die Mitgift Elisabeth Manns mit 80 000 Mark beziffert, tatsächlich betrug sie aber nur einen Bruchteil davon, nämlich 5000 Mark. Allerdings war auch das damals nicht wenig Geld. Ein einfacher Arbeiter, etwa ein Bahnwärter der preußischen Eisenbahn, verdiente seinerzeit rund 450 Mark im Jahr. Elisabeth Mann bekam also etwa das zehnfache Jahreseinkommen eines Arbeiters der untersten Lohngruppe als Aussteuer. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet sind 5000 Mark rund 250 000 Euro. Eine Mitgift von 80 000 Mark hätte etwa vier Millionen Euro entsprochen. Johann Siegmund Mann der Jüngere war zwar vermögend, aber eine Morgengabe in dieser Höhe hätte er sich nicht leisten können. 1859, also zwei Jahre nach der Heirat seiner Tochter, betrug sein Vermögen ausweislich seines Privatbuchs rund 170 000 Mark. Dazu kommt, daß ein gerechter Vater seine anderen Kinder ähnlich großzügig hätte beschenken müssen. Aus den Akten des Elfeldtschen Konkursverfahrens, die sich in Hamburg er halten haben, wissen wir, daß dieser zum Zeitpunkt der Heirat tatsächlich überschuldet war, allerdings nur um den relativ kleinen Betrag von 1800 Mark. Offenbar hatte er nicht etwa Verluste in seinem Geschäft gemacht, sondern war schlichtweg nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Der über drei Jahre angefallene Fehlbetrag entspricht rund 600 Mark pro Jahr. Das ist nur wenig mehr als unser preußischer Eisenbahnarbeiter verdiente.
Elisabeth und Lula hatten also recht, Elfeldt dürfte den Schwiegervater über seine Vermögensverhältnisse getäuscht haben. Daß er zu diesem Zweck gefälschte Bücher vorgelegt hat, erscheint plausibel, wir haben aber nur Elisabeth Manns Wort dafür. Was für gefälschte Bücher könnten das gewesen sein? Am wichtigsten wäre die Sammlung seiner Bilanzen gewesen, wie die folgende Vorschrift aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 zeigt (Bilanz heißt hier »Balance«): »Ein Kaufmann, welcher entweder gar keine ordentliche Bücher führt, oder die Balance seines Vermögens, wenigstens alljährlich einmal zu ziehen unterläßt, und sich dadurch in Ungewißheit über die Lage seiner Umstände erhält, wird bei ausbrechendem Zahlungsunvermögen als fahrlässiger Bankrutirer bestraft.«
Zwar hatte das Preußische Allgemeine Landrecht in Lübeck keine Gültigkeit, aber eine solche Art der Buchführung war auch in den Hansestädten für einen ordentlichen Kaufmann selbstverständlich. Wie solche Bilanzen auszusehen hatten, beschreibt das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch. Es wurde zwar erst 1861 eingeführt, basiert aber auf schon vorher gebräuchlichen Konventionen: »Jeder Kaufmann hat bei dem Beginne seines Gewerbes seine Grundstücke, seine Forderungen und Schulden, den Betrag seines baaren Geldes und seine anderen Vermögensstücke genau zu verzeichnen, dabei den Werth der Vermögensstücke anzugeben und einen das Verhältniß des Vermögens und der Schulden darstellenden Abschluß zu machen; er hat demnächst in jedem Jahre ein solches Inventar und eine solche Bilanz seines Vermögens anzufertigen.«
Die Bilanz eines Kaufmannes zeigt also auf einen Blick, ob sein Vermögen ausreicht, alle (Wechsel)-Schulden zu bezahlen, und wie hoch sein Restvermögen nach Abzug der Verschuldung ist. Ernst Elfeldt war 1856, als er um Elisabeth Mann zu werben begann, erst seit zwei Jahren im Geschäft. Es war also nicht besonders aufwendig, ein zweites Buch mit geschönten Bilanzen für 1854 und 1855 zu schreiben, das wären jeweils nur wenige Seiten gewesen. Eine solche Arbeit kann man zügig erledigen, wenn man von den vorhandenen Aufzeichnungen ausgeht und Vermögensgegenstände dazu erfindet bzw. Verpflichtungen gegenüber Dritten reduziert oder ganz wegläßt. Ist der Fälscher seiner Sache sicher, beschränkt er sich auf die Erstellung erfundener Bilanzen und vertraut darauf, daß der wohlmeinende Schwiegervater sie für bare Münze nimmt und nicht weiter recherchiert, ob die aufgelisteten Vermögenswerte tatsächlich existieren oder Schulden, insbesondere ausstehende Wechsel, verschwiegen wurden. Wer die kriminelle Energie besitzt, so etwas zu tun, ist natürlich auch in der Lage, das entsprechende Hauptbuch mit den einzelnen Geschäftsvorgängen nachträglich zu erstellen. Das ist zwar deutlich mehr Arbeit, hätte bei einer jungen Firma aber ebenfalls in wenigen Tagen erledigt werden können. Damals wie heute gilt: Der Bilanzfälscher hat Erfolg, wenn seine kriminelle Energie größer ist als die Zweifel oder der Aufklärungswille des Prüfers. Zudem gab es damals noch keine Verpflichtung, Bilanzen von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer kontrollieren zu lassen. Das erschien unnötig, weil der Kaufmann mit seinem ganzen Vermögen persönlich haftete – die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) war noch nicht erfunden. Im eigenen Interesse wirtschaftete der Kaufmann daher vorsichtig. Da er seine Bücher aber selbst erstellte und niemand sie kontrollierte und mit Prüfvermerken versah, konnte man gefälschte nicht ohne weiteres von echten unterscheiden.
