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Maar, Michael
- 1/2013 | Lieblingsstellen. Streifzug durch Martin Mosebachs Romane, S. 127 Leseprobe
Maar, Michael
LIEBLINGSSTELLEN Streifzug durch Martin Mosebachs Romane
Es ist Nicholson Baker, den ich mir bei meinem Streifzug als Cicerone denke. MeinLieblingsbuch von ihm trägt den wortspielerischen Titel »U and I«. Das »U« steht für John Updike, dem Baker in diesem Roman-Essay eine sehr persönliche Hommage macht, eine Hommage mit dem Blick des Anfängers – er hatte gerade seine ersten beiden Bücher veröffentlicht – auf den bewunderten und ein wenig beneideten Altmeister. Bakers Prinzip ist es, daß er sich nicht nur verbietet, Stellen in Updikes Werk nachzuschlagen, sondern sich auch vornimmt, nur auf seine Erinnerung zu hören. Das Prinzip hat etwas für sich. Literatur lebt ja fast ausschließlich von dem, was der Leser, wenn er das Buch zugeschlagen hat, davon in Erinnerung behält. Je stärker der Eindruck ist, den es gemacht hat, desto länger bleibt es in Erinnerung. Die Fähigkeit eines Buches, sich tintenfischgleich mit Tentakeln und Saugnäpfen im Gedächtnis des Lesers festzusetzen, ist noch kein hinreichender Beweis für literarische Qualität – man kann sich auch lebhaft an besonders grauenhafte Stellen in besonders miserablen Büchern erinnern; aber es ist eine notwendige Bedingung dafür. Was keinesfalls heißt, daß man sich wörtlich an Textstellen erinnern muß, ganz im Gegenteil. Es genügt auch die Erinnerung an eine bestimmte Atmosphäre oder an eine Plot-Pointe oder an einen Gefühlsmoment oder an einen bestimmten Geruch …
Wie etwa an den strengen Geruch von Fledermauskot in dem kleinen indischen Kabinett, in dem der Protagonist von Martin Mosebachs Roman »Das Beben« ein kurzes und heftiges Renkontre mit einer Restauratorin hat. Oder an den Geruch von abgestandenem Blumenwasser – oder eigentlich wohl des Katzenklos – in der leeren Wohnung, in der derselbe Held eine Nacht lang auf seine flatterhafte Geliebte Manon wartet. Die Atmosphäre dieser Szene hat sich bei mir besonders festgesaugt. Was passiert in ihr? Schlechterdings nichts. Die Geliebte kommt und kommt nicht, und die Zeit wird dem Helden lang. (Ich verwende das Wort Held im saloppen, nicht im strengen Lewitscharoffschen Sinn.) Er wartet, und es geschieht nichts, außer daß es allmählich dunkel wird und die Straßenlaternen ihr weißes Licht durch die Schlitze der Jalousie werfen und eine Katze aufs Fensterbrett springt. Einmal hat der Held das Gefühl, Manon sei doch schon in der Wohnung und erwarte ihn im Schlafzimmer. Liegt sie nicht unter der Daunendecke im Bett? Ihr Körper scheint sich unter dem Plumeau abzuzeichnen, doch als er ihre Füße berühren will, hat sie sich in Luft aufgelöst.
Eine ganze Nacht verbringt der Held auf dem Sofa in der heißen Wohnung, erst die Morgenstunden verschaffen ihm etwas Kühlung. Was die Geliebte später als Entschuldigung für ihr Ausbleiben vorbringt, daran kann er sich kaum noch erinnern: entweder eine sterbende Tante, die besucht werden mußte, oder der Verlust ihrer Handtasche samt Telefon. Es ist ihm auch nicht wichtig, denn im Grunde hat er die unbequeme Nacht auf dem Sofa in vollen Zügen genossen.
Und der Leser tut es ihm darin gleich. Das Hypnotische dieser Szene liegt darin, daß der Autor die Zeit verrinnen läßt, die reine Zeit, die ebenso wie die Geliebte nicht faßbar ist und dennoch rätselhaft präsent. Man sieht gewissermaßen die Sandkörnchen, wie sie durchs Stundenglas rieseln.
Was wären andere Lieblingsstellen, die man nicht nachschlagen muß, weil sie sich fest im Gedächtnis angedockt haben? Sie sehen, ich bin hier in etwas gerutscht, das man in Anlehnung an Baker »M&M« nennen könnte. »M&M« auch insofern, als ich wie in »U and I« mit dem Blick des blutigen Debütanten, der gerade seinen ersten Roman veröffentlicht hat, das Werk des bewunderten Meisters vor allem technischhandwerklich betrachten möchte, immer mit der Frage im Hinterkopf: Wie schafft der Hund das nur? Wie schafft er es zum Beispiel, in der Warte-Szene dieses Gefühl der langsam verrinnenden Zeit zu erzeugen? Um das in seiner Filigran-Technik zu zeigen, müßte man die Passage nun doch genau auseinandernehmen. Ich möchte hier aber weiter dem Ruf meiner Lieblingsstellen folgen – und dabei wie Baker der Versuchung widerstehen, sie nachzuschlagen.
Meine frühesten Erinnerungen gehen auf das FAZ-Magazin zurück. Dort schrieb der mir unbekannte Martin Mosebach Kolumnen oder kurze Pastiches über italienische Redensarten, illustriert mit jeweils einer Anekdote, über die ich fast Tränen lachen mußte. In einer kam ein Elektriker vor, der irgend etwas auf einem Dach zu reparieren hatte, eine Antenne vermutlich; es war ungeheuer komisch, auch wenn ich sonst nichts mehr davon weiß. Wer war dieser Autor? Das nächste, was ich von ihm las, war die voluptuöse Beschreibung eines großen Feinschmecker-Gelages, aus der ich erfuhr, daß die Franzosen den Bordeaux nur für die Engländer produzierten und für sich selbst den Burgunder behielten. Der letzte, mich damals etwas frivol anmutende Satz – man las damals noch viel von der Sahel-Zone – lautete: »Manche freuen sich schon auf den Whiskey«.
Voluptuöse Beschreibungen sind bei Mosebach fast ein Erkennungszeichen. Mitunter gibt es, wenn es etwa verfallene indische Paläste betrifft, geradezu Orgien der Beschreibungskunst, einer Kunst, die sich durch das Aufgebot aller möglichen Akribie eben jenem Verfall entgegenzustemmen scheint. Was schon im Verschwinden begriffen ist, soll wenigstens noch einmal in der Schrift fixiert werden. In der Erinnerung bleibt von diesen Orgien nur, daß es welche waren, die Details verlieren sich. Was damit zu tun zu haben könnte, daß sie dem Unbelebten gelten, dem wir nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken mögen wie dem Lebendigen. Jedenfalls spricht die Erinnerung deutlicher, wenn es nicht um Stein, sondern um Fleisch und Blut geht.
Es müssen dabei gar nicht Menschen sein. Niemand, der Mosebachs letzten Roman »Was davor geschah« gelesen hat, wird die musikalische Introduktion vergessen, die uns, eigentlich zum ersten Mal richtig und umfassend, den Gesang einer Nachtigall beschreibt. Es ist ein kleines poème en prose, das er dieser Nachtigall und ihrer sich zu unerhörten Höhen steigernden Arie abgewinnt; eine Beschreibung, die zu dem Schluß gelangt: wer einmal eine solche Nachtigall gehört hat, der kann nur davon abraten, dieses Wort leichtfertig in ein Gedicht aufzunehmen, denn es brächte den schwankenden lyrischen Kahn zum Kentern. Das Pendant zu dieser Nachtigall ist der Kakadu, dem eine ebenso eindringliche Beschreibung gilt, wie er sich in seinem Putzritual aufplustert und dann wieder in Starre verfällt; auch das eine große Miniatur, die kein Leser des Buches vergessen wird.
Mosebachs Kunst der Beschreibung widmet sich auffällig oft der Tierwelt, das ist sein Tribut ans Lebendige, an die Schöpfung, wenn man so will, in der das Einzelwesen nicht weniger wichtig oder wertvoll ist, nur weil es zufällig nicht sprechen kann. Außer der Nachtigall und dem Kakadu, der übrigens der einzige in dem Buch ist, der den kompletten Überblick über das Geschehen bewahrt, gibt es in »Was davor geschah« auch noch eine Katze, die aus der Wohnung flieht und in der Stadt herumstreunt. Der Erzähler versetzt sich in diese freiheitsliebende Katze so sehr hinein, als wäre er in einem früheren Leben selbst eine gewesen; wie auch der Held des Romans »Das Beben « Macht über eine Katze hat und sie mit seinen Blicken hypnotisieren kann. Die verwilderte Katze in »Was davor geschah« wird am Ende halb-symbolisch von einem Auto überfahren; in ihrer letzten Minute bewegt sie noch langsam ihre Pfoten in der Luft, als übe sie eine neue Art der Fortbewegung im Körperlosen … auch das eine der Miniaturszenen, die dem Tier eine metaphysische Würde verleihen. In seinem neuen, noch im Entstehen begriffenen Roman wird der Erzähler in China in einem Restaurant genötigt, eine frisch gefangene Schildkröte, die man ihm zuvor noch unter die Augen hält, zu verzehren. Es ist eine Sünde, die er sich nicht verzeihen kann und die ihn bei einem späteren Besuch auf dem Balkan dazu animiert, eine Schildkröte, die er zufällig in einem Teppichladen entdeckt, freizukaufen und in die Natur zu entlassen.
Es ist nun nicht so, um noch eine Sekunde bei den Tieren zu bleiben, daß alle Mosebachschen Figuren gefühlsduselig wären. Der ziemlich unsympathische und um so interessantere Hans-Jörg in »Was davor geschah «, der ständig zurückgesetzte Sohn eines Weizsäckerhaften Übervaters, genießt es in dessen italienischem Feriendomizil sehr, daß er vom Bett aus das Massaker betrachten kann, das eine Honiggirlande unter den Fliegen anrichtet. Ja, denn auch Insekten haben es verdient, daß man sich erzählerisch um sie bemüht. Eine der eindringlichsten Passagen des Romans »Eine lange Nacht« schildert uns auf zwei oder drei Seiten, wie eine Ameisenkönigin in einem offenen Kamin versucht, ihr Volk vor den hochzüngelnden Flämmchen zu retten und wie sie am Ende, als die Glut sich in den Holzscheiten immer weiterfrißt, einen heroischen Selbstmord begeht, indem sie sich in das Feuer stürzt. Wer unbedingt will, kann all das auch symbolisch lesen, aber ich finde, das ist gar nicht nötig; die Ameise hat genausoviel poetisches Eigengewicht wie etwa die berühmte Kuh aus dem »Beben«, die im Flughafen einen Pappkarton zermahlt – meiner Ansicht nach enthielt er Druckerpapier. Dieser Kuh allerdings gibt Mosebach tatsächlich ein symbolisches Doppelleben, indem er sich vorstellt, wie sie durch nichts als ihre kauende Real-Präsenz jede deutsche Talkshow sprengen würde; eine Passage, die dem Publikum immer besonders gefiel, der ich aber die Kaminszene vorziehe.
Was uns all diese Miniaturen zeigen, kleine hängende Gärten über dem epischen Strom der Erzählung, ist eine der bemerkenswertesten Fähigkeiten dieses Autors. Mosebach macht aus Kleinem etwas Großes. Jeder hat schon Ameisen, Katzen, Schildkröten oder sogar Kakadus betrachtet oder beobachtet, aber eben nicht mit dieser Versenkung, Hingabe, Konzentration und Geduld. Mosebachs Qualität ist diese erzählerische Geduld. Natürlich muß er das, was er so genau beobachtet, dann noch in die, wie es bei Proust heißt, Ringe eines schönen Stils einschließen; denn ohne sprachlichen Reiz hilft alles Beobachtete nicht und wird die Genauigkeit zur Pedanterie. Das ist Mosebachs geringstes Problem; seine Sprache ist ein farbiges Fest, in dem man sich keine Minute langweilt, perfekt rhythmisiert und entgegen allen Vorurteilen so uneitel und ungespreizt wie nur möglich, ganz nah beim Gesprochenen, hochmusikalisch, bilderreich und die Funken des Komischen noch aus dem unscheinbarsten Kiesel schlagend.
[...]
SINN UND FORM 1/2013, S. 127-134
- 6/2017 | Herzweitwürfe. Peter Sloterdijk als Stilist und Diarist
Maaß, Ekkehard
- 6/2021 | »Stoppt den tödlichen Text!« Über Giwi Margwelaschwili
Mabanckou, Alain
- 1/2017 | »Lettres noires«. Afrikanische Literaturen heute
Mac Intyre, Tom
- 1/1978 | Hengste
MacDiarmid, Hugh
Machlitt, Manfred
- 1/1991 | ...gegen Harmonie sich Sträubendes. Im Gespräch mit Paul-Heinz Dittrich
Macias, Sergio
- 2/1977 | Gedichte aus Chile
Madzirov, Nikola
Maercker, Wolfgang
- 5/1982 | Gedichte aus der DDR
Maeß, Emanuel
- 3/2017 | Werra und Wehr. Erinnerungen an Urspring
Maetzig, Kurt
- 1/1986 | Gespräch mit Günter Agde
Magenau, Jörg
- 2/2013 | »Wir versuchen, mit dem Chaos zu leben«. Gespräch mit Péter Nádas
- 3/2014 | Geschichte, durch die Blume betrachtet. Für Helga Schütz
Magris, Claudio
- 5/1994 | Die Stimmen
- 1/1999 | Marginalien zu einer Zeitenwende
- 3/2001 | Gespräch mit Wojciech Duda und Basil Kerski
- 3/2013 | Von der Manie zur Utopie. Zur Eröffnung der Eventi Letterari Monte Verità
Mahling, Peter
- 5/1969 | Aus meinem Dresdner Tagebuch
Mahnkopf, Claus-Steffen
Mahon, Derek
- 2/2001 | Eine Würdigung Becketts
Maier, Andreas
- 6/1999 | Aus einem Bericht des Bauern Seidel
Maimane, Arthur
- 2/1976 | Der hungrige Junge
Mainusch, Herbert
- 5-6/1958 | Zur Shakespeare-Übersetzung Rudolf Schallers
Maisch, Herbert
- 1-2-3/1957 | Stimmen der deutschen Bühne zum Tode Brechts
Majakowski, Wladimir
- 1/1949 | Ich selbst. Eine Autobiografie
- 2/1949 | Krieg und Welt
- 4/1951 | Dichter = Arbeiter
- 6/1951 | Der Jude
- 3-4/1953 | Christopher Kolumbus
- 6/1963 | Gedichte
- 5/1976 | Gedichte
Majakowskij, Wladimir
Majerová, Marie
- 4/1950 | Das Grab ist nicht stumm
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | An Arnold Zweig
- 3-4/1953 | Die Stadt im Zeichen des Feuers
Makanin, Wladimir
- 6/1996 | Der kaukasische Gefangene
Makovicky, Dusan
- 6/1978 | Bei Tolstoi
Maksimovic, Desanka
Malek, Natalia
- 2/2023 | Mehr Klage als Lob. Gedichte
Malkmus, Bernhard
- 5/2017 | Von der Freiheit unserer Lieder. Pinochets unbeugsamer Widersacher Raúl Zurita
- 6/2023 | Vom Ausrotten erzählen
Malkowski, Rainer
Mallet, Robert
- 3/1999 | Gespräch mit Paul Léautaud
Malraux, André
- 4/1978 | Gefangennahme und Befreiung
Maltz, Albert
Mamardaschwili, Merab
- 5/2009 | Der dritte Zustand. Rußland und das Ende des Kommunismus
Mammeri, Mouloud
- 1/1976 | Volksdichtung und Widerstand
Manass
- 2/1966 | Der Brief Kanykehs
Mandelstam, Ossip
Mándy, Iván
- 3/1993 | Ein Abend
Manea, Norman
- 1/1996 | Das Gutachten des Zensors
- 1/1996 | Gespräch mit Marta Petreu
- 5/1997 | Mondnächte
- 2/1998 | Gespräch mit Ilan Stavans
- 2/1999 | Nachwehen der Wahrheit. Anmerkungen zur Holocaust-Debatte
- 5/1999 | Die Aufzeichnungen von E. M. Cioran
- 3/2000 | Die Rückkehr des Hooligans
- 5/2001 | Bérenger am Bard
- 2/2003 | Anmerkungen zur exilierten Sprache
- 5/2006 | Verspätete Enthüllungen
- 1/2007 | Saul Steinberg - ein Dadaist?
- 3/2010 | Fünfzig Jahre Nouvelle Revue Française in Bukarest. Die Cioran-Noica-Debatte
- 6/2010 | Begegnung mit Cioran, S. 101 Leseprobe
Manea, Norman
Begegnung mit Cioran
Die Sprache ist die Plazenta des Schriftstellers, dieses Exilanten par excellence. Mehr als jeder »Fremde« im eigenen Land muß sich der Schriftsteller die Sprache langsam oder auch im Überschwang erobern; sie ist ihm Legitimation, geistige Heimstatt. Durch die Sprache fühlt er sich verwurzelt und frei, nur durch sie ist er mit seinen Gesprächspartnern in der ganzen Welt verbunden. Die Sprache verkörpert die wahre Staatsbürgerschaft, den Sinn der Zugehörigkeit – Haus und Vaterland des Schriftstellers. Aus diesem letzten und wichtigsten Zufluchtsort verbannt zu sein, führt zur brutalsten Verstörung, jener »vollständigen Verbrennung« (holo-kaustos), die den innersten Kern der Kreativität berührt.
