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Gabrilowitsch, Jewgeni
- 6/1970 | Der kleine Soldat. Nach Motiven des Erinnerungsbuches »Unterwegs zu Lenin« von Alfred Kurella
Gabrisch, Anne
Gadamer, Hans-Georg
- 3/1991 | Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt
- 1/1993 | Über die politische Inkompetenz der Philosophie
- 1/1998 | Erhöhte Wirklichkeit der Kultur
- 2/2002 | Kairos - über die Gunst des Augenblicks und das weise Maß. Ein Gespräch mit Bernd H. Stappert
Gadda, Carlo Emilio
- 6/2012 | Die Villa in der Brianza
Gades, Antonio
- 5/1988 | Gespräch
Gal-Ed, Efrat
- 6/2016 | Das unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Ruth Renée Reif über Itzik Manger, S. 753 Leseprobe
Gal-Ed, Efrat
Das Unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Ruth Renée Reif über Itzik Manger
RUTH RENÉE REIF: Der »Prinz der jiddischen Ballade« wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen »jiddischen Baudelaire«, einen der größten Dichter jiddischer Sprache. In Ihrer Biographie entwerfen Sie ein lebendiges Bild seines Schaffens und seiner jiddischen Lebenswelt. Wie bewerten Sie aus heutiger Perspektive die Bedeutung seines Werks?
EFRAT GAL-ED: Itzik Manger war ein überaus origineller Künstler. Er schaffte es, eine eigene Stimme zu entwickeln, indem er verschiedene Formen der europäischen Literatur mit dem Jiddischen verschmolz. In den zwanziger Jahren übernahm er zum Beispiel die Ballade und goß das traditionell Jiddische in sie hinein. Das war völlig neu. Manger war mit der Weltpoesie vertraut. In seiner Lyrik setzte er neben romantischen auch symbolistische und expressionistische Stilelemente ein. Er leistete, was auch andere bedeutende Lyriker seiner Zeit leisteten. Nur hatte er das Unglück, dies in einer Sprache zu tun, die heute nur noch wenige Menschen lesen und sprechen.
REIF: Wie verbreitet war das Jiddische damals?
GAL-ED: Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde Jiddisch von etwa elf Millionen Menschen gesprochen. Über diese Sprachgemeinschaft hinaus war es aber nicht bekannt. Das hing vor allem mit dem Antisemitismus der dreißiger Jahre zusammen.
REIF: Wurden Mangers Texte zu seinen Lebzeiten in andere Sprachen übersetzt?
GAL-ED: Der Schriftsteller Alfred Margul-Sperber übersetzte bereits 1932 erste Balladen ins Deutsche, ebenso die Lyrikerin Rose Ausländer. Als Manger 1935 in Warschau unter dem Titel »Chumesch-lider« ("Fünfbuch-Lieder«) seine avantgardistischen Bibelgedichte herausgab, übertrug Mascha Kaléko einige Texte ins Deutsche, die neben ihrer Rezension in der »Jüdischen Rundschau« in Berlin erschienen. Nach Kriegsende kam es bis in die späten fünfziger Jahre zu keinen weiteren Übersetzungen. So blieb Manger die internationale Bekanntheit verwehrt.
REIF: »Niemandssprache« heißt Ihre Biographie. Sie greifen damit einen Ausdruck Itzik Mangers auf, der das Jiddische 1925 so bezeichnete. Warum schon damals?
GAL-ED: 1925 war Manger gerade vierundzwanzig. Er hatte seinen Militärdienst beendet und begann, für die jiddische Kulturföderation in Rumänien zu arbeiten, die aus einer Initiative des jiddischen Schriftstellers Elieser Steinbarg entstanden war. Manger reiste zwischen Bukarest, Jassy und Czernowitz hin und her, um Bildungsvorträge für die Jugend zu halten. Doch als junger Dichter wollte er auch veröffentlichen. Aus seinen Notizen hatte er jene Gedichte zusammengestellt, die er literarisch für gelungen hielt. Aber es mangelte an Verlegern, an literarischen Bühnen und vor allem an Geld. Angesichts dieser Schwierigkeiten griff Manger zu dem emphatischen Ausdruck »hefker«, was »herrenlos«, »vogel frei« oder »gesetzlos« bedeutet. »Jidisch is hefker« nannte er 1925 seinen Selbstverlag. Mit dieser Feststellung brachte er einerseits zum Ausdruck, daß Juden vogelfrei seien. Zum anderen war das eine Kritik an der jiddischen Gemeinschaft selbst, weil ihre Sprache weder Gesetze noch Traditionen habe und jeder mit ihr machen könne, was er wolle.
REIF: »Jiddisch, die wirkliche Volkssprache, wird gepflegt von den Arbeiterfreunden, den Sozialisten, Weltlichen«, zitieren Sie Alfred Döblin. War Mangers Entscheidung, Jiddisch als Dichtersprache zu wählen, ein politisches Bekenntnis zur Arbeiterschaft?
GAL-ED: Die Frage ist, ob er tatsächlich eine Wahl hatte. Er wuchs im multikulturellen Czernowitz auf. Jüdische Intellektuelle konnten zwischen Deutsch, Jiddisch und Rumänisch wählen. Sie identifizierten sich zumeist mit der deutschen Kultur und schrieben Deutsch. Das hätte auch für Manger nahegelegen. Er behauptete, anfangs deutsche Gedichte geschrieben zu haben. Ich habe aber bei meinen Recherchen kein einziges gefunden. Meine Vermutung ist, daß er seine frühen, stark von Germanismen geprägten jiddischen Gedichte als deutsche ansah. Denn ich bezweifle, daß er Deutsch so gut beherrschte, um Gedichte schreiben zu können. Das deutsche Gymnasium hat er ein knappes Jahr besucht, dann brach er die Schule ab und begann eine Schneiderlehre. Seine literarischen Kenntnisse erwarb er als Autodidakt. Rumänisch kam auch nicht in Frage. Das konnte er zwar sprechen, aber nicht schreiben. So blieb, als einzige Sprache, in der er sich wirklich ausdrücken konnte, seine Muttersprache, das Jiddische. In politischer Hinsicht war die Entscheidung für das Jiddische sicher ein Bekenntnis zur Arbeiterschaft. Manger kam aus dieser Schicht, wuchs in einem armen Schneiderhaushalt auf. Handwerker gehörten in der jiddischen osteuropäischen Gesellschaft zum Arbeitermilieu. Auch seine Haltung, vor allem in der Jugend, war antibürgerlich.
REIF: Fand Itzik Manger auch seine Leser unter den Arbeitern oder waren es doch eher die Intellektuellen, die sich für seine Gedichte und Balladen begeisterten?
GAL-ED: Die Arbeiter waren sein größtes Publikum. Nicht jeder konnte sich damals ein Buch kaufen; dazu waren Bücher zu teuer. Die Verbreitung der modernen jiddischen Literatur beruhte auf der Bekanntschaft mit den Autoren, die ihre Werke wie Handlungsreisende öffentlich vorstellten. Da gab es etwa in Belz die Kulturliga und in Warschau den Schriftstellerverband. Freitags kamen die Arbeiter aus den Provinzen und trafen im Verbandslokal mit den Schriftstellern zusammen. Die Delegierten aus der Provinz engagierten dann einen Autor, am kommenden Schabbat in ihre Stadt zu kommen, um über ein Thema zu sprechen und aus seinem Werk zu lesen. Vor diesem Hintergrund war ein Phänomen wie Itzik Manger möglich. Während seiner gesamten Jugend in Rumänien und auch später während der zehn Jahre, die er in Polen verbrachte, reiste er von Ort zu Ort, hielt Vorträge und rezitierte seine Gedichte. Die jiddische Intelligenz war ebenfalls von ihm begeistert, wie man in der jiddischen Presse nachlesen kann.
REIF: Itzik Manger betonte, ein säkularer Jude zu sein. Zugleich aber wurzeln viele seiner Stoffe in der religiösen Tradition. Wie ist dieser Widerspruch zu deuten?
GAL-ED: Diese Stoffe entstammen dem jüdischen Bücherschrank. Die hebräische Bibel und die Kommentarliteratur können als religiöse Texte betrachtet werden, doch für die damalige jiddische Intelligenz waren sie Kulturgut. Jiddische Dichter, die auf den Tanach, die hebräische Bibel, zurückgriffen, suchten damit nicht nur eine Anbindung an die eigene Volkstradition, sondern an etwas Universales. Denn die Schrift war auch Teil der abendländischen Kultur. Mit der Verarbeitung von Motiven, die jüdischen wie nichtjüdischen Kulturen gemeinsam waren, schlugen diese Dichter eine Brücke.
REIF: Tatsächlich verstand sich Itzik Manger als europäischer Dichter und betonte die Bindung des Jiddischen an Europa. Wie äußerte sich dieses Selbstverständnis?
GAL-ED: Die jiddischen Schriftsteller verstanden sich sowohl kulturell als auch politisch als Teil Europas. Jiddisch war das identitätsstiftende Medium der Minderheitskultur und zugleich die Voraussetzung ihrer europäischen Zugehörigkeit. Es entstand ›Jiddischland‹, eine ›Wortrepublik‹, die Jiddischsprechende weltweit vereinte. Gerade heute, da wir in der Kulturwissenschaft von Transkulturalität und Transnationalität sprechen, erscheint das kosmopolitische ›Jiddischland‹, wie es damals gelebt wurde, als großartiges europäisches Konzept. Manger gehörte der zweiten Generation moderner jiddischer Dichter an. Als Künstler fand er in den zwanziger Jahren zu seinem Stil. Da war die moderne jiddische Literatur gerade einmal sechzig Jahre alt. Manger hatte daher nur wenige Vorbilder. Mendele Moicher Sforim und Scholem Alejchem hatten keine Lyrik geschrieben, blieb also nur Jizchok Leib Peretz. Auf ihn konnte Manger sich beziehen. Hingegen waren expressionistische Dichter wie Melech Ravitch, Moische Broderson oder Uri Zvi Grinberg literarisch für ihn eher wie ältere Brüder. Manger orientierte sich bereits in den zwanziger Jahren an modernen jiddischen Dichtern in Amerika, darunter Impressionisten, Symbolisten und Mitglieder der avantgardistischen Gruppe »In sich«. Sie alle stammten aus Europa und arbeiteten in New York mit Konzepten der zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Literatur.
[...]SINN UND FORM 6/2016, S. 753-761, hier S. 753-756
Galbraith, Iain
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Galeano, Eduardo
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Gallant, Mavis
- 4/1985 | Aus dem fünfzehnten Distrikt
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- 6/1975 | Pablo Neruda - Ein unbekannter Dichter?
Gamarra, Pierre
- 5/1952 | La Bataille du Livre. Im Departement Indre
Gamsatow, Rassul
- 1/1969 | Mein Daghestan
- 3/1972 | Dialog über Kritik
- 2/1981 | Blick aufs Kommende. Gespräch mit Kasbek Sultanow
Gangolf, Paul
- 6/1992 | Briefwechsel mit Wieland Herzfelde
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- 4/1969 | Der glückverheißende Augenblick
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- 6/1970 | Der Rioni
Garai, Dodo
- 4/1990 | Dodo Garai, Alfred Kurella. Ein Briefwechsel
Garai, Gábor
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García Lorca, Federico
- 1/1967 | Das dichterische Bild
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- 3/1973 | Blacamán der Gute, Mirakelkrämer
- 5/1984 | Der Argentinier, der es fertigbrachte, dass alle ihn liebten
Garnier, Pierre
- 1/1955 | Betrachtungen über die junge französische Dichtung
- 3/1955 | Gruß an Thomas Mann. Hommage à Thomas Mann
- 4/1959 | Gedichte
Garrick, John
- 1/1994 | Zwei Stiere im Kampf. Die Rivalität von Hemingway und Maulraux in Spanien
Gasdanow, Gaito
- 6/2013 | Schwarze Schwäne
- 4/2020 | Straßenlaternen, S. 773 Leseprobe
Gasdanow, Gaito
Straßenlaternen
Die Bibliothek Sainte-Geneviève in Paris hat meines Erachtens vor allem den Nachteil, daß Rauchen dort verboten ist; weil ich gezwungen war, lange Stunden dort zu verbringen, litt ich sehr darunter. Mir standen zu der Zeit die Aufnahmeprüfungen für die Universität bevor; zum Kauf der kostspieligen politischen und philosophischen Bücher, deren Inhalt ich ungefähr zu kennen hatte, fehlte mir das Geld, so mußte ich mich wohl oder übel in die Bibliothek Sainte-Geneviève begeben. Alle vierzig oder fünfzig Minuten ging ich aus dem Lesesaal auf den Hof und zündete mir eine Papirossa an. Im Hof begegnete ich ein paarmal einem hochgewachsenen und bleichen, äußerst ärmlich gekleideten jungen Mann; wie ich war er Bibliotheksbesucher und leidenschaftlicher Raucher. Er hatte sonderbare, momentweise völlig leere Augen – Augen, die meine Aufmerksamkeit erregten; mir kam es stets vor, als wäre er einem Herzanfall oder einer Ohnmacht nahe. Ich lernte ihn nach ein paar Tagen näher kennen und fand in ihm einen Gesprächspartner, der mit einer überaus raschen, fast weiblichen Auffassungsgabe gesegnet war; und weil ich in meinem Leben nur fünf Menschen kennengelernt hatte, die ich als Gesprächspartner bezeichnen könnte, war mir diese Bekanntschaft sofort viel wert. Ich unterhielt mich jeweils lange mit diesem Mann; ihm war eine abnorme Transparenz der Vorstellungen und jene Leichtigkeit des Begreifens eigen, die ich in seltenen und rasch sich verflüchtigenden Momenten ebenfalls kannte und die entfernt an ein Schwindelgefühl erinnerten. Seine Erzählungen waren stets ein wenig ungeordnet, trotzdem lauschte ich ihnen mit Interesse, denn oftmals fand ich in dem, was er sagte, meine eigenen Gedanken, die ich, wie mir schien, zuvor noch nicht in Worte gefaßt hatte.
Jetzt, da seit unserer Begegnung einige Jahre vergangen sind, habe ich von diesen Erzählungen einen anderen Eindruck; sie enthalten etwas, das ich früher nicht begriffen habe. Wie es jemandem ergeht, der eine Fremdsprache kann, aber nicht mit der Sprechweise des Ortes vertraut ist, wohin die Reise ihn geführt hat – er begreift, was ihm gesagt wird, erst nach ein oder zwei Minuten, und bis zu diesem Moment des Begreifens bewahrt sein Gedächtnis eine Reihe vorerst sinnloser Laute –, so erging es auch mir: Ich hatte mir wirklich vieles gemerkt aus den Erzählungen meines Bekannten, ohne sie gänzlich zu begreifen; und erst jetzt ersteht vor mir, lautlos, die Bewegung der Wörter, die Veränderung des Tonfalls und die Vision der leeren, von Straßenlaternen erhellten städtischen Avenue, die in einer der frühen Erzählungen meines Freundes erstmals vor mir aufgetaucht war – in der Erzählung von den Straßenlaternen. Er hatte gesagt, von allen unvermittelten psychischen Schwankungen, die ihn bisweilen befielen, komme ihm jenes Gefühl am verwunderlichsten vor, das ihn lediglich zweimal heimgesucht und beide Male in ihm und in allem, was sein Leben ausmachte, tiefe Veränderungen bewirkt habe. Am ehesten habe es noch einer urplötzlichen Willenserkrankung geglichen, die weder durch seelische Erregungen noch durch einschneidende Mißerfolge hervorgerufen wurde. Sie tauchte auf, ohne daß ihr ein faßbarer Auslöser vorausgegangen wäre, bemächtigte sich seiner vollkommen, schwächte sich eine Zeitlang ab, überwältigte ihn dann erneut und verschwand schließlich. Beide Male bemerkte er eine unbezweifelbare Ähnlichkeit dieses Leidens mit körperlichen Krankheiten; es gab ebensolche Phasen der Verschlimmerung und der Besserung, ebensolche Krisen, und nur die Genesung verlief unterschiedlich; so war im ersten Fall viel Zeit erforderlich, um die Kräfte wiederherzustellen, im zweiten geschah das plötzlich und war radikal, bis das Leiden doch zurückkehrte, unvermittelt und furchtbar schnell. Es glich keineswegs einer seelischen Zerrüttung oder der Konzentration aller geistigen Fähigkeiten auf eine zerstörerische Idee, wie das für eine Geisteskrankheit typisch wäre. Seine sämtlichen Fähigkeiten blieben erhalten, er sah alles, was ihn sonst interessiert hatte, nahm es noch genauso wahr; aber sein Wille zu praktischer Tätigkeit atrophierte mit einem Mal, und dieses Aussetzen zog sogleich Veränderungen in seinem Privatleben nach sich. Die unbegreifliche Verlagerung seiner Aufmerksamkeit bewirkte sogar eine gewisse Sensibilisierung der Sinne, besonders von Gehör und Gesichtssinn; aber der Bereich, in dem es normalerweise um die materielle Lebensgrundlage ging, war ihm nun verschlossen, und während der gesamten Zeit der Krankheit kam ihm das nicht einmal in den Sinn; der Gedanke an die äußeren Existenzbedingungen tauchte erst wieder auf, wenn die Krankheit zu Ende ging. Es begann gewöhnlich damit, daß alle Menschen, die er liebte, und die Gedanken an sie allmählich in die Ferne rückten, wie im Traum fortgehende Frauen oder verschwindende Spukgestalten. Er sagte sich: »Da gibt es nun zwei oder drei Menschen auf der Welt, die ich am allermeisten liebe und um die sich mein jetziges Leben dreht. Was wird sein, wenn es sie nicht mehr gibt, wenn sie aus irgendeinem Grund von mir gehen?« Zu jeder anderen Zeit wäre ihm das als nicht wiedergutzumachendes Unglück erschienen, woran die Erinnerung ihn stets verfolgen würde. Aber damals gab er sich zur Antwort: »Tja, was schon, es wird sie eben nicht mehr geben, nichts weiter.« Eine solche Primitivität der Gefühle war ihm sonst nicht eigen, schon sie allein konnte ziemlich beunruhigend erscheinen.
In der Folge tauchten weitere Fragen auf: Wieso tut er, was er tagtäglich tut, was ihn belastet und ihm unangenehm ist und wozu ihn im Grunde niemand verpflichtet?! Also hörte er auf, frühmorgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und abends nach Hause zurückzukehren. Er hörte auf, sich selbst zu gehören; und innerhalb von zwei oder drei Tagen geriet er, schon in seinen Krankheitszustand versunken, in eine unendliche zeitliche Distanz zu allem, was seiner Erkrankung vorausgegangen war.
Damit nahm alles einen anderen Charakter an, und das erschien sonderbar, sobald die Krankheit auf dem Rückzug war. Er schilderte eine unbedeutende Vorstellung aus einer frühen Phase. Eines Nachts ging er – es regnete – durch eine schmale und lange Pariser Straße; er wußte nicht recht, seit wann er sie entlangging, sie würde auch nicht bald enden. So kam er an eintönigen dunklen Mauern vorbei, es regte sich kein Luftzug, und von seiner Papirossa stieg langsam der Rauch auf – ein kleiner Nebelfetzen, durchkreuzt von trüben Wassertropfen. Ziemlich weit vor sich sah er stets ein und dasselbe: zwei hohe Mauern, dazwischen den schwarzen nächtlichen Weg, gleichmäßige Pflastersteine, die vom Regen glänzten, und sonst nichts. Er blickte sich um – kein einziger Mensch war zu sehen, auch vor ihm nicht. An seine Empfindung in diesem Augenblick erinnerte er sich gut, es war regelrecht ein Absturz in der Zeit; Straße wie Weg kamen ihm endlos vor, während er selbst gleichsam irgendwo unterhalb der Zeit dahinschritt, sehr fern von seinem damaligen Leben. ›Wie fern!‹ dachte er – und ging weiter, drang immer tiefer ein in diese Finsternis und sah aus der Distanz, wie seine Gestalt bald an der, bald an jener Ecke auftaucht, wie sie hinter einer Wasserwand verschwindet, wie sie geht und sich vor ihr der graue Nebelfetzen kräuselt. Und als er einen breiten, erleuchteten Boulevard erreichte, hatte er ein Gefühl, als ob er von einer Reise nach rückwärts wiederkehre, und es erschien sonderbar, daß der Gedanke an eine Reise sich in seiner Vorstellung mit diesem krankhaften und qualvollen Begriff verbinden konnte – »nach rückwärts«.
Er begriff damals, was es heißt, von einer äußeren Macht fortgerissen zu werden, denn er gehörte nicht mehr sich selbst; und da er seine Denkfähigkeit nicht verloren hatte, suchte er das Sonderbare dieses Zustands zu begreifen, der im Grunde dem eines Mondsüchtigen glich. Ihm fielen die Erzählungen seiner Mutter ein, wie sie als Kind in Mondnächten aufstand und durchs Zimmer wanderte, ohne sich bewußt zu sein, was sie tat. Und er überlegte, ob sich der plötzliche Verlust des Orientierungssinns nicht auf ihn übertragen habe, nur in einer so veränderten Form, die wohl kaum den Schluß nahelegte, es handle sich um Vererbung. Jedenfalls gab es dort wie hier eine Gemeinsamkeit, den urplötzlichen Verlust des Willens und die Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. »Es kam mir vor, als gliche ich einem toten Fisch, der von der Strömung fortgerissen wird«, sagte er.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
SINN UND FORM 4/2020, S. 437-450, hier S. 437 -439
- 4/2021 | Der Klub Pik Acht
Gasset, José Ortega y
- 6/1991 | Die legendären Schrecken des Jahres tausend
Gauck, Joachim
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Gauthier, Laure
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Gazerelia, Akaki
- 6/1970 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
Gebauer, Gunter
- 6/2013 | Der versteckte Erzähler. Entwurf einer Theorie in Literatur und Philosophie
Gebirtig, Mordechai
- 1/1962 | Gedichte aus dem Ghetto
Geck, Rudolf
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Geerdts, Hans Jürgen
- 1/1967 | Ehm Welk zum Gedenken
Geertz, Clifford
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Geffken, Rolf
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Geisel, Sieglinde
- 1/2012 | Universum der Zentrifugalkräfte. Zum schriftstellerischen Werk von Thomas Harlan, S. 61 Leseprobe
Geisel, Sieglinde
UNIVERSUM DER ZENTRIFUGALKRÄFTE Zum schriftstellerischen Werk von Thomas Harlan
»… die eisige Unbefangenheit der Fische…«
(Thomas Harlan, »Heldenfriedhof«)
Als ich Thomas Harlan im Januar 2009 in der Klinik bei Berchtesgaden, in der er sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte, für ein Interview aufsuchte, tat ich es als gescheiterte Leserin. Ich war elektrisiert von der Sprache in „Heldenfriedhof“, seinem Hauptwerk, doch ich fand keinen Weg durch das Dickicht der Geschehnisse und Figuren, der Schauplätze und Zeiträume. Unser Gedankenaustausch, der bis zu seinem Tod am 16. Oktober 2010 andauerte, wurde zu einer gemeinsamen Erkundung dieser Prosa und ihrer Voraussetzungen.
Als im Jahr 2000 sein Debüt „Rosa“ erschien, war Thomas Harlan 71 Jahre alt. Bevor die Lungenkrankheit ihn ins Krankenzimmer zwang, hatte er vor allem Filme gedreht. 1974 „Torre Bela“, einen inszenierten Dokumentarfilm über die Besetzung eines Landguts in Portugal während der Nelkenrevolution. 1984 „Wundkanal“, einen umstrittenen Spielfilm über den Tod der in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen und den SS-Verbrecher Alfred Filbert, der sich selbst spielt, ohne zu begreifen, wie ihm geschieht. 1991 „Souvenance“, einen in Haiti spielenden Film über das Mysterium der Wiederkehr König Jacobs I. Zu Harlans unveröffentlichten Texten gehören, neben Drehbuchentwürfen, unter anderem das auf französisch geschriebene Langgedicht „No Man’s Land Fugue“ (1953) sowie drei Theaterstücke aus den fünfziger und sechziger Jahren.
„Ich bin der Sohn meiner Eltern. Das ist eine Katastrophe. Die hat mich bestimmt“, sagt er im Gespräch mit Jean-Pierre Stephan („Hitler war meine Mitgift“). Für den Sohn des „Jud-Süß“-Regisseurs Veit Harlan gab es vor dieser Katastrophe kein Entkommen. Nach dem Krieg verließ er Deutschland, lebte in Frankreich und Italien, doch das Trauma der deutschen Schuld, die Erschütterung über die falsche heile Welt seiner Kindheit und die Verdrängung der NS-Verbrechen im Nachkriegsdeutschland ließen ihn nicht los. Mit seinem Freund Klaus Kinski reiste er 1953 als einer der ersten Deutschen inkognito nach Israel. Wenige Jahre später schrieb er das Theaterstück „Ich und kein Engel“ über den Aufstand im Warschauer Ghetto und verlas bei dessen fünfzigster Aufführung in der Westberliner Kongreßhalle einen Aufruf, in dem er die gerichtliche Verfolgung von Alfred Six, nach dem Krieg PR-Chef von Porsche Diesel Motorenbau, und Heinz Jost, Immobilienmakler in Düsseldorf, wegen begangener SS-Verbrechen forderte. Als ihn Ehrverletzungsklagen zwangen, für seine Behauptungen Beweise zu erbringen, fuhr er nach Polen und recherchierte vier Jahre lang in den dortigen Archiven die Untaten in den Vernichtungslagern. Er wurde dabei vom polnischen Staatsverlag und vom italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli unterstützt, der das Werk „Das Vierte Reich“ finanzieren wollte. Thomas Harlan belieferte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg unablässig mit Akten, doch die geplante Dokumentation kam nicht zustande. In den folgenden Jahrzehnten widmete er sich den politischen Kämpfen seiner Zeit – in Italien bei der Lotta continua, in Chile mit der Finanzierung des Widerstands gegen Pinochet, in Deutschland als Teil des Unterstützungsnetzwerks der RAF, deren Ideologie er allerdings ablehnte. Er habe damals, sagte er im Gespräch, der Unterscheidung zwischen schön und häßlich die zwischen richtig und falsch vorgezogen und damit „aufs falsche Pferd gesetzt“. Kunst sei wichtiger als Politik.
Der antisemitische Film „Jud Süß“ (1940) war mit zwanzig Millionen Zuschauern ein sensationeller Publikumserfolg im nationalsozialistischen Deutschland, für die Wachmänner der Konzentrationslager gehörte er zum Pflichtprogramm. Daß Veit Harlan selbst weder Nationalsozialist noch Antisemit war, machte das Verbrechen in den Augen des Sohnes noch schlimmer, ebenso wie seine Weigerung, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Ihr Verhältnis war kompliziert. Der Sohn lehnte den Vater ab und war mit dessen Feinden befreundet, doch er liebte ihn. Den Vater wiederum habe es betrübt, „daß der Sohn unbrauchbar war, kein Erbe, kein von Stolz unbekümmerter Nachfolger, nur ein Liebling“, wie es in Thomas Harlans letztem Buch „Veit“ heißt. Der im März 2011 postum erschienene Monolog ist Anrufung und Anklage, Liebeserklärung und Abbitte; er ist an den Vater gerichtet, der den Sohn 1964 an sein Sterbebett auf Capri gerufen hatte.
Für Thomas Harlan ist die Shoah nicht nur jenes „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, dessen sein Vater als einziger deutscher Künstler angeklagt war, sondern ein Verbrechen gegen die Schöpfung. Denn nicht Psychopathen hatten es begangen, sondern ganz normale Menschen. Diesen Tätern wendet sich der Tätersohn nach „Rosa“ auch in „Heldenfriedhof“ (2006) zu. Das Buch ist eine Provokation in der Literatur über die Shoah, denn Harlan verurteilt seine Figuren nicht, und so gehen sie uns etwas an: der Fliesenleger Erwin Lambert, der die Gaskammern baute, der Kraftwagenfahrer Farkas und Emilie, die „zusammen mit ‚Ingemie’“ die Wannseekonferenz protokollierte. Wir entkommen der Geschichte nicht, sondern erkennen uns in Harlans Protagonisten Enrico Cosulich wieder, der darüber staunt, „daß ihm nichts anderes übriggeblieben war, als diese Erde mit ihnen zu teilen, daß es dieselbe wäre, in der er liegen würde“.