Elisabeth Mann heiratete Ernst Elfeldt im Mai 1857. Noch hätte die Sache gutgehen können, denn er war ja nur mit 1800 Mark verschuldet. Zwar hätte er schon zu diesem Zeitpunkt Konkurs anmelden müssen, aber die 5000 Mark Mitgift genügten zunächst, um ihm aus der Patsche zu helfen. Etwas frisches Geld für neue Geschäfte war auch noch übrig, nämlich rund 3200 Mark.
Die Sache ging aber nicht gut. Was Elfeldt nach der Hochzeit widerfuhr, wird durch das bekannte Zitat des Fußballers Jürgen Wegmann treffend beschrieben: »Zuerst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu.« Möglicherweise auch von der Anspruchshaltung seiner verwöhnten jungen Frau getrieben, geht Elfeldt größere und vor allem risikoreichere Geschäfte ein, eine ebenso gefährliche wie typische Reaktion von undisziplinierten Spielern, die einen Anfangsverlust erlitten haben. Wahrscheinlich wäre seine Taktik auf die Dauer sowieso nicht aufgegangen, aber Elfeldt hat das Pech, sein Geschäft und auch sein Risiko zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt auszuweiten, nämlich im Sommer 1857, am Vorabend der großen Kreditkrise. Diese Krise, der jüngsten von 2009 nicht unähnlich, nimmt ihren Ausgang im August 1857 im amerikanischen Mittelwesten. Nach dem Ende des Krimkriegs wird Rußland wieder lieferfähig und ukrainisches Getreide drängt auf den europäischen Markt. Damit fällt dieser für amerikanische Exporte aus, die Farmer können ihre Ernte nicht verkaufen. Das bringt die US-Banken in Schwierigkeiten, die ihnen im Vertrauen auf die zu erwartenden Erlöse Geld geliehen haben. Wie das Kippen eines einzigen Dominosteins in einer Kettenreaktion auch die anderen zu Fall bringt, geraten Banken und Handelsfirmen in der ganzen Welt ins Straucheln. Die Krise greift von jenseits des Atlantiks nach London über und erreicht im November 1857, vier Monate nach der Heirat Elisabeth Manns, Hamburg. Im Dezember kann Elfeldt einen Wechsel (eine Art Schuldschein) nicht einlösen und erklärt sich vier Tage später für zahlungsunfähig. Anders als viele Zeitgenossen war er aber kein unschuldiges Opfer der Krise, sie hat seinen Untergang nur beschleunigt bzw. ihn daran gehindert, seine Überschuldung weiter zu vertuschen. Als der Konkurs nach fünf Jahren abgewickelt ist, stellt sich heraus, daß praktisch kein Geld mehr vorhanden war. Die Gläubiger bekommen lediglich eine Quote von 2,44 % ausgezahlt. Johann Siegmund Mann verzichtet auf seine Forderungen in Höhe von 24 576 Mark, nur so kann überhaupt etwas ausgezahlt werden. Der eigentliche Schaden, den Elfeldt der Familie Mann zufügte, bestand nicht im Verlust der Mitgift. Schmerzlicher waren die 25 000 Mark für Getreidelieferungen, die er seinem Schwiegervater mit wertlosen Wechseln bezahlt hatte. 30 000 Mark entsprachen etwa 15 % des Gesamtvermögens von Johann Siegmund Mann. Kurz nach Eröffnung des Konkursverfahrens verschafft dieser seinem Schwiegersohn eine kleine Anstellung in Uetersen bei Hamburg. Es war offensichtlich der Versuch, diesen aus der Schußlinie zu nehmen. Da Elfeldt als Hamburger Agent von J. S. Mann aufgetreten war, stand auch dessen Ruf auf dem Spiel. Das erklärt, warum er zugunsten der anderen Gläubiger auf seine Forderungen verzichtete. Anders als in »Buddenbrooks« trennen sich die Eheleute nicht sofort, sondern leben in Uelzen noch vier Jahre zusammen. Erst Ende 1861, anderthalb Jahre vor dem Tod des Vaters, verläßt Elisabeth Mann ihren Gatten und kehrt ins Elternhaus zurück. Der Lula-Brief wirft ein Schlaglicht darauf, daß ihre Ansprüche an ein standesgemäßes Leben zum Scheitern ihres Mannes wohl mit beigetragen haben. Über die Zeit in Uelzen schreibt Lula: »Hier verlebte sie zwei schreckliche Jahre, in den ärmlichsten Verhältnissen.« Wie gesagt, in Wirklichkeit waren es vier. Etwas weiter heißt es: »Von 1500 Mark mußte sie mit ihrer Familie leben.« Elisabeth Mann hatte also mehr als das Dreifache des Jahresgehalts eines einfachen Arbeiters zur Verfügung, umgerechnet etwa 80 000 Euro. Ihr Vater unterstützte die Familie nämlich finanziell, und zwar, wenn wir dem Lula-Brief trauen wollen, auf einem Niveau, das dem Einkommen eines leitenden Angestellten entsprach. Zum Vergleich: Seinem Prokuristen bezahlte Johann Siegmund Mann 1857 ein Fixgehalt von 1250 Mark zuzüglich einer kleinen Gewinnbeteiligung. Mit dem Verlust ihrer Mitgift büßte Elisabeth Mann auch ihre Chance auf finanzielle Unabhängigkeit ein. Johann Siegmund Mann der Jüngere enterbte in seinem Testament die »innig geliebte Tochter«, um »weitere derartig trübe Erfahrungen zu verhindern«. Auf den ersten Blick wirkt das zynisch und grausam. Wenn man sich aber mit den rechtlichen Hintergründen 562 Umschau beschäftigt, wird die