Ich habe meinen Entschluß, die sozialistische »Strafkolonie« zu verlassen, viel zu lange hinausgezögert, denn ich war kindisch genug mir einzubilden, ich lebte nicht in einem Land, sondern einer Sprache.
Die Befreiung, dies wußte ich, würde die Freiheit selbst beschneiden. Im Dezember 1986 bestieg ich auf dem Bukarester Flughafen das Flugzeug nach Berlin in der Gewißheit, mich auf einen finsteren Handel eingelassen zu haben: Reisepaß gegen Sprache. Daß ich diesen dämonischen Tausch letztlich akzeptierte, sagt wohl genug über die Dringlichkeit, um jeden Preis aus dem »brennenden Bordell« herauszukommen, wie Cioran die Gegend nannte, die er zurückgelassen hatte, ohne ahnen zu können, wie die sozialistische Melange von Bordell, Zirkus und Gefängnis aussehen würde. Mein zweites Exil (diesmal mit fünfzig, nicht mit fünf, wie bei der Deportation nach Transnistrien) gab der Enteignung und dem Legitimationsverlust einen anderen Sinn. Zur Ehre, ein Heimatloser zu sein, kam der Fluch, als Schriftsteller verstummen zu müssen. Trotzdem hatte ich, wie eine Schnecke das Haus, die Sprache mitgenommen. Auch weiterhin würde sie mir erste und letzte Zuflucht sein, infantiler und unwandelbarer Ort des Überlebens.
Deutschland war meine erste sprachliche Heimstatt im Exil. 1987 erschien im Steidl Verlag mein erster im Westen veröffentlichter Prosaband »Roboterbiographie «. Damals hielt ich mich mit einem Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Westberlin auf. Die Reise ins Unbekannte hatte unter einem guten Stern begonnen. Das von Angst und Verstörung geprägte Trauma der Dislokation wurde etwas gemildert durch die Vertrautheit mit der deutschen Sprache, die in der ehemals habsburgischen Provinz Bukowina auch im Sozialismus unter meinen Freunden und denen meiner Eltern im verborgenen überlebt hatte. 1987 sollte ich begeistert entdecken, daß diese Sprache in mir nach langem Dämmerschlaf nur darauf wartete, wieder zu erwachen, und dies obwohl ich nur ein Jahr lang systematisch Deutsch gelernt hatte, 1946, in wenigen und längst vergessenen Privatstunden.
Immerhin, es kam auch zu lustigen Begebenheiten. Als meine Frau mich an einem der ersten Berliner Tage Sahne kaufen schickte, suchte ich auf den abenteuerlich bunten Bechern und Dosen des Supermarkts vergeblich nach der Aufschrift »Schmetten«. Schließlich fragte ich die Verkäuferin. Sie schaute mich ratlos an und begriff erst nach mehreren Erklärungsversuchen meinerseits, worum es sich handelte. »Aha, Sahne!« Der österreichische Regionalismus funktionierte in der deutschen Hauptstadt nicht.
Die literarische Konfrontation sollte später erfolgen, in Göttingen, wo ich mit dem Lektor des Steidl Verlags an der Fertigstellung der Übersetzung meines Buches arbeitete. Nachdem wir uns bis nach Mitternacht herumgeplagt hatten, um die bestmöglichen Entsprechungen zu finden, versuchte mich mein massiger Gesprächspartner zu trösten: »Man kann alles übersetzen, das dürfen Sie mir glauben! In Goethes Sprache findet alles seinen Platz! Alles, alles. Auch die ungewöhnlichsten und überraschendsten Sätze können übersetzt werden, das versichere ich Ihnen. Man braucht bloß Talent, Hingabe. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und gewiß auch Geld.«
Ja, Übersetzungen werden auf dem kapitalistischen Markt gewöhnlich schlecht bezahlt. Nicht jeder Schriftsteller kann – wie Günter Grass – den Übersetzern seiner Werke Arbeitstreffen und Erfahrungsaustausch bieten und dies auch finanziell absichern. Als ich erfreut mein erstes auf deutsch erschienenes Buch in Händen hielt, ahnte ich noch nicht, daß weitere folgen würden; auch daß meine Beziehung zu Rumänien nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur noch spannungsreicher würde und sich mein literarischer Status allmählich in den eines »übersetzten Schriftstellers« verwandeln sollte, konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.
Mein erster öffentlicher Auftritt in New York, im Herbst 1989, als die Explosion des Ostens alle Welt beschäftigte, fand bei einer Diskussion statt, die der amerikanische P.E.N. der rumänischen Literatur widmete und die »Das Wort als Waffe« überschrieben war. Den kämpferischen, der Tagesaktualität geschuldeten Ton mißachtend, sprach ich vom »Wort als Wunder«. Und ich beschrieb selbstverständlich auch den Julinachmittag 1945, an dem ich die fabelhaften volkstümlichen Geschichten des rumänischen Schriftstellers Ion Creangă entdeckt hatte.
Einige Tage darauf erhielt ich einen Brief von einer vornehmen Dame, einer Schriftstellerin und Übersetzerin rumänischen Ursprungs, die bei der Veranstaltung zugegen war. Sie wies mich auf antisemitische Texte und Ausdrücke des Schriftstellers hin. Ich kannte sie, kannte auch ähnliche Stellen bei anderen großen rumänischen Schriftstellern. Die deutsche Sprache war nicht nur die von Goethe und Schiller, sondern auch die der SS; das Rumänische des Caragiale und Bacovia war auch die Sprache von Zelea Codreanu, dem Căpitan der Eisernen Garde, und, in meiner Biographie, die Sprache der Liebe und Freundschaft, die Sprache, in der – selbst nach ihrem Tod – meine Eltern und Großeltern zu mir sprachen.
Nicht nur einmal hatte ich die Vorwürfe an jüdische Schriftsteller gehört, sie schrieben in der »Sprache ihrer Mörder«, oder an afrikanische Schriftsteller, sie schrieben in der »Sprache der Kolonialmacht«. Ich fühlte mich nicht schuldig, denn ich hatte meine Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht. Die Sprache erschafft und deckt den vergifteten Fluch ebenso wie die wundersame Metamorphose, den Kontrast zwischen der Trägheit des Geistes und dem kreativen Gedankenblitz. Der Körper der Kunst enthält Eiterherde, um so rätselhafter und wohltuender erscheint uns das Wundersame, in das sie sich verwandeln. Baudelaires »Blumen des Bösen« verweisen wie die »Schimmelblüten« des rumänischen Dichters Tudor Arghezi schon im Titel auf diese unbegreifliche Transzendierung.
Das Wunder des Wortes, von dem ich 1989 in New York sprach, bezog sich auf meine Muttersprache, nicht auf die neue Sprache, in die ich eingewandert war. Die Wunder dieser Sprache waren dem späten Schiffbrüchigen unzugänglich.[...]
SINN UND FORM 6/2010, S. 725-738 - 6/2012 | Eine andere Genealogie
- 1/2017 | Exil und Kreativität
Manger, Itzik
Manguel, Alberto
Mann, Erika
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | T. M.
- 1/1987 | Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg
Mann, Frido
- 3/2009 | Gespräch mit Adelbert Reif
Mann, Heinrich
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
- 3/1950 | Der Louvre
- 5/1951 | Fröhlicher Dienst
- 1/1952 | Das große Beispiel
- 4/1956 | Die Lebenden
- 2/1958 | Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen. Outline des Fragment gebliebenen Werkes
- 3/1958 | Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen. Des Fragments zweiter Teil
- 5-6/1958 | Max Reinhardt
- 2/1961 | Maxim Gorki
- 5-6/1961 | Fünf Briefe an Thomas Mann
- 1/1963 | Fantasien über meine Vaterstadt L.
- 4/1964 | Das Friedenstreffen
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Testament des Senators Thomas Johann Heinrich Mann
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Testamentsentwürfe des Senators Thomas Johann Heinrich Mann
- 2/1966 | Johannes R. Becher, Heinrich Mann: Briefwechsel
- 2/1971 | La verité est en marche. Unveröffentlichtes aus dem literarischen Nachlaß
- 2/1973 | Das überstieg mein Maß
- 1/1975 | Heinrich Mann an Klaus Mann
- 2/1976 | Unveröffentlichte Briefe
- 3/1980 | Vier Briefe an Ludwig Ewers
- 2/1981 | Ein Zeugnis Frankreichs: Das Schweigen des Meeres
- 4/1991 | Briefwechsel (Johannes R. Becher)
- 6/1996 | Briefe (an Félix Bertaux)
Mann, Joachim Siegmund
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Beschreibung einer Reise
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Skizzen aus dem Leben
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Anhang zur Familienbibel
Mann, Julia
- 2-3/1963 | Tante Elisabeth. Briefe an Thomas Mann
Mann, Klaus
- 1/1987 | Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg
- 3/2010 | Herbert Schlüter, Klaus Mann. Briefwechsel 1933-1949
Mann, Thomas
- 5/1953 | Tolstoi
- 5-6/1954 | Versuch über Tschechow
- 3/1955 | Aus »Versuch über Schiller«
- 5/1955 | Briefwechsel mit Thomas Mann
- 5/1964 | Briefwechsel Bertolt Brecht - Thomas Mann
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Hanns Eisler/Thomas Mann. Briefwechsel über »Faustus«
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann an Pia Razgha
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann im »Deutschen Volksecho«: Thomas Mann spricht für Spanien
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann im »Deutschen Volksecho«: Thomas Manns Rede zum New Yorker »Deutschen Tag«
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann an Peter Hacks
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann im »Deutschen Volksecho«: Thomas Mann an das Volksecho
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Testament des Senators Thomas Johann Heinrich Mann
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Testamentsentwürfe des Senators Thomas Johann Heinrich Mann
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Briefe an Willi Bredel
- 4/1967 | Briefe an Heinrich Mann
- 2/1970 | Was wir verlangen müssen
- 3/1975 | An Alexei Tolstoi
- 3/1975 | Warum Hitler nicht siegen kann
- 2/1976 | Unveröffentlichte Briefe
- 2/1978 | Aus den Tagebüchern
- 3/1983 | Aus den Tagebüchern
Mann, Thomas Johann Heinrich
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Testament des Senators Thomas Johann Heinrich Mann
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Dokumente zur Geschichte der Familie Mann. Testamentsentwürfe des Senators Thomas Johann Heinrich Mann
Manns, Patricio
- 2/1977 | Gedichte aus Chile
Mar, Naum
- 5/1977 | Besuch bei Konstantin Fedin
Márai, Sándor
Marcenac, Jean
- 2/1962 | Gruß an Pablo Picasso
Marchwitza, Hans
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 6/1963 | Die Waisenkinder
Marcinkevicius, Justinas
Marcks, Gerhard
- 2/1989 | Briefe an Hartwig Hamer
- 4/2007 | Gerhard Marcks, Karl Scheffler. Briefwechsel. Mit einer Vorbemerkung von Ernst Braun
Marcuse, Herbert
- 1/1950 | Existentialismus. Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres »L'Etre et le Néant«
Margalit, Avishai
- 3/1994 | Propheten, die etwas gelten
Margwelaschwili, Giwi
- 4/1995 | Verlautbarungen der Versweltverwaltung
- 5/2009 | Philosophie in Aktion. Über Merab Mamardaschwili
- 5/2015 | Eine Völkerfriedensstiftung. Mit einer Vorbemerkung von Jörg Sundermeier
- 6/2021 | Der Polyp Polymat
Marin, Luis Munoz
- 2/1951 | Lateinamerikanische Lyrik
Markov, Georgi
- 3/2013 | Zwei Erzählreportagen
- 5/2015 | Als Stalin starb
- 1/2016 | Mit neuem Kredit auf dem Konto der Zukunft. Eine nachgelassene Betrachtung zum neuen Jahr
Markov, Walter
- 2/1950 | Zur Krise der deutschen Geschichtsschreibung
- 1/1989 | Gespräch mit Thomas Grimm
- 1/1989 | Beim Schreiben einer Biographie
Markovic, Milena
- 4/2012 | Gedichte
Marquard, Odo
- 6/1992 | Gespräch mit Steffen Dietzsch
- 5/2010 | Gespräch mit Jochen Rack. Über das Alter (2004), S. 949 Leseprobe
Marquard, Odo
Gespräch mit Jochen Rack. Über das Alter (2004)
JOCHEN RACK: Sie haben in Ihren philosophischen Essays immer wieder betont, daß Erfahrung für die Philosophie unersetzlich sei. Sie sind jetzt 76 und insofern durchaus qualifiziert, über das Altern zu sprechen. Wann beginnt es eigentlich?
ODO MARQUARD: Man sagt, normalerweise um die fünfzig, aber für mich ist das kein Einschnitt gewesen. Der erste Einschnitt kam schon mit 28, als ich anfing, über mein Leben nachzudenken, ein anderer war natürlich die Emeritierung mit 65. Ich habe drei Jahre vor der Zeit aufgehört, weil ich mir sagte, es wird nicht lange dauern, bis ich sterbe, und dann habe ich wenigstens vom Ruhestand noch was gehabt. Außerdem gibt es so viele gute junge Leute, die nur darauf brennen weiterzukommen. Etwa mit siebzig erfuhr ich, daß ich Altersdiabetes habe. Ich brauche zwar nicht zu spritzen – das läßt sich mit Pillen beherrschen –, aber es waren Signale, die mir zeigten, daß es nicht mehr lange weitergehen würde. Und nun bin ich ganz überrascht, daß ich schon elf Jahre im Ruhestand bin. Ich habe mich eingerichtet und mache jetzt, was ich immer gemacht habe, nur intensiver, nämlich schreiben. Das Alter bringt Probleme, aber auch Erleichterungen, und die Konzentration aufs Schriftstellerische ist sicher eine Erleichterung. Ich muß keinen Verwaltungskram und auch keine Vorlesungen mehr machen. Das waren ja keine leichten Aufgaben, im Gegenteil. Mit 65 hatte ich das Gefühl: endlich hast du gelernt, wie man Vorlesungen macht, und jetzt hörst du auf. Auch das ist ein Problem des Alters.
RACK: Sie sagten, mit 28 sei Ihnen dieses Problem zum ersten Mal aufgegangen. Das erinnert mich an Montaignes Ausspruch, philosophieren lernen heißt sterben lernen. Ist denn der Philosoph zur Pflege dieses Endlichkeitsbewußtseins besonders disponiert und erlebt er den Schock des Alters so gesehen vielleicht weniger stark?
MARQUARD: Möglicherweise ja. Montaigne sagte übrigens, Philosophieren ist sterben lernen. Aber das hat er von Platon. Ob die Philosophie an sich eine gewisse Nähe zum Alter hat? Ich würde sagen, ja, aber das trifft nicht für jede Philosophie zu. Für die analytischen Philosophen insbesondere aus dem angelsächsischen Bereich gilt das wohl eher nicht, die betonen mehr das Formale, das, was man in der Jugend macht. Ernst Tugendhat, der aus dieser Richtung kommt, ist deswegen eine interessante Ausnahme, weil er fragt, wie man diese Philosophie mit dem Sterbenlernen verbinden kann.
RACK: Platons Staatstheorie, die »Politeia«, beginnt mit einem Gespräch zwischen Sokrates und einem älteren Mann. Dieser Kephalos meint, philosophisch denken könne man erst mit fünfzig. Es scheint so zu sein, daß Philosophie mit Erfahrung verknüpft ist, insbesondere mit der Erfahrung des Alters.
MARQUARD: Aristoteles argumentierte ähnlich, aber nicht mit Bezug auf die Philosophie im allgemeinen, sondern auf die Ethik. Er meinte, erst ab vierzig könne man ethisch verantwortlich handeln, eine Position, die mir auch sehr nahe ist. Daß sie in unserer modernen Welt kein Gehör mehr findet, geht in gewisser Hinsicht auf Kant zurück. Die Grundnorm des kategorischen Imperativs gilt a priori, und a priori heißt unabhängig von aller Erfahrung. Doch wie ist Ethik ohne Lebenserfahrung möglich?
RACK: Diese Bewegung weg von der Erfahrung ist zugleich ein Aufbruch in die Moderne. Die damit verbundene Beschleunigung sowie der allgemeine Fortschrittsglaube scheinen die traditionelle Vorstellung vom Alter verändert und seine Wertschätzung verringert zu haben.
MARQUARD: Ich glaube, daß diese Diagnose der modernen Welt zwar richtig, aber unvollständig ist. Wir halten die Beschleunigung des Fortschritts und den ständigen Wechsel nicht aus, sondern brauchen als Gegengewicht eine Kultur der Kontinuität. Es wird immer mehr weggeworfen, weil etwas Neues kommt, aber es wird auch immer mehr aufbewahrt: in Museen, Büchern, anderen Medien. Während die harten Wissenschaften darauf aus sind, alles immer besser und immer neu zu machen, sammeln die Geisteswissenschaften das Ausrangierte und halten es präsent. Ich nenne das Kompensation.
RACK: In der Alterserfahrung sind eben lebensweltliche Geschichten aufgehoben, die angesichts von Rationalisierung und immer rasanterem Fortschritt Orientierung bieten. Wir wollen uns aber jetzt keine Illusionen machen und das Alter ausschließlich als Ressource von Weisheit sehen. Die Wertschätzung des Alters, die Sie einfordern, haben wir im Augenblick nicht, Frank Schirrmacher spricht sogar von Altersrassismus.