„Fakten haben mich nie beflügelt“, war eine von mehreren Erklärungen Harlans für das Scheitern seiner Dokumentation „Das Vierte Reich“. Fakten bewirken keinen Bewußtseinswandel. Der Wahrheit sei „nicht anders beizukommen (…) als mit den Künsten“, sagt Enrico. Eine Literatur, die der Wahrheit beikommen will, muß sich durch die Sprache Zugang zum Leser verschaffen. „Sein Schreiben handelt nicht von etwas. Es ist dieses Etwas selbst. Wenn der Sinn Schlaf ist, legen die Wörter sich schlafen. Wenn der Sinn Tanz ist, tanzen die Wörter.“ Was Beckett in „Dante… Bruno. Vico.. Joyce“ über „Ulysses“ sagt, gilt auch für Thomas Harlans Sprache. Sie wird zu einem universellen Sinnesorgan. Sie atmet den Stoff, die Wörter und Sätze schmiegen sich ans Gesagte und sind bis zum Bersten mit Bedeutung aufgeladen, um ein Wort von Ezra Pound zu benutzen. Entsprechend groß sind die Kräfte, denen der Satzbau standhalten muß. Satzgebilde schrauben sich in die Höhe, um unvermittelt abzustürzen und gleich wieder an Tempo und Hitze zu gewinnen. Jederzeit muß man auf einen Wechsel der Gangart gefaßt sein. Satzzeichen haben die Funktion von Pausen, bisweilen von Akzenten. Das Erdbeben von Assisi, das im September 1997 die Fresken von Giotto und Cimabue in der Basilika des Heiligen Francesco zerstörte und das Enrico in „Heldenfriedhof“ miterlebt, ereignet sich auch in der Sprache:
„Donner schoß in die Basilika; hob sie an, senkte, schüttelte sie, wütete, brach, kreischend, dann knarrend, Gebälk auseinanderzerrend, wippend unter den metallenen, mit Seilen verschnürten Verstrebungen, Lampen, Blitzgeneratoren an den Evangelisten vorbeikippend, explodierte, riß Stuck, dann Putz, dann Gemäuer, riß in die vom Echo der Leere bebende Apsis durch die sich Mozart ununterbrochen und dann wie Hagel auf Autodächern trommelnd entziehenden Mauerstücke, die aus ihm ausbrachen, vor ihm, von ihm ab, weg, der Bart der Schöpfung, Christuslocken, Heiligenscheingoldstücke im Staub, Klageweiber am Kreuz im Chor polyphon zerrissen aus ebenso vielfältigen Ecken, Winkeln, dröhnend, nun schon nichts mehr untermauernd im säuselnden Regen der Sandfäden aus den Gewölbezwickeln mit ihren von Engeln noch getragenen, zerschellten Vasen die Musik des Gehäuses abschließend durch so viel lauter als in der noch verschonten Unterkirche sich auftuenden, tosenden, an der Bodenlaibung der Innenfassade diagonal zu den Heiligen verlaufenden Rissen wie im Spaltenschlund aufgesprengten Gesteins dann quer über den Sternhimmel des Johannes hin ins Gewölbe der Westseite, durch den Kopf des Langhauses in Strähnen niedergehend, schießend, Matthäus, die Welt noch mit sich in die weiße Wolke reißend, in deren Innerem es irrsinnig sang, summte, Mozart nie auslöschend wie aus Gebirgen heraus wellenförmig zitternd dann Klara nachholend, Hieronymus, mit in den Staub getaucht, aus dem Staub gemacht, zu Staub weiß gemacht, dann grün, hellblau, in Flocken zerschüttelt, wie Bettfedern Maria, Marias Putz, Krone, Jugend, elfenbeinfarben der Schotter der abgestaubten Heimsuchung unter dem Kreuz.“
Wir lauschen in die deutsche Geschichte hinein und hören Stimmen Dritter, wir hören die Täter reden, schauen ihnen beim „Geschnäbel in der Mooswacht“ zu. In den (leicht veränderten) Protokollen werden wir Zeugen davon, daß sie nicht wissen wollen, was sie tun. Nur gelegentlich stoßen wir auf bekannte Namen wie Adolf Eichmann, den wir in Jerusalem sagen hören:
„und die Gase des Motors würden hier hineingeführt werden und dann würden die vergiftet werden, das war für mich auch ungeheuerlich, ich weiß es auch jetzt noch, wie ich mir darunter sofort die Sache bildlich darstellte, und daß ich irgendwie auch unsicher in meinem Gehabe wurde, als ob ich irgendeine aufregende, eine aufregende Sache hinter mir hätte, wie das eben schon mal so vorkommt, daß man nachher wie ein leises inneres Zittern, oder so ähnlich möchte ich es ausdrücken, hat“ (im Original kursiv).
„Das Unbewußte schafft komplexere Strukturen als der Verstand“ – dieser Satz der Komponistin Charlotte Seither bezeichnet das Geheimnis von Thomas Harlans Prosa ebenso einfach wie genau. Im Unbewußten ist alles in Bewegung, es gibt keine Kontrolle, keine Zensur. Bei der „Entdeckung des unter dem Herzen Eingeweckten“ (so Harlan in „Hitler war meine Mitgift“) versagt der Autor sich nichts, denn er hantiert nicht mit geborgtem Material, sondern hat es sich zu eigen gemacht, hat „das Erbe angetreten“, wie Harlan es nennt. Kein Gedanke, keine Erinnerung, kein noch so rätselhafter Einfall wird beim Schreiben übergangen.
Das Unbewußte kennt keinen Zufall. Das unter dem Herzen Eingeweckte arbeitet nach seiner eigenen Logik, und so durchdringen sich historische Fakten und Erfindung auf manchmal irritierende Weise. Im Bericht des SS-Mannes und Augenzeugen Kurt Gerstein wird die Ankunft eines Transportzugs in Bełżec beschrieben; während die erste Gruppe Juden in der Gaskammer ermordet wird, müssen die übrigen draußen warten. „Man sagt zu mir: ‚Nackt und das im Winter, die Leute können sich ja den Tod holen!’ – ‚Dafür sind sie ja hier!’, war die Antwort.“ Wir erfahren nicht, wer diese Worte im Januar 1942 in Bełżec gesagt hat. „Ohne Degge do obe, könne die sich jo de Doot hole“, sagt Franz Reichleitner in „Heldenfriedhof“ nach der Ankunft im KZ Risiera di San Sabba. „Dozu sin die doch do“, antwortet in breitem Schwäbisch Christian Wirth, der frühere Inspekteur der Aktion Reinhard, der im November 1943 im Adriatischen Küstenland nun ein neues Konzentrationslager einrichten soll. Ob der Dialog unbewußt aus dem Gedächtnis des Autors in seinen Text gewandert ist oder ob die Anspielung beabsichtigt war, spielt für die Wirkung keine Rolle. Auf knappste Weise offenbart die Überblendung eine unheimliche Wahrheit, nämlich daß die ehemaligen Täter in der Risiera di San Sabba nun Gefahr laufen, zu Opfern ihrer eigenen Leute zu werden, die sie als Zeugen aus dem Weg schaffen sollen.
[…]
SINN UND FORM 1/2012, S. 53-60
- 1/2012 | »Nur was man singen kann, ist hörbar.« Gespräch mit Thomas Harlan
- 5/2017 | »Ich gehe immer von Konflikten aus«. Ein Gespräch mit Peter von Matt über genaues Lesen und das Schreiben über Literatur
Geiser, Christoph
- 2/2018 | Der Neandertaler von Darmstadt, S. 258 Leseprobe
Geiser, Christoph
Der Neandertaler von Darmstadt
Das Auge Gottes, übrigens, war auch noch nicht im Bus. Ja, vielleicht war das säumige Auge Gottes überhaupt der Grund, warum der Bus, der sich nach und nach mit immer mehr saumseligen Fruchtbringenden füllte, noch immer nicht losfahren konnte, weil das Auge Gottes, die Treppe des Staatstheaters beherrschend, noch immer jedes einzelne Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft auf seine Linse bannen wollte und damit den Abstieg all der Fruchtbringenden über die Treppe behinderte und verzögerte – während wir dasaßen, auf unserem Bänkchen am Fenster zur Nacht, eingezwängt zwischen den Stehenden, die Panische mir gegenüber und die Verhärmte. Sukzessive immer mehr eingezwängt, unaufhaltsam. Den Ehernen sah ich erst, als es schon zu spät war. So stolperte ich, bereits panisch, über die Füße der Linguistik … Panik, ja. Urplötzlich. Und nicht der Panischen halber, die ganz unpanisch da sitzenblieb, wo sie saß, und auch nicht der Verhärmten wegen. Die verhärmt so sitzenblieb, wie sie war. Ich muß da raus, und zwar sofort, war das einzige, was man von mir noch vernahm, heißt, einzig die Linguistik im grellen Kunstlicht, über deren Füße ich stolperte, vernahm’s mutmaßlich, stereotyp lächelnd, ehern und stoisch.
Aus dem hellen Licht des Fahrzeuginneren in die Nacht der Schatten da draußen stolperte ich, aus dem Licht der Fruchtbringenden in die Finsternis umherhuschender Schatten. Die Schatten wollten mich zurückhalten! Sie vermochten es nicht. Die Vorstellung plötzlich, der Bus fülle sich immer mehr, immer mehr Fruchtbringende drängten hinein, die Fruchtbringenden nähmen quasi überhand und der Bus kippe; die Handbremse löse sich und der Bus finge ganz sachte an, die abschüssige Straße herunterzurollen … Fahrer konnte ich keinen sehen; so gäbe es gar keinen Fahrer, der Fahrer stünde, seine Zigarette rauchend, neben dem Bus und würde zu spät bemerken, daß sich sein Fahrzeug voller Fruchtbringender unaufhaltsam in Bewegung setzt – nicht aufzuhalten, nein, bis ins Erdinnere womöglich – oder der Bus finge plötzlich an zu brennen. Explodiere! Von der Zigarette des Fahrers. Und wir säßen da, eingezwängt zwischen der Panischen und der Verhärmten, dem Ehernen und dem Aufrechten, dem Zwingenden und dem Nährenden, dem Ordnenden und dem Vielgekrönten, der Unterhaltenden und der Eifrigen, den Stehenden und den Sitzenden, den Übersetzern und den Übersetzten, den Preisträgern und ihren Lobrednern, den Spektabilitäten und den Magnifizenzen, dem Semantikdiskurs und dem Semiotikdiskurs, dem Strukturalismusdiskurs und dem Dekonstruktivismusdiskurs, und nirgends ein Hammer, das Fenster zur rettenden Nacht einzuschlagen … Die Nacht als Rettung, solange ich noch eine kleine Tür sehe, die offensteht … und kein Auge Gottes, nirgends.
Wie käme ich jetzt zum Staatsempfang in die Orangerie? Was soll ich in der Orangerie … ja, wo wäre die denn? Wo bin ich?
Diese Stadt, mit rätselhaftem Namen ungeklärter Herkunft (nach der aber ein chemisches Teilchen benannt ist), die ich seit drei Jahrzehnten kenne, ist nicht nur nachts leer. Von den Bomben zerstört, nach dem Krieg in der Annahme wieder aufgebaut, sie bräuchte ein System von Hauptstraßenzügen als Organismus, als bräuchte es Platz für vierspurige Autobahnen, ging die Mitte verloren; das Zentrum: eine Fiktion. Der Luisenplatz. Nichts als ein Name und eine Säule, als müßte sie das Zentrum markieren, umgeben von Warenhäusern, die nachts zu sind. Dingversammlungen hinter erloschenen Fenstern.
Wo bin ich? Heißt: Wo geht’s denn vom Staatstheater, dieser architektonisch zusammenhanglosen Betonstruktur aus Treppen, Rampen und Balken, frage ich, mausallein plötzlich nachts zurückgeblieben, zum Luisenplatz, dieser fiktionalen Mitte, oder, besser noch, wichtiger eigentlich, zum Welcome Hotel, respektive zum Hessischen Landesmuseum, gleich gegenüber unserem Hotel? Noch haben wir ja nichts gegessen nach zweistündiger Preisverleihung, und der Hunger ist doch immer der elementarste Antrieb. Zum Staatsbankett in der Orangerie aber würden wir niemals zu Fuß gelangen, wir würden sie – auch ein für sich isoliertes Zentrum in einem Park an den unscharfen Rändern dieser Stadt – niemals wiederfinden, und: kein Taxi, nirgends.
Auch wir wären geladen, zu den Fruchtbringenden gehörig auch wir. Wir?!
Mausallein. Gottverlassen. Dem Auge Gottes, dem löwenmähnigen, aus dem Blick geraten. Wollten wir’s nicht? Was sollen wir uns denn mit all den Geladenen am Buffet um die Happen und Häppchen und, an den langen Tischen, um den fruchtbringendsten Platz quasi balgen, den mindesten Anstand & Abstand wahrend? Was soll ich hier? Loslaufen zunächst, in die Nacht, notgedrungen richtungslos, aber nicht ziellos.
Eine Gaststätte wäre der Vernunft gemäß das erste Ziel; ein Gaststätten-Signal ausfindig zu machen, eine Leuchtschrift, die auf eine Gaststätte hinweisen würde, eine Bierreklame, eine stattliche Eingangstür, wie für Gaststätten gewöhnlich, erleuchtete Fenster, Butzenscheiben womöglich … nichts zunächst. Betonstrukturen im diffusen Licht, eher lichtlos eigentlich, kein Flutlicht von Neon oder Kandelabern, keine erkennbaren Straßenbeleuchtungen, eine lichtlose Nacht. Zum Glück regnete es nicht, windete nicht, nicht kalt, nein, Ende Oktober noch mild, man konnte ohne Mantel gehn. Merkwürdig fühllos dünkten wir uns – keine Erinnerung mehr an ein Körpergefühl. Nicht einmal wirklich Hunger hatten wir. Nur das Bewußtsein, daß wir jetzt – sieben vorüber – etwas zu Abend essen müßten. Eine schwere Holztür, die offenstand, lud uns ein, hellbeleuchtet der Eingang. Der Anschrift nach ein türkisches Lokal, kein Imbiß, nein, ein Restaurant, auf der anderen Straßenseite, in einem stattlichen Haus. Wir traten ein, ein Flur mit Garderobe, der sich auf das hellerleuchtete Lokal hin öffnete, das überfüllt war; vollbesetzt; Kellner eilten vorüber, Tabletts auf den Armen, Geschirr, Speisen – man schien uns weder zu sehen noch zu hören. Höchster Lärmpegel, Gaststättenlärm. Wir standen eine Weile da, im Flur, perplex, irritiert – so plötzlich unsichtbar geworden. Wie hinter einer Schallmauer.
Verärgert wandten wir uns ab; zu rasch ungeduldig geworden. Ein Fehler.
Lichtlose Nacht. Straßenkreuzungen, kein nennenswerter Verkehr. Bürogebäude. Geschäftshäuser. Ein Reisebüro, »Vom Reisewunsch zur Wunschreise« auf der erloschenen Schaufensterscheibe. Oder: »Vom Reisetraum zur Traumreise«.
Wonach fragen? Käme uns denn wer entgegen … Nach dem Neandertaler können wir nicht fragen. So plötzlich unsichtbar geworden wie wir sind. Nach dem Museum natürlich müßten wir fragen. Ein stattlicher Bau, soeben nach umfassender Sanierung wiedereröffnet, von nationaler Bedeutung, erbaut ursprünglich vom ersten Warenhaus-Architekten Deutschlands, der in Berlin das Wertheim und das Pergamon baute, bedeutende Dingversammlungen beide. Ursprünglich übrigens an der Zeughausstraße 1 gelegen, heute Friedensplatz 1, eine politisch motivierte Umbenennung mutmaßlich. Ein Zeughaus! Das Museum, das Warenhaus. Aber das Zeug in dem Museum ist nun mal eher unser Ding … denn wir müssen’s nicht haben, nein, die Dinge müssen nur dasein. Vorhanden, nicht zwingend zuhanden. Wo ist das Museum? Wir wären gerettet. Beim Neandertaler. Keine Chance beim ersten jungen Mann, dem wir begegnen, Schemen im Dunkel einer lichtlosen Passage: verstöpselte Ohren! Man hört uns nicht. Er nimmt wenigstens den einen Stöpsel aus dem Ohr, hat aber noch nie etwas vom Museum gehört und weiß nicht, wo der Luisenplatz liegt. Einzig das Teilchen, nach dem jetzt ein Kongreßzentrum benannt ist, scheint ihm vom Hörensagen bekannt – Darmstadion, sagt er unsicher, als müßt’s ein Stadion sein, und deutet vage mit der Hand in die Nacht: in dieser Richtung ungefähr … immerhin dies. So gehe ich nicht in die entgegengesetzte Richtung – doch so oder so: Gehen, lesen wir im nachhinein, bedeutet den Ort zu verfehlen. Wir sind an einem Unort, einem Nicht-Ort eher. Nirgends sind wir! Unser Museum aber kann durchaus geortet werden. Wir waren ja drin! Und haben’s nicht bloß erträumt. Der kleinen Ausstellung zur Geschichte der Fruchtbringenden halber waren wir drin, einen ganzen Morgen lang und anderntags wieder, verließen aber unsere Fruchtbringenden und ihre Geschichte bald und verloren uns in dem labyrinthischen Bau.
Im frisch renovierten Bau verloren wir uns, auf seinen mindestens fünf Stockwerken, Rampen und Treppen, in den Räumen zwischen den schweren Türen, die mit menschlicher Kraft kaum zu öffnen sind (dafür sind eben diese schwarzen Knöpfe da! zeigte man uns), aber auch in den Diskursen, könnte man sagen, verloren wir uns. In den historischen Diskursen, den kunsthistorischen, den ethnologischen, paläontologischen, anthropologischen, erdgeschichtlichen, vor allem aber in den Diskursen der Menschheitsgeschichte, also vornehmlich im Diskurs der Paläoanthropologie verloren wir uns und, überdies! bei der Frage, wie groß die Schnittmenge des kunsthistorischen Diskurses mit dem erdgeschichtlichen denn wäre: angesichts dieser wunderschön schillernden und liebevoll präparierten fossilen Reptilien & Insekten aus der Grube Messel. Aber nicht der Grube Messel wegen waren wir da. Die doch weltberühmtes Natur- und/oder UNESCOKulturerbe der Menschheit ist. Sondern der Fruchtbringenden Gesellschaft halber. Aus dem Bus der Fruchtbringenden Gesellschaft haben wir uns panisch in die Darmstädter Nacht geflüchtet und vorerst darin verloren, verirrt.
[…]
SINN UND FORM 2/2018, S. 258-268, hier S. 258-261
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Genazino, Wilhelm
- 4/2010 | Gespräch mit Claus-Ulrich Bielefeld, S. 518 Leseprobe
Bielefeld, Claus-Ulrich
Gespräch mit Wilhelm Genazino
CLAUS-ULRICH BIELEFELD: In Ihrem Roman »Das Glück in glücksfernen Zeiten« erzählen Sie aus dem Leben des 41jährigen Gerhard Warlich. Der hat über Heidegger promoviert, arbeitet aber als Geschäftsführer einer Großwäscherei. Und er verspürt den Drang, seine Mitmenschen manchmal »über die allgemeine Ödnis des Wirklichen« aufzuklären. Die Ödnis des Wirklichen, ist das der Stachel, der im Fleische Gerhard Warlichs steckt und auch in dem Ihrer anderen Helden?
WILHELM GENAZINO: Das kann man so sagen. Die Ödnis des Wirklichen ist nicht nur der innerste Kern dessen, was meine Protagonisten sehen, sondern auch dessen, was ich sehe, worüber ich mich nicht beruhigen kann.
BIELEFELD: Ihre Helden leiden ja einerseits an dem öden Alltag, in dem sie gefangen sind, andererseits suchen sie ständig nach kleinen Sensationen, die sie in winzigsten Dingen finden. Gerhard Warlich sitzt zum Beispiel am Anfang des Romans in einem Straßencafé, und durch intensives Schauen öffnet sich ihm dort die Welt.
GENAZINO: Das ist sozusagen der Notausgang für ihn, das Schauen, seine Fähigkeit, kleine oder mittlere Ereignisse zu sehen, die ihn unterhalten, ihn auf eine andere Ebene heben, in eine andere Wirklichkeit bringen. Das ist der metaphysische Trick, daß man, wenn man sich anstrengt und einige Kniffe kennt, dem »Zwangsabonnement der Wirklichkeit« entkommt.
BIELEFELD: Dieses Entdecken der Wirklichkeit durch Blicke, durch das plötzliche Aufblitzen von Situationen, gewissermaßen kleiner Epiphanien, das ist auch eine Art unbewußte Widerstandshaltung gegen die schnöde Wirklichkeit.
GENAZINO: Gerhard Warlich hat durchaus bemerkt, daß diese anfangs unbewußte Möglichkeit inzwischen in eine bewußte übergegangen ist. Wenn er innerlich in Not ist, setzt er sich hin und sagt: Ich weiß, was mir helfen könnte, und dann sucht er und findet bald auch etwas.
BIELEFELD: Aber irgendwann geht es nicht mehr. Er endet in einer psychiatrischen Klinik, weil die Zumutungen zu groß geworden sind. Selbst seine Lebensgefährtin Traudel sagt plötzlich, ach, wir sollten heiraten und ein Kind haben, mit meinen 38 Jahren wäre das vielleicht genau das Richtige. Das macht ihn völlig fertig, um es mal salopp zu sagen.
GENAZINO: Er glaubt, das würde sein Existenzkalkül durcheinanderbringen. Und er fürchtet, daß das ganze Arrangement damit kippt und er der Verlierer dieser Veränderung sein wird. Ihm fehlt einfach der Mut, sein Leben zu transformieren.
BIELEFELD: Er selbst nennt sich einmal einen Hysteriker des Ichs. Warum kommt er nicht aus dieser Situation heraus?
GENAZINO: Wenn ich das wüßte, würde ich wahrscheinlich keine Romane mehr schreiben. Man kommt ja selten hinter die Maskerade der Worte. Mal kommt der eine Begriff der Sache näher und mal der andere, aber was im Erfahrungskern dieses Problems eigentlich steckt, entzieht sich uns beziehungsweise ist nicht faßbar.
BIELEFELD: Sie haben am Anfang eine leise Andeutung gemacht, daß die Figuren und Sie selbst gewisse Ähnlichkeiten haben. Welche sind das?
GENAZINO: Da gibt es einige. Zum Beispiel mache auch ich vom Umhergehen und Schauen und Transformieren reichlich Gebrauch. Das ist immer unterhaltsam. Im Gegensatz zu den öffentlichen Unterhaltern, dem Fernsehen.Wenn man das satt hat, braucht man eine Alternative. Dann muß man sozusagen vom Fernsehen umschalten aufs Nahsehen. Oder aufs ichhafte Sehen. Das ist ein wunderbares Unterhaltungsprogramm, weil es mit dem Sehenden selbst zu tun hat.
BIELEFELD: Sie gelten als der große Flaneur der deutschen Literatur. Wie geht dieses Flanieren vor sich? Sie brauchen dafür ja eine Stadt, am besten wahrscheinlich Frankfurt am Main?
GENAZINO: Ich mache das auch anderswo. Und man benötigt dafür auch keine besondere Gebrauchsanweisung, sondern man geht einfach los, möglichst absichtslos, in möglichst öden Umgebungen – also keineswegs dort, wo es nach allgemeiner Auffassung besonders interessant ist oder wo es von Sehenswürdigkeiten wimmelt. Sondern dorthin, wo es eigentlich nichts gibt. Das ist gerade das Interessante, denn die Langeweile, die sich dort ausbreitet, ist gar keine. Nach Walter Benjamin ist die Langeweile nur ein samtenes Etui, das wunderbare Schätze birgt. Sie enthüllen sich einem, wenn man länger hinschaut als üblich.
BIELEFELD: Und das machen Sie?
GENAZINO: Das mache ich. Und auch wenn es sehr lange dauert, stört mich das nicht. Selbst wenn das Ergebnis nach allgemeiner Übereinkunft öde ist, darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, was man in der Nachbereitung daraus macht. Das, was einem Menschen auffällt, hat immer einen Bezug zu seiner Innenwelt, seiner Biographie. Sonst würde es ihm nicht auffallen. Und diesen Bezug zu entdecken, darum geht es. Warum fällt mir zum Beispiel ein lahmer Hund auf? Warum bemerke ich einen Hund, dessen eines Hinterbein verbunden ist und der herumhumpelt? Diese Verletzung macht ihn mensch- licher, als er ohnehin schon ist. Warum ist das so? Warum springe ich darauf an? Wenn ich eine Weile nachdenke, mich eine Weile in mich selber einfühle, fällt mir natürlich der Bezug ein, der Bezug zu mir selbst. Das ist eine Technik, die ich jedem Menschen empfehle. Das hat mit Literatur zunächst gar nichts zu tun. Es ist einfach eine wunderbare Lebensartgestaltung. Man muß natürlich etwas Geduld haben, man muß auch den Mut haben, sich von allen öffentlichen und allen anderen uns beherrschenden Unterhaltungssitten zu trennen.
BIELEFELD: Sie beschreiben hier ein großes Augenglück, ein Glück, das bei der heutigen Überflutung mit Bildern schwer zu ergattern ist.
GENAZINO: Ja, das ist schwer und es wird immer schwerer, weil die Einkesselung, in der wir stecken, immer massiver wird. Man kann ja noch nicht einmal mehr auf den Boden gucken, denn in den Städten ist inzwischen auch der Boden mit Reklame bepflastert. Das ist ungeheuerlich. Mich wundert, daß das nicht thematisiert wird, daß sich niemand darüber aufregt. Früher hatte man eine erste Fluchtmöglichkeit, indem man mit gesenktem Blick umherging. Das kann man heute nicht mehr. Und auch in den Himmel kann man nur noch schauen, wenn man in einem Park oder einem Schwimmbad ist.
[...]SINN UND FORM 4/2010, S. 518-523
- 2/2019 | »Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Ralph Schock, S. 518 Leseprobe
Genazino, Wilhelm
»Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Du hast für den Saarländischen Rundfunk deinen Roman »Bei Regen im Saal« eingelesen. Wie war die Wiederbegegnung mit dem Buch?
WILHELM GENAZINO: Im großen und ganzen hat es mir gut gefallen. Wenn ich es noch einmal schreiben müßte, würde ich den einen oder anderen Satz streichen, aber das ist normal. Um gewisse Aufdringlichkeiten zu bemerken, zum Beispiel überdeutliche Erläuterungen, die die Mitarbeit des Lesers überflüssig machen, braucht man eben Abstand.
SCHOCK: Gab es auch die eine oder andere Stelle, wo du denkst: Da hätte ich noch einen Satz ergänzen müssen?
GENAZINO: Natürlich, aber das gehört zu den Wonnen des Wiederlesens. Von einer kleinen Stelle aus ergibt sich plötzlich ein Panorama auf neue Texte, und ich notiere mir das auf einen Zettel, damit ich es nicht vergesse. Das kommt dann in den nächsten oder übernächsten Roman, falls es den noch gibt.
SCHOCK: Wie arbeitest du? Wie kommt ein Einfall oder eine Wahrnehmung in den Roman?
GENAZINO: Wenn ich ungefähr weiß, wohin es läuft, sehe ich Szenenfolgen und Kapitel vor mir. Und dann fange ich an, Material zu suchen, zum Beispiel auf den Zetteln, die ich bei mir habe, oder zu Hause auf anderen, die ich in einen sogenannten ewigen Werkstattbericht mit fortlaufender Nummer und fortlaufendem Code übertragen habe. Ich mache auch einen Index von den Zetteln und Inhalten. Wenn ich zum Beispiel im Roman eine Supermarkt- oder auch eine Urlaubssituation habe, kann ich nachschauen und finde dann tatsächlich eine Notiz, die ich vor zehn oder fünfzehn Jahren geschrieben habe.
SCHOCK: Es gibt berühmte Schriftsteller und Philosophen, die auf diese Weise gearbeitet haben, Arno Schmidt oder Hans Blumenberg zum Beispiel. Wie findest du im Index die Passagen? Wie tief ist der gegliedert? Wenn du zum Beispiel eine Frau beschreiben willst, kommt dann ein Unter-Index: Beine, Augen, Haare, und noch ein Unter-Index: blond, rot …?
GENAZINO: Der Index ist natürlich genauer chiffriert, und so erscheint nicht das Wort Frau, sondern zum Beispiel das Wort Nachmittagssex. Also gucke ich unter Nachmittag. Dann habe ich drei oder vier Eintragungen, die ich alle lese und von denen ich die eine oder andere verwenden kann. Aber die Aufzeichnungen haben noch einen anderen Vorteil, nämlich den, daß das Wiederlesen sofort neue Texte auslöst. Dann mache ich sozusagen neue Notate über einen alten Fall.
SCHOCK: Kriegt eine verwendete Notiz eine Anmerkung oder einen roten Punkt, wird sie weggeworfen oder durchgestrichen?
GENAZINO: Die kriegt einen Strich an der Seite und ein v., das bedeutet verwendet. Dann weiß ich sofort, ich muß etwas anderes suchen.
SCHOCK: Weißt du auch, in welches Werk sie eingeflossen ist?
GENAZINO: Nein, sie begegnet mir nur, wenn ich die Bücher wiederlese. Dann kommt mir alles bekannt vor, und trotzdem klingt es Gott sei Dank ganz neu.
SCHOCK: Notierst du auch Zitate aus Büchern?
GENAZINO: Ja, aber die werden mit Z. gekennzeichnet. Es sind in der Regel Lieblingszitate, die ich schon lange irgendwo einbauen will. Meistens erscheinen sie in Essays und werden auch als solche ausgewiesen. Essays schreibe ich fast genauso gern wie Romane, nur braucht man dafür erheblich mehr Zeit, wenn sie etwas taugen sollen. Häufig stellt man auch fest, daß ein Thema schon so gut behandelt wurde, wie beispielsweise das Thema Heimat durch Danilo Kiš, daß sich der Aufsatz erübrigt.
SCHOCK: Ich bilde mir ein, daß man deine Romane fortlaufend lesen könnte und kaum merken würde, daß man schon im nächsten ist. Ist die Art und Weise, wie du Romane konzipierst, die Ursache dafür, daß sie wie Abschnitte eines einzigen großen Textes wirken?
GENAZINO: Ich kann den Eindruck nachvollziehen, merke aber schon, wo ein Roman zu seinem Ende findet und wo ein anderer anfängt. Was wiederkehrt, ist eine gewisse Grundstabilität, oder besser gesagt, Grundinstabilität der Hauptfigur. Von Unbehaustheit war in den sechziger und siebziger Jahren oft die Rede.