Formulierung nachvollziehbar. Elisabeth Mann lebt 1863, als ihr Vater stirbt, zwar getrennt von ihrem Mann, ist aber noch mit ihm verheiratet und daher in einer Gütergemeinschaft. Ihr Erbteil wäre somit unter Elfeldts Verfügungsgewalt geraten, und das wollte der Vater verhindern. Statt dessen fällt es an ihre bigotte Mutter, von der sie fortan abhängig ist und mit der sich die lebenslustige junge Frau schlecht versteht. Aus dieser Zwangslage flüchtet sich Elisabeth Mann, kaum daß ihre Scheidung rechtskräftig ist, in eine zweite Ehe mit Gustav Haag. Sie gerät vom Regen in die Traufe, denn auch dieser gerät in wirtschaftliche Schwierigkeiten und landet sogar im Gefängnis. Sie läßt sich ein zweites Mal scheiden. Ernst Elfeldts Leben nimmt einen anderen Verlauf: Er heiratet eine junge Frau, die offenbar besser zu ihm paßt, denn diese zweite Ehe hält. Er erfindet sich gewissermaßen neu und findet in die bürgerliche Gesellschaft zurück. Den Erfolg, der ihm als selbständiger Kaufmann versagt blieb, hat er als leitender Angestellter. Nach Stationen in Hamburg und Wien zieht er 1890 nach Lübeck. Dort engagiert er sich im Industrie- Verein für das Wohl der Stadt und wird ein angesehener Bürger. Seiner Witwe hinterläßt er ein beachtliches Vermögen in Höhe von über 80 000 Mark. Ironischerweise entspricht Elfeldts reales Vermächtnis also in etwa dem – fiktiven – Betrag der verlorenen Mitgift Tony Buddenbrooks. Aber auch Elisabeth Manns Leben wendet sich zumindest finanziell zum Guten. Als ihre Mutter 1890 stirbt, erbt sie ihren Anteil des Riesenvermögens, nämlich 248 000 Mark. Den gleichen Betrag erhielten die beiden Geschwister. Anders als in »Buddenbrooks« beschrieben, werden die verlorenen Mitgiften nicht von ihrem Erbe abgezogen. Von den Erträgen dieses Vermögens, knapp 10 000 Mark jährlich, konnte man damals sehr gut leben. Elisabeth Mann stirbt 1917.
Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook, SINN UND FORM 4/2022, S. 558-562
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Eskin, Michael
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Eskin, Michael
Tauchen mit Descartes Gespräch mit Durs Grünbein
MICHAEL ESKIN: Sie haben einmal gesagt, »Der cartesische Taucher« sei Ihr vielleicht wichtigstes Buch. Könnten Sie das näher erläutern?
DURS GRÜNBEIN: Dieses Buch ist im Grunde ein ,Kommentar’ – zu dem Buch, das mir am meisten am Herzen liegt, dem Erzählpoem »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland«. Mit ihm habe ich mich als Dichter am weitesten vorgewagt, den größten Abstand zu unserer Gegenwart gewonnen und sie so, aus der barocken Vogelperspektive, zum ersten Mal deutlich gesehen: als die gewaltige Neuzeit, die sie ist. Das ist der Sinn meiner cartesischen Expedition. Ich habe mich wie Selma Lagerlöfs Nils Holgersson – mein liebstes Kinderbuch – auf die Reise gemacht, um das Gelände kennenzulernen, in dem wir technisierten Wesen uns heute bewegen. Nur mußte ich dazu eine Zeitreise antreten, mußte zurückfliegen in die Epoche des Dreißigjährigen Krieges, der Glaubenskämpfe und wissenschaftlichen Revolutionen in einem Europa, das daran ging, mit allem Tabula rasa zu machen. Die kopernikanische Wende war eben eingetreten, die Teleskope rückten den Mond und die Planeten in vertraute Nähe, die Mikroskope begannen das Körperinnere zu erkunden. In dieser Zeit zerbricht das Reale in zwei Teile: hier die ausgedehnte Substanz – die Materie, der Kosmos, die vieltausendfachen Erscheinungen des Seins –, und dort die erkennende Substanz – der Geist, das Bewußtsein, das sich mit allen technischen Mitteln hineinfräst in die Natur und sie so endgültig verwandelt und zivilisiert. Ich wollte das Abenteuer des berühmten Cogito oder Erkenntnis-Ichs im Moment seines Beginnens, am Ort seiner Entstehung sehen. Es geht um die Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Winters, um Descartes’ Visionen am Rande der sogenannten Kleinen Eiszeit, die damals Europa heimsuchte. Davon handelt mein Poem, und von den Hintergründen desselben handelt »Der cartesische Taucher«. Beide Bücher gehören zusammen, sie sind die zwei Seiten einer Medaille.
ESKIN: Ihr poetisch-philosophisches Meditationsbuch, das im Dialog mit den »Meditationen« von Descartes und den »Cartesischen Meditationen« Edmund Husserls steht, scheint mir aber doch auch ein ganz eigenständiges Werk zu sein. Sie schreiben, der »Discours de la méthode« sei ein »verwegener Coup« gewesen, der sich, »im Grunde kaum mehr als ein Vorwort, bestimmt für ein fachfremdes Publikum«, als »folgenreichster Bildungsroman der Neuzeit« entpuppte. Ist »Der cartesische Taucher« nicht ein ebensolches Manifest, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen?