MARQUARD: Ich habe etwas gegen Versuche, die Nützlichkeit des Alters zu beweisen – da sieht man gleich den erhobenen Zeigefinger. Ich versuche mir an mir selber klarzumachen, was am Alter Elend und was Kompensation des Elends ist. Mein Lehrer Johann Ritter sprach in einem Aufsatz vom »Alter als Elend und Bürde«.
RACK: Aber er hat auf ein wichtiges Problem hingewiesen, nämlich daß Alte deshalb abgewertet werden, weil sie aus dem Arbeitsprozeß herausfallen und weil unsere Gesellschaft zwischen Berufstätigkeit und Rente einen Schnitt macht. Simone de Beauvoir hat Ritters These weiter zugespitzt. In ihrem Buch über das Alter schrieb sie, der Umstand, daß ein Mensch in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren seines Lebens nur noch Ausschuß ist, offenbare das Scheitern unserer Zivilisation.
MARQUARD: Das stimmt wohl nicht so ganz, so negativ sehe ich die Sache nicht. Im Alter wird man theoriefähig, man entwickelt eine besondere Fähigkeit zu sehen, was ist, weil man nicht mehr durch die Zukunft korrumpiert wird. Natürlich gibt es da nicht bloß Erfreuliches zu berichten, aber man gewinnt zumindest einen Überblick.
RACK: Kommen wir noch einmal auf die Kränkungen des Alters zurück, die körperliche Seite. Vor zwei Jahren hatten Sie einen Schlaganfall. Wie ist es Ihnen damit ergangen?
MARQUARD: Ich sage jetzt mal was Provozierendes. Natürlich hat ein Schlaganfall, den man einigermaßen heil übersteht, auch sein Gutes: Früher mußte ich immer überlegen, mit welcher Begründung ich die wöchentlich eingehenden Vortragsanfragen absage. Plötzlich wurde das ganz einfach. Man sagt: Ich hatte einen Schlaganfall und muß jetzt kürzertreten, ich bitte um Ihr Verständnis. Und schon ist man die Sache los. So gewinnt man unglaublich viel Zeit, auch zum Nachdenken. Ich hatte nach meinem Schlaganfall keine Lähmungen, sondern eine Aphasie und mußte zum Logopäden. Ich hatte Schwierigkeiten, mich in der jeweiligen Situation auszudrücken, weil mir bestimmte Worte nicht einfielen, und mußte eine Art Slalomtechnik entwickeln, um diese Worte zu umgehen und sie durch andere zu ersetzen. Wenn man das einmal gelernt hat, merken es die anderen kaum noch. Ich spreche heute langsamer als früher und habe sogar ein gewisses Vergnügen daran, diesen Slalom zu beherrschen. Vielleicht geht es Skifahrern genauso. Mein erster Gedanke nach dem Schlaganfall war: Meine Eltern und Großeltern sind daran gestorben, es wird wohl nicht mehr lange dauern. Das war aber eher eine nüchterne Feststellung und weckte keine besondere Angst bei mir.
RACK: Weshalb wird in unserer Gesellschaft das Alter so wenig anerkannt? Hängt das damit zusammen, daß wir den Tod nicht mehr so leicht in unser Weltbild integrieren können wie unsere religiös geprägten Eltern, die noch eine gewisse metaphysische Gewißheit hatten?
MARQUARD: Da ist sicher etwas dran. Aber ich bin auch der Meinung, daß die Zeit der aufgeklärten Moderne, die mit Religion nichts anfangen konnte, schon wieder vorbei ist. Es kommt zu einer Wiederkehr der Religionen und damit auch zu einer Öffnung für Jenseitsvorstellungen. Ich persönlich finde immer mehr Geschmack an den institutionellen Seiten der Religion, habe aber als Philosoph Schwierigkeiten mit bestimmten Sachen, beispielsweise mit dem Jenseits, mit dem Leben nach dem Tode. Ich gehöre nämlich zu den Leuten, die Auferweckungen fast nur negativ erfahren. Schon die Vorstellung, morgens oder nach dem Mittagsschlaf das Bett zu verlassen, ist bei mir negativ belegt. Wenn der liebe Gott es gut mit mir meint, wird er mir die Auferweckung im Jenseits vielleicht ersparen und mich schlafen lassen.
RACK: Der Schlaf als Bruder des Todes ist allerdings eine antike Vorstellung und keine christliche.
MARQUARD: Das stimmt.
RACK: Mit dem Tod beschäftigte sich auch ein Philosoph, dessen Denken im Widerspruch zu Ihrem steht: Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung. Für ihn war der Tod die letzte vorstellbare Utopie, ein Übergang, ein Aufbruch ins Ungewisse. Können Sie damit etwas anfangen?
MARQUARD: Ich kann viele philosophische Positionen nachvollziehen. Das bedeutet aber nicht, daß ich sie akzeptiere oder daß sie mir sympathisch sind. Blochs Prinzip Hoffnung ist für mich das Prinzip Unbelehrbarkeit. Ich halte schon den Ansatz seiner Philosophie für falsch.
RACK: Unser Denken über den Tod muß doch zwangsläufig spekulativ bleiben, weil kein Toter je zurückgekehrt ist, um davon zu berichten.
MARQUARD: Sicher, aber es gefällt mir nicht, den Tod im Sinne einer Utopie zu interpretieren. Vielleicht gehört Bloch zu jenen alten Philosophen, die im Kontakt mit Jungen noch einmal jung sein wollen. Ich nenne sie die Revoltiergreise. Marcuse war wohl auch so einer. Die Großelternrolle besteht unter anderem darin, Kindern Süßigkeiten zu geben. Wenn die Kinder größer sind, bekommen sie statt dessen süße Theorien. Das scheint mir bei Bloch und bei Marcuse das Problem zu sein.
RACK: Sie sprachen eben von der Illusionsresistenz des Alters. Das heißt doch auch, Sie wehren sich gegen die Vorstellung des Alters als Vollendung. Bei Bloch ist von »Reife«, »Weinlese« und »Kälte« die Rede, er hat die Vorstellung eines Lebenslaufes, der sich runden kann.
MARQUARD: Schön wäre es, aber ich habe meine Zweifel. Vom runden Leben ist es nicht weit zur runden Philosophie. Lieber mehrere Dinge verfolgen, die vielleicht nicht zusammenpassen, als unbedingt etwas Rundes schaffen wollen.
RACK: Das ist doch eine Zumutung für den einzelnen.
MARQUARD: Natürlich. Aber ich möchte weitergeben, wie für mich das Alter aussieht.
RACK: Das wäre ein Plädoyer für Bescheidenheit, dafür, das eigene Leben als etwas Unfertiges anzunehmen, wozu auch Scheitern und Abbrechen gehören.
MARQUARD: Man sollte davon Abstand nehmen, das Lebensende als Ziel zu betrachten. Es ist mehr Ende als Ziel.
SINN UND FORM 5/2010, S. 611-614
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März, Ursula
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Materni, Undine
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Matic, Dusan
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Matke, Fritz
- 3/1973 | Marginale zu Eduard Engel
Matt, Peter von
- 1/2008 | Zur Dramaturgie der Dummheit in der Literatur
- 2/2009 | Selbstvorstellung, S. 282 Leseprobe
von Matt, Peter
Selbstvorstellung. Akademie der Künste
Meine Damen und Herren,
in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, andererseits die größte Einheit in einem Werk. Nach vielen Jahrzehnten professionellen Lesens bin ich zur Überzeugung gelangt, daß sich die Literatur wesentlich im einzelnen Satz verwirklicht. Das zeigt sich an einem merkwürdigen Phänomen. Wenn ein Buch etwas taugt, stößt man in ihm von Zeit zu Zeit auf einen Satz, der den Zusammenhang, in dem er steht, übersteigt. Aus dem Schreiben eines größeren Ganzen heraus geboren, ist er doch ein Ding für sich, ein philosophisches und poetisches Ereignis, das man erlebt und untersuchen kann, als stünde es ganz allein zwischen zwei Buchdeckeln. Ich notiere mir das jeweils auf dem hinteren Schutzblatt: »S. 127 Satz«. Und wenn ich das Buch später wieder in die Hand nehme, schlage ich zuerst diese Sätze nach und freue mich über die Wiederbegegnung. In einem solchen Satz kann sich das Denken und Erfahren des Autors beispielhaft verdichten. Es kann aber auch sein, daß der Satz dieses ganze Denken und Erfahren zischend übersteigt, als würde eine Rakete aus der Prosa fahren. In Rezensionen werden solche Sätze nie erwähnt. Die Rezensionen schauen immer auf das Ganze, beschreiben das Ganze, bewerten das Ganze, als ob nur das Ganze die Wahrheit wäre. Es ist aber ein Aspekt unter andern.
Wissenschaftlich sind diese Sätze heikel. Ich erlebe sie als Solitäre. Darf ich sie aber von der Figur trennen, die sie ausspricht, vom erzählten Moment, in dem sie fallen? Natürlich darf ich. Ob ich die Teile eines Romans für so miteinander verwachsen halte wie die Organe eines Körpers oder aber für so zufällig zusammengeschüttelt wie die Glassplitter im Kaleidoskop, das ist je eine Optik, die zu wählen ich frei bin, und je nachdem sieht das Werk anders aus.
Das Paradebeispiel ist für mich der Satz, den die schöne Philine gegenüber Wilhelm Meister äußert, als dieser sie auffordert, zu ihm auf größere Distanz zu gehen. Wilhelm erklärt feierlich: »Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben.« Sie lacht ihm ins Gesicht, meint, sie denke nicht daran, und sagt dann: »Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«
»Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?« – Natürlich kann ich diesen Satz benützen, um eine der zauberhaftesten Frauen der deutschen Literatur psychologisch zu ergründen. Aber er reicht über ein Charaktersymptom weit hinaus. In den zehn Worten steckt eine ganze Liebestheorie. Die zehn Worte antworten auf die Menschheitsfrage, was die Liebe sei, in der vielleicht verblüffendsten Weise. Und sie sind Literatur, ein aufstrahlendes Ereignis der Literatur. Inwiefern? Sie lösen ein Rätsel mit einem neuen Rätsel. Das nämlich macht die Literatur aus, und das hat sie heute noch mit den ältesten Orakeln gemein.
Gerne hätte ich jetzt in meiner Bibliothek gewühlt und wahllos Stellen zusammengetragen, zu denen ich einmal hinten ins Buch geschrieben habe: »Satz!« Auch wäre es wohl aufschlußreich, wem von Ihnen welche Sätze bekannt und vertraut sind, wem sie ebenfalls einmal aus dem Text heraus entgegengesprungen sind. Aber zu solchen Spielen sind Sie nicht hergekommen.
Ganz konnte ich es allerdings doch nicht lassen. Zwei, drei Fälle wollte ich doch den Zufall finden lassen. Ich griff mir einen Roman von Jeremias Gotthelf heraus, aus Trotz, weil den gewaltigen Erzähler in Deutschland niemand lesen will. Da stand tatsächlich auf dem Innendeckel: »S. 310 Satz!«. Ich blätterte und las: »Wir hätten eine Saunatur, sagte er, es verleide einem, Mensch zu sein.« »Wir hätten eine Saunatur «, das kann jeder sagen; das andere aber, »es verleide einem, Mensch zu sein«, dazu braucht es mehr, einen Kopf von Rang und gefährlichem Witz. Man glaubt, es habe von fern gedonnert. Und wenn man darüber nachdenkt, werden die paar Worte immer unheimlicher.
Darauf griff ich zu Gottfried Keller, [...]
SINN UND FORM 2/2009, S. 282-284
- 2/2010 | Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken, S. 282 Leseprobe
von Matt, Peter
Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken
Faust, der bekannte Doktor, hat etwas gegen die Bücher. Karl Moor, der bekannte Räuber, hat etwas gegen die Tinte. Zwar wurde diese doppelte Abneigung sorgsam mit Tinte festgehalten und in Büchern gedruckt, aber das hinderte die beiden leidenschaftlichen Kulturrevolutionäre nicht an ihrer Verwerfung alles beschriebenen Papiers. Es teilt den schlechten Ruf von Tinte und Buch. Wie die Tinte als kalter Gegensatz zum heißen Blut gehandelt wird, so gilt das Papier als Gegensatz zu allem Lebendigen, »papieren« ist im Deutschen ein Schimpfwort. Als wäre es nicht die spirituellste Materie überhaupt. In seiner Privatbibliothek berserkert Faust wie ein Verdammter gegen die hohen Bücherwände, die Papierrollen, die Pergamente, und er atmet erst auf, als er das Fläschchen mit dem braunen Gift erblickt. Durch den Selbstmord will er den Büchern endlich entkommen.
In Fausts Suizid, der nur durch einen Zufall verhindert wird, ist insgeheim auch die Parallelaktion versteckt, die Vernichtung der Bücher. Statt sich zu töten, könnte er auch das ganze bedruckte und gebundene Papier verbrennen. Denn Faust bestreitet unumwunden den Nutzen aller Bücher. Um das Elend seiner Lage zu verdeutlichen, in der das bedruckte Papier ihm den Zugang zur göttlichen Mitte der Welt versperrt, vergleicht er sich mit einem Wurm, der im Staube kriecht und jederzeit zertreten werden kann:
Den Göttern gleich’ ich nicht! zu tief ist es gefühlt;
Dem Wurme gleich’ ich, der den Staub durchwühlt,
Den, wie er sich im Staube nährend lebt,
Des Wandrers Tritt vernichtet und begräbt. (V. 652–655)
Das ist eine recht konventionelle Rhetorik, die wütende Selbsterniedrigung eines narzißtisch Gekränkten. Aber anschließend wird die Metapher von Faust realisiert. Er blickt die Bücherwände hoch und erkennt: Das ist tatsächlich Staub, alles ist nur Staub; ich lebe nicht metaphorisch darin, sondern leibhaftig:
Ist es nicht Staub, was diese hohe Wand
Aus hundert Fächern mir verenget?
Der Trödel, der mit tausendfachem Tand
In dieser Mottenwelt mich dränget? (V. 656–659)
Das ist die Verdammung des Papiers als des Nichtigen schlechthin und damit auch die Verdammung alles dessen, was darauf mit Druckerschwärze festgehalten wird. Faust beschimpft den in seinen Augen niedrigsten Stoff der Welt, und was darin lebt, der Wurm, ist das kläglichste aller Lebewesen. Diese radikalste Entwertung der Bibliothek durch einen Universitätsprofessor wird abschließend auch inhaltlich auf den Punkt gebracht:
Hier soll ich finden, was mir fehlt?
Soll ich vielleicht in tausend Büchern lesen,
Daß überall die Menschen sich gequält,
Daß hie und da ein Glücklicher gewesen? – (V. 660–663)
Der Moment ist dramatisch. Da wird eine einzige Erkenntnis der Summe des Wissens gegenübergestellt, das in einer Bibliothek enthalten sein kann. Nur auf diese Erkenntnis kommt es an, und für sie braucht es die Bücher nicht. Zu wissen gilt allein, daß die Menschen sich immer selbst und gegenseitig quälen und das Glück ein Zufall ist. Wer sich dessen bewußt ist, weiß genug, um richtig handeln zu können; wem das nicht klar ist, dem nützen die schwersten Folianten nichts.
Diese pauschale Verwerfung des Weltwissens hat Tradition. Die Religionen neigen dazu, die Gläubigen aller Schattierungen. Der erste Korintherbrief vollzieht den Akt in aller Schärfe, indem er die Dialektik von Torheit und Weisheit entwickelt. Die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott, die Torheit dieser Welt ist Weisheit vor Gott. Dieser mörderischen Alternative gegenüber verflüchtigen sich Philosophie und Wissenschaft wie ein Rauch. Der Heilige Paulus wörtlich: »Wo bleibt da ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo ein Wortführer dieser Weltzeit? Hat Gott nicht die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?« (1. Korinther 1,20) Und der Apostel hätte ohne weiteres anfügen können: »Wo bleiben da die Bibliotheken?«
Daß dieser Gedanke für die streng Gläubigen schon immer in der Luft lag, bezeugt die Anekdote über den Untergang der Bibliothek von Alexandria. Dort waren das gesamte Wissen und die ganze Literatur der Antike versammelt. Ihre Vernichtung beschäftigt die Menschheit bis auf den heutigen Tag, so sehr, daß die tatsächlichen historischen Ereignisse hinter den vielen bunten Überlieferungen gar nicht mehr zu erkennen sind. Im berühmtesten dieser Berichte wird erzählt, daß der Kalif Umar im Jahre 642 gesagt habe: »Wenn in diesen Büchern das gleiche steht wie im Koran, dann braucht es sie nicht, und wenn darin etwas anderes steht als im Koran, dann braucht es sie erst recht nicht.« Daraufhin wurden die Gebäude abgefackelt. Der Bericht ist eine Erfindung des Mittelalters. Aber es ist eine gute Geschichte, denn sie belegt die Vorstellung, daß alles Wissen des Logos belanglos sei gegenüber einem einzigen Wort des Mythos. Diese Vorstellung wird nie ganz von unserem Planeten verschwinden. Hinter den vielen Phantasien von einer absoluten Bibliothek steckt sie ebenso wie hinter den Vorstellungen von deren Ruin. In der legendären »Bibliothek von Babel«, die Jorge Luis Borges 1941 beschrieben hat und die alle überhaupt möglichen Kombinationen von 23 Buchstaben und zwei Satzzeichen enthält, in Büchern von je 110 Seiten, fällt das Phantasma der totalen Bibliothek sogar zusammen mit dem Phantasma ihrer Vernichtung. Denn in diesem Ozean von Büchern wären die sinnvollen und für einen Leser zugänglichen Werke unter den abstrusen Kombinationen gar nicht aufzufinden – obwohl alle sinnvollen Bücher, die die Menschheit hervorzubringen überhaupt im Stande ist, also auch alles zukünftige Wissen, in der Bibliothek von Babel irgendwo vorhanden sein müßten. Die Summe der Erkenntnis ist offenbar nur um den Preis ihrer Zerstörung zu haben.