SCHOCK: Dein neuer instabiler Held heißt Reinhard und ist ein Modernisierungsverweigerer, er hat keinen Computer, keinen Laptop, kein Handy, nur eine Schreibmaschine. Wenn man dich ein bißchen kennt, erkennt man eine gewisse Ähnlichkeit.
GENAZINO: Es steckt tatsächlich ziemlich viel von mir in Reinhard, und das habe ich natürlich auch gemerkt, aber es war mir mit einer seltsam gewachsenen Souveränität egal. Früher hätte mich das gestört, auch weil ich mich meiner Herkunft schämte. Früher wollte ich die noch verheimlichen.
SCHOCK: Die Scham oder die Herkunft?
GENAZINO: Die sind oft identisch. Die Herkunft ist der Grund für die Scham. Inzwischen weiß ich, daß es bei vielen Schriftstellern, die ich schätze, genauso war und für jemanden, der mit einer gewissen Erdverbundenheit lebt und schreibt, auch völlig normal ist. Niemand erwartet, daß der Autor ausgerechnet über die Urgründe hinwegspringen will, das wäre albern und töricht. Zum Glück ist mit der Jugend auch die Scham verschwunden.
SCHOCK: Deine Protagonisten sind, soweit ich mich erinnern kann, alle um die vierzig, auch im neuen Roman. Warum läßt du sie nicht mit dir altern?
GENAZINO: Da habe ich noch eine gewisse Hemmung, weil ich das reale Alter ganz gut kenne, auch weil in der Straße, wo ich wohne, zwei Altersheime sind. In »Bei Regen im Saal« wird beschrieben, wie die Bewohner eines Altersheims nachmittags ausfahren und in ihren Rollstühlen mit einer Hebebühne auf ein Fahrzeug gehoben werden. Dieser kleine Vorstoß ist mir zum Glück, glaube ich, ohne Peinlichkeit gelungen. Daß das Altwerden einen solchen technischen Aufwand auch der Helfer nach sich zieht, überfordert mich, und ich habe noch nicht die Kurve gekriegt, eine reale Demenz mit allem, was das heißt, zu beschreiben. Die Kühnheit, so etwas Unbeschreibliches zu riskieren, fehlt mir. Vielleicht kommt sie noch, das muß man abwarten. Aber es kann ja auch passieren, daß ich selber dement werde, und dann hat sich die Sache auf diesem Umweg erledigt. Über beide Möglichkeiten denke ich häufig nach. Ich glaube aber nicht, daß ich darunter leiden werde, wenn ich keinen Demenz-Roman schreibe.
SCHOCK: Und wie wäre es, von jetzt aus betrachtet, für dich, wenn du dement würdest und keine Bücher mehr zu schreiben bräuchtest?
GENAZINO: Ich glaube, ich könnte es hinnehmen, ich habe ja genug geschrieben. Schwieriger wäre es, dauernd Hilfe zu brauchen. Man kann ja als schwer dementer Mensch nicht mal allein auf die Toilette gehen. Wenn man Glück hat, findet man eine Person, deren körperliche Nähe einen nicht bedrückt. Aber wenn man Pech hat, ist einem der Helfer unsympathisch, und man kann es nicht sagen, weil er ja ein Helfer ist. Davor habe ich Angst.
SCHOCK: Dein Reinhard hat wie viele andere deiner Protagonisten einen seltsamen Job, er ist Überwinder. Was muß man sich darunter vorstellen?
GENAZINO: Das ist ein Therapeut ohne Ausbildung oder einfach nur ein Helfer. Also genau das, worüber wir eben gesprochen haben. Er vertreibt Leuten die Langeweile oder die Einfallslosigkeit, die ja auch dramatisch sein können. Jemand, der sich langweilt – ein uraltes Thema, das mich schon lange fasziniert. Aber dieser Zustand wird von der Gesellschaft als normal angesehen, es gibt keine Langweile-Therapeuten. Wahrscheinlich mit gutem Grund, weil sonst herauskäme, daß sich drei Viertel der Bevölkerung langweilen und man leider zu der Minderheit gehört, die damit nicht fertig wird. Das ist schwierig, und deswegen nennt er sich Überwinder. Er hilft den Leuten sozusagen, die Normalität zu überwinden, die ihr unbegriffenes Problem ist.
SCHOCK: Ist Langeweile eigentlich ein schöpferischer oder ein lähmender Zustand?
GENAZINO: Sehr gute Frage. Manchmal das eine und dann wieder das andere. Langeweile ist transformativ, das heißt, es kann als eine echte Langeweile anfangen, man glotzt gegen die Wand und weiß nicht, was man machen soll. Und plötzlich formt sich daraus ein Keim, ergibt sich ein Anhaltspunkt für den Ausstieg aus der Langeweile. Wenn ich guter Laune bin, versteige ich mich manchmal zu der Aussage, es gebe gar keine Langeweile: Man muß nur den Mut haben, auf ihr Verschwinden zu warten, und den haben die Leute natürlich nicht. Wie oft hört man ein Kind sagen: »Mama, mir ist langweilig«. Ein Kind hat das Recht, so etwas Alarmierendes zu sagen in der Hoffnung, daß die Mama weiß, was es jetzt machen soll, und meistens weiß sie es ja auch. Aber von einem Erwachsenen erwartet man, daß er die Transformation abwarten kann, und wenn er ein bißchen Erfahrung mit sich selber hat, wird er zugeben, daß sie zu den merkwürdigsten Ergebnissen führen kann. Und die sind interessant und nicht mehr langweilig.
[…]
SINN UND FORM 2/2019, S. 161-167, hier S. 161-164
Georgi, André
- 6/2016 | Seestück, S. 725 Leseprobe
Georgi, André
Seestück
Sand wie verdreckter Schnee, darüber ein Meer, das seine weißen Schaumkronen dem Strand entgegenspült, tiefblau, die Farbe des Todes, der Himmel wiederum eine pastellene Verheißung der Erlösung und zugleich eine Ankündigung des Nichts: Drei Flächen, ocker, schwarzblau, pastellblau – der Übergang vom Strand zum Meer eine scharfe Grenze, ausgefranst dagegen der Übergang vom Meer zum Himmel, ein loderndes Blau, wie ein hinter dem Horizont züngelnder Brand einer Stadt, in den falschen Farben gemalt. Vorne ein Mann in schwarzem Gewand, mit eigentümlich verdrehter Gestalt, Oberkörper und Gesicht dem Brand hinter dem Meer zugewandt, die Füße aber zur Seite zeigend, eine instabile Lage, kein Mensch könnte so stehen, der Kopf hat einen Entschluß gefaßt, den durchzuführen die Füße verweigern.
Uhden, der eine Woche vor ihm hier im Dresdner Atelier gewesen war, hatte Schleiermacher gewarnt: Das sei ein Bild, das kein oben und unten kenne, keine Tiefe, die Komposition sei flach und verleugne den Raum, der Betrachter wisse nicht, woran er sei, abgesehen von dem Mann im schwarzen Gewand sei der Strand völlig leer, keine Sträucher, keine Fischernetze, keine Hütten als Orientierungspunkte – ganz anders als beim Vorgängergemälde, das Friedrich drei Jahre früher gemalt und das Uhden auf seiner Rückreise von Italien nach Berlin beim Käufer des Bildes gesehen hatte. Auch auf dem Meer sei nichts, woran man die Tiefe ermessen könne, kein Schiff, und die wenigen, verschwindend kleinen Möwen am Himmel gäben einem auch keinen Halt. Außerdem stimme es, was man in Weimar über das Bild sage, man könne es genausogut verkehrtherum aufhängen, nichts ginge verloren. Im Grunde sei es auch einerlei, hatte Uhden vor einer Woche in Berlin zu Schleiermacher gesagt: Entweder würde der Mann am Strand von Meer und Himmel erdrückt oder er stürze – auf dem Kopf stehend – aus griesgrämigen Schmuddelwolken in den Abgrund einer mephistophelischdunklen Nacht. Uhden, preußischer Staatsrat mit archäologischen Interessen, der zwölf Jahre als Privatgelehrter in Rom gelebt hatte, bevor Humboldt ihn aus seiner finanziellen Dauermisere rettete, indem er ihn nach Berlin in den Staatsdienst rief, bevorzugte das Südlich-Schöne gegenüber dem Nordisch-Erhabenen, denn um seiner depressiven Natur zu entkommen, brauchte er leichte Küsse in homerischem Licht statt ossianischen Dauerregens. Aber trotz seiner latenten Abneigung gegen das ihn beunruhigende Bild sagte Uhden, der Friedrichs psychische und finanzielle Situation bei seinem Besuch sofort erkannt hatte, zu Schleiermacher, er würde seine Zustimmung nicht verweigern, sollte dieser es der Akademie zur Ausstellung empfehlen. Schleiermacher solle selbst nach Dresden fahren, sich einen Eindruck verschaffen und dann entscheiden.
Die Zeit drängte, die Nominierungen zur Akademieausstellung sollten längst bekanntgegeben sein. Schleiermacher nutzte eine Reise nach Leipzig, per Eilbrief ließ er sich bei Friedrich zum Atelierbesuch ankündigen. Eine knappe Woche später stand er ihm am frühen Nachmittag des 12. September 1810 gegenüber. Und erschrak über dessen Erscheinung. [...]
SINN UND FORM 6/2016, S. 725-731, hier S. 725-726
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Gerlach, Hannelore
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Germain, Sylvie
Gernhardt, Robert
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- 4/2007 | Gespräch mit Wolfgang Palaver, S. 454 Leseprobe
Girard, René
GESPRÄCH MIT WOLFGANG PALAVER
WOLFGANG PALAVER: Das Verhältnis von Monotheismus und Gewalt interessiert viele Menschen. Aber bevor wir auf dieses Phänomen unserer Zeit näher eingehen, möchte ich Sie fragen, wie Sie in Ihrer mimetischen Theorie zwischen Heidentum und biblischem Monotheismus unterscheiden.
RENÉ GIRARD: Das ist gar nicht so einfach, weil es dabei wesentlich auf die Interpretation des Sündenbock-Phänomens ankommt, das für archaische Religionen genauso wichtig ist wie für das Christentum. In heidnischen oder archaischen Religionen, die im Grunde nahezu identisch sind, und natürlich im Polytheismus, wird es vom Standpunkt des Mobs interpretiert. Wird das Phänomen hingegen zutreffend als Gewalt, als nicht zu rechtfertigende Gewalt des Mobs gegen einen unschuldigen Sündenbock interpretiert, befinden wir uns in der Sphäre des Christentums, in der Sphäre der Bibel. Für mich gibt es nur einen Monotheismus, den jüdischen, der im Christentum und im Islam wiederkehrt. Ich denke nicht, daß man noch einen zweiten Monotheismus entdecken wird, und auch nicht, daß er eine »Entdeckung« ist. In gewisser Weise sind alle Sündenbock-Religionen verirrte Ahnungen von Monotheismus, das Unvermögen, den einen, einzigen Gott zu erreichen, das unweigerlich zu einer Vielzahl von Göttern der Gewalt führt. Doch obwohl diese Götter der Gewalt das extreme Gegenteil des Gottes des Friedens darstellen, stehen sie ihm auch positiv gegenüber, was doch recht seltsam ist.
PALAVER: Hatten Sie das im Sinn, als Sie in Ihrem Beitrag zur Festschrift für Raymund Schwager von der paradoxen Einheit aller Religionen sprachen?
GIRARD: Ja, es gibt eine paradoxe Einheit aller Religionen, das kann man sagen, auch wenn es nicht ungefährlich ist – und ich sage es auch nur im kleinen Kreis. Die mimetische Theorie will alle Formen der Religion erklären, eben weil sie alle vom wahren Monotheismus abhängen, der durch die endgültige Lösung des Sündenbock-Rätsels vollendet wurde: durch die Passion Christi.
PALAVER: Vielleicht finden wir in dieser Richtung einen Ansatz, der uns hilft, eine wichtige Einsicht aus der frühen Phase Ihrer Theorie zu präzisieren, wo Sie mit einer relativ strengen Unterscheidung zwischen Heidentum und biblischer Religion operieren. Beim Lesen Ihres Werkes, hatte ich den Eindruck, Sie meinten bereits damals, daß sich sogar jene Religionen nach Frieden sehnen, die dem Sündenbock-Mechanismus sehr nahestehen und auf Menschenopfer beruhen.
GIRARD: Ganz gewiß. Und dadurch ermöglichen sie die Menschheit. Ohne sie würde sich die Menschheit selbst auslöschen, sobald sie eine bestimmte Stufe des mimetischen Konflikts überschreitet. Der größte Fehler der Religionstheorie der Aufklärung, auf der unsere heutigen Wissenschaften beruhen, besteht darin, in der Religion zuallererst eine intellektuelle Erklärung der Welt zu sehen. So meinte Auguste Comte, daß es drei Stufen der Welterklärung gebe. Die erste sei die Religion, völliger Unsinn. Die zweite, die Philosophie, sei nicht ganz so unsinnig, und die dritte, im 19. Jahrhundert, sei die Wissenschaft, vollkommenes Wissen. Das ist eine völlig falsche Auffassung von Religion. Die archaischen Religionen haben mit Göttern wenig zu tun, aber sehr viel mit zwei Dingen: mit Opfern und mit Verboten. Beide sind unerläßlich für das Überleben der Menschheit, und dieser Überlebenswert sozusagen rechtfertigt zeitweilige Kompromisse mit der Gewalt. Wenn Sie sich die Geschichte der Religion anschauen, sehen Sie, daß es keine endgültigen Siege gibt, sondern daß alle Religionen in gewisser Weise Siege über die Gewalttätigkeit sind. Die Opferungen sind immer weniger grausam, und auch der Kulturtypus, den sie hervorbringen, ist nicht mehr so brutal wie früher, was sich mit dem Geschehen im Mittelalter vergleichen läßt, als das Christentum die Religion an sich verkörperte. Man sollte sie also keinesfalls als negativ einstufen, aber sie auch nicht gar zu eilig definieren wollen. Mit Hegel wird man hier nicht weit kommen, weil seine Dialektik die Gewalt in der Geschichte letztlich positiv interpretiert, womit ich nicht einverstanden bin. Vom christlichen Standpunkt betrachtet, gibt es die Sünde durch die ganze Geschichte hindurch, man denke nur an den Begriff der Erbsünde. Wenn Gewalt also eine Erklärung für die Erbsünde ist, dann ist sie Teil der Offenbarung.
PALAVER: Diese friedliche Seite der heidnischen Religionen möchte ich betonen, da es uns im Gegensatz zu David Hume schwerfällt, sie zuzugeben, ohne das Faktum verdrängen, daß sie dazu der Menschenopfer bedurften. Hume, einer der ersten modernen Kritiker des Monotheismus, hat deutlich gesagt, daß es im Heidentum trotz der grausamen Riten den Geist der Toleranz gibt. In Ihrem Beitrag zu dem Band »Violent Origins« schreiben Sie, Haß und Feindschaft in heidnischen Gesellschaften seien nicht so grausam wie die derzeitigen Formen absoluter Feindschaft. Nehmen wir etwa den Begriff der Feindschaft während der beiden Weltkriege, und vergleichen wir ihn mit den verschiedenen Arten von Feindschaft in Stammesgesellschaften.
GIRARD: Ich bin mir nicht sicher, ob über die absolute Intensität – psychisch, metaphysisch und so weiter – viel zu sagen ist. Über die Waffen sicher etliches, denn sie sind die Werkzeuge des menschlichen Zorns. Es ist nicht zu übersehen, daß sie im Laufe der Geschichte immer wirkungsvoller geworden sind. Und das meinte Clausewitz, als er sagte, das militärische Potential werde immer größer, so daß es den Anschein habe, als seien alle Kriege nur ein einziger Krieg. Aber er hat das nicht in einem apokalyptischen Kontext gesehen. Denn es bestand seinerzeit keine unmittelbare Gefahr für das Überleben des Planeten; und wegen der Atombombe machte er sich auch keine Sorgen. Von Raymond Aron gibt es ein zweibändiges Werk über Clausewitz, durch das ich auf ihn aufmerksam geworden bin. Der erste Band, »Das europäische Zeitalter«, ist historisch gesehen der echte Clausewitz. Der zweite, »Das planetarische Zeitalter«, handelt von Clausewitz im Atomzeitalter. Da Aron optimistisch ist, zeugt das ganze Buch von seinem seltsamen Bemühen, sich einzureden, die nukleare Abschreckung habe Erfolg und es gebe keinen Grund zur Sorge. Deshalb werde die »Steigerung bis zum äußersten«, die sich fortsetzt und verschlimmert, die Welt nicht zerstören, denn die Menschen seien vernünftig genug, um den Atomkrieg zu vermeiden. Eigentlich beantwortet Aron immerzu ein Argument, das er vor Angst gar nicht auszusprechen wagt. Also das Buch ist schon faszinierend. Ich würde gern ein Buch über Clausewitz und Aron schreiben, um Arons Rationalismus und Optimismus zu zeigen: daß er nämlich eine These attackiert, die bei ihm gar nicht richtig vorkommt. Aber die doch vorhanden ist, denn sonst wäre sein Buch belanglos. Und man möchte Aron fragen: Warum machen Sie sich denn Sorgen? Ja, irgendwie ist das ein ganz anrührendes Buch.
PALAVER: Sie sind nicht so optimistisch?
GIRARD: Apokalyptische Erwartungen muß es geben. Die kann man nicht einfach abtun, indem man sagt, die Vernunft siegt. Wieso sollten wir eigentlich in diesem Punkt auf die Vernunft vertrauen? Das ist doch seltsam. Es ist einfach der Wunsch, das jüdisch-christliche Denken endgültig zu vertreiben. Aber den gibt es in den verschiedensten Formen, bei Aron in einer ziemlich sanften Form, die, würde ich sagen, weniger anstößig ist als das derzeitige Verdammen des Monotheismus durch Leute, die nicht einmal an Gott glauben, außer um ihn für ihre eigene Gewalttätigkeit verantwortlich zu machen. Das ist eine Karikatur des Schlimmsten, was es in der Geschichte der Religion je gab. Unsere Zeit ist von einer noch nie dagewesenen hirnlosen Arroganz; wir machen das Göttliche zum Sündenbock, einzig und allein, um es zu verunglimpfen. PALAVER: Betrachten wir einmal die eindrucksvollen Psalmen, um die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten der heidnischen Religionen mit dem Beginn des biblischen Erbes zu erklären. Die Psalmen sind in mancher Hinsicht ganz außerordentlich und wohl der erste Beleg für die Einzigartigkeit der biblischen Offenbarung.
GIRARD: Die Psalmen offenbaren das Geschehen. Wie wir von Raymund Schwager wissen, gibt es in 100 der 150 Psalmen einen von Feinden umringten Erzähler. Er wird zum Sündenbock gemacht und darf, zum erstenmal in der Geschichte, gegen sein Schicksal toben. Eine völlige Umkehrung des Mythos, so wie später in den Evangelien. Und das Opfer beklagt den drohenden Lynchmord. Wir erfahren nicht, warum gelyncht wird. Aber das ist auch nicht nötig, weil die Menschen ihre Opfer zu lynchen pflegen. Die Psalmen sind die ersten Texte, in dem das Opfer und nicht der Mob zu Wort kommt. Jetzt redet das Opfer über den Mob, während bislang der Mob sich weigerte, über das Opfer zu reden, und behauptete, da draußen sei ein Gott, den wir fänden oder der uns fände und den wir anbeten müssen.
PALAVER: Sie sagen, schon die ersten biblischen Texte seien, verglichen mit den Texten der Griechen, blutiger, grausamer und von ganz unverhüllter Gewalt. Deshalb ist das biblische Erbe für viele ein Erbe der Gewalt. Sie haben die Psalmen einmal mit einem umgedrehten Fell verglichen.
GIRARD: Mit einer Tierhaut. Gesäubert und bearbeitet ist sie wunderschön, glänzend, großartig. Aber wenn man sie gleich nach dem Abziehen wie einen Handschuh umdreht, ist überall Blut. Ja, die Mythen sind wie ein Fell, daher werden sie gehegt und gepflegt. Der heutige Leser findet die Psalmen abstoßend, weil er noch die blutige Haut des Opfers sieht. Erst kürzlich habe ich diesen Vergleich auch auf die Evangelien übertragen und es möglichst spektakulär zu formulieren versucht. Leider haben die Christen die grundlegende Übereinstimmung von Mythos und Evangelien, die die Anthropologen entdeckt haben, immer zurückgewiesen. Obwohl die Anthropologen zum Teil recht haben. Es ist dieselbe Geschichte, dieselbe Struktur: eine Gemeinschaft gerät in Aufruhr, die Menschen rotten sich zusammen und erschlagen den Missetäter, Ödipus. Danach geht es ihnen wieder gut. In den Evangelien ist es ähnlich, nur schlimmer, weil der Tod des Sündenbocks den Frieden nicht wiederherstellt. Jemanden umzubringen überzeugt nicht mehr wirklich. Die Evangelien, wie die biblischen Texte, zeigen uns die Unschuld des Opfers. Die Mythen hingegen sind schön, weil die Gewalt, die sich zumeist gegen das Opfer richtet, fast völlig verhüllt ist. Daher bringen sie nur den Standpunkt des Mobs zum Ausdruck, und wir akzeptieren ihn und glauben an das grandiose, klassische griechische Universum, denn um eben das handelt es sich; das rein mythologische Universum, das die Gewalt auf das Opfer projiziert und uns ein gutes Gefühl gibt.
[...]
SINN UND FORM 4/2007, S. 454-463, hier S. 454-457
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Gissing, George
Bücher und das ruhige Leben
(…)
IV.
Es regnete fast den ganzen Tag, dennoch war es für mich ein Tag der Freude. Ich hatte gefrühstückt und war in eine Karte von Devon vertieft (wie liebe ich doch gute Karten!), um eine Reiseroute zu erkunden, die ich im Auge hatte. Da klopfte es an meine Tür, und Mrs. M. trug ein großes Paket in braunem Papier herein, das, wie ich mit einem Blick sah, Bücher enthalten mußte. Die Bestellung hatte ich vor einigen Tagen nach London geschickt, aber nicht erwartet, daß meine Bücher schon so bald eintreffen würden. Mit pochendem Herzen legte ich das Paket auf den Tisch und behielt es im Auge, während ich das Feuer unterhielt; dann nahm ich mein Federmesser und öffnete die Sendung mit zitternden Händen, feierlich und bedächtig.Es ist ein Vergnügen, Buchhändlerkataloge durchzusehen und hier und da eine mögliche Erwerbung anzukreuzen. Früher, als ich kaum Geld auf die Seite legen konnte, hielt ich Kataloge so gut es ging außer Sichtweite; jetzt genieße ich sie Seite für Seite und mache eine angenehme Tugend aus der Zurückhaltung, die ich mir unbedingt auferlegen muß. Noch größer aber ist das Glück, Bände auszupacken, die ich, ohne sie vorher zu sehen, gekauft habe. Ich jage keinen Raritäten nach, ich mache mir nichts aus Erstausgaben und Großformaten – was ich kaufe, ist Literatur, ist Nahrung für die menschliche Seele. Der erste Anblick der Bindung, wenn der innere Schutzumschlag zurückgeklappt ist! Der erste Geruch von Büchern! Der erste Schimmer einer Titelvergoldung! Hier ist ein Werk, dessen Ruf ich mein halbes Leben lang kenne, das ich aber noch nie gesehen habe; ich nehme es ehrfürchtig in die Hand, öffne es vorsichtig; meine Augen sind vor Aufregung getrübt, wenn ich einen schnellen Blick auf die Kapitelüberschriften werfe, und geben mir eine Ahnung vom Genuß, der mich erwartet. Wer hat sich mehr als ich den Satz der »Imitatio« zu Herzen genommen – »In omnibus requiem quaesivi, et nusquam inveni nisi in angulo cum libro«?
Ich hatte die Anlagen zu einem Gelehrten, und mit Muße und geistiger Ruhe hätte ich es auch zu Gelehrsamkeit gebracht. Innerhalb der College-Mauern hätte ich so glücklich, so unschuldig gelebt – meine Phantasien immer mit der Alten Welt beschäftigt. In der Einleitung zu seiner Geschichte Frankreichs sagt Michelet: »Ich bin an der Welt vorbeigegangen und habe die Geschichte für das Leben gehalten.« Das war, so kann ich jetzt erkennen, mein wahres Ideal; während all meiner Kämpfe und Nöte lebte ich eher in der Vergangenheit als in der Gegenwart. Zu der Zeit, als ich in London buchstäblich hungerte, als es unmöglich schien, daß ich meinen Lebensunterhalt jemals mit Schreiben verdienen würde, wie viele Tage verbrachte ich da im British Museum und las so uninteressiert, als ginge es mich nichts an! Ich erinnere mich verwundert, wie ich mich an ein Pult im großen Lesesaal setzte und dabei Bücher vor mir hatte, die unmöglich eine Quelle unmittelbaren Nutzens sein konnten – mit nichts in meiner Tasche als trockenem Brot zum Frühstück und einem weiteren Bissen fürs Mittagessen. In jener Zeit arbeitete ich mich durch deutsche Wälzer über Altertumsphilosophie, in jener Zeit las ich Apuleius und Lukian, Petronius und die Griechische Anthologie, Diogenes Laertius und weiß der Himmel was noch! Mein Hunger war vergessen; über die Dachstube, in die ich für die Nacht zurückkehren mußte, machte ich mir keinerlei Gedanken. Alles in allem kann ich darauf wohl eher stolz sein, und also lächle ich beifällig über jenen dünnen, blassen Jugendlichen. Ich? Mein wahres Selbst? Nein, nein! Er ist in diesen dreißig Jahren tot gewesen.
Gelehrsamkeit im hohen Sinne war mir versagt, und jetzt ist es zu spät. Doch nun weide ich mich an Pausanias und nehme mir vor, jedes Wort von ihm zu lesen. Wer auch nur eine Spur für alte Literatur übrig hat, würde der nicht lieber Pausanias selbst lesen anstelle bloßer Zitate und Verweise auf ihn? Hier sind die Bände von Dahns »Die Könige der Germanen«: Wer würde nicht gerne so viel wie möglich über die teutonischen Eroberer Roms wissen? Und so weiter und so weiter. Bis an mein Ende werde ich lesen – und vergessen. Ach, das ist das Schlimmste von allem! Beherrschte ich das ganze Wissen, das ich zu allen Zeiten besessen hatte, so könnte ich mich einen gelehrten Mann nennen. Gewiß ist nichts so schlecht für das Gedächtnis wie lang andauernde Sorgen, Aufregungen, Ängste. Ich kann nicht mehr als ein paar Bruchstücke dessen behalten, was ich lese, doch lesen werde ich, beharrlich und mit Freude. Ob ich Belesenheit für ein zukünftiges Leben anhäufen würde? Es beunruhigt mich allerdings nicht länger, daß ich vergesse. Der vorüberziehende Augenblick beglückt mich, und was kann ein Sterblicher mehr verlangen?
(…)
Aus dem Englischen von Wulfhard Stahl
SINN UND FORM 1/2023, S. 96-111, hier S. 101-102
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ERINNERUNGSTHEORIE
Vor langer Zeit, lang bevor ich zu einer leidenden Künstlerin wurde, die vor Sehnsucht vergeht, aber unfähig zu dauerhaften Bindungen ist, lang davor war ich ein ruhmreicher Herrscher, der ein geteiltes Land wiedervereint hatte – so verkündete es mir die Wahrsagerin, die mir aus der Hand las. Große Dinge liegen vor dir oder vielleicht hinter dir, genau läßt sich das nicht sagen. Doch würde das, fügte sie hinzu, wirklich einen Unterschied machen? In diesem Augenblick bist du ein Kind, das die Hand der Wahrsagerin hält. Alles andere ist Hypothese und Traum.
Aus dem Englischen von Uta Gosmann
SINN UND FORM 2/2017, S.174-180, hier S. 178
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Goldmann, Friedrich
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Göllner, Renate
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Gologo, Mamdou
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Goltzsche, Dieter
- 6/1995 | Nachklänge - Erinnerungen an Max Schwimmer
Golz, Jochen
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Gombrowicz, Witold
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Gómez Dávila, Nicolás
- 1/2005 | Gedankensplitter, leichte Andeutungen
Gömöri, Jenö Tamás
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | An Thomas Mann
Gontscharow, I. A.
- 5/1953 | Briefe an L. N. Tolstoi
González, Ángel
- 5/2017 | Die Wasserhaut markieren. Gedichte
González, Tomás
- 5/2013 | Reise an die Küste, S. 657 Leseprobe
González, Tomás
Reise an die Küste
Für Don Gabriel
diese Geschichte, die aus dem wenigen entstand, das ich weiß oder erinnere, und dem unendlich vielen, das ich nicht weiß oder vergessen habe.»Übermorgen ist der dritte«, sagte die Mutter.
»Schon wieder November«, erwiderte Emma. »Das Jahr ist wie im Flug vergangen.«
Am nächsten Tag räumten Mutter und Tochter das Bett und die anderen Möbel aus dem Zimmer, von dem man auf die Mangobäume und die Gartenmauer dahinter schaute, und stellten zwei Reihen Stühle auf – so wurde es zum Eisenbahnwagen. Aus dem Wohnzimmer entfernten sie allen Zierrat und hängten die Bilder ab – der Wartesaal. Den Schreibtisch rückten sie in den Gang; er sollte als Fahrkartenschalter, als Theke und außerdem als Ablage für die schwarzen Papptafeln dienen, auf denen mit weißer Kreide die einzelnen Stationen geschrieben standen. Die hatten sie nach ihrer Erfahrung mit der ersten Reise angefertigt und in der richtigen Reihenfolge bereitgelegt, um nicht wieder durcheinanderzukommen. In La Dorada mußte man in den Expreso del Sol umsteigen.