GRÜNBEIN: Die Zeit der Manifeste ist vorbei. Unsere poetischen Rechenschaftsberichte sind heute sehr viel bescheidener, aber dafür auch spezifischer. Ich habe in einer Poetikvorlesung gesagt: »Ungeliebt wie der Kriegsdienst und die Ämterbürokratie ist das Diktat der Künstler und Literaten in eigener Sache«. Ein Dichter kann heute nur aus seiner begrenzten Perspektive heraus nachdenken. Deshalb bevorzuge ich den Ausdruck Meditation, er hat etwas von Klausur und Vergewisserung, er betont das Moment der Einkehr bei sich selbst. Wir meditieren, um uns über etwas klar zu werden, das ist eine Expedition mit offenem Ausgang, kein Schaulaufen mit festen Begriffen. So weiß ich zum Beispiel noch immer nicht, wie Gedichte eigentlich funktionieren. Ich ahne etwas von gebündelter Wortenergie und davon, daß gute Poesie etwas in uns aufwühlt, was dort lange geschlummert hat und nur geweckt werden mußte. Aber wie dieser Weckdienst für die versiegelten Emotionen und Erlebnisse im einzelnen abläuft, warum gewisse Verse etwas in unserer Psyche auslösen, andere nicht – das ist eine Frage, bei der ein Barockphilosoph genauso mitreden kann wie ein Literaturwissenschaftler von heute. Was weiß denn die Gehirnforschung über die Funktionsweise von Metaphern? Wie kommt es, daß uns Gedichtzeilen ein Leben lang verfolgen? Das sind alles Fragestellungen, denen eine künftige Physiopoetik nachgehen könnte. Ich habe nur ein paar Gedanken weitergesponnen, die sich bei meiner alexandrinischen Schlittentour mit dem Philosophen Descartes ergeben haben.
ESKIN: Am Ende Ihrer Meditationen schreiben Sie: »Um Poesie zu betreiben, aber mehr noch, um sie recht zu verstehen, das heißt, ihr in aller Innigkeit und auf gleicher Höhe mit ihren Geistesblitzen zu begegnen, braucht es ein gut gefügtes Gehirn.” Was meinen Sie damit?
GRÜNBEIN: Das klingt sehr provokativ, nicht wahr. Wenn man den Anfang des Büchleins aufschlägt, stößt man auf das Briefzitat von Descartes, wo er vom gut gefügten Gehirn spricht ("un cerveau bien rassis«). Ehrlich gesagt, war es diese Formulierung, die mich am meisten überrascht hat und die zum Auslöser wurde für alles. Monatelang ist mir diese Wendung im Kopf herumgespukt, dann habe ich mich hingesetzt und die Meditationen geschrieben. Ich interpretiere die Stelle im Licht der cartesischen Seelentheorie, die eine Weiterentwicklung antiker Temperamentenlehren ist, medizinische Erkenntnisse der Barockzeit berücksichtigt und so zum Vorläufer der Psychophysik im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wurde. Soviel ich weiß, haben wir keine Psychoanalyse, die an Strukturen der Dichtung anknüpfen würde. Ich bin also gezwungen, mich bei älteren Schriftstellern umzusehen. Das gut gefügte Gehirn, wie Descartes es versteht, ist eines, das mit Erschütterungen durch das Erhabene umzugehen weiß. Es hält die sprachlichen Sensationen aus, so wie ein echter Cineast noch die aufwühlendsten Bilder auf der Kinoleinwand verarbeiten kann. Das hat nichts mit Abstumpfung zu tun, sondern im Gegenteil mit ästhetischer Erziehung. Aber ein gewisser Anteil von seelischer Begabung gehört auch dazu. Es gibt auch im Leser ein Talent und eine Charakterstärke, die vonnöten sind, um Poesie auszuloten und zu ertragen. Zu Descartes’ Zeiten waren es eben Verse, die die Seele in einen Taumel versetzen konnten, es war Lektüre, die aufputschte, das barocke oder antike Drama mit seinen heißen Stellen. Heute braucht es ein gut gefügtes Gehirn, um der schrecklichen Medien- und Kinobilder Herr zu werden und nicht in Depressionen zu versinken angesichts des täglichen Beschusses mit Photographie und Television, dieser Pornographie des Realen.
ESKIN: Wie müßte eine Lektüre aussehen, um sich als ein solches Mit-Meditieren zu entfalten?
GRÜNBEIN: Als Leser streiche ich mir gern Stellen an, die ich mit anderen Stellen in anderen Büchern verknüpfen kann. So entsteht ein Gewebe aus Textpassagen, die zueinander passen, einander ergänzen und erweitern. Ein solches Vorgehen seitens des Lesers habe ich mir immer auch für meine Schriften gewünscht. Ich sehe mich als Teil eines Kontinuums zentraler Gedanken, an denen Kunst und Philosophie sich seit langem abarbeiten. Mein einziges Mitspracherecht ist die Poesie. Auf sie muß ich mich verlassen können, und vice versa. Sie verlangt nach der Überraschung, sie sucht das geistige Abenteuer, die Verblüffung, darf alle ihr zur Verfügung stehenden Ausdruckstechniken anwenden. Die Poesie gestattet es einem, Sprünge zu machen, sich als Känguruh durch die Landschaften der Imagination zu bewegen. Die philosophische Meditation zu Zeiten Descartes hatte dagegen eine klare Funktion, sie kam aus einer langen theologischen Tradition und konnte sich auch auf die christliche meditatio der Mönche berufen. Sie war ein strenger Disput mit sich selbst, der Versuch, den eigenen Thesen die Form einer öffentlichen Beichte zu geben. Und die Geister der Zeit waren eingeladen, Widerspruch anzumelden, Ergänzungen, Einwände anzubringen, darauf wurde dann wieder geantwortet, bis das Argument rundum verteidigt war. Dichtung muß nicht argumentativ überzeugen, sie sollte anregen und verführen. Die Bezeichnung Meditation weist aber darauf hin, daß auch der Dichter am erkenntniskritischen Gespräch teilnehmen möchte. Die Reflexion der Vorstellungskraft ist ein Thema, bei dem wir aufeinander zugehen müssen. Es betrifft die Art, wie wir Erkenntnisse vermitteln, und ist damit universell und nicht-exklusiv.