[…]
SINN UND FORM 2/2010, S. 160-168
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- 5/2017 | »Ich gehe immer von Konflikten aus«. Ein Gespräch mit Sieglinde Geisel über genaues Lesen und das Schreiben über Literatur
Mattenklott, Gert
- 3/1995 | Hundert Jahre Jünger
- 4/1996 | Nietzsche und die Ästhetik der Verzauberung
- 2/1997 | Hans Mayer - Plädoyer als Form
- 1/2002 | Kunstreligion
Mattheuer-Neustädt, Ursula
- 2/1987 | Notizen über W.M. und das Bildermachen
Matthews, James
- 3/1981 | [Dichtung unter der Apartheid] Man sagt
Matthias, L. L.
- 1-2/1965 | Frustration
Matthies, Frank-Wolf
- 6/1976 | Gedichte
Matthus, Siegfried
- 1/1976 | Laudate Pacem
- 4/1978 | Hildesheimers Mozart
- 6/1978 | Gesprächsprotokolle
- 6/1979 | Paul Dessau zum Gedenken
- 4/1984 | Gespräch mit Gerald Felber, Joachim Werzlau und Reiner Bredemeyer
- 5/1986 | Fritz Cremer zum Achtzigsten
Matusche, Alfred
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Van Gogh
- 1/1968 | Der Regenwettermann
- 3/1971 | An beiden Ufern
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Matywiecki, Piotr
- 3/2020 | Der Tag des Fegefeuers ist gekommen. Gedichte
Matz, Wolfgang
- 5/1982 | Gedichte aus der DDR
- 1/1996 | Die Cahiers von Simone Weil
- 4/2000 | »Adrienne, c'est moi«. Julien Green und sein frühes Meisterwerk »Adrienne Mesurat«
- 1/2017 | Unter dem Himmel und zwischen den Steinen. Erinnerung an Yves Bonnefoy
- 2/2023 | »Schreiben heißt ja wiederfinden«. Über Barbara Honigmann
Matzke, Wolfgang
- 5/1982 | Gedichte aus der DDR
Maugham, William Somerset
- 2/2013 | Betrachtungen über ein gewisses Buch. Kants »Kritik der Urteilskraft«, S. 237 Leseprobe
Maugham, William Somerset
BETRACHTUNGEN ÜBER EIN GEWISSES BUCH Kants »Kritik der Urteilskraft»
I.
Pünktlich um fünf vor fünf wurde Professor Kant von seinem Diener Lampe geweckt, und um fünf setzte er sich, angetan mit Pantoffeln, Morgenrock und Nachtmütze, über welcher er seinen Dreispitz trug, in sein Studierzimmer zum Frühstück. Dies bestand aus einer Tasse dünnen Tees und einer Tabakspfeife. Die folgenden zwei Stunden beschäftigte er sich mit der Vorlesung, die er an diesem Morgen halten würde. Dann kleidete er sich an. Der Hörsaal befand sich im Erdgeschoß seines Hauses. Er las von sieben bis neun, und seine Vorlesungen waren so beliebt, daß jemand, der einen guten Platz ergattern wollte, schon um halb sieben dort sein mußte. Kant, der hinter einem kleinen Pult saß, sprach im Plauderton, mit leiser Stimme und beinahe ohne unterstreichende Gesten, doch lockerte er seinen Vortrag durch Humor und zahlreiche Erläuterungen auf. Seine Absicht lag darin, die Studenten das Selbstdenken zu lehren, und er schätzte es gar nicht, wenn sie voller Eifer mit ihren Federkielen jedes seiner Worte zu Papier brachten. »Meine Herren, kratzen Sie nicht so herum«, sagte er einmal, »ich bin kein Prophet.«
Er hatte die Angewohnheit, den Blick auf einen Studenten in seiner Nähe zu heften und aus dessen Miene zu schließen, ob dieser das Gesagte verstanden hatte oder nicht. Aber schon eine Kleinigkeit vermochte ihn zu verwirren. Einmal verlor er den Faden seiner Rede, weil am Rock eines seiner Studenten ein Knopf fehlte, und ein anderes Mal, als ein müder junger Mann fortwährend gähnte, hielt er inne und sagte: »Wenn man schon nicht umhinkann zu gähnen, so würden es die guten Sitten zumindest erfordern, die Hand vor den Mund zu halten.«
Um neun Uhr kehrte Kant in sein Zimmer zurück, zog wiederum Morgenrock, Nachtmütze, Dreispitz und Pantoffeln an und arbeitete bis exakt Viertel vor eins. Dann rief er nach unten zu seiner Köchin, teilte ihr die Zeit mit und ging wieder in sein Studierzimmer, um die Gäste zu empfangen, die er zum Mittagstisch erwartete. Er konnte es nicht ertragen, allein zu essen. Und es ist überliefert, daß er, als er einmal niemanden hatte, der ihm Gesellschaft hätte leisten können, seinem Diener auftrug, auf die Straße zu gehen und den Erstbesten mitzubringen, den er finden konnte. Von seiner Köchin wie von seinen Gästen erwartete er, daß sie pünktlich waren. Er hatte die Angewohnheit, diese stets an dem Tag einzuladen, an dem er sie empfangen wollte, damit sie nicht in Versuchung gerieten, eine früher getroffene Verabredung abzusagen, um mit ihm speisen zu können. Und obwohl ein gewisser Professor Kraus eine Zeitlang jeden Tag außer sonntags mit ihm zu Mittag speiste, versäumte er es niemals, ihm jeden Morgen eine Einladung zu schicken.
Sobald die Gäste versammelt waren, wies Kant seinen Diener an, das Essen aufzutragen, während er selbst losging, um die Silberlöffel zu holen, die er zusammen mit seinem Geld in einem Schreibpult im Empfangsraum verschlossen hielt. Die Gesellschaft nahm im Speisezimmer Platz, und mit den Worten: »Nun, meine Herren!« legte Kant los. Die Mahlzeit war reichhaltig. Sie war die einzige, die er am Tag zu sich nahm, und bestand aus Suppe, getrockneten Hülsenfrüchten, Fisch und Braten und zum Abschluß Käse und Früchten der Saison. Vor jedem Gast stand je eine Halbliterflasche roten und weißen Weins, so daß jeder trinken konnte, was er wollte.
Kant liebte das Gespräch, zog es allerdings vor, allein zu sprechen, und zeigte sich rasch ungehalten, wenn er unterbrochen wurde. Seine Konversation war jedoch so anregend, daß niemand es ihm übelnahm, wenn er es an sich riß. In einem seiner Bücher schrieb er: »Wenn ein unerfahrener junger Mann eine Gesellschaft betritt (insbesondere, wenn Damen anwesend sind), die in ihrem Glanz seine Erwartungen übertrifft, gerät er leicht in Verlegenheit, sobald er zu sprechen beginnt. Nun wäre es unschicklich, wenn er mit einem Thema beginnen würde, über das die Zeitungen berichten, weil niemand einsehen wird, was ihn darüber zu sprechen bewog. Da er aber gerade von der Straße kam, ist das schlechte Wetter die beste Einleitung zu einem Gespräch.«
Obwohl an seiner eigenen Tafel niemals Damen anwesend waren, machte Kant es sich zur Regel, mit diesem bequemen Gegenstand zu beginnen. Dann wandte er sich den Tagesnachrichten aus dem In- und Ausland zu, danach ging er über zu Reiseerzählungen und den Eigenarten fremder Völker, wie Literatur und Nahrungsmittel. Zum Schluß erzählte er humorvolle Geschichten, von denen er einen reichhaltigen Bestand besaß und die er ungewöhnlich gut zu erzählen wußte, damit, wie er sagte, »die Mahlzeit mit Gelächter enden möge«, was die Verdauung fördern sollte. Er hielt sich gern lange beim Essen auf, so daß die Gäste sich erst spät vom Tisch erhoben. Nachdem sie gegangen waren, legte er sich nicht etwa nieder, da er anderenfalls sofort eingeschlafen wäre. Dies erlaubte er sich nicht, weil er der Ansicht war, man solle sich nur wenig Schlaf gönnen, um Zeit zu sparen und so das Leben zu verlängern. Er brach zu seinem Nachmittagsspaziergang auf.
Er war ein kleiner Mann, kaum ein Meter fünfzig groß, mit einer schmalen Brust und einer schiefen Schulter. Er hatte eine Hakennase, aber feine Augenbrauen und eine frische Gesichtsfarbe. Seine Augen waren klein, aber blau, lebhaft und durchdringend. Seine Kleidung war erlesen. Er trug eine kleine blonde Perücke, eine schwarze Krawatte und ein Hemd mit Rüschen an Hals und Ärmeln, Rock, Hose und Weste aus feinstem Tuch, graue Seidensocken und Schuhe mit Silberschnallen. Unter dem Arm trug er seinen Dreispitz und in der Hand einen Stock mit Goldknauf. Er ging jeden Tag, ob bei Regen oder Sonnenschein, genau eine Stunde spazieren. Wenn jedoch das Wetter scheußlich war, lief sein Diener mit einem großen Regenschirm hinter ihm her. Nur bei einer Gelegenheit verzichtete er auf seinen Gang: Als er Rousseaus »Émile« bekam, blieb er, unfähig, sich davon zu lösen, volle drei Tage lang im Haus. Kant ging sehr langsam, weil er annahm, daß Schwitzen für ihn schädlich sei, und immer allein, weil er sich angewöhnt hatte, durch die Nase zu atmen – in dem Glauben, dadurch eine Erkältung vermeiden zu können. Hätte er einen Begleiter gehabt, dann hätte die Höflichkeit ihn zum Sprechen genötigt und er wäre gezwungen gewesen, durch den Mund zu atmen. Er nahm stets den gleichen Weg die Lindenallee entlang, die er – laut Heine – achtmal auf- und ablief. Er brach immer genau zur gleichen Stunde von zu Hause auf, so daß die Einwohner der Stadt ihre Uhren danach stellen konnten. Wenn er nach Hause zurückkam, ging er wieder in sein Studierzimmer und las und schrieb Briefe bis zum Einbruch der Dämmerung. Dann hatte er die Angewohnheit, seinen Blick auf den Turm der benachbarten Kirche zu heften und dabei über die Probleme nachzudenken, die ihn just zu dieser Zeit beschäftigten. Damit verknüpft sich eine Geschichte: Eines Abends geschah es, daß er den Turm nicht mehr sehen konnte, weil zwei Pappeln so hoch gewachsen waren, daß sie diesen verdeckten. Das erzürnte ihn über die Maßen, doch glücklicherweise erklärten die Besitzer der Pappeln sich bereit, deren Spitzen abschneiden zu lassen, so daß er weiter in aller Bequemlichkeit nachdenken konnte. Um Viertel vor zehn unterbrach er sein zähes Arbeiten und um zehn lag er warm eingepackt in seinem Bett.
Eines Tages jedoch, irgendwann zwischen Mitte und Ende Juli des Jahres 1789, als Kant zu seinem Nachmittagsspaziergang aus dem Haus trat, wandte er sich nicht zur Lindenallee, sondern in eine andere Richtung. Die Einwohner von Königsberg waren verblüfft und riefen sich zu, daß irgend etwas von welterschütternder Bedeutung geschehen sein mußte. Sie hatten recht: Er hatte soeben die Nachricht erhalten, daß am 14. Juli der Pariser Mob die Bastille erstürmt und die Gefangenen befreit hatte. Das war der Beginn der Französischen Revolution.
Kant stammte aus sehr bescheidenenVerhältnissen. SeinVater, ein Gurtmacher, war ein Mann von erhabenem Charakter und seine Mutter eine tiefreligiöse Frau. Er sagte über sie: »Sie gaben mir eine Ausbildung, die aus moralischer Sicht nicht besser hätte sein können und wegen der ich, immer wenn ich an sie zurückdenke, die dankbarsten Gefühle hege.« Er hätte noch weiter gehen und sagen können, daß der strenge Pietismus seiner Mutter keinen geringen Einfluß auf das philosophische System hatte, das er später entwickelte. Mit acht ging er zur Schule und mit sechzehn trat er in die Universität zu Königsberg ein. Da war seine Mutter bereits tot. Sein Vater war zu arm, um ihn mit mehr als Kost und Logis auszustatten. Die sechs Jahre, die er an der Universität verbrachte, überstand er mit Hilfe seines Onkels, eines Schuhmachers, indem er Schüler nahm und – erstaunlich genug – indem er einiges Geld durch seine Begabung für Billard und Kartenspiel erwarb. Als sein Vater starb, war Kant zweiundzwanzig, und sein Zuhause löste sich auf. Von den elf Kindern, die Frau Kant ihrem Mann geboren hatte, blieben fünf am Leben: der eigentliche Gegenstand dieses Berichts, ein viel jüngerer Bruder und drei Mädchen. Die Mädchen wurden Hausangestellte, und zwei von ihnen heirateten später jemanden aus ihrem Stand. Um den Jungen kümmerte sich sein Onkel, der Schuhmacher. Und Kant, der mit seiner Bewerbung um eine Assistentenstelle an der örtlichen Schule gescheitert war, trat eine Reihe von Anstellungen als Hauslehrer bei den Familien des Landadels an. Indem er in einer vornehmeren Gesellschaft verkehrte als in derjenigen, in die er hineingeboren und in der er aufgewachsen war, erwarb er sich die guten Umgangsformen, für die man ihn später bewunderte. Auf diese Weise verbrachte er neun Jahre. Als er dann seinen akademischen Abschluß erworben hatte, begann seine Karriere als Dozent in Königsberg. Er lebte zur Miete in Herbergen und nahm seine Mahlzeiten in Gasthäusern ein, die er nach der Wahrscheinlichkeit auswählte, dort angenehme Gesellschaft anzutreffen. Aber er war heikel. In einer seiner Herbergen wurde er in seinen Meditationen durch das Krähen eines Hahns gestört, und obwohl er versuchte, ihn zu kaufen, wollte der Besitzer diesen nicht hergeben, weshalb er woanders hinziehen mußte. Ein Gasthaus verließ er, weil ein anderer Gast ihn durch seine Reden langweilte, und ein weiteres, weil man dort von ihm erwartete, daß er über seine Lehren disputieren solle, wozu er nun wirklich keine Lust hatte. Erst nach vielen Jahren war er wohlhabend genug, um sich ein eigenes Haus und einen Diener, der sich um ihn kümmerte, leisten zu können. Das Haus war sparsam möbliert, und das einzige Bild darin war ein Porträt von Rousseau, das ihm ein Freund geschenkt hatte. Die Wände waren weiß getüncht, wurden im Laufe der Jahre jedoch so von Rauch und Ruß geschwärzt, daß man seinen Namen hineinschreiben konnte. Als jedoch ein Besucher einmal versuchte, dergleichen zu tun, wies ihn Kant sanft zurecht. »Mein Freund, warum störst du den alten Ruß?« fragte er. »Ist nicht ein solcher Wandbehang, der von selbst entsteht, besser als einer, den man sich erwerben muß?«
Obgleich er achtzig Jahre alt wurde, entfernte er sich nie weiter als hundert Kilometer von seiner Geburtsstadt. Er litt unter häufigen Unpäßlichkeiten und war selten frei von Schmerzen, aber durch seine Willenskraft war er imstande, die Aufmerksamkeit von seinen Empfindungen abzulenken, als ob sie ihn gar nichts angingen. Gewöhnlich meinte er, daß man wissen sollte, wie man sich seinem Körper anpaßt. Er hatte ein heiteres Naturell, war allen gegenüber liebenswürdig und bescheiden, aber pedantisch. Er erwartete, daß man ihm die gleiche Achtung zollte, wie er es anderen gegenüber tat. Wenn also bestimmte Leute begierig waren, ihn aufgrund seiner Berühmtheit zu treffen, und ein gemeinsamer Bekannter das zu arrangieren versuchte, indem er ihn zu sich nach Hause einlud, weigerte er sich zu kommen, wenn diese ihm nicht zuvor einen Höflichkeitsbesuch abstatteten – wie berühmt sie selber auch immer sein mochten.
[...]