»Ich werde Käsestückchen in Bananenblättern verkaufen«, sagte Emma.
Sie war das jüngste der acht Kinder und wohnte als einzige noch bei den Eltern. Während der alljährlichen Reise ihres Vaters an die Küste mußte sie verschiedene Rollen spielen, und für jede hatte sie die passenden Kostüme und Requisiten zur Hand: Käseverkäuferin, Gebäckverkäuferin, Verkäufer von bunten, auf einen Pfahl gespießten Lutschern, auf einer Bahnhofsbank eingenickte Frau, Polizist mit Schlagstock und angeklebtem Schnurrbart, alleinreisender junger Mann, der Aguardiente aus der Flasche trinkt, und viele andere.
»Und Karamelkekse bitte«, sagte Jesusita.
Am Abend packte Don Rafael seine Sachen, und sie achtete darauf, daß alles komplett war. Das letzte Mal hatte er acht Unterhosen eingepackt, aber keine Socken. Er würde von allem zwei Paar brauchen für die zwei Tage, die sie bei seiner Familie in Barranquilla zu Besuch sein wollten.
Im vergangenen Jahr hatte Don Rafaels Mutter, die fünf Jahre zuvor mit 95 und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gestorben war – zu viele Kräfte und zu besitzergreifend, fanden manche ihrer Enkel –, ihren Sohn noch ungestümer als sonst zum Bleiben gedrängt, denn eine so lange Reise lohne sich nicht für einen so kurzen Besuch. Als sie ihn schon beinahe überredet, ja, fast genötigt hatte, war Jesusita gezwungen einzugreifen – obwohl es ihr unheimlich war und sie sich allein auf ihre Intuition verlassen mußte, denn sie konnte nicht wissen, was ihre Schwiegermutter sagte, sie hörte ja nur, was Don Rafael antwortete. Aber sie machte es sehr gut und erreichte schließlich, daß Don Rafael zurückkehren durfte.
Jesusita und Don Rafael waren zeitig am Bahnhof, kauften ihre Fahrkarten und setzten sich in den Wartesaal.
»Hoffentlich hat er nicht wieder Verspätung«, sagte sie und schaute auf die Bahnhofsuhr.
»Wir sind früh dran«, sagte Don Rafael.
»Ja, nicht wahr?« sagte Jesusita rasch, glücklich darüber, daß er zum ersten Mal seit Monaten wieder sprach.
Emma, in den Kleidern der Verkäuferin des Bahnhofskiosks, reichte ihrem Vater zwei Kaffee und vier Karamelkekse über den zur Theke gewordenen Schreibtisch. Trotz der Hitze ergriff Don Rafael die Tasse mit beiden Händen, als wolle er sich wärmen, und schlürfte geräuschlos. Jesusita hatte ihm einen Wollpullover eingepackt, denn nachts wurde ihm schnell kalt, sogar im warmen Klima von Honda.
»Man kann ihn schon hören«, sagte Don Rafael nach einer Weile.
Sie schaute auf die Uhr. Nur zwanzig Minuten Verspätung. Letztes Jahr war es fast eine Stunde gewesen, wegen eines Erdrutschs am Alto de la Mona, und um ein Haar hätten sie den Anschlußzug in La Dorada verpaßt. Jesusita liebte das Reisen, und besonders diese Reise, die 25 bis 35 Stunden dauern konnte und auf der man so viel erlebte. Sie genoß den Duft der Pflanzen, der durchs Waggonfenster hereinkam, den Wind und sogar den Dieselgeruch der Lokomotive. »Ja. Ich kann ihn auch hören.«
Die erste dieser Reisen lag vier Jahre zurück. Don Rafael hatte nach und nach das Gedächtnis und die Fähigkeit, die Dinge zusammenzuhalten, verloren und lebte schon seit langer Zeit in einem Zustand, in dem er nichts mehr tat und kaum noch redete. Eines Abends sah Jesusita, wie er seinen Koffer aus der obersten Ablage des Wandschranks holte und zu packen begann.
»Willst du verreisen?« fragte sie ihn, und er sagte, ja, und forderte sie auf, ebenfalls zu packen, denn sie müßten nach Barranquilla fahren. Seine Mutter habe Geburtstag, und die ganze Familie würde zur Feier kommen. Jesusita wußte sofort, woran sie war, und brauchte nicht erst zu fragen, wie er zu reisen gedachte, denn Don Rafael war seit seiner Zeit als Vertreter für Singer-Nähmaschinen – bevor er sich in Honda niederließ, Jesusita kennenlernte und die Eisenwarenhandlung aufmachte – ein großer Freund der Eisenbahn.
»Deine Mutter lebt nicht mehr, Rafael, und den Zug haben sie abgeschafft«, erinnerte sie ihn, doch er packte schweigend weiter.
Jesusita überlegte einen Moment, wie sie damit fertigwerden sollte.
»Alles klar«, sagte sie. »Fahren wir!«
Weil damals niemand vorbereitet war, gab es Probleme mit den Sitzplätzen, mit den Namen der Stationen, bei der Versorgung mit Reiseproviant, und obendrein machte ihnen die Hitze zu schaffen. Trotzdem war die Reise für Jesusita ein unvergeßliches Erlebnis. Danach lernten sie, die Dinge besser zu organisieren, und die Fahrt an die Küste wurde für alle zu einem Vergnügen, auch wenn sie so lange dauerte und es jedes Jahr am Ende ihres Besuchs unweigerlich zu einem häßlichen Zusammenstoß zwischen Jesusita und ihrer aufdringlichen Schwiegermutter kam.
Sie erreichten La Dorada. Emma rannte am einfahrenden Zug entlang und bot Weintrauben und Ananasscheiben feil. Sie machte ihre Sache so gut, daß der Eindruck entstand, sie würde nicht allein rennen, sondern mit einer ganzen Schar von Kindern und Jugendlichen, die etwas zu verkaufen hatten. Jesusita und Don Rafael verließen den Zug und bahnten sich durch das Chaos der Verkäufer einen Weg zu den Toiletten. Danach stiegen sie in den Expreso del Sol, der gerade eingetroffen war und den Verkäufern zufolge in zehn Minuten weiterfahren sollte.
Nachdem sie das Gepäck verstaut und ihre Plätze eingenommen hatten, reckte Jesusita, nach Luft schnappend, den Kopf aus dem Wagenfenster, um zu sehen, wo Emma blieb. Die Hitze war so groß geworden, daß der Fächer, mit dem sie sich Kühlung zuwedelte, nicht mehr ausreichte. Wie immer, wurden aus den zehn Minuten fünfzehn, dann zwanzig und schließlich dreißig, bis sich der Zug endlich in Bewegung setzte und die Ventilatoren für frische Luft sorgten. »Man kann den Fluß riechen«, sagte Don Rafael.
Vom leichten Schaukeln der Eisenbahn eingelullt, nickten sie nach La Dorada ein. Als sie aufwachten, fuhr der Zug gerade durch Caño Alegre, einen Ort, der keinen richtigen Bahnhof hatte, sondern nur einen Bahnsteig, an dem der Expreso del Sol nicht hielt. Jesusita hatte die Augen wegen des Fahrtwinds halb geschlossen und sog den Geruch der Pflanzen und des Gestrüpps entlang der Gleise ein. Die ersten fünf Stunden waren im Nu vergangen. Aus dem Proviantkorb nahm sie Sandwiches, die sie am Abend vorbereitet hatte, in Dreiecke geschnitten und ohne Rinde, belegt mit Ei, Wurst, Tomaten, Salatblättern und Mayonnaise. Aus einer Thermoskanne, die auch im Korb war, schenkte sie kalte Limonade ein.
er Tag erreichte seinen strahlenden Höhepunkt. Don Rafael sah, wie die Rinder auf den Weiden, über die die Eisenbahnstrecke führte, den Schatten der Ceibas suchten, während die Reiher ihnen die Zecken aus der Haut pickten oder einfach nur auf ihren Rücken standen, als gehöre ihnen die Welt. Das Geländer einer Eisenbrücke flog am Wagenfenster vorbei, und unten, am Ufer eines kleinen Flusses, kniete eine Frau, die Wäsche auf einen Stein schlug und zu ihnen aufsah. Weder Don Rafael noch Jesusita kamen dazu, Emma zuzuwinken, denn der Blick aus dem Wagenfenster wurde durch ein vorbeisausendes Gestrüpp verdeckt. Dann ging es wieder über ausgedehnte Weideflächen mit Viehherden.
Don Rafael beobachtete leicht amüsiert seine Frau, die sich seit einiger Zeit mit halbgeschlossenen Augenlidern dem Fahrtwind hingab. Er konnte einem solchen Vergnügen nichts abgewinnen, er fand eher an handfesten Dingen Gefallen, an einem stabilen Weidezaun etwa oder einer majestätischen Hochspannungsleitung. Bis zu der Zeit, als er sich nicht mehr zurechtfand, hatte Don Rafael in seiner Eisenwarenhandlung gearbeitet, und deshalb zog ihn alles an, was aus Metall war, kleine Dinge wie das Räderwerk einer Armbanduhr oder monumentale Werke wie Eisenbrücken und das Gleisgelände in La Dorada. Sein Bruder Jaime saß jetzt neben ihm und erzählte von früher, als sie zum Angeln an die Ciénaga Grande gefahren waren. Wo war er eigentlich zugestiegen?
»Jaime arbeitet in Nare«, sagte Don Rafael.
Jesusita fand es nicht nötig zu berichtigen – denn Don Rafael hätte es sofort wieder vergessen –, daß Jaime in der Tat viele Jahre in der Zementfabrik von Nare gearbeitet hatte, aber seit mehr als zehn Jahren pensioniert war und jetzt in Barranquilla lebte. Falls man das leben nennen konnte, denn er litt an einem schweren Emphysem.
»Ah, ist er wieder dort?« sagte sie. »Wo ihm die Stelle doch gar nicht zugesagt hat.«
Don Rafael schaute aus dem Zugfenster und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt.
»Da, die Kuppel der Kirche von Puerto Nare.«
»Kannst du sie sehen?«
»Auf der Kirchturmuhr ist es jetzt eins.«
Jesusita machte sich nicht die Mühe, auf ihre eigene Uhr zu schauen. Es war ein Uhr.
Dann schlief Don Rafael ein. Sein Kinn war auf die Brust gesunken, und eine schlaffe graue Haarsträhne hing ihm in die Stirn. Jesusita stand auf, um mit Emma zu reden, die mit aufgestützten Ellbogen am Küchentisch saß und Kaffee trank. Emma hatte mit Flor telefoniert, ihrer ältesten Schwester, die in Armero wohnte und am Abend kommen wollte, um ihr bei der Reise zu helfen. Mit den anderen Geschwistern konnte man nur ab und zu rechnen, oder in Notfällen, denn sie hatten ihre Arbeit und Familien mit kleinen Kindern. Aber alle verfolgten den Verlauf der Reise, und wenn sie kurz vorbeikamen, brachten sie Emma Sachen zum Verkaufen mit – Backwaren, Würstchen oder eiskalte Hafermilch – und warfen einen Blick in den Eisenbahnwagen.
Kurz vor Puerto Berrío fing es an, in Strömen zu regnen. Emma war auf dem Bahnhof und bot, in ein Regencape gehüllt, Ananasscheiben, Weintrauben und Mandarinen aus ihrem Obstkorb an. Der Regen hatte die meisten anderen Verkäufer vertrieben, sie waren zur Gartenmauer geflüchtet, unter die Mangobäume.
»Wann fahren wir endlich weiter?« fragte Jesusita und wedelte sich mit ihrem Jungmädchenfächer – rote Rosen auf weißem Grund – etwas Luft zu. Emma hatte die Ventilatoren ausgeschaltet.
»Ich geh aufs Klo und erkundige mich unterwegs«, sagte Don Rafael. Kurz darauf hörte Jesusita die Spülung im oberen Stockwerk und wie er die Treppe herunterkam und mit Leuten sprach, wahrscheinlich mit anderen Reisenden oder mit jemandem vom Zugpersonal. Dann kam er in den Waggon zurück. »Es ist nicht voll, aber es sind eine Menge Leute da«, berichtete er, als wenn er, um das herauszufinden, seinen Platz verlassen hätte.
Für die zweite Reise hatte Emma aus Pappe die lebensgroßen Umrisse von zehn Personen ausgeschnitten, die sie mal als Reisende, mal als Verkäufer oder Streckenarbeiter einsetzte. Sie bewahrte sie mit der Weihnachtsbeleuchtung in einer Abstellkammer auf und holte sie jedes Jahr Anfang November wieder heraus. Im Augenblick waren sie Verkäufer und Verkäuferinnen, denen der Regen die Hosenbeine und Röcke naßgespritzt hatte. Neben dem Reigen der Hosen und Röcke sah Don Rafael die Körbe mit Maismehlkrapfen und Tamales, mit Käse und Guavengelee, mit gekochten Hühnern, die gelb und fettglänzend – für seinen Geschmack alles andere als appetitlich – ihre Keulen zum Himmel streckten.
Don Rafael aß immer sehr wenig. Seine Frau und seine Kinder sorgten sich um seine Gesundheit und forderten ihn bei Tisch ständig auf, sich mehr zu nehmen. Er trug Tropenhemden, hellblaue oder hellgelbe, fast weiße, immer makellos gebügelt, und seine schlanke Gestalt und seine vornehme Art zu sprechen flößten jedermann Respekt ein. In diese Würde und Eleganz hatte sich Jesusita vor mehr als fünfzig Jahren verliebt, als sie in Honda in die Ober schule ging. Und das war Don Rafael noch immer: ein stattlicher karibischer Gentleman, auch wenn sein Gedächtnis zerrüttet war.
Eine Stunde hinter Puerto Berrío hielt der Zug erneut. Der Regen hatte aufge hört, und die Sonne brachte die nassen Weideflächen zum Glitzern. »Wahrscheinlich arbeiten sie an den Gleisen«, sagte Jesusita, die ihren Mann kannte. Denn Don Rafael sagte dann, was er bei dieser Gelegenheit auf jeder Reise sagte, nämlich, daß nur ein Schwarzer fähig sei, bei dieser Sonnenglut die Schienen geradezubiegen. Dem stimmte sie zu.
»Schau mal, diese Rücken«, sagte sie.
Der kleine Trupp arbeitete vor der Lokomotive. Nicht alle Arbeiter waren schwarz, zwei der vier Männer waren Weiße, mit gelblicher Haut, Bierbäuchen und kräftigen Armen, aber die beiden, die gerade die Gleishämmer schwangen, waren Schwarze. Jesusita sagte: »Was für Prachtkörper die Negerbürschchen haben!« Ein bemerkenswerter Ausdruck von jemandem wie ihr, einer kleinen, zierlichen, trotz ihrer Jahre anmutigen Person, für die beiden Kolosse, zu denen nichts weniger paßte als eine solche Verniedlichung. Entlang der Gleise erstreckte sich ein Weidezaun mit MatarratónBäumen. Das Gras duftete.
Sie dösten in der feuchten Hitze vor sich hin, während die Streckenarbeiter in der Sonne rhythmisch auf die Schienen schlugen. Als sie fertig waren, traten die vier zur Seite und standen mit schweißglänzenden Körpern da, während der Zug sich mit leise quietschenden Rädern langsam in Bewegung setzte. Der Fahrtwind brachte Jesusita Kühlung, und sie schloß wieder die Augen. Doch hinter der scheinbaren Behaglichkeit quälte sie der Gedanke an die unver meidliche Auseinandersetzung mit der Schwiegermutter und die Schwierig keiten, die sich der Rückreise entgegenstellen könnten. Jesusita wollte auf gar keinen Fall an die Möglichkeit denken, ihren Mann Gott zurückzugeben, selbst wenn Don Rafael völlig unansprechbar werden und zu Hause kein Wort mehr sagen würde.
Als Flor mit Tamales und einem Kasten Limonade ins Haus kam, hatte der Zug schon eine ganze Weile im Bahnhof von Barranca gestanden, dessen intensive schwüle Hitze sprichwörtlich ist. Flor und Emma boten ihnen Tamales an, die Jesusita bezahlte und durchs Fenster entgegennahm.
»Sind sie auch wirklich frisch, ihr beiden?«
»Wenn sie sauer sind, bekommen Sie Ihr Geld zurück«, sagten die Verkäufe rinnen und kicherten.
»Aha! Ihr wollt uns also verhungern lassen, was?« sagte Jesusita, und die beiden lachten wieder.
»Sehr gut, der Tamal«, sagte nach einer Weile Don Rafael, der ungewöhnlich gesprächig war. Das Reisen schien ihm ein Stück Jugend zurückzubringen. »Es ist nicht ganz so heiß wie sonst, aber die Schwüle ist erdrückend“, sagte Jesuita. „Willst du Chili-Soße?“
Er wollte. Jesusita streckte den Kopf aus dem Fenster, um die Verkäuferinnen zu rufen, die ihr ein schmales Fläschchen reichten, aus dem Don Rafael ein paar Spritzer der feurigroten Soße auf seinen Tamal schüttelte. Emma und Flor hüpften unter ein und demselben gelben Schirm quietschvergnügt den Bahnsteig auf und ab. »Als ob es zwei Leute bräuchte, um ein paar Tamales zu verkaufen!« dachte Jesusita und schüttelte den Kopf. »Die sind doch viel zu groß für solche Albernheiten. Flor hat Kinder, die auf die Universität gehen, kaum zu glauben, und mit ihrer Figur sollte sie sowieso nicht so herumspringen.« Don Rafael hingegen machte es Spaß, den beiden jungen Verkäuferinnen zuzuschauen, wie sie – die eine rund, die andere wie ein Strich – ihre Arbeit auf dem Bahnsteig in ein Spiel verwandelten.
Der Zug fuhr wieder an. Am Abend kam Gonzalo, der jüngste Sohn, mit Nachschub für die Verkäuferinnen – Fleischtaschen und Maisfladen mit Käse – und um seine Rolle im Zug zu übernehmen. Er zog die Schaffneruniform an und ging durch den Wagen, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Mit seinem einnehmenden Wesen, immer lächelnd, zuvorkommend und hilfsbereit, war er wie für diesen Job geschaffen. Als die Uniform geschneidert werden sollte, wußte keiner, wie die Schaffner früher gekleidet waren, denn es gab schon lange keine Eisenbahnen mehr. Am Ende entschieden sie sich für einen dun kelblauen Anzug, eine Mütze, auf die eine Tochter in weißen Buchstaben FCN stickte, und eine rote Krawatte. Rot war Gonzalos Lieblingsfarbe für Kra watten. Als Don Rafael ihn das erste Mal sah, schaute er seinen Sohn verdutzt an. Doch er sagte nichts und nahm es wohl hin, daß sich die Uniformen der Schaffner geändert hatten.
Inzwischen waren weitere Kinder und mehrere Enkel gekommen, und im Eßzimmer wurde es laut. Don Rafael hatte die Preise im Zugrestaurant immer als skandalös empfunden und darum auf seinen Geschäftsreisen fast nie dort gegessen. Kurz nach ihrer Hochzeit, als er noch bei Singer arbeitete und Jesu sita ihn zum ersten Mal auf einer Reise begleitete, hatte er sie, um sie zu beeindrucken, in den Speisewagen geführt. Sie war über die Preise entsetzt, und Don Rafael mußte sie darauf aufmerksam machen, daß ihr das Mittag essen nicht bekommen würde, wenn sie nur daran dachte, was es kostete.
Der Lärm im Speisewagen dauerte an, und Jesusita sagte, die dürften nicht geöffnet haben, wenn unsereins schlafen will. Trotzdem schliefen beide dann doch ein. Als sie erwachten, sahen sie das große Rund des Vollmonds, das sich feierlich über der Kordillere erhob, hinter der Gartenmauer, zwischen zwei Mangobäumen. »Die gute Emma!« sagte Jesusita zu sich selbst. »Ich dachte schon, sie würde es vor lauter Tratschen im Eßzimmer vergessen.« Der Mond war aus Aluminiumfolie, und Emma ließ ihn aufgehen, indem sie ihn mit einer Bambusstange hochhob und mit einer Taschenlampe anleuchtete. Auf einer der Reisen war der echte Mond über den Mangobäumen aufgegangen, und Jesusita war enttäuscht gewesen, weil sein Wunder dem Wunder des Taschenlampenmondes die Show stahl. Neben dem richtigen Mond sah die beleuchtete Scheibe wie ein Lampion aus.
»Jetzt kommt Chiriguaná, nicht wahr?«
»Jetzt kommt Gamarra«, sagte Don Rafael und zählte alle Stationen zwischen La Dorada und Ciénaga auf, und als Gamarra und Chiriguaná an die Reihe kamen, hob er die Stimme, wie um seine Frau zu ermahnen, sich ein für alle Mal die richtige Reihenfolge zu merken. Jesusita hatte natürlich genau gewußt, wie der nächste Bahnhof hieß, denn Emma stellte das Schild mit dem jeweiligen Ortsnamen immer so auf, daß es für ihre Mutter gut sichtbar war, aber sie wollte Don Rafael die Gelegenheit geben, mit seiner Antwort recht zu behalten.
In Gamarra hielt der Zug eine Stunde lang. »Was ist denn los, Señor?« fragte Jesusita den Schaffner, und Gonzalo sagte, die Lokomotive habe schon seit Villeta, also lange bevor die beiden eingestiegen waren, mit einer technischen Störung zu kämpfen, und man müsse eben Geduld haben auf einer so langen Reise. »Das Gute beim Reisen ist, daß man nie weiß, was einen alles erwartet«, sagte sie, entzückt von der Schönheit des Mondes über dem Kamm der Kordillere.
»Am besten, Sie schlafen eine Weile, dann wird Ihnen die Reise nicht zu lang, und Sie spüren die Hitze nicht«, sagte Gonzalo, »vor allem der ältere Herr.« Jesusita glaubte in seinen Worten einen leichten Vorwurf zu hören, als ob sie für diese Reisen verantwortlich wäre, die Don Rafael in den Augen der Familie aus seinem geruhsamen Lebensrhythmus rissen. »Bestimmt rede ich mir das nur ein«, dachte sie. Doch dann kam sie zu einem anderen Schluß: »Sie sind schon ungerecht, die Kinder.«
Von all den heißen Orten am Mittellauf des Magdalena ist Gamarra der heißeste, weil hier fast nie ein Wind weht. Jesusita fächelte sich Luft zu, und Don Rafael befeuchtete sein langes, schmales Gesicht mit einem Taschentuch, das so weiß war wie Emmas Mond über der Gartenmauer. »Eine Reise ohne Hitze ist keine Reise«, dachte Jesusita, als würde sie auf Gonzalos Bemerkung antworten. »Dann kann man ja gleich zu Hause bleiben.«
»Länger als eine halbe Stunde wird es bestimmt nicht mehr dauern«, sagte Don Rafael. In der rechten Hemdtasche hatte er ein weiteres Taschentuch, auch mit Kölnisch Wasser getränkt und genauso weiß wie das erste. Damit erfrischte er sein Gesicht, seine glattrasierten Wangen und die Stirn, und ab und zu hielt er es sich an die Nase und atmete den herben Duft ein, als wolle er auch seinen umnebelten Geist beleben. Jesusita schaute Emma an und gab ihr mit den Augen einen Wink, die Ventilatoren anzustellen.
Aus dem Transistorradio eines Fahrgasts im hinteren Teil des Waggons erklang das Lied »Los Sabanales«, gespielt von den Corraleros de Majagual, einer in dieser Gegend sehr bekannten Band. Don Rafael mochte die Vallenato-Musik nicht, sie war ihm zu primitiv, und wenn man ihn auf diese Gruppe angesprochen hätte, hätte er gesagt, natürlich kenne er Majagual, er sei ja oft dort gewesen, aber diesen plärrenden Viehhirten sei er nie begegnet. Jesusita hingegen, die trotz ihrer siebzig Jahre immer noch gern tanzte, bewegte kaum merklich ihre angewinkelten Arme und die Schultern zum Rhythmus der Musik.Von Gamarra an, oder schon vor Gamarra, waren in einem fort Vallenato- Melodien zu hören, als wollten die fremden Klänge ihnen einhämmern, daß sie nun in einer anderen Welt waren.
Hier sitze ich
Und singe von meiner Savanne
Denn alles, woran ich mich erinnere,
Ist auf diesen Hügeln geblieben.Das hätte man von Don Rafael auch sagen können, daß ihm nur die Erinnerungen an früher geblieben waren, an die Küste, dachte Jesusita. Alles andere hatte er verloren oder war dabei, es zu verlieren. Was für ein Jammer. Ein schönes Lied, wirklich schön, dachte sie. Don Rafael war eingeschlafen, und das bedeutete, daß die Reise länger dauern würde, als Jesusita und Emma vorgesehen hatten. Später in der Nacht öffnete er die Augen und fragte, wo sie seien. Da nahmen die Ventilatoren ihre Arbeit wieder auf, und die Reise ging weiter.
In Chiriguaná hatte es gerade geregnet, darum war es außergewöhnlich frisch für diesen sonst so heißen Ort. Der Zug hielt, und bevor Emma hinter die Gartenmauer ging, um die Position des Mondes ein wenig zu verändern, stellte sie die Ventilatoren auf die niedrigste Stufe. Es waren zwei hellblaue Geräte der Marke Sankey, die für die Eisenbahnfahrten immer in einem bestimmten Abstand zur Waggontür aufgestellt wurden.
»Es ist kühl geworden, Frau«, sagte Don Rafael, und sie half ihm, sich den Pullover überzuziehen.
In Chiriguaná stiegen zwei Männer zu, die er offenbar kannte, die Jesusita aber nicht zuordnen konnte. Nach der förmlichen Art zu urteilen, in der er mit ihnen sprach, standen sie ihm nicht sehr nahe, vielleicht waren es Bekannte der Familie, die er lange nicht gesehen hatte. Don Rafael war anzumerken, daß er die beiden rasch loswerden wollte, obwohl er immer höflich blieb. Als sie endlich gegangen waren, verkniff es sich Jesusita, ihn nach den Männern zu fragen, denn sie hatte gemerkt, daß ihm die Begegnung unangenehm gewesen war. Auf der ganzen Strecke nach Aracataca ging ihr die Sache nicht aus dem Kopf. Etwas sagte ihr, daß die beiden vielleicht mit Don Rafaels Mutter zu tun hatten, aber zuerst traute sie sich nicht zu fragen, und dann vergaß sie es.
Sie waren jetzt zwanzig Stunden unterwegs. Mit zunehmender Müdigkeit verloren die Bahnhöfe für Jesusita ihren Reiz: einer war wie der andere. Den Verkäufern sah man an, daß sie übernächtigt waren, und die Käsestückchen in den Bananenblättern wurden säuerlich. Nur der Mond schien weiter in voller Pracht. Jesusita kannte diese Müdigkeit, die sich tief in der Nacht einstellt und auf einer langen Reise jeden überwältigt.
Don Rafael war eingeschlafen und sprach im Schlaf, wie Jesusita vermutete, mit den beiden Männern, die ihn vor ein paar Stunden im Zug begrüßt hatten. »Ja, ja, hm. Gut, ja, gut, aber vorher muß ich sie fragen«, sagte er entschieden, als sei das sein letztes Wort, bevor er still weiterschlief.
Jesusita schaute weg, zur Decke hinauf, um sich zu beruhigen.
»Da ist noch was, Ángel, warte einen Moment!« rief Don Rafael plötzlich und öffnete die Augen, als die beiden Männer offenbar schon an der Tür zum nächsten Waggon waren. Da dämmerte es Jesusita, daß es sich bei dem einen vielleicht um Ángel Oñate handelte, einen Schulfreund von Don Rafael, den er oft erwähnt hatte, weil er als junger Mann gestorben war, an Kälte und an Heimweh, als er in Tunja Jura studierte.
»Und was, wenn sie nein sagt?«
Der Zug stoppte abrupt mitten auf der Strecke, und die Schaffnerin kam und sagte, eine Kuh blockiere mit ihrem Kalb die Gleise. Gonzalos Uniform war Emma etwas zu groß, und Jesusita dachte, daß sie mit den aufgekrempelten Hosenbeinen wie ein Kind aussah, das sich als Erwachsener verkleidet hat. Die Kuh wurde vom Bahndamm getrieben, und sobald sich der Zug in Bewegung setzte, sprangen die Ventilatoren wieder an.
Als auf beiden Seiten die Bananenpflanzungen begannen, weckten die zunehmende Geschwindigkeit und die Üppigkeit der Welt draußen Jesusitas Lebensgeister. Natürlich würde sie nein sagen! Was dachten sich diese Narren eigentlich? Weder Ángel Oñate noch irgendein anderer Engel oder sonst ein Wesen würde es mit ihr aufnehmen können!
Sie passierten den Bahnhof von Aracataca in jenem unbestimmten Moment, da es nicht mehr Nacht und noch nicht Tag ist, oder beides, in dem alles eins wird, Tag und Nacht, Leben und Tod, Wachen und Träumen. Der Zug hielt nicht, sondern drosselte nur die Geschwindigkeit, denn um diese Uhrzeit wollte niemand ankommen oder ließ die letzten Straßen des Ortes hinter sich, nahm wieder Fahrt auf, und allmählich erwachte der Tag, mit Reihern, Wolken und Schwalben.