ESKIN: Wie denken Sie über das Potential des »Cartesischen Tauchers« im englischsprachigen Raum? Glauben Sie, daß Descartes im kulturellen Bewußtsein der USA eine besondere Stellung einnimmt?
GRÜNBEIN: In Sachen Descartes geschieht fast alles in den Vereinigten Staaten. Mir scheint, die Liste der Neupublikationen dort übertrifft selbst sein Geburtsland Frankreich. Viel Polemik kommt von Seiten der Neurowissenschaften. Man denke nur an Damasios Bestseller »Descartes’ Irrtum«. Leider kennen die Naturwissenschaftler und Mediziner ihren Descartes nur sehr oberflächlich. Er ist für sie so etwas wie eine Vogelscheuche auf dem weiten Feld der Philosophiegeschichte. Weit sachlicher ist die Auseinandersetzung unter den Schulphilosophen. Für einen Meister wie Stanley Cavell wird Descartes zum Kronzeugen der Abrechnung mit gewissen Auswüchsen der Analytical Philosophy. Für Lacan ist er geradezu der Gegenpol zu Sigmund Freud in seiner Subjektkonstruktion. Die cartesische Position ist unverzichtbar, will man den leeren Ort fassen, von dem aus das moderne Subjekt jenseits aller Einzelpsychen operiert. Nur so läßt sich die Katastrophe der Verantwortungslosigkeit in den Naturwissenschaften begreifen. Bemerkenswert ist die Betonung des dynamischen Wandels im cartesischen Denken, den man erst heute deutlicher sieht, so etwa in Machamer und McGuires jüngst erschienener schöner Studie »Descartes’s Changing Mind«, die das lebendige Interesse an unserem Helden bezeugt. Darüber hinaus ist er zum Darling der Biographiesektion geworden. Wir müssen uns klarmachen, daß Descartes für das Verständnis des neuzeitlichen Bewußtseins und der Entwicklung der westlichen Philosophie mindestens so bedeutend ist wie Sigmund Freud für das zwanzigste Jahrhundert. Er ist eine der großen geistigen Gründerfiguren der Neuzeit, ein Pionier, der in Grenzbereiche vorstieß, und als solcher dürfte er auch für amerikanische Leser von Interesse sein. Vergessen wir nicht, daß wir es hier mit einem geistigen Unternehmer zu tun haben, er war der Metaphysiker als Selfmademan. Descartes war gewissermaßen eine reisende Universität, einer, der in ganz Europa unterwegs war (die meiste Zeit in Holland) und doch per Korrespondenz vernetzt blieb mit den wichtigsten Gelehrten seiner Zeit. In dieser Hinsicht haben ihm Philosophen wie Leibniz oder Pascal, seine ersten großen Kritiker, nachgeeifert. Diesem Chevalier mit seinen lebenslangen Streifzügen durch die kühle, erregende Welt des reinen Denkens und der Vivisektion ist der größere Teil der Menschheit seither gefolgt, bewußt oder unbewußt. In einem meiner frühen Gedichte sah ich den Poeten einmal in der Gestalt eines cartesischen Hundes.
ESKIN: Was Sie eben ausgeführt haben, erklärt vielleicht, warum Descartes in den USA so populär ist, wo er doch als Europäer par excellence der Alten Welt viel näherstehen sollte.
GRÜNBEIN: Descartes ist so populär, weil er den Glücksrittern Amerikas eine schmeichelhafte Vorstellung davon verschafft, wie man sein Ich maximal vergrößert. Da ist die Welt: nimm sie dir! Die Instrumente dafür liegen bereit, dein gestähltes Erkenntnis-Ich durchbricht alle Grenzen. Yes, you can …
[...]
SINN UND FORM 3/2011, S. 389-402
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Estis, Alexander
Keinen Roman schreiben
Keinen Roman schreiben
Die erste Voraussetzung, um keinen Roman zu schreiben, ist eine rege Phantasie. Ein Mensch mit schwacher Vorstellungskraft verfällt leicht auf die Idee, sich einen Roman ausdenken zu müssen. Das ist verständlich; so viele schreiben Romane. Unzählbar sind die Anleitungen, wie man einen Roman schreibt, keine einzige rät, wie man sich dessen enthält. Denn es gibt hierzu keinen Königsweg, keine sichere Methode. Man ist auf sich gestellt, an den Schreibtisch geworfen, vor das leere Blatt, das zum Roman verführt. Jetzt hilft es nicht, sich unterm Tisch zu verstecken; man muß die Sache mit Geist angehen. Denken muß man. Es sind schon vielbändige Monographien verfaßt, ganze Philosophien erschaffen worden aus dem Wunsch heraus, am Romanschreiben vorbeizukommen. Interessen und Berufe wurden erfunden von Menschen, die keine Romanciers sein wollten. Daß eine vielfältigere Vernunft zur Unterlassung der Romanschriftstellerei notwendig ist als zu deren Ausübung, sieht man schon daran, was alles von Menschen erdacht wurde, die keine Romane im Sinn hatten, während jene, die sich anschickten, einen Roman zu liefern, im Ergebnis eben nur immer Romane vorbrachten, und manchmal nicht einmal das.
Sodann: Wie miserabel, wie langweilig, langatmig und gleichartig sind die meisten normalen Romane; dagegen wieviel Varianten hervorragend unverfaßter Romane!