Aus dem Englischen von Simone Stölzel
SINN UND FORM 2/2013, S. 237-259
Maulnier, Thierry
- 4/1968 | Kapitalismus und Kultur
Maurer, Georg
- 6/1952 | Arbeit
- 1/1955 | Hannibals Zug über die Alpen
- 6/1955 | Gedichte
- 1/1956 | Nach dem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß
- 4/1957 | Flug über die Wüste Gobi nach Peking
- 3/1959 | Fischjagd mit Komoranen in China
- 3-4/1965 | Variationen
- 4/1966 | Gedichte
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Vom Anderswerden
- 1/1968 | Welt in der Lyrik (I)
- 2/1968 | Welt in der Lyrik (II)
- 2/1970 | Aggression
- 1/1971 | Gedanken zur Naturlyrik
- 1/1972 | Erfahrene Welt
- 2/1987 | Laufen »Phantasie über das Ewige«
- 3/1992 | Die Autoren und ihre Helfer
- 3/1992 | Brief an Günther Cwojdrak
Maurois, André
Mautz, Kurt
- 4/1952 | Neue Lyrik. Die tote Stadt (1945)
Mayer, Hans
- 4/1949 | Thomas Manns »Zauberberg« als pädagogische Provinz
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Die plebejische Tradition
- 3/1951 | Henry Fielding und der »Tom Jones«
- 4/1951 | Anmerkungen zu einem Gedicht von Heinrich Heine
- 5/1952 | Der Dichter Balzac und der Dichter Lucien de Rubempré. Anmerkung zu den Romanen »Verlorene Illusionen« und »Glanz und Elend der Kurtisanen«
- 6/1952 | Zu einem Brief Thomas Manns an Gerhart Hauptmann
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Der Grischa-Zyklus
- 3-4/1953 | Richard Wagners geistige Entwicklung
- 1/1954 | Lessing, Mitwelt und Nachwelt
- 5-6/1954 | Madame Bovary
- 1/1955 | In memoriam Paul Rilla. Gedenkrede
- 3/1955 | Leiden und Größe Thomas Manns. Eine Rede zum 6. Juni 1955
- 5/1957 | Karl Kraus und die Nachwelt
- 2/1958 | Gelegenheitsdichtung des jungen Brecht
- 2/1959 | Der Zeichner und die Farben
- 5-6/1959 | Schillers Nachruhm
- 2/1960 | Goethes »Italienische Reise«
- 1/1961 | Faust, Aufklärung, Sturm und Drang
- 5-6/1961 | Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauß
- 1/1962 | Anmerkung zu einer Erzählung von Anna Seghers
- 5-6/1962 | Anmerkungen zum zeitgenössischen Drama
- 2/1987 | Nachdenken über den großen Nörgler
- 2/1990 | Zum 75. Geburtstag von Stephan Hermlin:
- 1/1999 | Korrespondenzen aus der Huchel-Zeit
- 5/2006 | Gespräch mit Heinz Klunker (1991)
Mayer, Manfred
- 3/2007 | Gespräch mit Inge und Walter Jens und Thomas Grimm, S. 370 Leseprobe
Mayer, Manfred
Gespräch mit Thomas Grimm, Inge und Walter Jens
FRAGE: Sie beschäftigen sich schon so lange mit der Familie Mann, daß man fast sagen kann, sie gehört zu Ihrem Haushalt. Wie hat das eigentlich alles angefangen?
INGE JENS: Eines Tages kam der Verleger Günther Neske mit einem Stapel Briefe von Thomas Mann an Ernst Bertram. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Er sagte zu meinem Mann: »Das sollten Sie edieren.« Der guckte drauf und sagte: »Um Himmels willen! Handschriftlich! Nein, nicht mit mir.« Neske war etwas betreten, und da sagtest du: »Fragen Sie doch mal meine Frau.« Und der Verleger hat sich darauf eingelassen, vielleicht hatte er keinen prominenten Interessenten. Vielleicht hat er auch gedacht: Der Mann schaut bestimmt mal nach, daß die Frau nicht zu großen Unsinn macht. Na, und so begann meine editorische Tätigkeit. Die Originale lagen in Marbach. Der damalige Direktor Zeller hat mir alles zur Verfügung gestellt. Eines Tages sagte er: »Schauen Sie mal, das hab’ ich gerade gekriegt.« Es waren Schuhkartons mit Briefen von Bertram und seinem Lebensgefährten Ernst Glöckner, dem Kalligraphen des George-Kreises. Die zwei hatten ein sehr enges Verhältnis und schrieben sich zeitweise zwei Briefe am Tag. Ich war fasziniert und konnte dank dieser Korrespondenz den Briefen von Thomas Mann einen ungewöhnlich informativen Apparat hinzufügen. Dann hatte ich das Glück, daß Friedrich Sieburg, der Starkritiker der FAZ, eine hymnische Rezension schrieb: Der Kommentar sei mindestens ebenso gut wie die Briefe. Wenn Sieburg ein Buch lobte, war der Erfolg garantiert. Es war ein bißchen wie bei Reich-Ranicki heute, aber wesentlich seriöser. Ohne Sieburgs Qualitätsausweis hätte mich Fischer vermutlich niemals mit der Edition der Thomas-Mann-Tagebücher betraut.
WALTER JENS: Als Nachfolger des verstorbenen Peter de Mendelssohn.
INGE JENS: Mendelssohn war natürlich ein unerreichter Thomas-Mann-Kenner. Ich konnte eigentlich nur alles ganz anders machen, seine Arbeit fortzusetzen wäre mir unmöglich gewesen. Mendelssohn war eher literarischbiographisch orientiert, während ich meine Edition auf eine historische Basis gestellt habe – die einzige Möglichkeit, die mir als Nicht-Zeitzeugin blieb. Ich übernahm die Edition der Tagebücher ab 1944. Damals war ich siebzehn gewesen, und ich konnte mich an vieles erinnern. Natürlich habe ich Golo Mann besucht. Wir haben ein sehr schönes persönliches Verhältnis entwickelt, das ungeheuer hilfreich war. Im Lauf der Jahre kam es bei uns öfter vor, daß Projekte, die für meinen Mann gar nicht so günstig waren, sich im nachhinein als für mich sehr günstig herausstellten, und umgekehrt, daß also der eine machte, was der andere gerade nicht machen wollte oder konnte.
WALTER JENS: Aber zusammen waren wir gut.
INGE JENS: Wahrscheinlich besser als jeder für sich.
FRAGE: Wie funktioniert so eine Zusammenarbeit? Können Sie darüber ein bißchen erzählen?
INGE JENS: Mein Mann und ich haben ja schon früher kooperiert, indem ich etwa Aufträge machte, die er bekam, z.B. Buchbesprechungen für Jürgen Petersen beim NDR in Hamburg, zuerst unter seinem Namen und dann unter meinem eigenen. Auch die »Geschichte der Tübinger Universität« war ein Gemeinschaftswerk, aber Kindler, der ein ebenso guter Verleger wie altmodischer Mensch war, hielt nicht viel von Emanzipation, obwohl er selbst ja bei Gott mit einer sehr emanzipierten Frau verheiratet war, die im Verlag eigene Sparten betreut hat. Jedenfalls meinte er, daß es dem Verkauf abträglich sein würde, wenn das Buch zwei Autoren hätte, und dann noch ein Ehepaar. Und in der Tat war das ein Grenzfall, denn ich habe drei Jahre recherchiert und das Material aufbereitet für die einzelnen Kapitel, und dann hat mein Mann allein geschrieben. Das ist eine andere Form der Zusammenarbeit als bei der Katia-Mann-Biographie. Da habe ich zwar alleine recherchiert, genau wie bei Hedwig Pringsheim, aber wir haben gemeinsam gesichtet und vor allem gemeinsam disponiert. Ich habe die Archive der ganzen Welt konsultiert, wir hatten ungeheuer viel Material. Da stehen noch fünf Kisten vor meinem Schlafzimmer, die ich alle noch mal durchsehen müßte. Wir haben also gesichtet, geordnet und zusammen disponiert, und dann durfte jeder sagen, wofür er sich am meisten interessierte. Da gab es den ersten Krach, weil manche Dinge uns beide interessierten. Ich habe gesagt: Ich würde mir das Recht ausbedingen, zu ergänzen und zu ändern.
WALTER JENS: Und zu streichen.
INGE JENS: Ja, auch in deinen Texten. Ich bin bereit, dir das gleiche zu konzedieren. Die Umsetzung ging natürlich erst recht nicht ohne Krach ab. Aber das Buch ist fertig, und Sie sehen uns immer noch vereint und relativ freundlich miteinander umgehen.
WALTER JENS: Wir haben aufeinander zu geschrieben. Da gab es diesen Fall: Ich hatte, glaube ich, sechzehn sehr gute Seiten über Thomas Manns Homosexualität geschrieben. Die las ich ihr vor. Um Gottes willen, sagte sie, sechzehn Seiten! Vier wären mir lieber, und bitte aus der Perspektive der Frau. Wir schreiben ein Buch über Katia und nicht über Tommy.
INGE JENS: Es war manchmal sehr schwierig, ihn zu überzeugen. Er ist von uns beiden der um Klassen bessere Thomas-Mann-Kenner und natürlich viel mehr an dem Mann interessiert als an der Frau. Er fand sie originell, er fand, daß sie gut schrieb. Aber was mich besonders interessierte, interessierte ihn erst sekundär. Es war eine ungeheuer anstrengende Zeit, weil es oft gekracht hat. Es gab viele Diskussionen, die weit über das Buch hinausgingen. Wir waren damals schon länger verheiratet als die Manns, immerhin 55 Jahre. Katia und Tommy sind »nur« fünfzig beschieden gewesen. Man kommt dann auch an eigene Probleme heran, das ist ganz klar. Man kann nicht neutral sein als Ehepaar mit partiell ähnlichen Problemen insofern, als mein Mann Schriftsteller war und es mir ebensowenig an der Wiege gesungen wurde, einen Schriftsteller zu heiraten, wie Katia. Sowohl Katia als auch ich hatten berufliche Ambitionen. Katia hat sie viel früher und viel rigoroser aufgegeben als ich. Ich versuche immer noch, mein eigenes Leben zu führen.
WALTER JENS: Und was das Buch betrifft, »Frau Thomas Mann«, so haben auch unsere besten Freunde nicht erkannt, was von ihr ist, was von ihm. Wir bekommen aus Amerika Briefe an Ingwalt Jens usw. Weil es zusammenpaßt.
INGE JENS: Ja, daß es gelungen ist, ist wirklich ein großes Wunder, denn es gab Zeiten, wo wir nahe daran waren aufzugeben. Aber einer rappelte sich immer wieder auf und sagte: Verdammt noch mal, es interessiert mich aber, und unsere Probleme sollten wir jetzt vergessen. Das Material ist so interessant. Das ist das Gute, wenn man es zu zweit macht: Man gibt nicht so schnell auf.
FRAGE: Wie ging es denn weiter, nachdem Ihr Mann die sechzehn Seiten vorgelesen hatte?
INGE JENS: Also das mußte er ändern. Die hätte ich nicht so gelassen.
WALTER JENS: Die sechzehn Seiten wurden nicht zu vieren, aber zu sechsen. Und sie wurden aus der Perspektive der Frau geschrieben.
INGE JENS: Die Frau aus der Perspektive ihres Mannes kannte ich zur Genüge. Ich wollte endlich mal wissen: Was hat sie gedacht? Wie hat sie geschrieben? Was wollte sie? Was waren ihre Träume? Seine kannte ich. Also das war die Linie … Wir haben sie zusammen entworfen und fanden sie gut. Aber sie einzuhalten ist mir natürlich leichter gefallen als ihm. Manchmal ist es doch von Vorteil, eine Frau zu sein. Das weiß ich inzwischen.
WALTER JENS: Nach Lesungen gab es oft leidenschaftliche Diskussionen, und immer wieder sagten junge Frauen: Die hat sich dem Mann doch völlig unterworfen.
INGE JENS: Ja, es waren natürlich vor allem junge Frauen, die wissen wollten: War sie wirklich emanzipiert? Eine Frau, die sich so dem Leben ihres Mannes angepaßt hat, kann doch nicht emanzipiert gewesen sein. Warum hat eine so intelligente, eine so reiche Frau, die Mathematik und Physik studiert hatte, was ja in ihrer Generation ganz unüblich war, so früh geheiratet und sich der Familie geopfert? Und es ist, wie ich finde, immer spannend und interessant, diesen jungen Frauen klarzumachen, daß man sich auch für das Dasein als »Frau und Mutter« entscheiden kann. Gerade Frauen sollten das tolerieren. Deswegen muß man nicht weniger emanzipiert sein, als wenn man einen anerkannten Beruf, Lehrerin, Wissenschaftlerin oder sonstwas, ergriffen hätte. Katia Mann war eine sehr emanzipierte Frau!
WALTER JENS: Golo Mann sagte: intellektueller als ihr Mann.
INGE JENS: Sie war ihm überlegen, intellektuell und auch wissensmäßig.
FRAGE: In dem Buch wird berichtet, daß Elisabeths Mann stirbt und Katia mit dem nächsten Zug zu ihr nach Italien fährt. Klagt Thomas Mann nicht in seinem Tagebuch, man ließe ihn allein und er müsse sich um die Telefone kümmern?
INGE JENS: Das ist eine jener Stellen, die mich in dem Wunsch bestärkten, mal was über diese Frau zu schreiben. Das war ganz typisch. Sie ist eben gefahren! Sie war eine der reichsten Erbinnen, sie hatte eine Berufsausbildung. Wer hatte die schon? Aber sie ging freiwillig in den Beruf einer Frau und Mutter, als Familienoberhaupt, wie sie immer sagte. Sie hat Kinder erzogen, Korrektur gelesen für ihren Mann, sie hat übersetzt, sich als Sekretärin ausbilden lassen, sprich: Schreibmaschine gelernt, Autofahren, sie hat notgedrungen was von Steuer- und Verlagsrecht verstehen müssen.
WALTER JENS: Sie hat seine Briefe geschrieben.
INGE JENS: Das Wort »Wirtschaftsoberhaupt«, so wie es Horkheimer einmal definiert hat, ist auf sie anwendbar. Sie war in ihrem Beruf absolut autark. Ohne sie hätte Thomas Mann nicht arbeiten können, davon bin ich überzeugt.
FRAGE: Sie sagten, die Auflage sei 400000. Das ist sicher auch ein Beweis für die Qualität des Buches, aber in welche gesellschaftliche Lücke sind Sie gestoßen, daß die Nachfrage so enorm war?
INGE JENS: Unser Trailer war Breloer mit seinem Film über die Familie Mann. Ohne ihn hätten wir vielleicht ein Viertel verkauft, und das wäre viel gewesen. Der Film hat zu Recht großen Anklang gefunden. Und nun gab es noch etwas über diese Familie, aus einer Perspektive, die man noch nicht kannte. Ein paar Thomas-Mann-Biographien haben sich auch nicht schlecht verkauft, aber nicht diese Auflage erreicht.
FRAGE: Sind Katias Briefe nicht ein richtiger Familien-Kosmos?
INGE JENS: Bei der Arbeit ist uns klargeworden, was Katia ihrer Mutter verdankt und was die für eine Persönlichkeit war. Deswegen haben wir das zweite Buch über sie gemacht.
FRAGE: Was ist das für ein Gefühl, wenn man mit einem Alterswerk noch mal so richtig berühmt wird?
INGE JENS: Haben wir es als Alterswerk empfunden? Eigentlich nicht. Wir haben bloß staunend festgestellt, daß man in unserem Alter normalerweise keine Bestseller mehr schreibt. Aber was heißt »mehr"? Wir haben vorher nie einen geschrieben, weder zusammen noch einzeln. Es war Zufall. Während der Tagebuch-Edition habe ich viele Briefe von Katia Mann gelesen und war fasziniert. Ich stellte aber fest, daß sie nur in Auswahl zu edieren sind, was ich nicht glaubte verantworten zu können. Sie schreibt ja nicht nur an ihre sechs Kinder, sondern auch an Freunde, die Episoden wiederholen sich. Und was machen Sie mit den unendlich vielen Menschen, deren Namen in diesen Briefen fallen? Die Anmerkungen hätten den Text um ein Vielfaches überwogen. Da sagte der Thomas-Mann-Kenner Eckhard Heftrich: Schreiben Sie doch eine Biographie! Darauf ich: Ich kann nicht schreiben. Dann solle ich einfach die Anmerkungen zusammensetzen, es werde schon gelingen. Also habe ich angefangen. Mein Mann wollte eigentlich seine Autobiographie schreiben für Rowohlt, und dann merkte er: Es war so wahnsinnig interessant mit Katia, und so langweilig, alles zu wiederholen, was er von seinem eigenen Leben ja längst schon wußte. Und da haben wir gesagt: Wir machen die Katia-Biographie zusammen.
FRAGE: War damals schon Alexander Fest bei Rowohlt?
INGE JENS: Ich glaube, Alexander kam während der Arbeit an dem Buch. Zu deinem 80. Geburtstag gratulierte er mit unserem Lektor Uwe Naumann und brachte eine große Torte mit, auf der das Cover abgebildet war. Aber wir kennen ihn schon lange, schon als Studenten. Es war schön, daß just er unser Verleger wurde. Und daß er sich mit unserem Lektor so gut verstand, kam der Arbeit natürlich zugute. Soviel Unterstützung hatte ich vorher nie, obwohl es auch bei Fischer während der Arbeit an den Tagebüchern außerordentlich angenehm war. Aber bei Rowohlt war es ein Neuanfang, und ich glaube, ein für dieses Genre idealer.
WALTER JENS: Die hatten mit 10000 gerechnet.
INGE JENS: Maximal! Begreifen können wir das immer noch nicht.
FRAGE: Wie war das bei der Auswahl der Fotos, Briefe, Dokumente?
INGE JENS: Die Briefe haben wir integriert. Weder der Band über Katia noch der über ihre Mutter verfügen über einen Anhang. Die Bilder hat Uwe Naumann besorgt, sie stammen zum größten Teil aus dem Zürcher Archiv. In beiden Büchern finde ich den Bildteil besonders schön, aber das ist nicht in erster Linie unser Verdienst.