Emma hatte im hinteren Teil des Wagens Platz genommen und war jetzt der alleinreisende junge Mann, der regelmäßig, aber in kleinen Schlucken Aguardiente trinkt, während die Welt am Fenster vorbeizieht. Ein anderer Reisender schaltete sein Transistorradio ein und begrüßte den Tag mit einem rhythmischen Vallenato.
Das Lied handelte davon, daß die vergangene Zeit nicht wiederkehrt und daß von dem, was man geliebt hat, nur die Erinnerung bleibt. Und nicht einmal die Erinnerung, dachte Jesusita. Alle Lieder hatten irgendwie mit Don Rafael zu tun. Doch dann empörte sich etwas in ihr. Wer sagt denn, daß er keine Erinnerungen hat, he? protestierte sie aufgebracht und fast in Panik, als hätte jemand ihre Gedanken gelesen und könnte aus diesem Moment der Schwäche und Unachtsamkeit seinen Vorteil ziehen. An das, was vor langer Zeit geschehen ist, erinnert er sich doch sehr genau! Und selbst wenn er keine Erinnerungen hätte, was sagt ihr dazu, daß er noch reist oder sich seine Fischsuppe schmecken läßt, auch wenn er nur wenig ißt, weil er einen Vogelmagen hat? Wer will behaupten, daß das nichts ist? Muß er sich vielleicht um eine Stelle bewerben? Nein. Er hat sein Arbeitsleben hinter sich und hat es gut gemacht und gutes Geld verdient. Wenn es sich einer leisten kann, das Gedächtnis zu verlieren, dann er. Dabei macht Don Rafa immer noch eine gute Figur, auch ohne Gedächtnis, dachte Jesusita, er ist nett und höflich zu den Menschen, auch wenn er sie nicht mehr erkennt.
Diese Auseinandersetzung mußte sie jedes Jahr am Ende ihres Besuchs mit ihrer Schwiegermutter führen, die in ihrer arroganten Art darauf beharrte, daß es sich nicht lohne, auf der Welt zu bleiben, wenn man sich nicht mehr erinnere. Die hat gut reden, nicht wahr? Sie, die nicht mehr auf der Welt ist, dachte Jesusita, und die nichts mehr zu verlieren hat. Aber Don Rafael war noch am Leben und für manche Dinge sehr empfänglich. Mit welchem Vergnügen er dem Gesang der Trupiale lauschte! Und ihre Schwiegermutter, wie kam die überhaupt dazu, sich in ihre Ehe einzumischen, bitte sehr! Aber so war sie immer gewesen. Eine tyrannische Frau.
»Kommt jetzt Fundación, Rafa?« fragte sie ihren Mann, der gerade aufgewacht war.
»An Fundación sind wir längst vorbei, Frau!«
Wenn sich jemand an all diese Orte erinnert, dann interessiert ihn die Welt doch noch, oder? ereiferte sich Jesusita. Warum sollte er sie denn verlassen, solange er sie genießt? Don Rafael zählte die Stationen zwischen Gamarra und Ciénaga auf und betonte die Ortsnamen, als er zu Fundación, Aracataca und Sevilla kam. Jesusita lächelte. Es machte sie verlegen, in ihrem Alter das Wort Liebe zu denken. »Wie stark einen das gefangenhält!« dachte sie vielmehr. »Und um wieviel Uhr waren wir eigentlich in Fundación? Ich hab’s gar nicht gemerkt.«
Es war schon hell, als sich vor Jesusita die Ciénaga Grande, die Große Lagune, in ihrer ganzen Schönheit auftat. Die auf Pfählen in den See gesetzten Häuser schwebten im Nebel, und die Ciénaga hatte sich in Dampf und grüne Schatten aufgelöst. Das Bild erinnerte Jesusita an das »Haus in der Luft«, von dem in einem dieser Vallenato-Lieder die Rede war, die seit einiger Zeit ohne Unterlaß aus dem Transistorradio schallten. Jesusita hätte Emma oder Gonzalo bitten können, es auszuschalten, besser gesagt: Sie hätte sich beim Zugpersonal über die Musik beschweren können, die sie nicht bestellt hatte – doch in Wirklichkeit hörte sie sie gern und hätte am liebsten mitgesungen oder im Gang dazu getanzt, und sei es nur ein paar Sekunden lang.
Am Bahnhof von Sevilla war Emma wieder auf dem Bahnsteig. Sie sahen, wie sie am Zug entlanglief und gekochte Eier, Brötchen und Costeño-Käse verkaufte, den Jesusita liebte. Manche dieser regionalen Spezialitäten genoß sie sogar mehr als Don Rafael. Die Kola Román, zum Beispiel, die süß wie Sirup ist – wenn sie die kalt trank, eiskalt, und dazu den sehr salzigen und trockenen Costeño-Käse und ein rundes, süßliches Brötchen aß, wie es sie nur an der Küste gibt, war das für sie das Höchste. Das Rubinrot des Getränks war wunderschön und leuchtete wie eine Neonreklame. Don Rafael dagegen verabscheute dieses Zuckerwasser, und früher, als er noch mehr redete, sagte er immer, dieses pappige Zeug, das sie Brötchen nennen, habe mit Brot überhaupt nichts zu tun. Und wenn Jesusita der Gesang der Mariamulata-Vögel bezauberte, antwortete er, wie immer nicht unhöflich, aber etwas mürrisch: »Ach, diese Flatterviecher.«
Mariamulata- und Guanabó-Vögel waren die ganze Zeit in den Palmen zu hören, solange der Zug im Bahnhof stand. Wenn Jesusita ein Glücksgefühl empfand, wehte es wie ein Luftzug heran, unverhofft und leicht. Zwei oder drei Dinge mußten zusammenkommen, Palmen, frische Luft und Vögel, so wie jetzt, und da war es schon, das Glück. Aber genauso leicht verschwand es wieder. Eine ganze Weile hatte sie schon nicht mehr an Ángel Oñate und ihre Schwiegermutter gedacht, aber als jetzt ein Rütteln durch die Waggons ging und dann der Zug mit einem Ruck anfuhr, waren sie in ihren Gedanken wieder da. Wenn sie ihn holen, müssen sie mich auch mitnehmen, die Elenden, dachte sie mit solcher Intensität, daß auf einmal die Vögel nicht mehr zu hören waren, als habe ein ehrfurchtgebietendes oder heiliges Ereignis sie zum Schweigen gebracht. Da spürte sie eine kalte Angst im Bauch, denn das Jahr würde kommen – nicht dieses, da sollten sie sich bloß keine Hoffnungen machen, dachte sie, aber es würde unausweichlich kommen –, in dem es mit Don Rafaels Rückreise schwierig würde.
»Wie schön die Ciénaga Grande war!« sagte Jesusita, um sich abzulenken. »Aber Mädchen, die Ciénaga kann man vom Zug doch gar nicht sehn!« »Dann hab ich wohl geträumt«, sagte Jesusita. »Aber schön war sie auf jeden Fall. Ganz in Nebel gehüllt.«
Als sie endlich im Bahnhof von Ciénaga ausstiegen, waren Don Rafael die Strapazen der Reise anzusehen. Jesusita verzichtete darauf, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und sich im Bahnhof umzuschauen, dessen hohes Dach für Frische sorgte und der ihr wegen der Holzschnitzereien über den Fenstern besonders gut gefiel. Statt dessen gingen sie gleich zum Bus nach Barranquilla. Obwohl ihr alle Bahnhöfe gefielen, jeder auf seine Art, mochte sie den von Ciénaga am liebsten. Vor kurzem hatte sie irgendwo ein Foto des Gebäudes gesehen, doch wirkte es darauf etwas heruntergekommen und verlassen. Das hohe, mit Zinkblech gedeckte Dach war zwar zu sehen, aber das Gebäude sah nicht so aus, als habe es dort je Holzschnitzereien gegeben.
»Hier hast du sie jetzt, die Ciénaga Grande«, sagte Don Rafael auf der Fahrt im Bus, der sich mit Böen von Meeresluft füllte. Auf der einen Seite die Pracht der Mangroven der Lagune, auf der anderen die Herrlichkeit des Meeres. »Schön, nicht?« sagte Jesusita.
»Was? Ach ja«, sagte Don Rafael zerstreut, ganz ein Mann der Küste, der keine romantischen Gefühle mit dem Meer verbindet. Tatsächlich schien ihn die Ciénaga mehr zu interessieren, vielleicht weil mit ihr die Farben und Gerüche seiner Jugend zurückkamen, die Angelausflüge mit seinen Brüdern.
In Barranquilla wurden sie von Mercedes, Don Rafaels jüngster Schwester, mit einem Fischeintopf in ihrem hübschen Haus empfangen, das modern war, aber schattig mit seinen halbgeschlossenen Rollos und blühenden Tulpenbäumen im Garten. Mercedes war eine leidenschaftliche Köchin. Sie gehörte zu jenen, die nur für fünfzehn oder mehr Personen kochen können, und für so viele kochte sie, auch wenn nur zwei Gäste geladen waren. Zum Glück kamen fast immer mehr als zehn, denn die Familie war groß und hatte viele Freunde, die mit der Zeit auch Teil der Familie geworden waren. Mercedes war eine wohlbeleibte Frau mit einem schönen Gesicht und leuchtenden Augen und dirigierte von ihrem Stuhl im Wohnzimmer drei Köchinnen und einen jungen Mann, der als Küchengehilfe und Bote arbeitete.
Als Jesusita von Mercedes umarmt wurde, fühlte sie sich wie in Abrahams Schoß. Sie wurde von der Körperfülle ihrer Schwägerin – Gott hab’ sie selig – und der menschlichen Wärme, die sie ausstrahlte, fast erstickt und lebte auf im Bewußtsein, daß Mercedes sie genauso innig liebte, wie deren Mutter sie verachtete. Daß die mollige Mercedes und der schmale Don Rafael Geschwister waren und sich sogar ähnlich sahen, wunderte sie ebenso wie die große Ähnlichkeit zwischen der dicken Flor und ihrem hageren, schlaksigen Vater.
Die beiden Frauen schauten zu, wie er langsam die Treppe hinaufstieg, und tauschten mitleidsvolle Blicke, denn sie wußten, daß er in das Zimmer ging, das seine Mutter die letzten Jahre bewohnt hatte und das Emma mit großer Sorgfalt hergerichtet hatte, damit sie in Ruhe miteinander reden konnten. Danach würden die anderen Geschwister und viele Neffen und Nichten eintreffen, und bis spät in die Nacht würde Musik zu hören sein.
Später, im Bett, wurde Jesusita von jenem Schaukeln in den Schlaf gewiegt, das man nach einer langen Fahrt mit dem Zug oder dem Schiff noch eine gewisse Zeit zu spüren glaubt; sie hatte sogar, wenn auch nur noch schwach, den ätzenden Dieselgeruch in der Nase. Bevor sie einschlief, dachte sie, daß Flor Mercedes’ Rolle dieses Jahr wirklich glänzend gespielt hatte. So gut war sie gewesen, daß Jesusita fast vergessen hatte, daß Don Rafaels jüngste Schwester, die zeit ihres Lebens Übergewicht hatte, vor ein paar Jahren krank geworden und so stark abgemagert war, daß man sie kaum wiedererkannte, bis sie schließlich zu leicht fürs Leben wurde.
In Barranquilla waren sie an einem Freitag angekommen, und am Montag wollten sie nach Honda zurückfahren. Sie nahmen aber nicht den Zug, wie ursprünglich geplant, sondern machten die Rückreise mit dem Flugzeug, denn weder Emma noch Don Rafael hatten noch die Kraft für eine so lange Eisenbahnfahrt. Jesusita dagegen hätte, wäre es nur um sie gegangen, für die Rückreise gern wieder den Zug genommen.
Während sie unter sich, winzig klein, Hausdächer und Kühe vorbeiziehen sah und Wolken wie Wattebäusche, die zwischen dem Grün der Berge hingen, dachte Jesusita, wie schwierig es dieses Jahr gewesen war, Don Rafael von seiner Mutter loszueisen, die ihn unbedingt dabehalten wollte und noch unterstützt wurde von diesem Kerl, Ángel Oñate, der sich frech in die Diskussion eingemischt hatte und nicht müde wurde, auf Don Rafael einzureden, er solle bleiben.
Jesusita bewunderte den Schneegipfel, der am Flugzeugfenster vorbeizog. Eine schöne Überraschung, die Emma sich ausgedacht hatte! Großartig. Als das Glitzern des Schnees vorbei war, kehrten Jesusitas Gedanken zu der Auseinandersetzung mit ihrer herrischen Schwiegermutter zurück. Nicht daß der Streit sie niedergeschmettert hätte, nein, wütend war sie geworden, denn ihr war klar, daß seine Mutter sich letzten Endes durchsetzen würde und sie, Jesusita, nachgeben müßte. Und wenn sie daran dachte, daß sie ihn ihr diesmal beinahe weggenommen hätten, kochte sie vor Wut, denn sie taten das aus reiner Willkür, ohne überzeugende Argumente gegen die guten Gründe, die sie angeführt hatte.
Was bildeten sich die beiden eigentlich ein! Warum wollten sie nicht kapieren, daß sie nicht nach Belieben kriegen konnten, was sie wollten, nein, sondern erst wenn sie, Jesusita, den Moment für gekommen hielt. Während der Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter und diesem Kerl, Ángel Oñate, hatte sie geweint, das schon, aber sie hatte ihre Argumente mit Bestimmtheit und ohne die Stimme zu erheben vorgebracht. Nur aus dem, was Don Rafael sagte, hatte Jesusita heraushören können, was die beiden anderen verlangten, aber trotz allem machte sie ihnen unmißverständlich und ein für allemal klar, daß sie, seit über fünfzig Jahren seine Frau, es als erste merken würde, wenn Don Rafael sich nicht mehr an den Sonnenuntergängen freute, am Gesang der Trupiale, oder an seinen Tropenhemden aus feinem Leinen, oder an den zwei makellos geplätteten Taschentüchern und ihrem frischen Duft.
Dann, und erst dann, und nicht, wenn es zwei Dahergelaufenen einfiel, willkürlich zu entscheiden, daß die Stunde gekommen sei, würde sie – und wenn es ihr das Herz bräche – zulassen, daß Don Rafael die Reise mit dem Flugzeug, der Eisenbahn oder sonstwas absagte und nicht mehr zurückkehrte.Aus dem Spanischen von Rainer Schultze-Kraft und Peter Schultze-Kraft
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- 5/1977 | Klawdija Wilor
- 6/1977 | Klawdija Wilor (II)
- 1/1978 | Nachdenken über Gorki
- 6/1980 | Wissenschaftlich-Technische Revolution und Literatur
- 3/1981 | Gespräch mit Leonhard Kossuth
- 3/1982 | Im Haus in der Kusnetschny-Gasse
- 3/1983 | Das Gesetz der Ehre
- 4/1983 | Vater und Tochter. Gedanken zu Puschkins »Postmeister«
- 2/1984 | Gewogen und zu leicht befunden
- 5/1986 | Zwei Abende
- 5/1987 | Über Barmherzigkeit
- 3/1989 | Der Weg zum gesunden Menschenverstand
- 5/1990 | Gespräch mit Friedrich Schorlemmer
- 3/1995 | Gespräch mit Renate Göllner
- 2/1998 | Angst
- 4/2008 | Gespräch mit Friedrich Schorlemmer und Franziska Thun-Hohenstein, S. 482 Leseprobe
Granin, Daniil
Gespräch mit Friedrich Schorlemmer und Franziska Thun-Hohenstein
(…)
DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben anfing, habe ich mich kaum mit dem Krieg befaßt, das war noch zu schwer für mich. Aber dieses Rätsel ließ mir keine Ruhe. Ich suchte eine Antwort in der Kriegsliteratur, aber es gab keine. Doch jetzt, nach über sechzig Jahren, gibt es doch Antworten von Historikern. General von Leeb befehligte die deutschen Truppen vor Leningrad. Ich habe mich mit seinem Sohn getroffen, der die Tagebücher seines Vaters veröffentlicht hat, und ich habe die Tagebücher anderer Heerführer gelesen. Danach beschloß das Oberkommando Ende August, Leningrad nicht einzunehmen. Die Generäle sahen nicht ein, warum sie diese Stadt überhaupt erobern sollten. Denn was sollten sie damit anfangen? Und da entschied man, sie soll verhungern. Wir in den Schützengräben waren entschlossen, Leningrad zu verteidigen. Und die deutschen Soldaten glaubten lange, die Einnahme der Stadt sei bloß eine Frage der Zeit. Aber dann wurde die deutsche Panzereinheit in Richtung Moskau umgelenkt. Und auch in bezug auf Moskau fragte man sich: Und was machen wir, wenn Moskau erobert ist? Napoleon stand 1812 vor derselben Frage. Rußland ergab sich nicht, und Kutusows Armee war einfach abgezogen. In solchen Momenten zeigt sich die Absurdität des Krieges, die Absurdität des Ziels. Es hat sich der Mythos herausgebildet, Leningrad sei durch die heldenhafte Verteidigung gerettet worden. Die Heldenhaftigkeit, das Heldentum bestanden vermutlich in etwas ganz anderem, nämlich darin, daß Rußland, die Sowjetunion, nicht kapituliert hat. Selbst dann nicht, als die Deutschen vor Moskau standen. Als Schriftsteller interessiert mich gerade diese, die psychologische Dimension.Was war im Oberkommando oder bei Hitler eigentlich los? Der Plan Barbarossa sah doch vor, daß nach dem schnellen Vormarsch der Wehrmacht die Kapitulation erfolgte. Ja, die Deutschen hatten schwere Verluste, und es stimmt, daß der Oberkommandierende davon träumte, Leningrad einzunehmen, und daß die Panzertruppe von Manstein und auch General von Leebs eine Woche wartete, ehe sie die Panzerarmee nach Moskau umleitete. Es gibt die Vermutung, er habe darauf gewartet, daß einer der Generäle aus eigener Initiative versuchen würde, die Stadt zu besetzen, aber das ist die Mentalität der deutschen Militärs, daß sie nicht eigenmächtig handeln, sondern Befehle befolgen. Unsere wären natürlich durchgebrochen. Vor solch einer Stadt stehen und sie nicht einnehmen, das geht nicht. Aber solche Eigenmächtigkeiten gab es bei den Deutschen nicht. Unsere Historiker wundern sich über das, was bei der Blockade passierte. Vielleicht muß man die Geschichte umschreiben, das ist nicht weiter schlimm, das muß man ja eigentlich immer. Wir, die wir die Stadt verteidigten, wußten nicht, was dahintersteckte. Daß das grausame Vorhaben, die Stadt auszuhungern, zum Konzept der deutschen Heeresführung gehörte, wußten wir natürlich nicht. Der Krieg wurde begonnen, aber er war nur bis zur Hälfte geplant. Noch heute gibt es viele weiße Flecken, viel Unverständliches. Und das ist das Brot des Schriftstellers. Wo die Dokumente enden, fängt die Literatur an.
(…)
SINN UND FORM 4/2008, S. 482-490, hier S. 483-484
Graschi, Aschot
- 5/1975 | Poem vom Berg
Grass, Günter
- 5/2007 | Briefwechsel mit Erwin Lichtenstein. Mit einer Vorbemerkung von Elisabeth Unger
- 4/2015 | Was der Mann geleistet hat. Über Alfred Döblin
- 1/2023 | Witold Gombrowicz, Günter Grass und andere, Berliner Briefe. Mit einer Vorbemerkung von Till Greite
Grasskamp, Walter
- 3/1998 | Verlust der Mittel
Gratz, Michael
- 6/1986 | Durch-Blicke
- 5/1988 | Das wäre ja neu; dass wir Loben, was uns Aufstacheln will
- 5/1989 | Von wo nach wo floh Schiller oder Die amputierte Moderne
Gratzik, Paul
Green, Julien
Greenblatt, Stephen
- 6/1991 | Wo der kleine Fjodor spielte
Greg, Wioletta
- 2/2021 | Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte, S. 259 Leseprobe
Greg, Wioletta
Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte
OSTERGEDICHT
Kalter April. Die Küken reiften
in dem Käfig unter der großen Glühbirne,
die wir Glucke nannten.
Ich gab ihnen kleingeschnittenes Futter:
hartgekochte Eier, Schafgarbe, Wasser auf einem Deckel.
Ich schaute sie an – Geschöpfe, die nach Sand und
Schleim rochen, ausgeschlüpft aus einer Dunkelkammer,
die wie die Pausen in der Stromversorgung war.
Dieses Knistern in der Dunkelheit, wenn die Birne erlosch,
die steif werdenden Fleckchen, das Flimmern.
SCHWIMMUNTERRICHT
Ich war kaum sechs Jahre alt, als Vater
mir den ersten Schwimmunterricht gab,
mich mitten auf dem See vom Floß stoßend.
»Nur die Starken überleben«, sagte er,
als ich mit blauen Lippen auftauchte
Jahre später. Er selbst war vorher
am Ufer desselben Sees gestorben.
Nach seinem Tod zog ich auf eine Insel,
die allmählich von der Landkarte verschwinden wird.
Ich kann nicht einschlafen, wenn es stürmt im September,
wenn Algen die Klippen stempeln und der Wind Lavendel
von der Erde löst. Wieder ertrinke ich und auferstehe.
VERSPÄTETE FÜTTERUNG DER BIENEN
Vater rührt mit dem Löffel die braune Melasse.
Luftbläschen entweichen aus dem Topf,
greifen seine geschwollenen Finger an.
Mit dem fertigen Karamel läuft er in den Garten,
wo zwischen Johannisbeersträuchern die Beuten schlafen
und der Frost die Bienen mit Stacheln durchbohrt.
Ihr Blut erstarrt in den Chitinkörpern.
In den unterteilten Augen schwindet der Glanz
und zerfließt zu einem unbegreiflichen Ganzen.
AM BOZY STOK IM JULI
Die Sonne heftet über das Wasser
die regenbogenfarbenen Broschen der Libellen.
Zwischen Steinen hindurch schlüpfen
silberne Unendlichkeitszeichen.
Die Kinder bauen einen Damm aus Erde,
suchen Schätze im Schlamm,
kratzen den Grind von Mückenstichen ab
und erklären den Kletten den Krieg.
Am Ufer ein sommersprossiger Charon,
der mit Papierschiffchen spielt.
VERSCHWUNDEN
Sucht mich auf dem Speicher unter der Plane,
unter den Blättern der Teichrose, auf dem Grund des Steinbruchs.
Ich sitze auf dem Kirschbaum und schlucke unreife Früchte.
Der Baum flüstert: »Ich verrate dich den Staren.«
KERNE
Ich gehe mit einem Korb Kirschen in die Papierfabrik.
Am Stahltor Schwefelradierungen,
ein Transparent über die Zukunft des Volkes.
Das Volk rödelt um den Holzbrei herum,
hat das noch warme Papier unter der Fuchtel,
das ernsthaft erst in den Ämtern reift.
Die erste Schicht kriecht aus dem PKS-Bus,
hält die Karten in die Stechuhr
wie kranke weiße Zungen.
Im Pförtnerhaus raucht Vater eine Zigarette,
über die Konsole gebeugt öffnet und
schließt er mit einem Knopfdruck das Tor.
Seit dem Tag, an dem ich entdeckte,
daß wir sterblich sind, floß zwischen uns nur noch Zeit.
IM SCHRANK VON GROSSMUTTER STEFANIA
In Baumwolle und Samt Blutspuren,
Salzkristalle von nicht ausgewaschenen Tränen
in Spitzenkrägen, gekauft auf dem Markt
von Siewierz bei einer bekannten Händlerin,
kupferne Broschen, wertvolle Erinnerungen.
Durch das Schlüsselloch fließt Wärme,
nach der sich die Sonnenblumenkerne sehnen,
lange verborgen in den Taschen des Mantels.
In von Borkenkäfern geschnitzten Gängen
wohnen Feen, die ein leises Wiegenlied summen.
Dort ist der Lavendelhimmel der überschrienen Kinder.Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
SINN UND FORM 2/2021, S. 259-261
Grenz, Jaqueline
- 4/1980 | Ein Sprachbuch voll Spielsachen
Gressmann, Uwe
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Grethlein, Jonas
- 3/2013 | Von Platon zu Avatar. Ästhetische Erfahrung, antik und modern
Grieg, Nordahl
- 4/1951 | Aus: Die Niederlage
Grigorjew, Lew
- 2/1984 | Aus Gesprächen mit Rodion Schtschedrin
Grimm, Thomas
- 5/1986 | Gespräch mit Jürgen Kuczynski
- 4/1987 | Gespräch mit Walter Markov
- 4/1988 | Gespräch mit Rudolf Schottlaender
- 1/1989 | Gespräch mit Walter Markov
- 5/1989 | Zwei Fragen an Walter Markov
- 1/2003 | Honecker im Kirchenasyl. Gespräch mit Uwe Holmer
- 5/2003 | Gespräch mit Erica Glaser-Wallach und Werner Schweizer
- 3/2004 | Gespräch mit Gitta Sereny und Achim Engelberg
- 3/2007 | Gespräch mit Inge und Walter Jens und Manfred Mayer, S. 1028 Leseprobe
Grimm, Thomas
Gespräch mit Manfred Mayer, Inge und Walter Jens
FRAGE: Sie beschäftigen sich schon so lange mit der Familie Mann, daß man fast sagen kann, sie gehört zu Ihrem Haushalt. Wie hat das eigentlich alles angefangen?
INGE JENS: Eines Tages kam der Verleger Günther Neske mit einem Stapel Briefe von Thomas Mann an Ernst Bertram. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Er sagte zu meinem Mann: »Das sollten Sie edieren.« Der guckte drauf und sagte: »Um Himmels willen! Handschriftlich! Nein, nicht mit mir.« Neske war etwas betreten, und da sagtest du: »Fragen Sie doch mal meine Frau.« Und der Verleger hat sich darauf eingelassen, vielleicht hatte er keinen prominenten Interessenten. Vielleicht hat er auch gedacht: Der Mann schaut bestimmt mal nach, daß die Frau nicht zu großen Unsinn macht. Na, und so begann meine editorische Tätigkeit. Die Originale lagen in Marbach. Der damalige Direktor Zeller hat mir alles zur Verfügung gestellt. Eines Tages sagte er: »Schauen Sie mal, das hab’ ich gerade gekriegt.« Es waren Schuhkartons mit Briefen von Bertram und seinem Lebensgefährten Ernst Glöckner, dem Kalligraphen des George-Kreises. Die zwei hatten ein sehr enges Verhältnis und schrieben sich zeitweise zwei Briefe am Tag. Ich war fasziniert und konnte dank dieser Korrespondenz den Briefen von Thomas Mann einen ungewöhnlich informativen Apparat hinzufügen. Dann hatte ich das Glück, daß Friedrich Sieburg, der Starkritiker der FAZ, eine hymnische Rezension schrieb: Der Kommentar sei mindestens ebenso gut wie die Briefe. Wenn Sieburg ein Buch lobte, war der Erfolg garantiert. Es war ein bißchen wie bei Reich-Ranicki heute, aber wesentlich seriöser. Ohne Sieburgs Qualitätsausweis hätte mich Fischer vermutlich niemals mit der Edition der Thomas-Mann-Tagebücher betraut.
WALTER JENS: Als Nachfolger des verstorbenen Peter de Mendelssohn.
INGE JENS: Mendelssohn war natürlich ein unerreichter Thomas-Mann-Kenner. Ich konnte eigentlich nur alles ganz anders machen, seine Arbeit fortzusetzen wäre mir unmöglich gewesen. Mendelssohn war eher literarischbiographisch orientiert, während ich meine Edition auf eine historische Basis gestellt habe – die einzige Möglichkeit, die mir als Nicht-Zeitzeugin blieb. Ich übernahm die Edition der Tagebücher ab 1944. Damals war ich siebzehn gewesen, und ich konnte mich an vieles erinnern. Natürlich habe ich Golo Mann besucht. Wir haben ein sehr schönes persönliches Verhältnis entwickelt, das ungeheuer hilfreich war. Im Lauf der Jahre kam es bei uns öfter vor, daß Projekte, die für meinen Mann gar nicht so günstig waren, sich im nachhinein als für mich sehr günstig herausstellten, und umgekehrt, daß also der eine machte, was der andere gerade nicht machen wollte oder konnte.
WALTER JENS: Aber zusammen waren wir gut.
INGE JENS: Wahrscheinlich besser als jeder für sich.
FRAGE: Wie funktioniert so eine Zusammenarbeit? Können Sie darüber ein bißchen erzählen?
INGE JENS: Mein Mann und ich haben ja schon früher kooperiert, indem ich etwa Aufträge machte, die er bekam, z.B. Buchbesprechungen für Jürgen Petersen beim NDR in Hamburg, zuerst unter seinem Namen und dann unter meinem eigenen. Auch die »Geschichte der Tübinger Universität« war ein Gemeinschaftswerk, aber Kindler, der ein ebenso guter Verleger wie altmodischer Mensch war, hielt nicht viel von Emanzipation, obwohl er selbst ja bei Gott mit einer sehr emanzipierten Frau verheiratet war, die im Verlag eigene Sparten betreut hat. Jedenfalls meinte er, daß es dem Verkauf abträglich sein würde, wenn das Buch zwei Autoren hätte, und dann noch ein Ehepaar. Und in der Tat war das ein Grenzfall, denn ich habe drei Jahre recherchiert und das Material aufbereitet für die einzelnen Kapitel, und dann hat mein Mann allein geschrieben. Das ist eine andere Form der Zusammenarbeit als bei der Katia-Mann-Biographie. Da habe ich zwar alleine recherchiert, genau wie bei Hedwig Pringsheim, aber wir haben gemeinsam gesichtet und vor allem gemeinsam disponiert. Ich habe die Archive der ganzen Welt konsultiert, wir hatten ungeheuer viel Material. Da stehen noch fünf Kisten vor meinem Schlafzimmer, die ich alle noch mal durchsehen müßte. Wir haben also gesichtet, geordnet und zusammen disponiert, und dann durfte jeder sagen, wofür er sich am meisten interessierte. Da gab es den ersten Krach, weil manche Dinge uns beide interessierten. Ich habe gesagt: Ich würde mir das Recht ausbedingen, zu ergänzen und zu ändern.