Auch an der Frist erkenne man, welches Werk das größere sei: Es mag noch so viele Jahre dauern, einen Roman abzuschließen – keinen Roman zu schreiben nimmt ein ganzes Menschenleben in Anspruch. Hier bedarf es größtmöglicher Ausdauer und Strenge des Entschlusses. Mithin: Harte Arbeit und bisweilen kräfteaufreibender Widerstand sind unabdingbar. Manch einer scheint noch zum äußersten bereit, durchwandert die Wüsten des Orients oder streift durch antarktische Eisfelder, nur der Vermeidung halber, erforscht die Grate kaukasischer Berge, setzt sich Gefahren aus, zieht in Kriege oder, noch ärger, schreibt Verse; amphibrachische, sapphische, hexametrische, alexandrinisch-heroische; schreibt poetische Prosa, Palindrome, Parabeln und Priameln – aber schreibt beileibe keine Romane! Dazu gehört ein großer Wille. Dazu gehören auch Glück und Talent; und es gibt sogar Tage und Stunden, an denen man ganz besonders dazu aufgelegt ist, als ein Genie der Enthaltung, nicht einmal daran zu denken.
SINN UND FORM 1/2021, S. 66-72, hier S. 67-68
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Ette, Wolfram
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Ette, Wolfram
Automaten des Glücks
I.
Es gab in der Kindheit diese Kaugummiautomaten. Sie waren auf unserer Augenhöhe angebracht, dort, wo die Erwachsenen selten hinsahen, weil sich dort nichts für sie Wichtiges befand. Wie Schwalbennester klebten sie an den Häuserwänden, ein rotes oder blaues Metallgehäuse umgab eine Dose aus meist milchig gewordenem Plastik, die die begehrte, schlecht sichtbare Ware enthielt. Die Automaten funktionierten mit Hilfe eines Drehmechanismus. Man legte zehn Pfennig quer in eine dafür vorgesehene Öffnung. Dann ließ sich der Griff nach rechts drehen – schon das Knacken, mit dem die Münze die Sperrmechanismen löste, deren Widerstand sich der Hand mitteilte, bereitete Lust –, und unten, aus einer Art Maul, rollte das blaßfarbene Kaugummi heraus. Der Vorgang war risikobehaftet. Der Drehgriff war so angelegt, daß er manchmal zurückschnappte. Deswegen mußte die linke Hand helfen und den eher zu kleinen Griff festhalten. Die rechte Hand konnte dann umgreifen und die Runde vollenden. Wenn es mißlang, hatte man meistens Glück und die Münze war noch am Ort. In seltenen Fällen war sie durchgefallen. Dann hatte man verloren. Allerdings entsprach diesem Verlustrisiko eine komplementäre Chance. Ganz selten rutschten zwei Kaugummis durch. Unzählige Male versuchte ich, diesem Vorgang durch sachtes Hin- und Herbewegen des Griffs an der richtigen Stelle nachzuhelfen. Vergeblich: Die zufällige Lage der Kaugummis ließ sich nicht beeinflussen; das Glück mußte auf meiner Seite sein. Notwendig war es außerdem, die freie Hand unter das Maul zu halten, dessen Metallklappe oft ausgebrochen war. Sonst bestand die Gefahr, daß die Kaugummis aufs Pflaster fielen, in den Rinnstein rollten. Aber dann durchströmte mich die Süße – schoß mir verstörend ins Hirn, zog den Mund schmerzhaft in die Breite. Man mußte sich durcharbeiten. Das Äußere war hart und vertrocknet von der wer weiß wie langen Lagerung bei jedem Wetter. Erst nachdem man eine Weile gierig-verzweifelt auf der sonderbaren Masse herumgebissen hatte, wurde sie weich. Irgendwann aber war die Süße verschwunden. Was blieb, war die Erinnerung an diesen unerhörten ersten Zugriff, diesen mystischen und qualvollen Moment. Es gibt diese Automaten immer noch, meist mit Rostblüten und kleinen Aufklebern bedeckt. Verlottert wie in den sechziger und siebziger Jahren. Ein übersehenes Stück Wirklichkeit wie die Bordsteine und Gullis, an denen wir spielten, und die zugewachsenen Weltkriegsbrachen, auf denen wir uns herumtrieben, ohne daß uns jemand bemerkte. Aber sie führen mir vor Augen, daß ich selbst erwachsen geworden bin. Denn suche ich sie jetzt, diese mythischen Objekte an den Wänden, so übersehe ich sie häufig, und es ist meine Tochter, die mich auf sie hinweist. All das, was an sentimentaler Erinnerung daran noch vorhanden ist, ist jetzt überdeckt von Ekel und ungläubigem Staunen darüber, daß diese Automaten vom dichten Netz der deutschen Hygienevorschriften nicht erfaßt wurden. Wie alt mögen die Kaugummis sein, die man ihnen entnimmt – zwanzig Jahre? Und wieviel Chemie steckt in ihnen, damit sie überhaupt eßbar sind? Diesen Ekel gab es früher nicht. Was uns beschäftigte, war das Gefühl, in diesen Automaten etwas Entlegenes und Übersehenes, einen Schatz, ein überaus kostbares Fundstück entdeckt zu haben, das den Zugang zu einer anderen Welt versprach. Es ist erstaunlich, daß Joanne K. Rowling mit ihrer nachtwandlerischen Sicherheit für Stellen, an denen die Welt der Kinder an die Welt der Magie grenzt, dieses Requisit übersehen hat. Ist es von drei Automaten stets der mittlere, der einem den Zugang zur Parallelwelt eröffnet? Sind zwei Automaten synchron zu bedienen (so wie in »Jim Knopf und die Wilde 13« die dreizehn Türen im selben Augenblick geöffnet werden müssen, um das »Land, das nicht sein darf« untergehen zu lassen) und von wem? Kommt es darauf an, bestimmte Münzen einzulegen? Eignen sich dafür nur unbenutzbar gewordene Automaten, die aus dem Produktionskreislauf herausgefallen sind? Die Automaten mit den Kaugummis für zehn Pfennig waren der Standard. Es gab aber auch solche, in denen doppelt so große Kaugummis für zwanzig Pfennig verkauft wurden. Der Mechanismus sah genauso aus, war aber viel komplizierter. Denn es bedurfte zweier voller Umdrehungen, um den Fall