WALTER JENS: Ich habe Katia Mann nur flüchtig gekannt, aber du relativ gut. Du hast sie mehrfach besucht, und sie ist dir in sehr eigenartiger Weise begegnet.
INGE JENS: Ja, Günther Neske meinte, es sei ein Akt der Höflichkeit, ihr einen Besuch abzustatten. Ende 1959 fuhr er mich nach Kilchberg. Sie machte die Tür auf, er holte Luft, um mich vorzustellen, aber sie wischte ihn beiseite: Sie haben doch geschrieben, daß Sie mit Frau Jens kommen. Wer soll es also sonst sein? Dann war sie aber ungeheuer nett zu mir. Sie hat offenbar gemerkt, daß ich mich im Gegensatz zu fast allen Besuchern dieses Hauses mehr für sie interessiert habe als für die Thomas-Mann-Reliquien. Mich hätte noch die Bibliothek interessiert, aber sonst nichts. Welches sein Lieblingsausblick war, wo er gesessen und geschlafen hat usw., war mir ganz egal. Es wäre mir auch indiskret vorgekommen, danach zu fragen. Außerdem war sie so faszinierend, diese kleine, energische, gutaussehende Frau …
WALTER JENS: … ein aufstampfender General …
INGE JENS: … die Tee gekocht hatte und mit der wir im Erker saßen, mit Blick auf den Zürichsee. Sie erzählte von Ernst Bertram, den sie mochte, dann von seinem Freund Ernst Glöckner, der ein schöner Mann gewesen sei. Ich sagte, ich hätte ihn nicht gekannt. Er ist ja schon 34 gestorben. Aber auf Bildern müssen Sie es doch sehen können! sagte sie. Ich antwortete, ich hätte noch nie ein Bild von Ernst Glöckner gesehen. Was? Und Sie wollen eine solche Edition machen? Ausgeschlossen! Sie sprang auf und kam mit einem postkartengroßen Bild zurück: Das schenke ich Ihnen. Hängen Sie es über Ihren Schreibtisch, solange Sie an der Edition arbeiten. Dann erzählte sie von der Emigration, und plötzlich kam ein Ausbruch, der gar nicht zum urbanen Geplänkel der Unterhaltung paßte: Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben! Mir verschlug es die Sprache, weil die Emigranten für meine Generation immer Helden gewesen waren. Das waren Leute, die aus ihrer politischen Haltung die Konsequenz gezogen hatten. Erst bei Katia Mann ist mir aufgegangen, daß viele Emigranten dieses Exmittiertwerden als eine Schande empfanden. Da ich inzwischen Vertrauen gefaßt hatte, wagte ich etwas zu fragen, das mir in der Tat am Herzen lag. Thomas Mann schreibt in einem Brief von 1949 an Ernst Bertram: »Hier in Stockholm erreichte uns die Schreckensnachricht aus Cannes«, also die vom Selbstmord seines Sohnes Klaus. »Wir überlegten einen Augenblick, ob wir die Reise abbrechen sollten, ließen es dann aber.« Ich fand dieses Wir abscheulich: Er wollte seine Vortragsreise machen, nach der Mutter fragte er offensichtlich nicht. Sie sagte: Lesen Sie mir das mal vor. Ich tat es, sie zögerte einen Augenblick: Das finden Sie scheußlich, nicht? Ich holte Luft und stotterte: Ja, das fände ich schon nicht so schön. Sie guckte mich an und sagte: So war er. Das bleibt. Keine Diskussion.
WALTER JENS: Ich wurde einmal von ihr zur Ordnung gerufen. Ich hatte mich in der »Zeit« gegen die Ziegenleder-Ausgabe von Thomas Manns Werken gewandt. Sie sagte: Das verstehe ich nicht. Wollen Sie diese Ausgabe nicht? Ich antwortete: Mir liegt daran, daß seine Werke von jungen Menschen gelesen werden. Die Ziegenleder-Ausgabe gehört in das Sprechzimmer eines Zahnarztes. Sie war schon gnadenlos. Die kleinste Kleinigkeit, die sie für geeignet hielt, an Thomas Manns Ruhm zu kratzen, war verboten.
[...]
SINN UND FORM 3/2007, S. 370-377
Mayer, Michael
- 5/1999 | Liebe oder Achtung. Über Grundlagen des Politischen
Mayer, Rudolf
- 3/1986 | Zeiten und Boten
Mayröcker, Friederike
- 6/1984 | Texte
- 6/1987 | Gespräch mit Peter Liebers
- 6/1987 | Texte
- 5/1990 | »Jener Tag« Der 1. September 1989
- 1/1994 | Gedichte
Mazisi Kunene, Raymond
- 2-3/1963 | Afrikanische Lyrik
McCarthy, Mary
- 5/1965 | Aus der Budapester Pen-Diskussion über Tradition und Moderne
- 1/1966 | Der Tod der literarischen Gestalt
- 1/1974 | Medina
McCormick, John
- 2/1992 | Brutalität in der Biographie
- 1/2008 | Eine andere Musik, S. 66 Leseprobe
McCormick, John
Eine andere Musik
Diejenigen, die in relativ wohlhabenden westlichen Gesellschaften leben, vor allem aber wir Amerikaner, neigen dazu, sich zu ihren Ansichten über Gott, die Moral und die Wirtschaft zu beglückwünschen - eine Haltung, die es erlaubt, die weniger »Fortgeschrittenen« darüber zu belehren, wie sie ihr bedauernswertes Los verbessern könnten. Folglich sind wir die Herren der Wirklichkeit. Und wir haben die Bankkonten, die das belegen. Eine Schwachstelle in dieser Logik wird jedoch ausgespart, wenn es um das Problem des Alters geht. Wir mögen dem Alter mit seiner Häßlichkeit und seinem Todesgeruch nicht ins Auge sehen. Wie Simone de Beauvoir in ihrem Essay »Das Alter« (1970) schreibt: »Amerika hat das Wort Tote aus seinem Vokabular gestrichen: man spricht von lieben Dahingegangenen; ebenso vermeidet man jeden Hinweis auf hohes Alter.« Die Presse und andere Medien versichern uns, was in der Geburtsurkunde stehe, sei nicht wichtig, wir seien so jung, wie wir uns fühlen. Wenn wir im Spiegel nicht so jung aussehen, wie wir uns fühlen, können wir uns mit Nasenkorrekturen, Fettabsaugen, Magenresektionen, Brustvergrößerungen, Lidoperationen, Haarersatz, Haarfärben und anderen pharmazeutischen und chirurgischen Eingriffen helfen - alles Maßnahmen der Massenhypnose, um der Natur zu trotzen. Aber der Natur kann man nicht trotzen. Es kommt eine Zeit, wo das Alter nicht mehr zu leugnen ist, wo Eltern und Großeltern so unübersehbar alt und vielleicht hinfällig, oft verwirrt oder einfach demenzkrank sind, daß ihre verzweifelten, aber begüterten Nachkommen für sie »Heime« oder Spezialkrankenhäuser suchen, damit sie ihren unsterblichen Kindern ja nicht zu Gesicht kommen. Für die Armen bedeutet Alter häufig einsames Dahinvegetieren in einem einzigen Zimmer und, öfter als wir es wahrhaben wollen, Tod in Kälteperioden oder ungewöhnlich heißen Sommern.
Das Alter kann heutzutage Verbesserungen in der Medizin und im Gesundheitswesen vorweisen, einschließlich Kampagnen gegen Rauchen oder übermäßiges Essen und Trinken, mit dem Ergebnis, daß unzählige Menschen hundert Jahre und älter werden. Früher gratulierte die Queen den hundertjährigen Jubilaren mit einem Handschreiben; jetzt sind ihrer so viele, daß sie nur noch einen gedruckten Standardbrief schickt. Nach einer unbestätigten Statistik gibt es 40000 über hundertjährige Japaner. Die Tatsache, daß viele Menschen sehr alt werden, scheint den Amerikanern noch nicht ins Bewußtsein gedrungen zu sein. (Und bis vor kurzem wurden betagte Japaner, die in abgelegenen Dörfern lebten, auf einen Berg geschickt, um dort zu sterben - oder sie gingen freiwillig dorthin.) Ganze Gesellschaften begreifen erst jetzt, daß die Folgen der Langlebigkeit gar nicht abzusehen sind. Auf Grund des technischen Fortschritts braucht man weniger Kinder als früher, aber diese gesünderen wenigen müssen die Sozialkosten für eine riesige, in die Jahre gekommene Bevölkerung zahlen. Das Alter ist weltweit zu einem politischen Problem geworden.
In den Vereinigten Staaten wurden die heute über Vierzigjährigen aller Klassen dazu erzogen, das biblische Gebot »Du sollst Vater und Mutter ehren« zu befolgen, was sie im allgemeinen auch taten, wenn nicht Scheidung, Trunksucht oder Schulden dazwischenkamen. Kinder und auch etliche Jugendliche konnten akzeptieren (worin eine humanistische Erziehung sie bestärkte), daß Alter und Erfahrung eine Form von Weisheit darstellten, die man, außer bei Rebellen, in der ganzen Bevölkerung verbreiten müsse. Wir wissen, daß ebenso wie in alten Stammesgesellschaften und einigen modernen Stämmen Alter auch für die alten Griechen Herrschaft und Weisheit bedeutete. In »Der Staat« spricht Platon vom Anspruch der Älteren, »daß sie zu befehlen haben, die Jüngeren aber zu gehorchen haben«. Aristoteles hat gewiß Zweifel an der Weisheit der Alten, ebenso Aischylos in »Agamemnon«: »Und der Alternde schleicht, wenn herbstlich bereits / Hinwelkte das Laub, dreifüßigen Pfad, / Und an Schwäche dem Kind gleich, irrt er einher, / Wie ein tagaufsteigendes Traumbild.
Als selbst öffentliche Schulen noch Latein im Lehrplan hatten und manche sogar als Pflichtfach, quälten wir uns mit Cicero, der Hauptquelle für die Kunde vom Alter in »De Senectute«. Cicero, der 44 n.Chr. zweiundsechzig Jahre alt war, wählte ebenso wie Cato der Ältere die Dialogform für seine Gedanken über das Alter, die allesamt weder originell sind noch solches vorgeben. Das Alter entbindet von physischen Pflichten und Vergnügungen, besonders von sexuellen. Hier finden wir die klassische Verbannung der Frau in die inneren Gemächer und die Beschränkung auf die Betreuung der Kinder; ein notwendiges Übel, bestätigen die Griechen, die die Homosexualität respektierten, aber physische Liebe zwischen Frauen für eine Form von Irrsinn hielten. Die Römer nannten dieses Unglück passio, was physische und seelische Qual und Leiden bedeutet. Das Alter, heißt es bei Cato, entbehre »der Schmausereien, der reichlich besetzten Tafeln und des wiederholt gefüllten Bechers«. Doch es entbehre »auch der Trunkenheit, der Unverdaulichkeit und schweren Träume«. Es zieht uns von der Tätigkeit ab, es entkräftet den Körper; es beraubt uns fast aller Freuden und es ist dem Tod nicht mehr fern. Der Tod ist etwas Natürliches, da jede Lebensspanne von der Natur gestaltet wird. Das Alter erzwingt Geisteskraft und gesunde Sinne, Eigenschaften, die es uns ermöglichen, von anderen unabhängig zu sein. Reichtum hilft den Alten, ein anständiges aufgeklärtes Leben zu führen mit dem Wissen, daß der Tod zu jeder Stunde eintreten kann. Über die Armen verliert Cicero kein Wort. Seine Forderung, geistig regsam zu sein, sowie andere Äußerungen erscheinen im Jahr 2007 nach Christus richtig und lebenswert, doch indem er erklärt, daß gerade die Alten über »Verstand, Einsicht und klugen Rat« verfügen, zollt er lediglich überkommener »Weisheit« Tribut, während er dem zutage liegenden gesunden Menschenverstand Gewalt antut. Zu Ciceros Zeit konnten die Alten die Jungen möglicherweise etwas lehren; heute kann man Kindern und Jugendlichen höchstens noch Fakten vermitteln, niemals aber eine universelle moralische Erfahrung. Das ist die Aufgabe der Kunst oder, selten, der Religion. Wo die Alten Katastrophen befürchten, sehen die Jungen Abenteuer und fröhliches Wagnis. Offensichtlich ist das ein Maß der Entfernung zwischen den hierarchischen Sklavenhaltergesellschaften und unseren offiziell egalitären Industriegesellschaften.
Spontaneität und Freude am Unbekannten sind typisch für junge Menschen. Das hohlwangige Alter zaudert und ist vorsichtig, denn jeden Augenblick kann eine Katastrophe hereinbrechen. Erfahrung bremst die Neigung, aufs Ganze zu gehen, das Unbekannte zu wagen. Wer einem religiösen Glauben mit seiner Verheißung ewigen Lebens anzuhängen vermag, wird relativ glatt ins Alter hinübergleiten. Für Skeptiker jedoch kann das Alter ein harscher Abstieg in den Zynismus sein, verbunden mit übermäßigem Interesse an Nachrufen. Na, ich hab‹ ihn überlebt, egal ob ich ihn kannte oder nicht, sagt der Zyniker. Für den Nichtzyniker bedeutet vorgerücktes Alter eher eine spürbare Zunahme im Sinne von lacrimae rerum, ein tiefes Bewußtsein unserer Unfähigkeit, aus der Vergangenheit zu lernen, wenn wir sie zu interpretieren versuchen, und mit Außenpolitik und Religion in Frieden zu leben. Verbittert sehen wir vielleicht, wie unsere Kinder unsere Irrtümer und Fehlentscheidungen wiederholen. Ciceros Einlassungen über das Alter mögen im Lichte heutiger Realitäten überheblich und nutzlos erscheinen. Schauen wir also, ob in der späteren Literatur wirkliche - im Gegensatz zur behaupteten - Weisheit zu finden ist.
Jonathan Swift war vor dem saeve indignatio seiner Altersverwirrung der unprätentiöseste und vernünftigste Mensch, den man sich vorstellen kann. 1706, mit dreiundvierzig Jahren, schrieb er folgende Notizen als Leitfaden für sich selber - sie wurden 1745 in seinem Nachlaß gefunden:Keine junge Frau heiraten.
Nicht mit jungen Leuten verkehren, es sei denn sie wünschen es.
Nicht launisch oder mürrisch oder argwöhnisch sein.
Nicht über die jeweiligen Sitten oder Witze oder Moden oder Menschen oder Kriege spotten etc.
Kinder nicht zu gern haben oder zu nahe an sich heranlassen (von fremder Hand gestrichen).
Nicht denselben Leuten immer wieder dieselbe Geschichte erzählen.
Nach nichts Begierde tragen.
Auf Anstand und Sauberkeit achten, um nicht unangenehm aufzufallen.
Mit jungen Leuten nicht zu streng sein, sondern ihren jugendlichen Torheiten und Schwächen mit Nachsicht begegnen.
Sich nicht beeinflussen lassen oder dem Klatsch über Dienstboten oder andere Gehör schenken.
Nicht zu oft Ratschläge erteilen und nur diejenigen beunruhigen, die es wünschen.
Ein paar gute Freunde anflehen, mir zu sagen, welche dieser Regeln ich nicht befolge oder mißachte und in welcher Weise, und mich entsprechend bessern.
Nicht zuviel reden, auch nicht über mich selbst.
Mich nicht meiner einstigen Schönheit oder Kraft oder meiner Erfolge bei Frauen rühmen etc.
Nicht auf Schmeicheleien hören oder mir einbilden, eine junge Frau könnte sich in mich verlieben.
Nicht selbstherrlich oder starrsinnig sein.
Nicht alle diese Regeln befolgen wollen, damit ich nicht keine davon befolge.Drei Jahre später, mit sechsundvierzig, notierte Swift einen weiteren Gedanken: »Das spätere Leben eines weisen Mannes geht damit hin, daß er die Torheiten, Vorurteile und falschen Ansichten ablegt, die er sich im früheren Leben angeeignet hat.« Er will damit sagen, daß die Alten weise sein können - wahrscheinlich die einzige zweifelhafte These, die seinen höchst gesunden Menschenverstand beeinträchtigt hat. In unserer Zeit beharren die Alten für gewöhnlich auf ihren »Torheiten, Vorurteilen und falschen Ansichten«.
[...]
Aus dem Englischen von Elga AbramowitzSINN UND FORM 1/2008, S. 66-69
McCormmach, Russell
- 5/1986 | Die Weltstadt
McCullers, Carson
- 5/2019 | Ein Brief an Ruth Landshoff-Yorck
McKnight, Phil
- 2/1987 | Ein Mosaik zu Christoph Heins Roman »Horns Ende«
Meckel, Christoph
- 5-6/1961 | Gedichte
- 3/2011 | Russische Zone, S. 916 Leseprobe
Meckel, Christoph
Russische Zone
Die letzten Tage des Kriegs und die ersten des Nachkriegs glichen einander grau in grau. Für das Wort Frieden war die Zeit zu früh, ich hatte es öfter im Krieg als danach gehört. Viel helle, harte Courage schien nötig, ein Weiterleben für menschenmöglich zu halten. Zukunft, das Wort war mager geworden wie die, die es riefen, es war in ihm kein Jubel und keine Gewißheit, es irrte herum ohne Zuständigkeit, alt geworden, kaputt wie alles und jeder, es war eine Last. Die Stadt Erfurt, in der wir am Leben waren – zwei kleine Brüder und ich, das Dienstmädchen Lucie und meine Mutter im Haus ihrer Eltern –, lag in Trümmern und blieb darin liegen, die Ziegelschutt-Straßen, Ruinen, Gerümpelberge blieben ohne Ende sich selbst überlassen. Ohne Anlaß stürzten Mauern zusammen, ein Windstoß genügte. Er schleifte erstickenden Staub in Wirbeln durch die weiten Gegenden Menschenleere, in die sich die Randbezirke verwandelt hatten.