WALTER JENS: Und zu streichen.
INGE JENS: Ja, auch in deinen Texten. Ich bin bereit, dir das gleiche zu konzedieren. Die Umsetzung ging natürlich erst recht nicht ohne Krach ab. Aber das Buch ist fertig, und Sie sehen uns immer noch vereint und relativ freundlich miteinander umgehen.
WALTER JENS: Wir haben aufeinander zu geschrieben. Da gab es diesen Fall: Ich hatte, glaube ich, sechzehn sehr gute Seiten über Thomas Manns Homosexualität geschrieben. Die las ich ihr vor. Um Gottes willen, sagte sie, sechzehn Seiten! Vier wären mir lieber, und bitte aus der Perspektive der Frau. Wir schreiben ein Buch über Katia und nicht über Tommy.
INGE JENS: Es war manchmal sehr schwierig, ihn zu überzeugen. Er ist von uns beiden der um Klassen bessere Thomas-Mann-Kenner und natürlich viel mehr an dem Mann interessiert als an der Frau. Er fand sie originell, er fand, daß sie gut schrieb. Aber was mich besonders interessierte, interessierte ihn erst sekundär. Es war eine ungeheuer anstrengende Zeit, weil es oft gekracht hat. Es gab viele Diskussionen, die weit über das Buch hinausgingen. Wir waren damals schon länger verheiratet als die Manns, immerhin 55 Jahre. Katia und Tommy sind »nur« fünfzig beschieden gewesen. Man kommt dann auch an eigene Probleme heran, das ist ganz klar. Man kann nicht neutral sein als Ehepaar mit partiell ähnlichen Problemen insofern, als mein Mann Schriftsteller war und es mir ebensowenig an der Wiege gesungen wurde, einen Schriftsteller zu heiraten, wie Katia. Sowohl Katia als auch ich hatten berufliche Ambitionen. Katia hat sie viel früher und viel rigoroser aufgegeben als ich. Ich versuche immer noch, mein eigenes Leben zu führen.
WALTER JENS: Und was das Buch betrifft, »Frau Thomas Mann«, so haben auch unsere besten Freunde nicht erkannt, was von ihr ist, was von ihm. Wir bekommen aus Amerika Briefe an Ingwalt Jens usw. Weil es zusammenpaßt.
INGE JENS: Ja, daß es gelungen ist, ist wirklich ein großes Wunder, denn es gab Zeiten, wo wir nahe daran waren aufzugeben. Aber einer rappelte sich immer wieder auf und sagte: Verdammt noch mal, es interessiert mich aber, und unsere Probleme sollten wir jetzt vergessen. Das Material ist so interessant. Das ist das Gute, wenn man es zu zweit macht: Man gibt nicht so schnell auf.
FRAGE: Wie ging es denn weiter, nachdem Ihr Mann die sechzehn Seiten vorgelesen hatte?
INGE JENS: Also das mußte er ändern. Die hätte ich nicht so gelassen.
WALTER JENS: Die sechzehn Seiten wurden nicht zu vieren, aber zu sechsen. Und sie wurden aus der Perspektive der Frau geschrieben.
INGE JENS: Die Frau aus der Perspektive ihres Mannes kannte ich zur Genüge. Ich wollte endlich mal wissen: Was hat sie gedacht? Wie hat sie geschrieben? Was wollte sie? Was waren ihre Träume? Seine kannte ich. Also das war die Linie … Wir haben sie zusammen entworfen und fanden sie gut. Aber sie einzuhalten ist mir natürlich leichter gefallen als ihm. Manchmal ist es doch von Vorteil, eine Frau zu sein. Das weiß ich inzwischen.
WALTER JENS: Nach Lesungen gab es oft leidenschaftliche Diskussionen, und immer wieder sagten junge Frauen: Die hat sich dem Mann doch völlig unterworfen.
INGE JENS: Ja, es waren natürlich vor allem junge Frauen, die wissen wollten: War sie wirklich emanzipiert? Eine Frau, die sich so dem Leben ihres Mannes angepaßt hat, kann doch nicht emanzipiert gewesen sein. Warum hat eine so intelligente, eine so reiche Frau, die Mathematik und Physik studiert hatte, was ja in ihrer Generation ganz unüblich war, so früh geheiratet und sich der Familie geopfert? Und es ist, wie ich finde, immer spannend und interessant, diesen jungen Frauen klarzumachen, daß man sich auch für das Dasein als »Frau und Mutter« entscheiden kann. Gerade Frauen sollten das tolerieren. Deswegen muß man nicht weniger emanzipiert sein, als wenn man einen anerkannten Beruf, Lehrerin, Wissenschaftlerin oder sonstwas, ergriffen hätte. Katia Mann war eine sehr emanzipierte Frau!
WALTER JENS: Golo Mann sagte: intellektueller als ihr Mann.
INGE JENS: Sie war ihm überlegen, intellektuell und auch wissensmäßig.
FRAGE: In dem Buch wird berichtet, daß Elisabeths Mann stirbt und Katia mit dem nächsten Zug zu ihr nach Italien fährt. Klagt Thomas Mann nicht in seinem Tagebuch, man ließe ihn allein und er müsse sich um die Telefone kümmern?
INGE JENS: Das ist eine jener Stellen, die mich in dem Wunsch bestärkten, mal was über diese Frau zu schreiben. Das war ganz typisch. Sie ist eben gefahren! Sie war eine der reichsten Erbinnen, sie hatte eine Berufsausbildung. Wer hatte die schon? Aber sie ging freiwillig in den Beruf einer Frau und Mutter, als Familienoberhaupt, wie sie immer sagte. Sie hat Kinder erzogen, Korrektur gelesen für ihren Mann, sie hat übersetzt, sich als Sekretärin ausbilden lassen, sprich: Schreibmaschine gelernt, Autofahren, sie hat notgedrungen was von Steuer- und Verlagsrecht verstehen müssen.
WALTER JENS: Sie hat seine Briefe geschrieben.
INGE JENS: Das Wort »Wirtschaftsoberhaupt«, so wie es Horkheimer einmal definiert hat, ist auf sie anwendbar. Sie war in ihrem Beruf absolut autark. Ohne sie hätte Thomas Mann nicht arbeiten können, davon bin ich überzeugt.
FRAGE: Sie sagten, die Auflage sei 400000. Das ist sicher auch ein Beweis für die Qualität des Buches, aber in welche gesellschaftliche Lücke sind Sie gestoßen, daß die Nachfrage so enorm war?
INGE JENS: Unser Trailer war Breloer mit seinem Film über die Familie Mann. Ohne ihn hätten wir vielleicht ein Viertel verkauft, und das wäre viel gewesen. Der Film hat zu Recht großen Anklang gefunden. Und nun gab es noch etwas über diese Familie, aus einer Perspektive, die man noch nicht kannte. Ein paar Thomas-Mann-Biographien haben sich auch nicht schlecht verkauft, aber nicht diese Auflage erreicht.
FRAGE: Sind Katias Briefe nicht ein richtiger Familien-Kosmos?
INGE JENS: Bei der Arbeit ist uns klargeworden, was Katia ihrer Mutter verdankt und was die für eine Persönlichkeit war. Deswegen haben wir das zweite Buch über sie gemacht.
FRAGE: Was ist das für ein Gefühl, wenn man mit einem Alterswerk noch mal so richtig berühmt wird?
INGE JENS: Haben wir es als Alterswerk empfunden? Eigentlich nicht. Wir haben bloß staunend festgestellt, daß man in unserem Alter normalerweise keine Bestseller mehr schreibt. Aber was heißt »mehr"? Wir haben vorher nie einen geschrieben, weder zusammen noch einzeln. Es war Zufall. Während der Tagebuch-Edition habe ich viele Briefe von Katia Mann gelesen und war fasziniert. Ich stellte aber fest, daß sie nur in Auswahl zu edieren sind, was ich nicht glaubte verantworten zu können. Sie schreibt ja nicht nur an ihre sechs Kinder, sondern auch an Freunde, die Episoden wiederholen sich. Und was machen Sie mit den unendlich vielen Menschen, deren Namen in diesen Briefen fallen? Die Anmerkungen hätten den Text um ein Vielfaches überwogen. Da sagte der Thomas-Mann-Kenner Eckhard Heftrich: Schreiben Sie doch eine Biographie! Darauf ich: Ich kann nicht schreiben. Dann solle ich einfach die Anmerkungen zusammensetzen, es werde schon gelingen. Also habe ich angefangen. Mein Mann wollte eigentlich seine Autobiographie schreiben für Rowohlt, und dann merkte er: Es war so wahnsinnig interessant mit Katia, und so langweilig, alles zu wiederholen, was er von seinem eigenen Leben ja längst schon wußte. Und da haben wir gesagt: Wir machen die Katia-Biographie zusammen.
FRAGE: War damals schon Alexander Fest bei Rowohlt?
INGE JENS: Ich glaube, Alexander kam während der Arbeit an dem Buch. Zu deinem 80. Geburtstag gratulierte er mit unserem Lektor Uwe Naumann und brachte eine große Torte mit, auf der das Cover abgebildet war. Aber wir kennen ihn schon lange, schon als Studenten. Es war schön, daß just er unser Verleger wurde. Und daß er sich mit unserem Lektor so gut verstand, kam der Arbeit natürlich zugute. Soviel Unterstützung hatte ich vorher nie, obwohl es auch bei Fischer während der Arbeit an den Tagebüchern außerordentlich angenehm war. Aber bei Rowohlt war es ein Neuanfang, und ich glaube, ein für dieses Genre idealer.
WALTER JENS: Die hatten mit 10000 gerechnet.
INGE JENS: Maximal! Begreifen können wir das immer noch nicht.
FRAGE: Wie war das bei der Auswahl der Fotos, Briefe, Dokumente?
INGE JENS: Die Briefe haben wir integriert. Weder der Band über Katia noch der über ihre Mutter verfügen über einen Anhang. Die Bilder hat Uwe Naumann besorgt, sie stammen zum größten Teil aus dem Zürcher Archiv. In beiden Büchern finde ich den Bildteil besonders schön, aber das ist nicht in erster Linie unser Verdienst.
WALTER JENS: Ich habe Katia Mann nur flüchtig gekannt, aber du relativ gut. Du hast sie mehrfach besucht, und sie ist dir in sehr eigenartiger Weise begegnet.
INGE JENS: Ja, Günther Neske meinte, es sei ein Akt der Höflichkeit, ihr einen Besuch abzustatten. Ende 1959 fuhr er mich nach Kilchberg. Sie machte die Tür auf, er holte Luft, um mich vorzustellen, aber sie wischte ihn beiseite: Sie haben doch geschrieben, daß Sie mit Frau Jens kommen. Wer soll es also sonst sein? Dann war sie aber ungeheuer nett zu mir. Sie hat offenbar gemerkt, daß ich mich im Gegensatz zu fast allen Besuchern dieses Hauses mehr für sie interessiert habe als für die Thomas-Mann-Reliquien. Mich hätte noch die Bibliothek interessiert, aber sonst nichts. Welches sein Lieblingsausblick war, wo er gesessen und geschlafen hat usw., war mir ganz egal. Es wäre mir auch indiskret vorgekommen, danach zu fragen. Außerdem war sie so faszinierend, diese kleine, energische, gutaussehende Frau …
WALTER JENS: … ein aufstampfender General …
INGE JENS: … die Tee gekocht hatte und mit der wir im Erker saßen, mit Blick auf den Zürichsee. Sie erzählte von Ernst Bertram, den sie mochte, dann von seinem Freund Ernst Glöckner, der ein schöner Mann gewesen sei. Ich sagte, ich hätte ihn nicht gekannt. Er ist ja schon 34 gestorben. Aber auf Bildern müssen Sie es doch sehen können! sagte sie. Ich antwortete, ich hätte noch nie ein Bild von Ernst Glöckner gesehen. Was? Und Sie wollen eine solche Edition machen? Ausgeschlossen! Sie sprang auf und kam mit einem postkartengroßen Bild zurück: Das schenke ich Ihnen. Hängen Sie es über Ihren Schreibtisch, solange Sie an der Edition arbeiten. Dann erzählte sie von der Emigration, und plötzlich kam ein Ausbruch, der gar nicht zum urbanen Geplänkel der Unterhaltung paßte: Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben! Mir verschlug es die Sprache, weil die Emigranten für meine Generation immer Helden gewesen waren. Das waren Leute, die aus ihrer politischen Haltung die Konsequenz gezogen hatten. Erst bei Katia Mann ist mir aufgegangen, daß viele Emigranten dieses Exmittiertwerden als eine Schande empfanden. Da ich inzwischen Vertrauen gefaßt hatte, wagte ich etwas zu fragen, das mir in der Tat am Herzen lag. Thomas Mann schreibt in einem Brief von 1949 an Ernst Bertram: »Hier in Stockholm erreichte uns die Schreckensnachricht aus Cannes«, also die vom Selbstmord seines Sohnes Klaus. »Wir überlegten einen Augenblick, ob wir die Reise abbrechen sollten, ließen es dann aber.« Ich fand dieses Wir abscheulich: Er wollte seine Vortragsreise machen, nach der Mutter fragte er offensichtlich nicht. Sie sagte: Lesen Sie mir das mal vor. Ich tat es, sie zögerte einen Augenblick: Das finden Sie scheußlich, nicht? Ich holte Luft und stotterte: Ja, das fände ich schon nicht so schön. Sie guckte mich an und sagte: So war er. Das bleibt. Keine Diskussion.
WALTER JENS: Ich wurde einmal von ihr zur Ordnung gerufen. Ich hatte mich in der »Zeit« gegen die Ziegenleder-Ausgabe von Thomas Manns Werken gewandt. Sie sagte: Das verstehe ich nicht. Wollen Sie diese Ausgabe nicht? Ich antwortete: Mir liegt daran, daß seine Werke von jungen Menschen gelesen werden. Die Ziegenleder-Ausgabe gehört in das Sprechzimmer eines Zahnarztes. Sie war schon gnadenlos. Die kleinste Kleinigkeit, die sie für geeignet hielt, an Thomas Manns Ruhm zu kratzen, war verboten.
[...]
SINN UND FORM 3/2007, S. 370-377
Grimm, Volkmar
- 4/1991 | Die Schuld des Jochanaan
Grinus, Wilhelm
- 2/1983 | Wer baute das siebentorige Theben? Kritische Bemerkung zu Christa Wolfs beitrag in Sinn und Form 1/83 - S.38 ff.
Grischaschwili, Joseb
- 6/1970 | Triolette auf dem Scheitanbasar
Groethuysen, Bernhard
- 2/1949 | Hölderlin
Gröschner, Annett
- 1/1988 | Gedichte
- 5/1991 | Jetztmorgengestern (mit Inge Müller)
- 1/2004 | Vorbemerkung zu Jung, Peter, Emigrantenkind
- 2/2023 | Minutentexte, S. 115 Leseprobe
Gröschner, Annett
Minutentexte
Für Alexander Kluge
1: Hartguß und Herzweiche oder der Elefant im Raum,
über den ich sprechen will
Mit den Zufällen ist es wie mit den Seelen von Häusern. Ich glaube nicht an sie, aber sie können mich trotzdem überwältigen. Nehmen wir das Literaturhaus Berlin in der Fasanenstraße 23 mit seinen verborgenen Bewohnern. In der Villa kreuzen sich die Zufälle auf ganz besondere Art.
Ich liebe Bauakten, weil sie so unbestechlich auf ein Ergebnis hinauslaufen. Das Ergebnis ist ein Haus, das sich nach und nach der Bauakte entfremdet oder ganz und gar wieder verschwindet, worauf das nächste kommt und in die gleiche Akte eingespeist wird. In dieser hier klebte hinter dem Umschlag der Grundbuchauszug, auf dem der Name Louise Hildebrandt stand, geborene Gruson – die Witwe und Erbin des Korvettenkapitäns Richard Hildebrandt, der 1868 und 1869 zwei Nordpolexpeditionen als Erster Steuermann begleitet hatte und auf der zweiten mit vierzehn Mann seiner Besatzung den Polarwinter auf einer Eisscholle verbringen mußte. Der Geburtsname seiner Frau ließ mich aufhorchen. Den Namen Gruson gibt es nicht allzu häufig. Ich habe als Nachkommin eines Stahlarbeiters quasi seit meiner Geburt mit dem Werk zu tun, das der Großindustrielle und Erfinder Hermann Gruson, ein Nachkomme hugenottischer Einwanderer, in Magdeburg gegründet hat. Er war der Erfinder von Herzweiche und Hartguß. Der Herzweiche, die überall dort liegt, wo Gleise, egal ob Straßen- oder Eisenbahn, sich kreuzen, um sogleich auseinanderzudriften. Der Hartguß machte Deutschland zu einem bedeutenden Exporteur von Kriegswaffen. Krupp übernahm das Werk nach Grusons Tod, die Waffen kamen ein halbes Jahrhundert später wie ein Bumerang in die Gegend zurück.
Gruson nahm einen Teil seines Erlöses aus Herzweichen und Panzerplatten und ließ seiner Tochter und ihrem Nordpolreisenden eine standesgemäße Villa in der Stadt Charlottenburg errichten, in der noch unbebauten Gegend am Kurfürstendamm. Berlin endete am Nollendorfplatz, auf dem Weg nach Charlottenburg waren noch Felder. In Erinnerung an das Gewächshaus neben der heimischen Magdeburger Villa, ein Kaktus mit dem fiesen Namen Schwiegermutterstuhl trägt auf lateinisch Grusons Namen, ließ er seiner Tochter einen Wintergarten ans Haus bauen, in dem es eine Riesenschildkröte gegeben haben soll. Von der Riesenschildkröte ist es nicht weit bis zum Elefanten. Das Glas des heutigen Wintergartens wird nach wie vor von einem Gerüst aus Hartguß getragen, eine Grusonsche Legierung. Die Villa blieb von Bomben verschont, mußte keinem Wertheim-Kaufhaus weichen, obwohl es ein Wertheim-Grundstück war, und auch die Zufahrt zur Stadtautobahn unter dem Kurfürstendamm blieb nur ein Plan. Viele Jahre gab es eine Bar in der Beletage, die verruchte Seite des Schaufensters des Westens zeigend, eine Zeitlang hieß das Nachtlokal Dolce Vita. Dolce Vita galt nicht für den Babyelefanten, den man sich als Attraktion im Keller hielt und der für die Show nach oben ins Rampenlicht geführt wurde. Berolina sein Name, Assoziation Adipositas. Wir kommen gleich darauf. Unsachgemäß im Keller des Hauses gehalten, starb das Tier an einer Lungenentzündung. »Elefanten-Baby im Nachtlokal gestorben«, schrieb die BZ.
Zur selben Zeit, als Gruson seiner Tochter die Villa in der Fasanenstraße errichten ließ, arbeitete nur ein paar hundert Meter weiter in der Kantstraße Emil Hundrieser in seinem Atelier an einer überlebensgroßen Skulptur, der Berolina, die ab 1889 als weibliche Verkörperung der Stadt erst am Potsdamer, dann am Alexanderplatz thronte, als »anmutig und üppig«, von böseren Geistern auch als elefantenhaft beschrieben in ihrem Kettenhemd mit dem Amtszeichen des Stadtoberhaupts, das Haupt mit einem Kranz aus Eichenlaub und Krone aus Mauerwerk geschmückt. Die weibliche Allegorie der Stadt durfte symbolisch regieren, nicht aber die Blumenfrau, die ihr Modell gestanden hatte. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Statue zersägt und der Metallreserve zugeführt. Die Berolina verschwand als Figur, der Name geistert nach wie vor durch die Gegend. Am Ende waren in der Fasanenstraße, wie so oft, Pflanzen die Retterinnen, haben doch die drei Bäume, zu Gartendenkmalen erklärt, dafür gesorgt, daß nach dem verhinderten Abriß in den achtziger Jahren die vor der Villa, direkt an der Baufluchtlinie der Fasanenstraße geplanten Wohnhäuser nicht errichtet werden durften. Manchmal spürt man auf dem Weg zu den Toiletten im Keller noch einen leichten Geruch von Elefantenkuh Berolina.
2: Eisblumen
Ende 1984 landete ich in der Schliemannstraße, Einraumwohnung Nordseite, gegenüber von Kohlen-Schiele, dem reichsten Kohlenfritzen von Berlin, über den mein Freund Gerd den Witz von 1973 gern auch noch 1984 erzählte »Für Chile spenden wa nich, der hat schon jenuch Kohle.« Die Toilette, auf halber Treppe, war zum Zeitpunkt meines Einzugs gerade eingefroren und an den Fenstern blühten Eisblumen, so schön und filigran, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Die Kälte und die luftdurchlässigen Fenster trieben die Natur zu Höchstleistungen Ich mummelte mich in drei Decken und beobachtete die Natur des Eises. So etwas Schönes hatten weder mein Vater, der Kälteingenieur, noch meine Großmutter, die Blumenbinderin, auf ihrem Gebiet je zustande gebracht. Es war mein Weg in den Untergrund Berlins. Ich war frei, nur wenn die Frau, der die Wohnung gehörte, hinter dem Rücken ihres Potsdamer Gatten Besuch von einem Geliebten hatte, mußte ich je nach Intensität für Stunden oder Tage das Feld räumen und strich durch die Stadt auf der Suche nach einer Schlafgelegenheit. Ich fand Geschichten. Im Bücherschrank einer Freundin fiel mir ein Buch in die Hände, das ich heute noch habe und das auf der Liste mit den Büchern steht, die ich mitnehmen würde, müßte ich mit nichts als zwei Koffern das Haus verlassen. »Der Pädagoge von Klopau und andere Geschichten« von Alexander Kluge. Darin »Der Luftangriff auf Halberstadt«, der Urtext meiner Poetik.
Mit Schliemann grub ich mich in die Archäologie, eine Generation später als Kluges Gabi Teichert und an einem mit einer anderen Gegenwart überschriebenen Ort als ihrem. Sie war mein Ichweißnichtwas, heute würden wir sagen Role Model. Anfang der Neunziger trug ich immer einen Klappspaten mit mir herum und ging an den Wochenenden mit meinem Sohn Sachensuchen in den aufgelassenen Kellern des Potsdamer Platzes oder des Prenzlauer Bergs, in sowjetischen Kasernen und verlassenen Betrieben.
Manchmal kam die Geschichte auch als Apfelbaum daher, der den Weg der Bergleute, FDJ-Funktionäre, Schulkinder von den Kantinen, wo es wieder langweilige Äpfel zum Nachtisch gegeben hatte, bis zu den Schul- und Arbeitsstätten beschrieb. Die angebissenen Äpfel waren achtlos weggeworfen worden, dann schloß die Kantine nach 1990 noch vor dem Betrieb, die Natur, sich selbst überlassen, schaffte ihre eigene Alltagsarchäologie.
3: [Ansichtskarte Halberstadt, Café Kaiserhaus, Stempel: Halberstadt, 7.7.12]
[An:] Herrn Dr. Max Brod k. k. Postkonceptspraktikant Prag k. k. Postdirection
Fast 33 Jahre und zwei Epochen, bevor meine 36jährige Großmutter mit ihrem zwölfjährigen Sohn Günther Halberstadt zum ersten und letzten Mal mit eigenen Augen sah, schrieb Franz Kafka von dort eine Ansichtskarte an Max Brod: »Lieber Max, den ersten Morgengruß im Bureau. Nimms nicht zu schwer. Geradezu selig bin ich auch nicht, trotz dieser unbegreiflich alten Stadt. Ich sitze auf einem Balkon über dem Fischmarkt und verschlinge die Beine ineinander, um die Müdigkeit aus ihnen herauszuwinden.« Die alte Stadt war an dem Tag passé, als meine Großmutter Halberstadt betrat, um ihren Sohn eigenhändig aus dem HJ-Lager in der Nähe zu holen. Die Behörden machten keine Anstalten, den Jungen wieder zurückzuführen, aber vielleicht gab es sie auch gar nicht mehr. In Niederndodeleben, wohin die Familie evakuiert war, der Bombenangriff des 16. Januar 1945 hatte sie sämtlichen Besitzes, nicht aber ihrer fünf Kinder beraubt, war in ruhigen Momenten schon die Front zu hören. Ihr seit zwei Jahren einbeiniger Mann, er hatte das rechte bei Krupp im Werk verloren, war vorerst für nichts zu gebrauchen, als Kinder zu hüten. Also fuhr sie los ohne Gebete, ihr Gott war im Keller der Kirche geblieben, unter der sie mit vier der Kinder stundenlang verschüttet gewesen war. Nur ihr Sohn war noch im Besitz eines Federbettes, das er mit in die Verschickung genommen hatte. Sie schlug sich zum Lager durch, schnappte sich den widerstrebenden Sohn und sein Federbett und machte sich auf zum Bahnhof Halberstadt, um von dort nach Magdeburg zu fahren. Es war der frühe Mittag des 8. April 1945 und sie war übermüdet. Die Sirenen fraßen sich in ihren Kopf. Was ich über den Angriff weiß, wußte ich, bevor meine Großmutter davon erzählte, aus Kluges »Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945«. Eigentlich war ich 1988 in ihre kleine Plattenbauwohnung gekommen, um mir Rat zu holen wegen einer ungewollten Schwangerschaft. Statt eines Rats erzählte sie mir die Geschichte ihrer Flucht durch die brennende Stadt, von ihrem Sohn, der vor ihr lief mit dem Kopfkissen auf dem Kopf, sie hinter ihm mit dem Federbett, das die Wucht der niederprasselnden Steine dämpfte, bis es Feuer fing und aufgegeben werden mußte, bis der Sohn im Rauch verschwand und erst am nächsten Tag wieder auftauchte.
Immer sehe ich sie als Fliehende, Westendorf, stadtauswärts auf Abbildung Nr. 4 des unbekannten Fotografen in Kluges Text. Immer höre ich ihre Stimme, die sagte: »Ich war schwanger, im 3. Monat, ich wollte kein sechstes Kind, ich dachte im Feuersturm, hoffentlich geht die Frucht ab, ich dachte das immer und immer wieder, auch als Günther schon längst zwischen Rauchwolken verschwunden war. Aber die Frucht ging nicht ab, die Tochter kam gesund auf die Welt.«
Ich habe als Kind nicht begriffen, warum ich vom Krieg träumte, nächtelang verschüttet war, mir bei der Mittwochssirene die Ohren zuhielt und als junge Erwachsene die Gedichte Inge Müllers einatmete, während die Älteren längst mit der Gegenwart beschäftigt waren. Erst als ich darüber las, daß Epigenetik eine ernsthafte Wissenschaft und kein Gefühl ist, verstand ich, warum ich die Gedichte meiner syrisch-kurdischen Kollegin, der Dichterin Widad Nabi, über ihr im Krieg verlassenes Haus in Aleppo, trotz einer Generation Altersunterschied und verschiedener Herkunft, sofort verstand.
SINN UND FORM 2/2023, S. 171-174
Große, Jürgen
- 1/2006 | Ennui und Entschluß. Zur Genealogie neuzeitlicher Langeweiledeutung
- 1/2015 | Melancholie und Trauer. Zur Philosophie der Stimmungen im Werk Ciorans
- 1/2020 | Metamorphosen des Ressentiments
- 3/2021 | Die Namen des Bösen, S. 18 Leseprobe
Große, Jürgen
Die Namen des Bösen
Präambel: Methodische Probleme der Dämonenkunde
In der politischen Publizistik sind Modernisierungstheoreme nach wie vor beliebt. Über ein Jahrhundert waren sie zumeist als Säkularisierungstheorien aufgetreten. In diesen ging es nicht einfach darum, dem politischen Gegner ein Modernitätsdefizit, gar intellektuelle Zurückgebliebenheit zu unterstellen. Säkularisierungstheoretiker erhoben auch den Anspruch, solche Defizite erklären zu können: Der moderne Mensch, zumal wenn geistig-moralisch schwach gebaut, leide an einem Sinnverlangen, das einst die Religion befriedigt habe. Doch sei die Zeit religiöser Sinngebung für Individuum und Gesellschaft unwiderruflich vorüber. Politische »Ideologien« seien Pseudoreligionen, Substitute für etwas, wonach »in der Moderne« redlicherweise niemand mehr verlangen könne.
Das Prekäre dieses Deutungsschemas war und ist, daß es zwischen einem legitimen und einem illegitimen Gebrauch religiöser Topoi zu unterscheiden zwingt. Die Säkularisierungsthese hat deshalb immer wieder Einsprüche provoziert. Berühmt wurde Hans Blumenbergs Buch »Die Legitimität der Neuzeit«. Es wandte sich bereits mit seinem Titel gegen Karl Löwiths »Weltgeschichte und Heilsgeschehen«. Dennoch hat das Säkularisierungsschema kaum an Attraktivität eingebüßt. Es vermag unterschiedlichste Sprachebenen zu verbinden: theologische, philosophische, einzelwissenschaftliche, lebensweltliche. Dies begünstigt seine Allverwendbarkeit. Wenn aber religiös-theologische Sinnreste praktisch überall zu gewärtigen sind, können sie unmöglich überall in gleicher Weise sichtbar sein!