des Kaugummis auszulösen. Die erste Münze mußte also irgendwo zwischengelagert werden. Wie ging das zu? Daran schlossen sich weitere Fragen: War das Doppel-Kaugummi wirklich genau doppelt so groß wie das einfache? Oder gar etwas größer? Oder womöglich kleiner? All dies beschäftigte mich und verhieß einiges. Um so größer war dann die Enttäuschung. Diese Kaugummis waren eigentlich zu groß. Es war schwer, sich durch ihre Schale zu beißen, und wenn es gelang, war der Mund mit einer erstickend großen Menge der zähen, immer geschmackloser werdenden Masse angefüllt, so daß nach kurzer Zeit der Kiefer höllisch schmerzte. Es war eine Versuchung, sich darauf einzulassen. Aber ihr nachzugeben wurde nicht belohnt. Ähnlich verhielt es sich mit der dritten Automatensorte, die für etwas mehr Geld – ich glaube, es waren fünfzig Pfennig – den Zauberspittel enthielt, nach dem die Kinder gieren. Ringe und Flummis; kleine Uhren mit fest aufgeprägtem Zifferblatt, die auf fünf vor eins eingestellt waren und also wenigstens zweimal am Tag richtig gingen; Anhänger für Halsketten und Armreifen und Miniaturtaschenmesser mit Blechklingen. Billigprodukte aus China, Vorläufer der Überraschungseier, Talmi und Straß, die das Leben im Kapitalismus erst schön machen. Dennoch stand auch hier der Glanz des Fernen und Geheimnisvollen, der sie umgab, im Mißverhältnis zu dem, was man bekam. Was sollte ich mit einem Plastikring, dessen metallische Oberfläche nach einem Tag schartig und durchscheinend wurde? Daß der Zauber der Ware faul sein konnte, wurde mir hier zum ersten Mal klar. Dennoch: Über die Jahre lohnte sich der Einsatz. Einmal gewann ich den Jackpot: ein kleines, messingfarbenes Feuerzeug, das mit Haushaltsbenzin zu befüllen war. Ich hatte es hinter der zerkratzten, in diesem Fall auch noch vergitterten Scheibe erspäht. Darauf richtete sich meine Sehnsucht, und der Moment, in dem ich es nach vielen Versuchen in Empfang nahm, war durchdrungen von Unglauben. Jahrelang habe ich es mit mir herumgetragen, gehegt und gepflegt und die innenliegende Watte erneuert. Mit dem Beginn der Pubertät ging es verloren – wie so vieles. Die Kaugummis für zehn Pfennig blieben sich aber immer gleich, bis heute. Es sind die Elementarteilchen einer Welt, die aus Zucker und süßem Saft besteht: No-name-Produkte, die sich keiner Marke zuordnen lassen. Ich kannte niemanden, der sie nicht begehrt und nicht von Zeit zu Zeit einen Teil des Taschengelds dafür geopfert hätte. Es waren klassenlose Süßigkeiten. Das scheint sich geändert zu haben. In den bürgerlichen Vierteln sind die Kaugummiautomaten kaum noch zu finden. Sie wurden offenbar abmontiert. Sind sie zum Vergnügen der Ausgeschlossenen geworden, der kleinen kahlrasierten türkischen und arabischen Jungen, die alleine oder allenfalls von ihren großen Schwestern begleitet auf der Straße herumlungern? Ist es das Brot der Armen, das letzte Versprechen für ein übergewichtig gewordenes Proletariat? Aber ich sehe niemanden mehr an diesen Automaten, auch keine Kinder. In der DDR, so höre ich, konnte man diese Automaten nicht finden. Typisch. Was uns auffiel an unserem häßlichen sozialistischen Geschwister, war genau das: das Pragmatische, Überrationale, Graue und Nüchterne; das Fehlen des magischen Zaubers der Ware, der für uns von solchen Automaten ausging. Dabei war es nicht der Zauber der Marke, es war nicht der Nimbus, mit dem insbesondere die Fernsehwerbung einzelne Produkte umgab, die deswegen im Osten fast noch größere Verehrung genossen als bei uns. Nein, es war das Rätsel der automatischen Produktion, der Zauber, mit dem der Kapitalismus sich selbst umgab, das fast religiöse Versprechen der Rationalisierung. Wir kannten das aus dem Märchen vom Tischleindeckdich. Irgendwann, so ahnten wir, würden die Maschinen alles selbst produzieren, inklusive ihrer selbst und des für sie notwendigen Geldes. Uns erwartete die Wiederkehr des Paradieses, in dem wir nicht arbeiten und kein Geld verdienen mußten, sondern einfach nur die Hand unter die immer gefüllten Automaten zu halten brauchten. Vielleicht ist die DDR in Wirklichkeit daran zerbrochen, daß sie mit diesem Zauber nicht aufwarten konnte, daß sie aus der Sicht von uns West-Kindern nichts versprach und nichts verhieß. Bei uns dagegen stellten die Automaten eine Art Vorgeschmack aufs Schlaraffenland dar, von dem wir freilich ahnten, daß es nicht kommen würde. Wir sahen ja unsere Eltern, sahen sie arbeiten, empfanden ihre schlechte Laune oder doch zumindest ihre Zeitnot. Die Automaten des Glücks konnten sie nicht sehen. Den fernsten, sich in der Unwirklichkeit einer nachträglichen Phantasie verlierenden Horizont dieser Erinnerungen bildet ein Automat, der sich im mittlerweile abgerissenen Freibad meiner Kindheit befand. Dieser Automat enthielt Pommes frites. Die meisten, denen ich davon erzähle, glauben mir nicht, meine Kindheitsfreunde können sich nicht erinnern, eine längere Recherche im Internet ergab nur wenig. Aber es hat offenbar solche Automaten gegeben, aus denen man sich für fünfzig Pfennig oder eine Mark, ausgelaugt und hungrig vom ständigen Wechsel zwischen dem Spiel an der Sonne und im überchlorten Wasser, die nahrhafte und fettige Ware zog. Das waren keine Süßigkeiten, sondern richtiges Essen, das von einer Maschine auf magische Weise zubereitet wurde. Eine Stadt, in der an jeder Ecke diese und ähnliche Automaten aufgestellt worden wären, das war die Stadt der Träume, das war die Stadt der Zukunft.