Beißender Gestank von Qualm und Zunder, nassem Ziegelgeröll, verfaulenden Tieren, aus verschütteten Kellern Schwaden von Übelgeruch, Aas und Verfall lebendiger Stoffe – kein Erwachsener, den ich kannte, kam in die Ruinen hinunter –, verschlammtes Moos auf Treppensteinen stank wie die Nässe, die zwischen Mauerresten zusammentropfte, in Tümpeln Morast und gräulicher Schimmer war.
Die Amerikaner – die Amis – waren da, wohnten in Häusern der überlebenden Deutschen, die krochen unter irgendwo und verschwanden, man sah die Aus-quartierten vielleicht nie wieder. Die Amis waren Befreier, sie waren willkommen, Militärs mit lässiger Gangart und freundlichen Köpfen, ihre Fahrzeuge parkten unbewacht in den Straßen, das erschien als Zeichen ihrer Gutartigkeit. Der Ami war beliebt dafür, daß er Kaugummi unter Kindern verteilte, aus Jeeps und Lastwagen vor ihre Füße warf und Ritterkreuze gegen Fressalien tauschte – das waren Cornedbeef-Büchsen und Schokolade, und wenn Glück dazu verhalf, Kaffee und Tabak. Sie spielten Fußball in den schmalen Straßen, drei Tage später befreiten sie Buchenwald. Andere kamen an ihrer Stelle und blieben, sie waren Amerikaner wie die ersten, lachten und kickten Fußball wie die ersten, tauschten Ritterkreuze gegen Fressalien, und für die Kinder war der Chewinggum da. Mit den Amis kam Musik in die freudlosen Tage. Zum ersten Mal hörte ich Tanzmusik, Blues und Cowboy-Songs aus geöffneten Fenstern. Es wurde gepfiffen und mitgesungen, im Koffer mit Antenne herumgetragen, und schallte laut aus offenen Jeeps und verschlossenen grünen Bussen der Armee.
Durch die Wälder im Westen über Erfurt war die Front in die Stadtrand-Siedlungen vorgerückt. Danach war verboten, in die Wälder zu gehen, Blindgänger lagen herum, Munition und Waffen, tote Soldaten und zivile Leute, die in der Angst vor Luftangriffen und obdachlos geworden die Stadt verließen, und sich eingegraben hatten im Steigerwald. Ich weiß heute nicht, wie es mir gelang, allein und unbemerkt in die Wälder zu kommen. Allein, und offenbar ohne Angst und Schauder, lief ich weite Strecken durch zermalmtes Strauchwerk, auf zerwühlten Waldböden kreuz und quer, ließ die Toten liegen, nahm mit, was herumlag – Brotbeutel, Stahlhelme, Brillen und Briefe – und warf sie weg, bevor ich die Wälder verließ. Unverrückbar schwarz und schwer standen ausgebrannte Panzer im Unterholz, ihre Geschütze schienen auf mich gerichtet, und auf meinen Rücken, wenn ich an ihnen vorbei war.
Offenbar ohne Angst und Schauder – das Ende des Krieges war ein Abenteuer, das so elend wie neugierig machte und tödlich sein konnte, egal ob der Menscherwachsen oder ein Kind war – ich war, das glaubte ich, von Gefahr verschont. Von meinen Wegen und Abwegen wußte niemand, mich fragte keiner, wo ichgewesen war, Dreck und Armeleutekleider waren normal, es gab nicht solide Erscheinung und weiße Hemden. Der noch in Häusern lebende Deutsche glich ungefähr denen, die ihn bedrohten – Marodeure, Gesindel, Fluchtgestalten. Polacken war eine Bezeichnung für jeden, der in Baracken existierte, sich draußen in der Nacht zu schaffen machte.
Im amerikanischen Juni nach dem Ende des Weltkriegs wurde ich sanglos-klanglos zehn Jahre alt. Wir überlebten und lebten weiter, aus dem Haus der Großeltern wegquartiert – die Militärbehörde war gnadenlos, das gebrochene Bein der Großmutter war ihr egal –, im vierten Stock eines bombenbeschädigten Wohnblocks am Westrand Erfurts. Unterm Fenster verlief eine Katzenkopf-Straße, von verirrten Granaten der Deutschen zu Steinschutt verhackstückt – Erfurt wurde zuletzt aus dem Zentrum mit fünf oder sechs Geschützen verteidigt. Gegend der Bombentrichter, verwüstete Gärten, öde Feldflächen bis an den Steigerwald. Das waren Kohlfelder – sie erschienen mir endlos –, vor der Ernte von allen Seiten gerecht beklaut, danach von Hungernden in Besitz genommen; Kinderhände, Altweiberfinger rupften wie Viehmäuler schnell und geübt die zurückgelassenen Reste Kohl; noch einmal fand der vorletzte Hunger bescheidene Reste in Staub und Schlamm; packte der letzte Hunger zum letzten Mal, was von Blatt und Strunk kaum noch sichtbar herumlag.
Nach wenigen Wochen waren die Amerikaner zum neuen Weltbild der Deutschen geworden. Die Gewißheit, im Westen am Leben zu sein, beruhigte den Menschen, der übrig war, und belebte seinen Wunsch nach menschenmöglicher Zukunft. An der nahen Kreuzung, von der Veranda aus sichtbar, war ein Checkpoint improvisiert für jeden, der im Untergrund den Krieg überlebte, Verfolgung und Urteil entkommen war. Plakate und Lautsprecher machten die Stelle bekannt. Es kamen irre Gestalten zum Vorschein, die hier niemand gesehn noch vermutet hatte, Knochengeschöpfe in Lumpen, unschlüssig, verhuscht, von entschlossenen Gesichtern hingeführt, Männer und Frauen, allein, ohne Kinder. Ich hatte kein einziges Kind bemerkt und konnte mir denken, daß es Leute gab, die keinen Grund hatten, an den Checkpoint zu gehen. Wäre ich hingegangen? Ich wußte es nicht. Ich hätte mich ohne den Checkpoint befreiter gefühlt.
Es erschien auch ein alter Offizier – aus dem ersten in den zweiten Weltkrieg verschlagen – in zerknitterter Uniform, behängt mit Orden, nachdrücklich hinkend in ausgetretenen Stiefeln. Er salutierte vor den verblüfften GIs, über-gab eine Waffe, wurde abgeführt, in der nächsten Querstraße stand ein geschlossener Jeep. Das geflüsterte Wort der Nachbarn hieß Deserteur, mir wurde versichert, daß ihm nichts passierte. Dem zieht man die Uniform ab und läßt ihn laufen. Woher der Mensch kam, wurde nicht bekannt.
Das erste Spielzeug erschien: der Bollerwagen. Ein Brett auf vier kleinen Rädern – Kugellager –, mit beweglicher Vorderachse und starker Schnur, war ein Fahrzeug, das jeder Junge besaß. Bäuchlings auf dem Brett balancierend, aneinander gedrückt zu zweit oder dritt, mit Sohlen und Spitzen der Kriegsschuhe bremsend, wummerten couragierte Knilche die Trottoire hinunter, nahmen die einzige Kurve mit Bravour und blieben vorm Pfarrhaus im wuchernden Unkraut stehn. Der Krawall der Vehikel war ein Friedensspektakel, ungefähr laut wie die Raupenketten der Panzer, vom Geschrei anfeuernder Kinder hellbegrüßt. In den Lärm des Nachkriegs gehörten die Detonationen, aus Nähe und Ferne ein Fanal der Vernichtung, das konnten Menschen und Tiere gewesen sein, Sabotage, Zufall, ein Tritt auf die Mine; Konvois von schweren Lastwagen und Transportern, die mit Geschützen beladen die Stadt verließen; Jaulen, Dröhnen, Schlackern starker Motoren, das in die Keller der Häuser hinunterdrang; Gelächter und Rufe der Militärs, ihre wildfremde Sprache; metallisches Flappen tieffliegender Helicopter und helle Trompetenstöße an allen Tagen, wenn am Mittag ein Uhr, nach der Essensausgabe, die Feldküche frei war, die Köche verschwanden, Flucht vor dem täglichen deutschen Hunger, der mit Schüsseln und Kannen zu den Kesseln drängte.
An einem Sommertag ohne Wetter und Wärme – ich erinnere kriegsgrauen Dunst, der den Abend vorwegnahm – hörte ich aus Richtung der Arnstädter Straße, 100 Meter von der Veranda entfernt, ein Geräusch, unheimlicher als die Explosion einer Bombe. Was ich hörte, nicht hören wollte, weiter hörte, war Gewimmer vieler Menschen – es waren Menschen –, schluchzender, fassungsloser nach jeder Sekunde, Schreiauf aus Elend, Panik, Entsetzen, daß ich aus der Veranda und aus dem Haus und so schnell ich konnte zur Arnstädter Straße lief. Durch den jagenden Atem, die Klappschläge meiner Sandalen, hörte ich: der Weltraum zersprang in Gesplitter, im zusammenschlagenden Donner von Holz, Stein, Eisen – danach war Stille, die Arnstädter Straße leer. Zögernde Neugier starrte aus Fensterspalten. Einzelne Frauen und ein paar Kinder rannten aus Häusern an der Stelle zusammen, die von herumgeschleudertem Zeug blockiert war, standen da wie ich und erkannten nichts. Ein paar russische Fahrzeuge hielten und kehrten um, wer zu Fuß unterwegs war, sah hin und lief weiter. Ein Unglück war mit sich selbst und dem Ort allein.
An der Mauerecke des Stadions, im Bogen der Straßenkurve, von der Wucht der Beschleunigung rausgeschmissen – die Bremsen versagten, das wußte ichspäter –, hingen quer über Trümmer eines Lasters, der Holzvergaser lag einzeln und qualmte schwach. In den Resten des schweren Fahrzeugs, an der Mauer des Stadions, hingen Menschen, Teile von Menschen und Sachen, Arme, Köpfe, Hosenbeine, die sich bewegten, bewegen wollten, nicht mehr bewegten. Es war die Ladefläche eines Lasters, aus dem Thüringer Wald unterwegs – wohin –, überfüllt mit Menschen, stehend, hockend, liegend – Hamsterfahrer, erschöpfte Landser, Landlose, Hauslose, Fluchtvagabunden – ihre Rucksäcke, Koffer, Kinderwagen – bewußtlose Unbekannte, verwüstete Köpfe – die ersten Toten nach dem Krieg.
Was seit den ersten Tagen des Nachkriegs in Erfurt und von Tag zu Tag die arme Hoffnung verstörte, war ein Hörensagen, das unüberhörbar wurde, sich als Bedrohung und Spuk, dann als Tatsache wiederholte, als Gerücht in allen Stimmen und Tonarten laut war – die Zeit der Amerikaner geht vorbei – das Militär wird aus Thüringen abgezogen – Teile des Landes fallen an die Sowjets – Teile Berlins an die USA – als Folge eines Vertrags der Siegermächte, der gegen Ende des Krieges zustande kam – die deutschen Grenzen werden neu gezogen – das deutsche Gebiet bleibt auf vier Zonen verteilt.
In den Häusern wurden Landkarten aufgeschlagen. Mit Stricknadeln, Bleistiften, Fingerspitzen wurde Erfurt umkreist, nach Osten und Westen geschoben, und zweifelnd, verzweifelt von Westen nach Osten zurück. Die Großmutter verging in ihrem Jammer, der durch die teppichgetrennten Zimmer greinte, meine kleinen Brüder zu Tränen erschreckte, den mürrischen Großvater finster machte. Das Dienstmädchen Lucie saß allein in der Küche, sie wurde nichtgefragt und wußte nichts. Von einer Zukunft schien sie nichts haben zu wollen. Das erbitterte Feilschen um die zukünftigen Grenzen erschien ohne Sinn und gab mir die Überzeugung, daß Erfurt in Zukunft zum russischen Osten gehörte. Ein Kind ist ahnungslos, es kann nichts wissen und soll nach dem Willen der Mutter ahnungslos bleiben, aber ich hatte Ahnungen oft ertragen, sie warenstärker als ich und der gute Glaube der anderen, und waren, wie ich, nicht froh, im Recht zu sein. Wurde ein Unglück befürchtet und abgestritten, wußte ich tausendundeinmal: das Unglück kommt. Es kommt ohne Gruß und verhandelt nicht. Ich allein schien den Stachel zu spüren, bevor er verletzte.
Sechs Wochen nach dem Einzug der Amerikaner war die Große Pause, der flüchtige Frieden vorbei. Ein Jeep kam im Schrittempo durch die Straßengefahren, in ihm zwei Offiziere und der Chauffeur, neben ihm ein Zivilist mit Brille und Hut. Er sprach deutsche Sätze ins Megaphon, die Stimme schlug schleppend laut von den Mauern zurück: Vollständiger Abzug der amerikanischen Truppen – ihrer Hilfskräfte und Fahrzeuge – ihres Begleitpersonals und ihrer Familien. Der Tag, der genannt wurde, stand nach drei Tagen bevor. Die Ankündigung wurde wiederholt, sie wurde ohne Pause wiederholt. Ich hörte sie neunmal, neunzehnmal, dann wurde sie um die Ecke gefahren und verschwand, nicht mehr verständlich, in anderen Straßen.
Die Arnstädter Straße hinauf verschwand ein langer Konvoi, wie mir schien ohne Anfang und ohne Ende. Lärm der Vorüberfahrt in gedrosseltem Tempo, winkende Militärs, Musik in den Bussen – es war möglich, daß ich mich verhörte –, und noch einmal fiel Chewinggum in die Haufen winkender Leute, die an Gartenzäunen, auf Trottoiren gedrängt, gern Freude vorgetäuscht hätten und einige schluchzten. Jedermensch wußte, radikaler als ich, daß die menschenmögliche Zeit zu Ende war. Als die Arnstädter Straße lautlos und leer zurückblieb, verzog ich mich mit ungreifbar grauen Gedanken, vertrödelte Mißmut und schlimme Gefühle und blieb auf den Straßen allein. Mich begleitete Ahnung in verwirrender Vielfalt. Ahnung, das wußte ich später, kommt nicht in der Einzahl vor.
Am Abend des Tages zogen Lucie, meine Mutter und ich mit den Brüdern und Großeltern in unser Haus zurück. Die einquartierten Flüchtlinge kamen wieder – ein Schuster mit Frau und Werkzeug, zwei polnische Witwen –, man sah sich wie früher in der gemeinsamen Küche und brachte Brot und Fett aus den Zimmern mit. Das Haus war in allen Räumen demontiert, Geschirr zerschlagen, das Radio in Teile zerlegt, Scherben, zerschnittene Bücher, verstreute Knöpfe, der Nähtisch lag flach und leer mit gebrochenen Beinen, Bilder und Fensterflügel beiseite geschichtet, kein Ding befand sich am Platz, der ihm früher gehörte. Die Großmutter klagte, die Mutter versuchte zu trösten, das Dienstmädchen schwieg und fing mit dem Aufräumen an. In anderen Häusern fehlten Parkett und Gardinen, die Kohlen in unserem Keller lagen noch da. Die Erde des Gartens zwischen Holzzaun und Hecke war an mehreren Stellen aufgewühlt und achtlos zugeschüttet mit Erde und Kies. Ich fand Geschirr in den Löchern und Cornedbeef-Büchsen, Patronen, Unterwäsche und Zündholzschachteln, das Laub des Birnbaums von Feuer zerstört, geschrumpfte, trockene Blätter im toten Gras. Kein Mensch fand für diesen Zustand eine Erklärung. Die Hälfte der GIs waren Neger gewesen. Die netten Amis blieben rätselhaft.
Auf den Abgang der Amerikaner folgte ein Toter Tag. Ausgangssperre, das Wort galt uneingeschränkt, wer sich draußen zeigte, wurde verhaftet, er konnte ohne Warnung erschossen werden. Der eine Tote Tag war für mich ein Erleben, das ohne Bilder und Lärm die Erinnerung bedrängt.
Ich belauerte den Toten Tag in der Veranda zur Straße hin. Der Vorbau war mit Möbeln vollgestellt, schwarzledernen Sesseln, schweren Ausziehtischen, um für die Einquartierten Platz zu schaffen, vor allem die Witwen beanspruchten immer mehr. Die Straße blieb leer bis in die Dunkelheit, und leer in der Nacht, die ich schlaflos hörte, ihre Verlassenheit schien gereinigt wie nie, als sei sie gewaschen und getrocknet worden. Die amerikanischen Fahrzeuge waren fort, die Katzenkopfsteine lagen an ihrer Stelle, alle Fenster blieben nach Vorschrift geschlossen, hinter Gardinen und Scheiben kein Mensch zu sehn. Es war und blieb der stillste Tag meiner Kindheit. Das Lautlose, hörbar, sichtbar, erschien als Gesetz, das die eigenen Geräusche gefährlich machte. Ein umgestürzter Stuhl im Haus – das konnte gehört worden sein bis ans Ende der Welt – brachte Schuld und Vernichtung über uns.