Ein vermeintlich oder tatsächlich durch die Moderne entfremdeter theologischer Begriff wie der des Bösen beispielsweise wird selten unter diesem Namen auftreten. Die Macht des Bösen bekundet sich augenscheinlich in der Scheu, von ihm zu sprechen. Ja, gerade die oft vermiedene Diskussion darüber, ob man überhaupt von ihm, mit ihm oder doch lieber nur über es sprechen sollte, suggeriert seine Realpräsenz. Man denke an die Unsicherheit rings um den Begriff »populistisch «, dessen deskriptiver Wert mit seinem polemischen Gebrauch fest verbunden scheint! Die Prominenz des Populismusbegriffs hat gezeigt, daß vielen Analytikern und Aktivisten das F.-Wort seit längerem auf der Zunge lag und daß sie doch fürchteten, dieses Urmeter des Bösen würde durch wörtliche Ansprache von einem analytischen zu einem politischen Agens aufsteigen. Gewinnt der Faschismus an Macht, wenn man auf ihn zeigt, wo er sich zeigt? Wenn man auf ihn zeigt, wo er sich noch nicht zeigt? Wenn man überall dorthin zeigt, wo er sich zeigen könnte? Treibt etwa die Allgegenwart des F.-Worts das Böse in eine Camouflage, durch die es vollends unfaßbar und dadurch allmächtig wird? Steht das Böse vor den Toren, ist es schon in der Stadt, herrscht es, ohne sich zu zeigen? Seine Gegenwart und seine substantielle Macht scheinen leichter bestimmbar als sein Ort. Fehlt es bislang an einer umfassenden Topologie des Bösen?
Nachfolgende Überlegungen widmen sich dem Thema bescheidener und abstrakter. Ihre Hypothese lautet: Das Böse hat auch nach aller Säkularisierungstheorie wie der Kritik an ihr seinen festen Platz innerhalb politischer Konfliktdeutungen. In der Ideengeschichte der Bundesrepublik waren die Namen des Bösen durch die Plätze bestimmt, die ihm ein jeweils kulturdominierender Antikommunismus, Antitotalitarismus und Antifaschismus zuwiesen. Die Techniken der Platzanweisung sind beständiger, mithin leichter analysierbar als dasjenige, was dadurch plaziert wird. Es soll daher nicht geforscht werden, was oder gar wer das Böse an sich sei. Statt dessen wird nach den Formen seines Erscheinens gefragt. Das Verfahren ist also eher das einer Phänomenologie denn einer Ontologie des Bösen.
1. Konflikt
Ein ontologisch-moralischer Dualismus ist noch heute die populärste Form, dem Bösen seinen Platz zuzuweisen. Das Böse ist hierbei schlicht der Widersacher, ist Gestalt und Prinzip. Es agiert eigenständig, aber stets bezogen auf ein Gutes (in der Regel: Eigenes). In dieses sucht es einzubrechen, ob durch frontales Anrennen oder durch tückisches Wühlen. Das Schema hat den kalten Krieg zwischen Kommunismus und Antikommunismus überdauert. Schon damals wurde das Denken »Für oder wider uns« gern der jeweiligen Gegenseite zugeschrieben, als deren originäre Konfliktbedürftigkeit. Mitunter beklagte man – religionshistorisch nicht ganz korrekt – politischen und ideologischen »Manichäismus«, ein Gegenüber von Licht und Dunkel. Richtiger wäre dies Zwei-Prinzipien-Denken als Marcionismus benannt. Typisch ist der spiegelbildliche Aufriß, worin sich die zwei Konfliktmächte begegnen. In der Begegnungszone selbst, die nichts als Kampf sein kann, herrschen Gesetze, die diese Mächte nicht gemacht haben. Ihre Vertreter sprechen von »Realpolitik«, »Logik der Stärke«, die eine Ethik des »harten Durchgreifens«, »der angemessenen Reaktion« usw. begründen. Für Denker, die in »Konflikt«-Kategorien nur eine historisch begrenzte Gestalt von politischem Bewußtsein sehen, bildet dieses Szenario übergreifende Zusammenhänge ab, jedoch systematisch verzerrt: Das dualistische, insbesondere das moraldualistische Schema sei philosophisch interpretationsbedürftig. »Philosophisches Denken« bedeutet hier ein Denken von oben herab, dem die religiös-moralische Semantik nicht mehr als Höchst- oder Letztgestalt des Geistes gilt. Desto deutlicher enthüllt sich solchem Niederblick die formale Struktur des Konflikts. Exemplarisch dafür wäre etwa die Äquivalenz von Gut und Böse im persischen Zarathustraglauben, durch Hegel als moralische Erstgestalt einer – europäisch zentrierten – Weltgeschichte des Geistes gedeutet. An sie erinnern bis heute die wechselseitigen Satan / Evil-Attributionen zwischen dem Iran und den USA. Deren Verteufelungsrhetoriken wiederum ähnelt die Abendlandsideologie aus der schroff antisowjetischen Frühzeit Westdeutschlands. Die besondere Beziehung der BRD zu den USA als Denk- und Politikraum sollte sich freilich nachhaltiger in der Totalitarismustheorie manifestieren. Für sie ist charakteristisch, daß ein etwaiger Gestaltwechsel des Bösen selten durch höherstufige Vermittlungen aufgehoben, sondern eher durch politologische, soziologische, fast immer aber psychologisierende Reduktion (heute zum Beispiel: »antielitäre Wut«, »antidemokratische Stimmungen«) interpretierbar wird. Daher die Attraktivität einer politischen Entlarvungsrhetorik, der bislang sämtliche Milieus der (Alt)Bundesrepublik gehuldigt haben. Die Mitte im Blick der Rechten: eine verlarvte Linke. Die Mitte im Blick der Linken: eine verlarvte Rechte. Die Ränder im Blick der Mitte: zwei verlarvte Würger, zu taktischem Bündnis bereit, um dieser Mitte die politische Lebensluft abzudrücken. Das Böse konzentriert sich im – selbstredend feindseligen – Affekt des Gegenübers; das polemische Szenario überdauert daher seine ideologischen Sinn-Besetzungen. Auf die Strukturbeständigkeit des politisch Bösen kann man vertrauen!
Der dämonologische Entlarvungsimpuls manifestiert sich in einer unverkennbaren Sprache. Sie ist metaphernfreudig, oft virologisch. Das Böse in Affektgestalt sei etwas, das intrigiert, insinuiert, infiltriert, infiziert, das in alldem jedoch prinzipiengeleitet, somit souverän verfährt. Ja, mitunter zielen die Entlarver des Bösen ausdrücklich auf seine emotionale Kälte, mit welcher es Affekte manipuliert oder gar erst generiert (»Demagogie«, Verführungsmotiv). Durch die einschlägigen Entlarvungsszenarien entsteht daher leicht der Anschein, daß etwa Haß, Wut und überhaupt aggressive Impulse durch ihre Stetigkeit sich psychologischer Analyse oder moralischer Wertung entzögen. Der Haß, der vom Bösen ausstrahlt, gewinnt durch seine Kälte schließlich den Rang eines ontologischen Prinzips.
An diesem Punkt wäre die Entlarvungshermeneutik auf ihre implizit beanspruchten, nur selten explizierten metaphysischen Voraussetzungen zu befragen. Eine umfassend und konsequent entworfene Version des Konfliktmodells würde folgende Schichtung zeigen: 1. zwei moralisch widerstreitende Prinzipien, die sich 2. in ihrem Widerstreit durch charakteristische Gefühlsausdrücke (zum Beispiel »freundliches Gesicht« gegen »Haß im Herzen«) artikulieren und dabei 3. Eine etablierte politische Begriffssprache (etwa Menschheitsethos gegen Nationalinteresse) beanspruchen.
Auf den ersten Blick erscheint die Entlarvungspsychologie als ontologisch schwächere, zumindest schlichtere Version des Konfliktmodells. Politologisch angeleitete Entlarvungskunst trennt ja die Idee vom Impuls, den sie in seiner schäbigen Blöße enthüllen und so entmachten will. Die Abtrennung der affektiven Energie von den vermeintlichen Camouflage-Gestalten des jeweiligen Bösen, das heißt von ihren Kampf- und Wertwörtern (als Parcours durchs politische Spektrum: »Nation«, »Demokratie«, »Gerechtigkeit«), bewirkt nun aber eine Moralisierung des Affektiven selbst. Dämonenontologisch zurückhaltend ist das nicht. Doch bleiben solche Affekt-Attributionen lagerübergreifend beliebt. Daran läßt sich erkennen, wie psychologische, zuweilen gar physiologische Zuschreibung (etwa: »hormongesteuert«) politische Wertentscheidungen desavouieren soll.
Die Einwände und Strategien gegen bipolares Denken sind bekannt. Im Betroffenheits- und »Keine-Gewalt!«-Diskurs, zeitweilig verbaler Begleiter realer Entspannungspolitik, gilt das Denken in schroffen Gegensätzen als hauptschuldig an »Zersplitterung«, »Zerspaltung«, »Zerstörung« sozialen Seins. Die Rede vom Bösen entstamme dessen Reich selbst, das Starren auf vermeintliche Spaltung entlarve daher den Spalter. Psychologisch geschulte Entlarver argumentieren mit der Metapher einer »Projektion«: das feindliche Andere zeige das Eigene in einem Spiegel, in den der Freund-Feind-Denker nicht schauen will. Das Böse folgt dem Guten demnach wie ein Schatten, der dessen Souveränitätsgesten imitiert. Der kalte Krieg hatte das durch die Figur des Dissidenten illustriert. Der Dissident bleibt abhängig von der Orthodoxie, die er bekämpft, er verharrt in einer seelischen Substanzleere, einer Verfestigung von Widerspruch und Abwehr zum Daseinsgrund. Der zum Antikommunisten gewordene Kommunist, später: der zum Radikaldemokraten gewordene Linksradikale sind diesbezüglich die autochthonen, augen- und noch mehr ohrenfälligen Geschöpfe der bundesdeutschen Politikfauna.
Gegen ihre moralisch lautstarke Selbstgewißheit wende(te)n sich Selbstkritik- und Selbstbefragungsrhetoriken, meist versöhnungstheologischen Typs (»Wer ohne Vergangenheit ist, werfe den ersten Stein!«). Im politideologischen Raum gab es aber auch Versuche, die polare Konflikt-Symmetrie durch asymmetrische Modelle aufzulösen. So heißt es beispielsweise, das Böse suche sein Reich durch semantische Verdrehungen zu gewinnen, beweise dadurch jedoch nur, daß es ihm in Sein wie Denken an Autonomie fehle. Diese Privationstheorie des Bösen, aus der theologischen Tradition wohlvertraut, begegnet heute in vielerlei Gestalt: Das Heidnische, Neuheidnische, Neufaschistische nähre sich vom Kadaver abendländischer Kirchenfrömmigkeit; das links oder rechts Randständige bedürfe der liberalen Mitte; das Aggressive zehre vom Friedlich-Arglosen, darin aber sozial und vielleicht auch vital Überlegenen. Das Böse erlangt nach all diesen Interpretationen seine Macht einzig dadurch, daß man an ihre Souveränität glaubt, weil man sie nicht als ontologisches Blendwerk, eben als »Projektion « durchschaut.
Die Schwäche derartiger Versuche, moralische und politische Gut-Böse-Konfliktschemata nicht in höherstufiger Vermittlung, sondern durch eine Verortung des Konfliktprinzips und damit -grundes auf einer Konfliktseite aufzulösen, liegt offen zutage: Die polemische Rede von der Genese des Bösen durch seine »Projektion « wäre endlos fortsetzbar, der Ort des Bösen politisch-semantisch beliebig besetzbar. Dennoch ist der Infiltrations- und Vergiftungsgedanke innerhalb eines Bipolarismus die wohl höchstmögliche Komplexitätsstufe.
(…)
SINN UND FORM 3/2021, S. 318-328, hier S. 318-322 - 5/2022 | Der Dichter, das Mitleid und die Frauen. Über Henry de Montherlant
Grosse, Peter
- 1/1980 | Notizen zum Erbe: Karl Mickel
Grossman, Wassili
Großmann
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Grossmann, Walter
- 1/1962 | Die Zeit in Anna Seghers »Der Ausflug der toten Mädchen«
Grotewohl, Otto
Gruber, Lilo
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
Gruenter, Rainer
- 1/1993 | Die Poesie der Gestelle. Industrie als Landschaft
Gruenter, Undine
- 5/2021 | Ein Wappenvogel. Gedichte
Grün, Max von der
- 2/1973 | Im Tal des Todes
Grünbein, Durs
- 4/1988 | Gedichte
- 2/1991 | Gedichte
- 6/1993 | Brief über die Wolken
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- 1/1999 | Historien III
- 4/1999 | Hinter der spanischen Wand. Über Juan Carlos Onetti
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- 6/2000 | Gedichte
- 5/2001 | Historien IV
- 6/2001 | Historien V
- 3/2002 | Pax Augusta
- 6/2002 | Historien VI
- 1/2004 | Vom Schnee. Vorrede, Vorstudien, Nachträge
- 2/2004 | Städtebilder, Innenansichten. Dresden und Berlin
- 5/2004 | Die Hölderlin-Linie. Gespräch mit Helmut Böttiger
- 1/2005 | Die Stimme des Denkers. Dankrede zum Nietzsche-Preis
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- 2/2007 | Schule der Autopsie
- 1/2008 | Gedichte
- 1/2008 | Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs
- 4/2009 | Gedichte
- 3/2010 | Dieser besondere Kreis. Dankrede zur Aufnahme in den Orden Pour le mérite
- 4/2010 | Aus einem römischen Zeichenbuch
- 3/2011 | Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Michael Eskin, S. 47 Leseprobe
Grünbein, Durs
Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Michael Eskin
MICHAEL ESKIN: Sie haben einmal gesagt, »Der cartesische Taucher« sei Ihr vielleicht wichtigstes Buch. Könnten Sie das näher erläutern?
DURS GRÜNBEIN: Dieses Buch ist im Grunde ein ,Kommentar’ – zu dem Buch, das mir am meisten am Herzen liegt, dem Erzählpoem »Vom Schnee oder Descartes in Deutschland«. Mit ihm habe ich mich als Dichter am weitesten vorgewagt, den größten Abstand zu unserer Gegenwart gewonnen und sie so, aus der barocken Vogelperspektive, zum ersten Mal deutlich gesehen: als die gewaltige Neuzeit, die sie ist. Das ist der Sinn meiner cartesischen Expedition. Ich habe mich wie Selma Lagerlöfs Nils Holgersson – mein liebstes Kinderbuch – auf die Reise gemacht, um das Gelände kennenzulernen, in dem wir technisierten Wesen uns heute bewegen. Nur mußte ich dazu eine Zeitreise antreten, mußte zurückfliegen in die Epoche des Dreißigjährigen Krieges, der Glaubenskämpfe und wissenschaftlichen Revolutionen in einem Europa, das daran ging, mit allem Tabula rasa zu machen. Die kopernikanische Wende war eben eingetreten, die Teleskope rückten den Mond und die Planeten in vertraute Nähe, die Mikroskope begannen das Körperinnere zu erkunden. In dieser Zeit zerbricht das Reale in zwei Teile: hier die ausgedehnte Substanz – die Materie, der Kosmos, die vieltausendfachen Erscheinungen des Seins –, und dort die erkennende Substanz – der Geist, das Bewußtsein, das sich mit allen technischen Mitteln hineinfräst in die Natur und sie so endgültig verwandelt und zivilisiert. Ich wollte das Abenteuer des berühmten Cogito oder Erkenntnis-Ichs im Moment seines Beginnens, am Ort seiner Entstehung sehen. Es geht um die Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Winters, um Descartes’ Visionen am Rande der sogenannten Kleinen Eiszeit, die damals Europa heimsuchte. Davon handelt mein Poem, und von den Hintergründen desselben handelt »Der cartesische Taucher«. Beide Bücher gehören zusammen, sie sind die zwei Seiten einer Medaille.
ESKIN: Ihr poetisch-philosophisches Meditationsbuch, das im Dialog mit den »Meditationen« von Descartes und den »Cartesischen Meditationen« Edmund Husserls steht, scheint mir aber doch auch ein ganz eigenständiges Werk zu sein. Sie schreiben, der »Discours de la méthode« sei ein »verwegener Coup« gewesen, der sich, »im Grunde kaum mehr als ein Vorwort, bestimmt für ein fachfremdes Publikum«, als »folgenreichster Bildungsroman der Neuzeit« entpuppte. Ist »Der cartesische Taucher« nicht ein ebensolches Manifest, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen?
GRÜNBEIN: Die Zeit der Manifeste ist vorbei. Unsere poetischen Rechenschaftsberichte sind heute sehr viel bescheidener, aber dafür auch spezifischer. Ich habe in einer Poetikvorlesung gesagt: »Ungeliebt wie der Kriegsdienst und die Ämterbürokratie ist das Diktat der Künstler und Literaten in eigener Sache«. Ein Dichter kann heute nur aus seiner begrenzten Perspektive heraus nachdenken. Deshalb bevorzuge ich den Ausdruck Meditation, er hat etwas von Klausur und Vergewisserung, er betont das Moment der Einkehr bei sich selbst. Wir meditieren, um uns über etwas klar zu werden, das ist eine Expedition mit offenem Ausgang, kein Schaulaufen mit festen Begriffen. So weiß ich zum Beispiel noch immer nicht, wie Gedichte eigentlich funktionieren. Ich ahne etwas von gebündelter Wortenergie und davon, daß gute Poesie etwas in uns aufwühlt, was dort lange geschlummert hat und nur geweckt werden mußte. Aber wie dieser Weckdienst für die versiegelten Emotionen und Erlebnisse im einzelnen abläuft, warum gewisse Verse etwas in unserer Psyche auslösen, andere nicht – das ist eine Frage, bei der ein Barockphilosoph genauso mitreden kann wie ein Literaturwissenschaftler von heute. Was weiß denn die Gehirnforschung über die Funktionsweise von Metaphern? Wie kommt es, daß uns Gedichtzeilen ein Leben lang verfolgen? Das sind alles Fragestellungen, denen eine künftige Physiopoetik nachgehen könnte. Ich habe nur ein paar Gedanken weitergesponnen, die sich bei meiner alexandrinischen Schlittentour mit dem Philosophen Descartes ergeben haben.
ESKIN: Am Ende Ihrer Meditationen schreiben Sie: »Um Poesie zu betreiben, aber mehr noch, um sie recht zu verstehen, das heißt, ihr in aller Innigkeit und auf gleicher Höhe mit ihren Geistesblitzen zu begegnen, braucht es ein gut gefügtes Gehirn.” Was meinen Sie damit?
GRÜNBEIN: Das klingt sehr provokativ, nicht wahr. Wenn man den Anfang des Büchleins aufschlägt, stößt man auf das Briefzitat von Descartes, wo er vom gut gefügten Gehirn spricht ("un cerveau bien rassis«). Ehrlich gesagt, war es diese Formulierung, die mich am meisten überrascht hat und die zum Auslöser wurde für alles. Monatelang ist mir diese Wendung im Kopf herumgespukt, dann habe ich mich hingesetzt und die Meditationen geschrieben. Ich interpretiere die Stelle im Licht der cartesischen Seelentheorie, die eine Weiterentwicklung antiker Temperamentenlehren ist, medizinische Erkenntnisse der Barockzeit berücksichtigt und so zum Vorläufer der Psychophysik im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wurde. Soviel ich weiß, haben wir keine Psychoanalyse, die an Strukturen der Dichtung anknüpfen würde. Ich bin also gezwungen, mich bei älteren Schriftstellern umzusehen. Das gut gefügte Gehirn, wie Descartes es versteht, ist eines, das mit Erschütterungen durch das Erhabene umzugehen weiß. Es hält die sprachlichen Sensationen aus, so wie ein echter Cineast noch die aufwühlendsten Bilder auf der Kinoleinwand verarbeiten kann. Das hat nichts mit Abstumpfung zu tun, sondern im Gegenteil mit ästhetischer Erziehung. Aber ein gewisser Anteil von seelischer Begabung gehört auch dazu. Es gibt auch im Leser ein Talent und eine Charakterstärke, die vonnöten sind, um Poesie auszuloten und zu ertragen. Zu Descartes’ Zeiten waren es eben Verse, die die Seele in einen Taumel versetzen konnten, es war Lektüre, die aufputschte, das barocke oder antike Drama mit seinen heißen Stellen. Heute braucht es ein gut gefügtes Gehirn, um der schrecklichen Medien- und Kinobilder Herr zu werden und nicht in Depressionen zu versinken angesichts des täglichen Beschusses mit Photographie und Television, dieser Pornographie des Realen.
ESKIN: Wie müßte eine Lektüre aussehen, um sich als ein solches Mit-Meditieren zu entfalten?
GRÜNBEIN: Als Leser streiche ich mir gern Stellen an, die ich mit anderen Stellen in anderen Büchern verknüpfen kann. So entsteht ein Gewebe aus Textpassagen, die zueinander passen, einander ergänzen und erweitern. Ein solches Vorgehen seitens des Lesers habe ich mir immer auch für meine Schriften gewünscht. Ich sehe mich als Teil eines Kontinuums zentraler Gedanken, an denen Kunst und Philosophie sich seit langem abarbeiten. Mein einziges Mitspracherecht ist die Poesie. Auf sie muß ich mich verlassen können, und vice versa. Sie verlangt nach der Überraschung, sie sucht das geistige Abenteuer, die Verblüffung, darf alle ihr zur Verfügung stehenden Ausdruckstechniken anwenden. Die Poesie gestattet es einem, Sprünge zu machen, sich als Känguruh durch die Landschaften der Imagination zu bewegen. Die philosophische Meditation zu Zeiten Descartes hatte dagegen eine klare Funktion, sie kam aus einer langen theologischen Tradition und konnte sich auch auf die christliche meditatio der Mönche berufen. Sie war ein strenger Disput mit sich selbst, der Versuch, den eigenen Thesen die Form einer öffentlichen Beichte zu geben. Und die Geister der Zeit waren eingeladen, Widerspruch anzumelden, Ergänzungen, Einwände anzubringen, darauf wurde dann wieder geantwortet, bis das Argument rundum verteidigt war. Dichtung muß nicht argumentativ überzeugen, sie sollte anregen und verführen. Die Bezeichnung Meditation weist aber darauf hin, daß auch der Dichter am erkenntniskritischen Gespräch teilnehmen möchte. Die Reflexion der Vorstellungskraft ist ein Thema, bei dem wir aufeinander zugehen müssen. Es betrifft die Art, wie wir Erkenntnisse vermitteln, und ist damit universell und nicht-exklusiv.
ESKIN: Wie denken Sie über das Potential des »Cartesischen Tauchers« im englischsprachigen Raum? Glauben Sie, daß Descartes im kulturellen Bewußtsein der USA eine besondere Stellung einnimmt?
GRÜNBEIN: In Sachen Descartes geschieht fast alles in den Vereinigten Staaten. Mir scheint, die Liste der Neupublikationen dort übertrifft selbst sein Geburtsland Frankreich. Viel Polemik kommt von Seiten der Neurowissenschaften. Man denke nur an Damasios Bestseller »Descartes’ Irrtum«. Leider kennen die Naturwissenschaftler und Mediziner ihren Descartes nur sehr oberflächlich. Er ist für sie so etwas wie eine Vogelscheuche auf dem weiten Feld der Philosophiegeschichte. Weit sachlicher ist die Auseinandersetzung unter den Schulphilosophen. Für einen Meister wie Stanley Cavell wird Descartes zum Kronzeugen der Abrechnung mit gewissen Auswüchsen der Analytical Philosophy. Für Lacan ist er geradezu der Gegenpol zu Sigmund Freud in seiner Subjektkonstruktion. Die cartesische Position ist unverzichtbar, will man den leeren Ort fassen, von dem aus das moderne Subjekt jenseits aller Einzelpsychen operiert. Nur so läßt sich die Katastrophe der Verantwortungslosigkeit in den Naturwissenschaften begreifen. Bemerkenswert ist die Betonung des dynamischen Wandels im cartesischen Denken, den man erst heute deutlicher sieht, so etwa in Machamer und McGuires jüngst erschienener schöner Studie »Descartes’s Changing Mind«, die das lebendige Interesse an unserem Helden bezeugt. Darüber hinaus ist er zum Darling der Biographiesektion geworden. Wir müssen uns klarmachen, daß Descartes für das Verständnis des neuzeitlichen Bewußtseins und der Entwicklung der westlichen Philosophie mindestens so bedeutend ist wie Sigmund Freud für das zwanzigste Jahrhundert. Er ist eine der großen geistigen Gründerfiguren der Neuzeit, ein Pionier, der in Grenzbereiche vorstieß, und als solcher dürfte er auch für amerikanische Leser von Interesse sein. Vergessen wir nicht, daß wir es hier mit einem geistigen Unternehmer zu tun haben, er war der Metaphysiker als Selfmademan. Descartes war gewissermaßen eine reisende Universität, einer, der in ganz Europa unterwegs war (die meiste Zeit in Holland) und doch per Korrespondenz vernetzt blieb mit den wichtigsten Gelehrten seiner Zeit. In dieser Hinsicht haben ihm Philosophen wie Leibniz oder Pascal, seine ersten großen Kritiker, nachgeeifert. Diesem Chevalier mit seinen lebenslangen Streifzügen durch die kühle, erregende Welt des reinen Denkens und der Vivisektion ist der größere Teil der Menschheit seither gefolgt, bewußt oder unbewußt. In einem meiner frühen Gedichte sah ich den Poeten einmal in der Gestalt eines cartesischen Hundes.
ESKIN: Was Sie eben ausgeführt haben, erklärt vielleicht, warum Descartes in den USA so populär ist, wo er doch als Europäer par excellence der Alten Welt viel näherstehen sollte.