II.
Man kann wohl sagen, daß diese Phantasien sich nicht erfüllt haben. Was jetzt das Straßenbild der Städte dominiert, sind kaum die Vollautomaten mit ihrer illusionären Verheißung einer ohne den Menschen auskommenden Produktion. Es sind die ubiquitären Freßbuden und Schnellrestaurants: all die Tempelstätten des expandierten Dienstleistungssektors, in denen das Proletariat von heute kaputtgemacht wird. Ganz offensichtlich sind diese fleißigen, nach Möglichkeit jungen und attraktiven Menschen, von denen wir uns bedienen lassen, die Automaten, die noch weniger Pflege und Unterhaltung bedürfen als die von früher. Das Glück, das mir aus der Erinnerung an die Automaten der Kindheit zuströmt, speist sich aus der Utopie der von Menschen gemachten, sich selbst verschenkenden Natur – etwas, das es nicht gibt, das Perpetuum mobile. Die Wirklichkeit von uns Erwachsenen sieht anders aus. Wir sind Automaten des Unglücks – reduziert auf eine Funktion. Und wenn die Kosten des Unterhalts zu hoch werden, ersetzbar durch Hundertausende, die dasselbe besser und billiger machen, bis sie ihrerseits ausgetauscht werden. Die Verwandlung des Menschen in einen Automaten ist Grund und geheimes Ziel unserer Epoche, wieviel an Eigensinn sich auch dagegen regen mag, wieviel Kreativität und Erfindungsreichtum in der Anpassungsleistung frei wird, ja sie in gewisser Weise sogar ermöglicht: Der von Marx unter dem Titel der Entfremdung analysierte Subjekttausch von Mensch und Maschine ist die Dominante des gesamten Prozesses. Die Maschine, so heißt es in den »Ökonomischphilosophischen Manuskripten«, wendet den Menschen an, er wird zum Anhängsel der Maschine, zu Zahnrad, Baustein, Platine, wird zur Unterroutine eines von selbst laufenden Programms. Dabei ist es unerheblich, ob es sich wortwörtlich um einen maschinellen Produktionsprozeß oder um ein Geflecht von Normen oder Verwaltungsvorschriften handelt, die die einzelnen auf ihre Teilleistung für das Ganze reduzieren. Aus dieser Sicht ist es einerlei, ob ich am Band stehe, reduziert auf einen einzigen Bewegungskomplex, ob ich hungere, um meinen Körper den Erwartungen meines Vorgesetzten und des zahlenden Publikums anzupassen, oder ob ich als Journalist, Schriftsteller oder Wissenschaftler meine Sätze so mit Textbausteinen fülle, daß sie, vor allem Inhaltlichem, meine Zugehörigkeit zur Gruppe derer, die in meiner Branche das Sagen haben, bekunden. Sicherlich bietet das Dienstleistungsgewerbe besonders unangenehmes Anschauungsmaterial. In einer gesellschaftlich vollständig akzeptierten Weise sind die Körper derjenigen, die in den Handyshops, den internationalen Freßbuden, teilweise sogar schon an Tankstellen und Spätshops arbeiten, zur Ware geworden. Wer nicht gut aussieht, kommt gar nicht erst rein; wer zu alt wird, fliegt raus. Aber »Dienstleister« sind wir alle. Das Phänomen hat weite Teile der totalitär werdenden Gesellschaft erfaßt, die Arbeit – weniger als Produktion denn als »Dienst« begreift. Mit schwindelerregender Dynamik hat sie das widerständig-produktive Wechselverhältnis von Mensch und Welt, Subjekt und Objekt umgeformt in Hingabe, blindes Funktionieren, rituellen Vollzug. Der ökonomische Erfolg der einzelnen hängt davon ab, wie sehr sie sich damit zu identifizieren in der Lage sind; wenn es darüber hinaus gelingt, etwas für sich selbst abzuzweigen, um so besser. Wem das nicht möglich ist, der hat es schwer. Diese Transformation vollzieht sich mit Wissen und Willen der meisten Beteiligten, und sie wird abgestützt vom ideologischen Mainstream. Seele, Geschlecht, Individualität, Sprache und Hautfarbe – das sind alles vorkapitalistische Rückstände, ein Erdenrest, zu tragen peinlich und hoffentlich bald beseitigt. Gleich sind wir nur als Automaten, als Roboter in Markenkleidung, trainierte Körper, die sich dem computergenerierten Idealmaß annähern, Niemand und Jedermann, am neuen Smartphone die Summe unserer Funktionen: Einkommen, soziale Verknüpfungen und Dinge, denen wir anhängen, die die anderen haben oder nicht. Die Automaten des Glücks waren den Menschen nicht ähnlich, und im Zwischenraum dieser Differenz lagerten die Phantasien, die uns beglückten. Sie waren kleine, unansehnliche Ausschnitte aus einer Welt, die zu der unsrigen ergänzend, bereichernd, luxurierend hinzutrat. Wenn Menschen zu Maschinen werden und Maschinen zu Menschen, droht der Zwischenraum sich so zu verengen, daß für die Träume vom Glück, die zu einem Teil schon das Glück selbst sind, kein Platz mehr bleibt.
SINN und FORM 6/2018, S. 846-849
Eysoldt, Gertrud
- 1/2002 | Max Reinhardt und seine Familie