GRÜNBEIN: Descartes ist so populär, weil er den Glücksrittern Amerikas eine schmeichelhafte Vorstellung davon verschafft, wie man sein Ich maximal vergrößert. Da ist die Welt: nimm sie dir! Die Instrumente dafür liegen bereit, dein gestähltes Erkenntnis-Ich durchbricht alle Grenzen. Yes, you can …
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SINN UND FORM 3/2011, S. 389-402
- 2/2012 | Das Große Gehege
- 4/2012 | Was haben Poesie und Philosophie heute noch gemeinsam? Über George Steiners »Gedanken dichten«
- 1/2013 | Fischwaren
- 4/2013 | Die Lehre der Photographie
- 1/2014 | Der kluge Hans
- 4/2015 | Artischocken. Gedichte
- 4/2016 | Das Schicksal des Schicksallosen zurückgewinnen. Imre Kertész zum Gedenken
- 2/2017 | Im Bauch der Wörter. Laudatio auf Aleš Šteger zum Horst-Bienek-Preis
- 4/2017 | Westhafen. Gedichte
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Gumpert, Martin
- 4/2018 | Lebenserinnerungen eines Arztes. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einer Vorbemerkung von Jutta Ittner, S. 437 Leseprobe
Gumpert, Martin
Lebenserinnerungen eines Arztes. Autobiographische Aufzeichnungen. Mit einer Vorbemerkung von Jutta Ittner
Augenzeuge der Wahrheit? Eine Vorbemerkung
Erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod wurde der jüdische Arzt und Schriftsteller Martin Gumpert (1897–1955) als wichtiger Zeitzeuge entdeckt. Er gehört zu den Menschen, die gerade deshalb so interessant sind, weil sie ihr Dasein im Schatten großer Namen führten. Es bedurfte gründlicher Spurensuche, um herauszufinden, daß der Grünschnabel, der die Nächte im Café des Westens durchdiskutierte und bereits 1913 anonym oder unter dem Pseudonym »M. Grünling« tiefgefühlte pubertäre Gedichte u. a. in Franz Pfemferts »Aktion« veröffentlichte (so etwa »Durch Jungsein leergebrannt«, 1917), 25 Jahre später als der ägyptische Arzt und Schreiber Mai-Sachme in Thomas Manns »Joseph, der Ernährer« auftritt oder daß »Onkel Martin«, an den Klaus Mann seinen letzten, verzweifelten Hilferuf aus Cannes schickte, mit dem »doctor« identisch ist, den »Informant T3« als Liebhaber Erika Manns ausspionierte und dessen Akte das FBI bis heute nicht freigegeben hat. Gumperts Lebenswerk ist sowohl für die Literatur- und Kulturwissenschaften als auch für die Medizingeschichte eine Fundgrube. Thomas Mann beschreibt in seinem Vorwort zu Gumperts »First Papers« die Doppelexistenz von Arzt und Schriftsteller als aufs natürlichste in seiner Person vereinigt. (Gumperts berühmter Kollege Alfred Döblin betonte hingegen, der Dichter seines Namens sei dem Arzt eigentlich gar nicht bekannt.) In Mai- Sachme, Manns liebevoll-ironischem Porträt des Freundes, vermischen sich denn auch Literatur, Leben und Medizin in der Personalunion von Arzt, Autor und Protagonist. Mit Ausnahme seiner journalistischen Kurzprosa und historischen Romane wie »Hahnemann « oder »Dunant« kann Gumperts gesamtes literarisches Werk als autobiographische »Vitalreflexion« verstanden werden. So nennt Peter Sloterdijk den Versuch, mit den traumatischen Erfahrungen eines Lebens fertig zu werden, indem man in den Spiegel blickend das verletzte Bewußtsein betrachtet. Gumperts Aufzeichnungen erscheinen geradezu exemplarisch für viele seiner Zeitgenossen. Wie der Ich-Erzähler seines Romans »Der Geburtstag« hatte Gumpert »eine behütete Kindheit, (…) genährt aus den tiefen Quellen europäischer Gesittung und gestört durch die Ahnung des Grauens, das bevorstand. (…) Kerzen und Kuchen, Verständnis und Verwöhnung, bis das Nest in Flammen aufging und der Totentanz Europas begann«. Bis in die Einzelheiten gleicht auch sein politischer Weg dem vieler Berliner Künstler und Intellektueller: vom wohlbehüteten Sohn des assimilierten jüdischen Großbürgertums in die linke bürgerliche Jugendbewegung des Sprechsaals, vom kriegsbegeisterten Gymnasiasten zum Kriegsgegner und (nach seinem Einsatz im Fleckfieberlazarett von Feneraki) traumatisierten Kriegsheimkehrer, wurde der kaum Volljährige zum Beobachter der Revolution von 1918 / 19 und aktiven Mitglied der Sozialistischen Studentenpartei. Auch seine uns heute vielleicht ungewöhnlich erscheinenden literarischen Ambitionen heben ihn aus seiner Generation nicht heraus, sondern verbinden ihn mit ihr. Typisch auch sein Berufsweg: Studium der Medizin und Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten (eine der wenigen Juden zugänglichen Disziplinen), Sozialarzt im Wedding und private Praxis, bis erst die nichtjüdischen, dann die jüdischen Patienten ausblieben, selbst der Eiserne Halbmond für Dienste im Türkeifeldzug keine Ausnahmegenehmigung vom Berufs- und Publikationsverbot mehr garantierte und auch die letzte Hoffnung auf die »kultivierten, anständigen Deutschen« geschwunden war. Ausschlaggebend für den Entschluß zur Flucht war, daß der alleinerziehende Vater die Sicherheit seiner kleinen Tochter nicht mehr gewährleisten konnte; seine Frau war 1933 an Tuberkulose gestorben. Gumpert hatte nicht die Absicht, im Exil nur zu überwintern. Er machte größte Anstrengungen, in den USA heimisch zu werden, und im Gegensatz zu vielen Mit-Emigranten gelang das fast Unmögliche. Bereits im Oktober 1936, wenige Monate nach der Ankunft, eröffnete er eine Praxis in New York. In der Folgezeit baute er sich eine völlig neue Existenz auf. Nicht nur als Facharzt für Alterskrankheiten, sondern als Autor von medizinischen Ratgebern (so etwa »The Anatomy of Happiness« oder »You are Younger Than You Think«) wurde er zum »household name« und bestens bekannt sowohl den intellektuellen Lesern der liberalen Wochenzeitschrift »The Nation« wie auch dem breiten »Reader’s-Digest"-Lesepublikum und den Abonnenten seiner eigenen Zeitschrift »Lifetime Living«. Für jeden, der dank seiner humanistischen Schulbildung Latein und Französisch beherrschte, nicht aber die Sprache der »Koofmichs«, wäre das Überleben als Autor eine bewundernswerte Leistung gewesen. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren New Yorks grenzte es an ein Wunder, war doch das Zeitungs- und Buchwesen für Emigranten so verschlossen »wie ein Banktresor« (Gumpert). Seine unverkennbare Stimme, gespeist aus persönlicher Erfahrung, Wärme, Objektivität und ärztlicher Autorität, schuf ihm eine Nische im populärwissenschaftlichen Buchmarkt; aber auch Artikel allgemeinmedizinischer, politischer und psychologisch-philosophischer Art konnte Gumpert plazieren. Bereits der junge Arzt hatte seine Gedanken zu humanistischen Themen veröffentlicht ("Bildnerei eines Geisteskranken«, 1923). Jetzt nutzte er seine Informationsquellen zur direkten Stellungnahme gegen die Nazipropaganda mit »Health under Hitler« (1939), der Bloßstellung des Mythos vom »gesunden Arier«, die dank der Veröffentlichung im »Reader’s Digest« sehr weite Verbreitung fand. Neben Texten in »Lifetime Living« veröffentlichte er in seinem »neuen Leben« mehr als 80 Artikel (vergleiche dagegen 32 vor seiner Emigration), zuletzt den Artikel »How to grow old and like it« (1955), der unter dem Titel »Alt werden mit Vergnügen« im selben Jahr in der deutschen Ausgabe von »Das Beste aus Reader’s Digest« erschien. Welche Anerkennung er in der neuen Heimat gewonnen hatte, bezeugen nicht zuletzt die zahlreichen Nachrufe in so einflußreichen Publikationen wie »Newsweek«, »The Nation«, »New York Times«, »New York Sun« und »Herald Tribune« sowie im »Aufbau« der deutschsprachigen jüdischen Gemeinde. Gumperts autobiographisches Schaffen zählt zu den Versuchen einer Generation von Schriftstellern, ihre schicksalhaften Erfahrungen literarisch zu bewältigen. Wie viele seiner Zeitgenossen erfuhr er sein individuelles Los im Bewußtsein, daß ein zur Passivität Verurteilter dennoch als Zeuge auftreten könne und es sogar müsse. »Hölle im Paradies « (Stockholm, 1939) erzählt sein Leben von der Jahrhundertwende bis zur Emigration. »First Papers« (New York, 1941, in englischer Übersetzung veröffentlicht mit dem erwähnten Vorwort Thomas Manns) zeichnet die Lehrjahre in Amerika nach. Ein letzter Rückblick auf sein Leben wird Ende 1953 begonnen und im Juni 1954 abgebrochen. Diese Memoiren sind als Abbild der gelungenen Akkulturierung bereits in englischer Sprache geschrieben. Gumpert hat mit großem Ernst und großer Bescheidenheit an der Rekonstruktion seines Lebens gearbeitet, und er erweist sich als ein sensibler, zuverlässiger und absolut integrer Zeuge seiner Zeit. Daß es trotz – oder vielleicht wegen – aller Bemühungen um Objektivität so gut wie unmöglich ist, getreuer Augenzeuge der Wahrheit zu sein, erkennt er als erster an. Bereits 1939, ein Jahr nach Fertigstellung von »Hölle im Paradies«, bittet er seine Leser um Entschuldigung für seine »Irrtümer und Schwächen«. Das »merkwürdig unjüdische« ("Aufbau«) und irritierend unbeteiligt wirkende Buch stieß auf Befremden oder Unverständnis. Nicht anders bei seiner Neuauflage 1983 in der »Serie Exilliteratur «. Wie sind Aussagen zu erklären wie die folgende? »In der Tat bin ich in den 38 Jahren meines Aufenthaltes in Deutschland niemals und in keiner sozialen Schicht einem Antisemiten begegnet.« Wie ist der scheinbare Gleichmut zu verstehen, mit dem Gumpert die antisemitischen Auswüchse in seinem unmittelbaren Umfeld registriert, um dann doch seine Hoffnung auf »Goethes Kulturerbe« zu setzen? Angenommen, es handelt sich um einen blinden Fleck in seiner Assimilationsgeschichte – Gumpert ist ein überzeugter Vertreter der Assimilation –, warum reagiert der Einwanderer hypersensibel auf vergleichsweise harmlose Indizien für Antisemitismus in der neuen Heimat? Vollends verwirrend wird sein Urteil, wenn er beide Erfahrungen vergleicht. Toleranz, nicht Vorurteil bestimme die amerikanische Variante des Antisemitismus ("First Papers«). Anders als in Berlin zwar finde Segregation zwischen »gentile« und »Jew« auf allen Ebenen statt, auf dem Wohnungsmarkt, an den besseren Universitäten, im Patientenbereich, sogar in der Freizeit – jedoch nicht von Haß begleitet, sondern von Liebenswürdigkeit. Dem Erstaunen darüber, in Manhattan einem jüdischen Briefträger zu begegnen, folgt die »Ehrenrettung«, im protestantischen Preußen seien die beruflichen Barrieren durch Taufe zu überwinden gewesen. Wie immer sich Gumpert in seiner komplexen Mehrfachexistenz zurechtfand, in seinem letzten Rückblick verteidigt er sich fast zornig, er sei »a XXth century Jew, born in Germany, now an American, pursuing medicine and literature: I am alone responsible for what I make of this concoction« – er sei ein Jude im 20. Jahrhundert, in Deutschland geboren, nun amerikanisch, Mediziner und Literat und er allein sei dafür verantwortlich, was er mit dieser Mixtur anfange. Auf eine andere Art von blindem Fleck trifft der Leser, der sich Informationen über Gumperts persönliche Beziehungen verspricht. Wer auf Interna aus dem weitläufigen Freundeskreis hofft, auf Klatsch und Tratsch aus den wilden Vorkriegsjahren im Kreis um Franz Pfemferts Zeitschrift »Die Aktion«, aus der New Yorker Exil-Clique im Bedford Hotel und dem kalifornischen Refugium Pacific Palisades oder gar auf Intimes über die anekdotenreiche Familie Mann, wird bitter enttäuscht. Die Spurensuche führt über die Zeugnisse der Zeitgenossen immer nur zu Gumpert, nie umgekehrt. Er ist die Diskretion in Person. Daß er der engste Vertraute des Hauses Mann war, Katjas »lieber Freund Martin«, betreuender und auch Medikamente verschreibender Arzt Klaus Manns sowie langjähriger, hoffnungslos hoffender Liebhaber Erika Manns und noch zuletzt Begleiter Thomas Manns bei seinem ersten Besuch im zerstörten Deutschland, findet seinen Niederschlag im Briefwechsel der gesprächigen Familie, in ihren Tagebüchern und Büchern – 250 Erwähnungen allein in Thomas Manns Tagebüchern zwischen 1935 und 1952 – und spiegelt sich in mehreren literarischen Porträts. Gumperts letzte, hier erstmals in deutscher Übersetzung auszugsweise veröffentlichte Memoiren sind als eine noch komplexere Mischung von Aussage und Verschweigen zu verstehen; hier ist die »Wahrheit« oft nur zwischen den Zeilen zu erahnen. Die innere Befindlichkeit Gumperts spiegelt sich – wie das Leben in zwei Sprachen – in seinen Tagebucheinträgen: Er fühle sich »aufs Äußerste und Hilfloseste mißgestimmt, dann wieder competent, functioning, creative«. Ein Grund für seine immer häufigeren Phasen der Depression ist der Verlust vieler Freunde. Bei Kriegsende erforderte die jahrelang theoretisch diskutierte Frage eine konkrete Antwort: Rückkehr in eine kaum wiederzuerkennende Heimat oder nicht? Wie man sich auch entschied, man »desertierte sich selbst«. Bereits ab 1945 packten die ersten Freunde die Koffer. Im zunehmend rechtslastig und hysterisch werdenden Klima der fünfziger Jahre verließen immer mehr Weggenossen das amerikanische Exil. Wer von den New Yorker Emigranten zu den engen Freunden Gumperts zählte, ist schwer einzuschätzen. Zu seinem Patienten-, Bekanntenund Freundeskreis gehörten aber nicht nur etliche deutsche Autoren und Schauspieler, sondern auch viele namhafte Amerikaner, darunter Verleger und Politiker. Die Liste der prominenten Zeitgenossen, die er für sein (unveröffentlichtes) Buch »Breaking the Age Barrier« (Die Alters-Grenze durchbrechen) interviewte, ist ein Who’s Who der amerikanischen Gesellschaft der fünfziger Jahre, mit Ausnahme der politisch rechten Kreise. Die Gästeliste zu seinem 50. Geburtstag ergibt ein regelrechtes Literatenverzeichnis, aber im Tagebuch kommentiert er das Ereignis mit den Worten »no real friends« und zieht den Schluß: »bin ein alter, kalter Mann« (1947/ 48). Bereits im Juli 1946, nach seinem ersten Herzinfarkt, hatte Gumpert geschrieben »At last, I was an old man. At forty-eight« (dem zweiten Infarkt neun Jahre später sollte er erliegen). Alt mit 48? Seinen engen Freunden bleibt die Widersprüchlichkeit nicht verborgen. Erika Mann wehrt Äußerungen dieser Art als Zeichen der Furcht vor dem Tod ab. Katja Mann vermutet dagegen ein Spiel mit der Umwelt – der Freund mit dem Greisenlächeln sei viel zu lebenslustig, um glaubhaft zu sein –, und Thomas Mann wiederum meint, Gumpert warte darauf, ob die kindliche Vorstellung von einem Stadium der Reife und Autorität sich für ihn bewahrheiten werde, dabei schaue ihm das Kind aus den runden braunen Augen heraus, so träumerisch und vertrauensvoll wie eh und je. Er könnte damit genausogut den Erzähler von Gumperts Roman »Geburtstag« beschrieben haben: einen Menschen, der noch auf der Schwelle zum Alter zwischen Rationalität und Irrationalität schwankt. Es ist eine tragische Ironie, daß der wohl loyalste Neu-Amerikaner zuletzt der McCarthy- Politik zum Opfer fiel, die u. a. dazu führte, daß Lion Feuchtwanger als »chief literary Kremlin crawler« (literarischer Haupt-Kremlkriecher) gebrandmarkt wurde. Nicht nur zählte man Gumpert zur Gruppe der »communazis«, den suspekten politischen Emigranten aus Deutschland, er wurde auch überwacht. Wie nicht anders zu erwarten, findet sich jedoch keinerlei Hinweis darauf in seinen Aufzeichnungen. Erst ein Interview mit seiner Tochter Nina Parris (1994) warf Licht auf seine unselige Verstrickung in den umstrit- tensten Spionageprozeß der McCarthy-Ära. Der Übersetzer seines »Dunant«, Whittaker Chambers, spielte in den sogenannten Pumpkin Trials eine berühmt-berüchtigte Rolle als undurchsichtiger Ex-Kommunist und Kronzeuge der Anklage gegen Alger Hiss. Gumpert habe beweisen können, daß Chambers log – der Briefwechsel beider bezeugte Aufenthaltsorte und -zeiten –, und sei dazu auch bereit gewesen, erfuhr ich von seiner Tochter. Das FBI reagierte mit Drohungen und Repressalien. Er sei den Hexenjägern erlegen, die ihn »noch bis ins Krankenhaus« verfolgten. Gumperts Akte beim FBI wäre sicherlich auch ohne die Beziehung zu Chambers so umfangreich wie die seiner Emigrantenkollegen. Der Zugang zu seiner HUAC-Akte (House Un-American Activity Committee, Ausschuß für die Ermittlung von unamerikanischen Aktivitäten) ist nur über Umwege möglich. Ein Jahr nach dem Antrag auf Einsichtnahme erteilte mir das Justizministerium den Bescheid, zuvor seien 15 000 andere Anträge zu bearbeiten, für die 5,4 Millionen Seiten durchgesehen werden müßten. Gumperts einziger Hinweis auf diese letzte Zeit ist berührend: Im Tagebuch schreibt er, seine Allergie gegen Furcht, Haß, Machtmißbrauch und das Versagen der Öffentlichkeit sei wieder ausgebrochen. Vielleicht seien seine Ängste ein Zeichen dafür, daß er endlich »angekommen« und zu Hause sei. Eine solche Angst könne nur aus tiefer Verbundenheit und Liebe entstehen.
Jutta Ittner
SINN UND FORM 4/2018, S. 437-456, hier S. 437-441
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Gurk, Paul
- 2/2019 | Die Vision des Paul Gurk von den Wolken. Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer, S. 168 Leseprobe
Gurk, Paul
Die Vision des Paul Gurk von den Wolken. Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer
Vorbemerkung
Visionen spielen im vielgestaltigen, so gut wie keine literarische Gattung aussparenden Werk Paul Gurks eine nicht immer offensichtliche, aber doch zentrale Rolle, die in persönlichen Erfahrungen ihren Ursprung hatte. »Ich habe ja auch die ganz seltene Gabe oder Belastung«, schrieb er am 13. Juli 1937 an seinen Freund Rudolf Möbius, »der Fähigkeit völliger Verwandlung mit totalem Verlust des Zeitempfindens. Diese sehr zweideutige Gabe bemerkte ich zuerst vor vielen Jahren mit einem wirklich panischen Erschrecken im Zoologischen Garten in Berlin. Es schien gerade die Sonne schön und malte Kringel und Streifen von den Gitterstäben in den Sand. Ein tropisches Huhn hatte sich in den heißen Sand gewühlt und blinzelte. Die Farben des Gefieders flimmerten. Da wurde ich im Hinsehen plötzlich verwandelt und empfand mich als Huhn, das im Sande der Sonne lag und blinzelte – bei völligem Verlust des Zeitempfindens. Das Aufhören der Zeit habe ich oft, besonders bei einem Schweben im Zwischenreich zwischen Schlaf und Wachen. Ich bin dann ›nicht da‹ und werde gewöhnlich für dumm oder idiotisch gehalten. Und doch sind diese unmeßbaren Zeitstückchen im Zwischenreich der wahre Odem der Liebe, der die Seele erfrischet.«
Dieses Geständnis erfolgte zu einer Zeit, da Gurk sein bürgerliches Erwerbsleben als Beamter schon lange hinter sich gelassen, allerdings auch nicht die erhoffte dauerhafte Anerkennung als Schriftsteller gefunden hatte. Geboren wurde er 1880 in Frankfurt an der Oder als Sohn eines Postfahrers und einer Kätnerin. Nach dem frühen Tod des Vaters kam er zur Familie seines Onkels nach Berlin, wo er fortan lebte. In der Hinterstube des Barbierladens, wo die Tante Damen frisierte, beobachtete er samstags in der Zeit der Maskenbälle, wie ihm bekannte Bürgerstöchter hereingingen und »als Fischerinnen, Königinnen der Nacht, Amazonen, Rotkäppchen« wieder herauskamen, »nur nicht als in aller Einfalt gefährliche Wölfe, die sie häufig waren. Vielleicht«, so meinte er 1930 in einem »Selbstbegegnung« betitelten Text, »ist mir damals schon die Maskenhaftigkeit der Welt und das vielfache Gesicht der Dinge und Menschen, ihre Lust, sich durch Verhüllung zu enthüllen, zuerst aufgegangen«.
Seine erste erkennbare Leidenschaft war nach eigener Aussage die für weißes Papier und große Zahlen; Lesen und Schreiben lernte er von den Frisörgehilfen. Auf der Gemeindeschule tat er sich hervor, durfte aber keine höhere Schule besuchen, weil dafür das Geld fehlte, und wechselte auf die Präparandenanstalt und das Seminar für Stadtschullehrer. Aus der für ihn vorgesehenen pädagogischen Laufbahn wurde dennoch nichts, weil seine Stimme den Anforderungen nicht gewachsen war. 1900 kam Gurk als Bürogehilfe beim Magistrat unter und tat in den folgenden vierundzwanzig Jahren, bis zum »mittleren Beamten niederen Ranges« aufsteigend, im Standes- und im Hochbauamt, in der Epileptikeranstalt Wuhlgarten sowie im Krankenhaus- und Gesundheitswesen Dienst. Die Menge der von ihm verfaßten Akten, so scherzte er einmal, komme an Umfang wohl Goethes gesammelten Werken gleich.
Die von Gurk so genannte »Umwandlung zum Innenmenschen« geschah 1904 durch eine schwere Erkrankung – von einer rückfälligen Influenza mit Magenvergiftung durch verdorbenes Essen ist in einem Brief aus späterer Zeit die Rede. Die Genesung zog sich über sieben Jahre hin, doch das Krisenerlebnis und wohl auch die aufgenötigte Muße bereiteten seinem künstlerischen Tun das Feld, das sich nicht auf Literatur beschränkte, denn er malte und komponierte auch. Die Musik gab er später »aus Mangel an Zeit und Gelegenheit« wieder auf, beschäftigte sich aber weiter insbesondere mit Aquarellmalerei. Seine bevorzugten Motive waren Wolken und Berliner Stadtlandschaften.
Zu ersten Veröffentlichungen aus dem im stillen schon stark angewachsenen Werk kam es erst nach dem Weltkrieg, den Gurk wegen einer Herzneurose und der stets drohenden Gefahr eines Anfalls nicht im Schützengraben, sondern in der Amtsstube überstand. 1922 erschienen fast auf einen Schlag seine »Fabeln«, der Novellenband »Dreifältigkeit «, das Drama »Thomas Münzer« und der Roman »Die Wege des teelschen Hans«. Der Grund für seinen Durchbruch war die Verleihung des Kleist-Preises im Vorjahr und von zwei kleineren Preisen an den noch völlig unbekannten Dichter. Die Besonderheit des Kleist-Preises bestand – und besteht noch heute – darin, daß er nicht von einer Jury, sondern von einer Vertrauensperson vergeben wird. So sollten Entscheidungen zugunsten konsenstauglicher Durchschnittstalente vermieden und neue und ungewöhnliche, zudem »wenig bemittelte« Begabungen unterstützt werden. Im Falle Gurks war die Vertrauensperson der Theaterkritiker Julius Bab, der neben der Eigenständigkeit des Autors und der »Mannigfaltigkeit der Motive und Formen« besonders die Spielfreude hervorhob, mit der er »neben die Welt der sogenannten Wirklichkeit eine neue (…) aus eignen Träumen, Leidenschaften, Gesichten« stelle.
Von diesen Erfolgen beflügelt, zu denen sich Aufführungen seiner Stücke an Theatern in Breslau, Berlin, Köln, Halle, Jena und Lübeck sowie weitere Buchveröffentlichungen gesellten, entschied sich Gurk 1924, seine Stellung als Beamter aufzugeben. Ein größerer Stellenabbau im öffentlichen Dienst bot ihm die Möglichkeit, sich in den »Wartestand « versetzen zu lassen, was in etwa dem heutigen einstweiligen Ruhestand entspricht. Womöglich ist ihm der Entschluß nicht leichtgefallen, denn daß der Beruf für ihn eine Art Korrektiv und sogar einen Erfahrungsraum darstellte, war ihm ganz klar, wie aus seiner Antwort auf eine Rundfrage des Berliner Tageblatts vom 27. Februar 1926 ("Läßt sich dichterisches Schaffen mit anderer Tätigkeit vereinigen?«) hervorgeht: »Das Wesen des Beamtentums sicher vom Literatentum unterschätzt und ihm unbekannt. (…) Der Beamte, besonders der Kommunalbeamte, die Epidermis des Staates, die Kampfgrenze zwischen Verwaltung und Leben, die nicht selten groteske, schroff tragische Reibung zwischen Ordnung und Unordnung, Maschine und Anarchie. Für mich: Keine Hemmung im Schaffen.« Und in »Selbstbegegnung« heißt es: »Ich glaube, ich bin immer ein guter Beamter gewesen. Die strenge, sachliche Tätigkeit war mir erwünschtes Gegengewicht gegen die Gewalt einer sonst vielleicht übermäßigen Kraft der Vorstellung und des Traumes.«
Der Erfolg hielt indes nicht lange an: Nach der Premiere von »Wallenstein und Ferdinand II.« 1927 wurde zehn Jahre lang kein Stück von ihm aufgeführt, und mit seinen Büchern hatte er mitunter auf fast groteske Weise Pech. So gab es – nach »Das Lied von der Freundschaft« (1923) und »Meister Eckehart« (1925) – zwar Vorabdrucke seines Großstadtbuchs »Berlin«, das auch schon angekündigt wurde, aber es erschien nicht, weil der Verlag Friedrich Lintz Konkurs machte. Gurks treuer Lektor Max Tau wechselte zu Otto Quitzow in Lübeck und nahm das Projekt mit. Abermals wurde das Buch angekündigt, doch auch dieser Verlag ging bankrott. 1933 sollte es nach mündlicher Zusage bei Gustav Kiepenheuer – dem renommierten Verlag u. a. von Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig und Joseph Roth – gedruckt werden, der aber nach Machtantritt der NSDAP durch das Verbot von rund drei Vierteln der Produktion praktisch am Ende war. Schließlich erschien es 1934 im Verlag Holle & Co. und wurde gegen Gurks Willen als Roman vermarktet, der Untertitel »Ein Buch vom Sterben der Seele« entfiel.
Der im Jahr darauf gedruckte Roman »Tresoreinbruch« über die seinerzeit berühmten Ganovenbrüder Franz und Erich Sass (im Roman Maas) wurde verboten, weil Gurks Auffassung, »daß die einzigen ›sozialen‹ Menschen die sogenannten ›asozialen‹ sind« (so eine Formulierung aus »Selbstbegegnung«), mit der NS-Staatsdoktrin kollidierte. Sein düsterer Zukunftsroman »Tuzub 37« (1937) ging zwar als vermeintliches Jugendbuch durch, war aber das letzte im Holle Verlag, bevor der Vertrag aufgelöst wurde. Der Zuspruch, den Gurk wegen seiner zivilisationskritischen Töne speziell bei konservativen Kritikern und Zeitungen gefunden hatte, erlahmte, er zog sich immer mehr zurück und wurde beinahe krankhaft menschenscheu. Als Heinz Hilpert 1937 am Deutschen Theater sein Drama »Magister Tinius« inszenierte, ging er nicht mal hin, sondern verschenkte seine Eintrittskarten. Einige der bis Kriegsende noch veröffentlichten Bücher erschienen unter dem Pseudonym Franz Grau, weil die Verlagsvertreter seinen Namen, so Gurk, als »Typ der Erfolglosigkeit« ablehnten.
Auch privat mußte er einiges wegstecken: 1941 starb seine schon lange pflegebedürftige Lebensgefährtin im Krankenhaus Berlin-Buch an einem Nervenleiden, 1943 wurde Gurk »nach über zweihundert Luftalarmen« aus seiner Wohnung im Wedding in das Örtchen Neinstedt im Harz evakuiert, wo er bei der Familie einer Nachbarin lebte. Die erste Nachkriegszeit brachte zwar wieder die eine oder andere Veröffentlichung und eine kleine Ehrengabe, aber auch Armut. Weil die Personalakten im Krieg verbrannt waren, wurde ihm erst wenige Monate vor seinem Tod am 12. August 1953 eine Pension zugesprochen; bis dahin lebte er kärglich von Überbrückungsgeld.
Das bislang unveröffentlichte, aus einer privaten Sammlung stammende Typoskript mit dem Titel »Die elf Visionen des Paul Gurk« tauchte 2011 bei einem Antiquar auf der Leipziger Buchmesse auf. Das Archiv der Akademie der Künste, in dem bereits eine Paul-Gurk-Sammlung vorhanden war, kaufte es auf meinen Hinweis mit einigen anderen angebotenen Gurk-Inedita und verzeichnete es unter der Signatur Gurk 406. Die elf Visionen von annähernd gleichem Umfang, darunter beispielsweise auch eine vom Ameisenlöwen und eine vom Zitronenfalter, sind einzeln datiert, aber alle auf 1935, die »Vision von den Wolken« auf den 9. Juli.
Zu dieser Zeit hatte sich Gurk vom Romanschreiben in seinem Verständnis bereits abgewandt. An Rudolf Möbius schrieb er am 27. Oktober des Jahres: »Sehr gegen meinen Wunsch erscheinen meine Bücher, wenn sie die gehörige Länge haben, als Romane. Ich schreibe keine Romane. Mir ist das viel zu langweilig, wenigstens soweit das in der heute üblichen Technik geschieht. Ich kann diese Technik gut und habe ihr für meinen Privatgebrauch manche scherzhafte (…) Bezeichnung gegeben: die Gänsemarschtechnik, die Zopfflechttechnik, die Kreuzworttechnik, die Auflösetechnik (…). Ich halte diese Techniken alle für Posthorntechniken, gut in einer Zeit des Posthorns. Ich arbeite aber mit Visionen und habe demgemäß die Blitzlichtaufnahme, die Röntgenaufnahme. Die übliche ›Füllung‹ lasse ich fort, das Putzen des Wachsdochtes, die allseitig herumgehende Petroleumlampe.«
Andererseits spricht Gurk selbst mitunter von Romanen, so etwa am 12. November 1952 in einem Brief an Paul Fechter, der ihm in seiner Literaturgeschichte mehrere Seiten gewidmet hatte: »Ich schreibe noch immer, je aussichtsloser, desto merkwürdiger. Verleger haben mich – trotz vorliegender Verträge – gründlich im Stich gelassen. Mich mit ihnen zu zanken habe ich weder Lust noch Geld. Mich ekelt das lange an. Im Jahr entstehen zwei bis drei Romane, Novellen, Fabeln, Verse, gelegentlich auch ein Bühnenstück. (…) Einiges ist erschienen. Ich habe aber nur von einer ›Ostveröffentlichung‹ etwas gehabt, bis der Osten merkte, daß mich ein verschmitzter Lektor eingeschmuggelt hatte; dann wurde ich schleunigst als Nichtkommunist kaltgestellt.«
Noch ist ein Großteil des Werks von Paul Gurk unveröffentlicht. Zuletzt hat der Arco Verlag sich an eine Ausgabe seiner Gesammelten Werke gemacht: 2016 erschien »Berlin « in revidierter Fassung mit einem langen Essay von Magnus Chrapkowski über Gurk, bescheiden »biographische Skizze« genannt, dem diese Vorbemerkung einige wesentliche Informationen verdankt; 2017 kamen der im Krieg geschriebene und vorher nie gedruckte Roman »Goya« sowie eine Neuausgabe von »Tuzub 37« heraus.
Gernot Krämer
[…]
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