Am Nachmittag rollte geräuschlos, als ob er schwebe, ein Jeep mit bewaffneten Männern über die Kreuzung, weder Zivilisten noch Amerikaner, in Verkleidungen dunkel eingeschnallt, Macht- und Schreckphantom einer Geisterstunde, einzige Patrouille an diesem Tag. Sie verschwand in der Humboldtstraße, nichts war passiert. Ich hatte – das konnte verboten sein – als einziger das einzige Fahrzeug gesehn, das in der leergeräumten Welt unterwegs war.
Der folgende Morgen war frei für alle. Von der Stille des Toten Tags schien nichts übriggeblieben, der Auftritt marschierender GIs blieb aus, es fehlten Militärfahrzeuge und Jeeps. Das frühere Krankenhaus, die Kaserne der Amis, stand leer mit verödeten Fenstern und offener Einfahrt, ich sah den verwüsteten Park vom Dachfenster aus. Unterwegs auf der Abkürzung zur Gemüsebude – um Lucie abzulösen, die Schlange stand seit dem frühen Morgen mit Frauen und alten Männern – kam ich durch eine Straße, die leer war wie immer, mitbeschädigten Fabriken außer Betrieb, und an diesem Morgen verändert schien. Auf der Straße vor mir stand eine fremde Sache, ich sah hin und wußte: Der Russe ist da! Ein alter Wagen mit Deichsel und einem Pferd, das Tier war struppig, stark und sein Fell verdreckt. Auf den Wagenbrettern, unter zu kurzer Plane, lag ein formloser, graugelber, dicker Klumpen, und ich konnte erkennen, daß es Butter war. Ich blieb stehn und sah mir die dreckige Butter an. Nicht weit von dem Wagen stand auf der Straße ein Mensch, allein, mit nichts beschäftigt, und schien zu warten, und ich war froh: er wartete nicht auf mich. Im Abstand, den die schmale Straße mir freigab, ging ich, als wäre nichts, an ihm und dem Pferd vorbei. Im Vorbeigehn sah ich, daß er Asiate war, ein kleiner Soldat mit Stiefeln und fleckiger Bluse, er sah mich kommen und gehen und nickte mir zu. Ich nickte zurück und machte, daß ich davonkam. An der Gemüsebude sagte ich nichts, und zu Lucie allein: unsere Abkürzung sei gesperrt.
Als ich Kartoffeln im Netz nach Hause schleppte, brach auf der Arnstädter Straße Getöse aus. Das mußte der angekündigte Russe sein. Er schepperte, wummerte, krachte die lange Straße vom Wald herunter, die betäubende Stärke nahm zu, als er näherkam. Ich stellte die Kartoffeln ab vor der Haustür – was auf Treppen herumstand, konnte gestohlen werden – und lief zur Arnstädter Straße in den Tumult.
Vom Steigerwald die breite Straße herunter zog weit auseinandergerückt, in seltsamer Eile, die russische Armee in das Zentrum der Stadt. Kleine hölzerne Wagen mit vier Rädern, von verstaubten Pferden gezogen, beladen mit Hausrat, Koffern, prallvollen Säcken, Matratzen und Bettzeug, wehender Unterwäsche, von asiatischen, russischen Familien besetzt, uralten bärtigen Männern, massigen Weibern – dreckige Vorhut der Russkis, Steppengespenster –, Bezeichnungen, die in den Häusern der Deutschen entstanden. Es sah aus, als würden die Pferdewagen von Panzern und Lastwagen in die Stadt getrieben. Im klappernden, krachenden Durcheinander, das die Breite der Straße in Anspruch nahm, sah ich Offiziere auf Fahrrädern strampeln, die, wie ich wußte, gestohlen waren. Wer sich am Rand dieser Piste aufhielt, konnte umgerissen werden, zerquetscht, überfahren, denn kein Russe nahm einen Deutschen wahr. Der Russe wälzte vorbei im Verlauf vieler Stunden, in drängendem Tempo, betäubt von Erschöpfung und Eile, bis die Straße leerer wurde am Ende und leerblieb. Vereinzelte Fahrzeuge dröhnten spät vorbei, Nachzügler oder Nachhut bis in die Nacht. Im Halbschlaf hörte ich Krach von Rädern und schlief gegen Morgen ein.
Von diesem Tag an lebten wir, schwer atmend, unter der russisch-sowjetischen Nebeldecke, die alles bedeckte und alles durchdrang, was vorhanden war und mit uns geschah. Russische Besatzung und Kommandantur waren Schlagschattenworte, die das deutsche Dasein beherrschten. Die Privatheit war fremdbestimmt, blieb aberkannt, von der Willkür dauernder Razzia in Frage gestellt. Tod und Gefangenschaft hatten die Männer verschlungen, Hunger und Kälte, das Hausen in Unterquartierung, hielten Traum und Lebensgefühl in der Defensive, es gab keine Hintertür in die Zukunft hinaus. Sechs Jahre später las ich in einer Ballade: Es galt, die neue Ordnung einzuführen / und Durst und Steppe in ein Land des Weins.
Möglich, daß es den Kindern besser ging als ihren Eltern und ihrer erwachsenen Verwandtschaft. Ich beobachtete alles, ahnte viel und hatte vorm eigenen Erleben keine Angst. Die Neugier war stärker. Der Russe stellte etwas Wildes dar, sein Lachen und Brüllen, Rempeln und Saufen waren nicht zu begreifen, aber ich glaubte ihm. Russe, der Russe war Gottes Barbar.
Im Nachkrieg hatte ich hart und von Grund auf verstanden, daß Deutscher zusein kein Triumph, vielleicht keine Chance war. Es machte mir keine Sorgen, das war was für später. Die Gegenwart war ein schlechter Traum für viele, und für mich der lebendige Teil eines Schattenspiels mit den Toten. Von den Verbrechen der Deutschen erfuhr ich nichts. Ich hatte die Toten in den Trümmern gesehn, zerquetscht, verkohlt, halbiert, in Zuständen Fäulnis und Blut. Der gequälte Mensch war, was mich schlaflos machte.
Mein Erinnern bleibt schattenlos hell, es verwehrt mir nichts, verklärt und verschleiert nichts von Krieg und Nachkrieg, Entsetzen und Tod. Es ist der Versuch einer Spiegelung dessen, was das zehn Jahr alte Kind im Tagtraumerfuhr; was mir gehören mußte, weil ich es sah; was unabweisbar wirklich wurde, weil das Gedächtnis es festhielt und nicht wieder preisgab.
Die erste russische Willkür, die ich erfuhr, drang in unser Überleben als Razzia ein. In den Wiederholungen war kein System zu erkennen, Razzia erschien und verschwand, wie der Russe es wollte. Vor allem in der ersten Besatzungszeit war Razzia ein Rüpelspiel russischer Marodeure, bewaffnete Mannschaften rudelten durch die Straßen, in Nähe und Ferne schlugen Schüsse ein. Auf unsere Türklingel drückte ein russischer Daumen, er hatte Kraft und Zeit nach eigenem Ermessen, es gefiel ihm, die Klingel scheppern und schrillen zu lassen. Mit hartem Schwung flogen Fäuste auf Tür und Klinke, das Türholzkrachte, hielt aber stand. Meinem Großvater stand es zu, an die Tür zu gehen, den Schlüssel zu drehn, die Klinke zu bewegen. Die Türe schlug nach innen auf, flog gegen den schweren, schwachen Mann, an Schädel, Schulter, Ellenbogen, ich sah ihn schwanken, er taumelte gegen die Wand. Ob sich sechs oder sechzehn Russen über die Schwelle drängten, sie hingen zusammengedrückt im Türrahmen fest, brachen in einzelne Körper auseinander, stolperten, ließen Gewehre fallen, kippten dicht an dicht in den dunklen Flur. Der Großvater stand wie bestraft zwischen Wand und Tür. Waren Offiziere dabei, passierte der Tritt in das Haus ohne Krach und Fluch. Was folgte, war in allen Fällen verschieden. Es kam der Befehl mit Stimmkraft und starken Gesten: Alle Bewohner hierher und ab in den Keller! Man kam überstürzt am Fuß der Treppe zusammen, wurde gezählt, herumgeschoben und in der Küche zusammengedrängt. Passierte das in der Nacht, am frühen Morgen, kam eins nach dem andern im Negligé dieser Notzeit: barfuß in Stiefeln, das Haar in die Mütze gestopft, mit Decke und Handtuch behängt, in mehreren Mänteln, Gänsemarsch verstörter Gestalten auf der eng gewinkelten Treppe zum Keller hinunter – Lucie, die Kinder, die Großeltern und die Mutter, die von zuviel Kleidung verdickten polnischen Witwen, und der stille Schuster mit seiner erschrockenen Frau. Man verteilte sich auf Liegestühle und Kisten, die von den Bombenangriffen geblieben waren, und fing mal wieder mit Fürchten und Hoffen an, begann zu warten auf irgendwen – oder was: Kommandos, Anschnauzer, Fragen der Offiziere und den schweren, erschöpfenden Aufstieg in das veränderte Haus: Wäschekorb und Schränke standen offen, in den Schrankfächern fehlten Silberbesteck und Spielzeug, die Skatkarten waren weg, drei Zentner Kleidung verschwunden – vor allem die Kleiderbügel und Hüte fehlten –, Haustür und Fenster zugeschlagen, man schrak von dem Knall im Keller zusammen. Das Haus war in allen Räumen durchsäuert vom russischen Dunst – Gestank verdreckter Uniformen, Machorka, Wodka, Schweiß und ein fremder Übelgeruch, der mich an nichts, was ich kannte, erinnern wollte. Einmal kam vor, daß ein Hauch Parfüm zurückblieb – süßer Zauber für die entwöhnte Nase –, Merkmalgeruch eines Offiziers, der als Schönster lang in Gesprächen der Nachbarschaft lebte. Jede Razzia suchte versteckten Schmuck und konnte nichts finden. Der Wildwein wurde von den Mauern gerissen, zum Vorschein kam ein Vogelnest oder nichts. Das runtergesäbelte Blattwerk füllte Küchenbalkon und Sandkasten ohne Sand, die Gartenwege verschwanden im Laub. Als Laub und Holzgetrocknet waren, am Ende des russischen Sommers, vernichtete mein Feuer die Reste des Wildweins.
Die zweite Razzia war lebensgefährlich. Drei Offiziere, gefolgt von Soldaten, marschierten geordnet von Haus zu Haus, ich stand am Verandafenster und sah sie kommen. Sie bewegten sich mit beklemmender Ruhe, unbewegte Gesichter, Erscheinung des Unheils. Ihre Art, in die Häuser zu gehen und sie zu verlassen, demonstrierte ein Recht, das keinem Plünderer zustand. Ein Soldat und drei Offiziere betraten das Haus, wir wurden in deutscher Sprache korrekt begrüßt, der Name meines Großvaters hing im Raum. Man nahm Platz in Sesseln, auf Stühlen und Chaiselongue, ich wurde zu Lucie in die Küche geschickt, meine Brüder saßen dort schon am Tisch. Ich sah, bevor ich den Raum verließ, es wurden Papiere aufgeschlagen, in Händen gehalten, gelesen und weggelegt. Die Soldaten standen vorm Haus und verteilt im Garten. Aus dem Zimmer des Schusters kam kein Laut. Nach den polnischen Witwen wurde nicht gefragt.
Viel Zeit schien vergangen – ich wußte nicht, wie sie verging –, als die Türe des Zimmers endlich geöffnet war. Die Großmutter ging voraus mit weißem Gesicht, der Großvater wehrte sich, den Raum zu verlassen, meine Mutter schien halb erfroren, sie war erschöpft. Die Offiziere betraten den Flur zuletzt. Der Großvater wehrte sich hilflos mit schwingenden Armen, versuchte sich umzudrehn, drängte zurück in den Raum. Ungeheures Gebrüll brach aus dem zitternden Mund. Er packte die Tasche eines Offiziers, warf sie zu Boden, stand im Flur und röhrte. Das Röhren des Mannes, der fast sprachlos lebte, nie die Stimme hob, in mürrisches Schweigen versunken, schütterte durch das Haus, Gewalt aus Wut und Verzweiflung. Die Großmutter faßte den Arm eines Offiziers, es war eine Bitte und sie schwieg, meine Mutter erschien, ihre Stimme klang laut und fremd, was sie rief oder schrie, wurde nicht gehört. Die Offiziere hielten Contenance, der begleitende Soldat stand unbeteiligt, kein Soldat von draußen erschien im Haus. Die Großmutter, die ihren Mann nichtliebte, erreichte, daß er zu Hause blieb. Die Offiziere verschwanden schnell, der kleine Bruder in der Küche heulte.
Wenn Razzia vorbei war, stand und saß man herum. Der Zustand des einzelnen und aller zusammen war furchtbar. In die Glieder gefahren hieß ein Satz, der Stachel steckte im Menschen fest, war kein einzelner Stachel mehr und ließ sich nicht rausziehn. Lucie saß erschlafft am Küchentisch, wie konnte man wissen, sie war eine junge Frau. Es brauchte den Tag und die Nacht, um zur Ruhe zu kommen, aber zur Ruhe kam keiner allein. Es wurde zu viel und durcheinander gesprochen, erschöpft geschwiegen, mit Tränen gekämpft. Es mußte geredet werden, auch ich wollte sprechen, das war die Erlösung – einzige Erlösung, die uns gehörte und die ich, gebeutelt und fieberhaft froh, mit den anderen teilte.
In der ersten Zeit, als Razzia gefährlich war, ohne Unterschied alle und jeden ins Unrecht setzte, ging in Erfurt eine Geschichte um, sie blieb im Haus der Großeltern unbekannt.
Gesprochen wurde von einem Haus in der Nähe Erfurts. Dort wurde ein Russe gefunden, lange tot, er schien eingeschlossen worden, verdurstet, verhungert, ein gewöhnlicher Soldat wie Millionen Russen. Allein krepiert, das schien von Bedeutung zu sein. Man wußte: ein russisches Leben war wenig wert. Die Läden und Fenster waren von außen vernagelt, die Türen verschlossen, die Kellerfenster vergittert, wer in dem Haus war, kam nicht mehr zum Vorschein. Es wurde keine Waffe im Haus gefunden. Der Russe tobte, wummerte gegen die Wände, stand hinter zerschlagenen Scheiben und schrie in die Gegend, und kein Mensch war da, der ihn sah oder hörte und hinkam. Es hieß: Eine Zeit verging, bis es still war im Haus. Das wurde berichtet, es schien nichterfunden zu sein.
Der Leiterwagen war unser Familienfahrzeug. An Rollschuhe, Schlittschuhe konnte sich niemand erinnern, und Fahrrad war ein Vehikel der Vorkriegszeit. Der Bollerwagen war eine neue Erfindung, die die Mittagsruhe der Großmutter störte und lärmende Freude der Kinder war. Altmodische Undinge hingen und standen im Haus – ein Hirschgeweih über dem Großvatersessel, ein Behälter voll stinkender Pfeifenköpfe, und im Flur Spazierstock des Alten in klassischer Machart, der massiv und humorlos seinen Ausgang bestärkte.
Nichts wäre aus uns ohne Leiterwagen geworden. Er brachte die Sachen ins Haus, von denen wir lebten: das gestohlene Holz aus Steigerwald, Stadtpark, Stadion; Zellstoff in schweren Rollen, bettwärmend im Winter; Ritterkreuze der Nazizeit in Bündeln, beschafft von mir für den Tausch gegen Fett, Mehl, Zucker. Die Hälfte des Zuckers war Sägespäne, aus dem grauen Mehl wurden Würmer und Steine gesiebt.
Wer den Leiterwagen brauchte, verschwand mit ihm, oder lieh ihn vom Großvater aus, er gab ihn ungern frei. Er war der Werkzeugmeister des Hauses, seine Werkstatt befand sich im Keller hinter den Kohlen. Dort häufte sich, was von Diebstahl und Razzia zurückblieb – Nägel, Zange, Schraubenzieher, zusammengerollte Seile der Schaukel, die während des Sommers im Birnbaum hing. Es stapelten sich Teller und Puddingschüsseln, verbrauchte Vorhangschlösser und alte Bleche. Der kleine Fuchsschwanz hing dort, die Wespenflasche, und der Laubrechen mit der tanzenden, kratzenden Kralle. Aber die Axt lag nicht mehr dort, und ich allein wußte, wo sie war: im Roßhaarpolster des Ledersessels, der beiseite geräumt im Zimmer der Großeltern stand.
In der Nähe des Bahnhofs hatte ich Holz entdeckt, von dem kein andrer zu wissen schien: im Gehölz auf dem alten Wall, ein Weg führte hin. Mein Compagnon, zehn Jahre alt wie ich, war bereit, mit mir das Holz nach Hause zu holen. Dazu brauchten wir Leiterwagen, Fuchsschwanz und Axt. Ich kam damit an den Wall, er erwartete mich. Wir zogen den Wagen gemeinsam in das Gehölz, Axt und Fuchsschwanz von Sackstoff bedeckt.
Es dauerte lange, bis Äste, Zweige und Stümpfe – die mächtig erschienen, solang ich von ihnen träumte –, vom Baumstumpf gesägt und gehauen, im Wagenlagen, über der Axt und dem Fuchsschwanz von Sackstoff bedeckt. Kein Mensch schien etwas gehört und gesehn zu haben, die Dämmerung gab uns unheimlichen Schutz. Der Weg aus der Stadt die Arnstädter Straße hinauf, mit dem Leiterwagen, mit Fuchsschwanz, Holz und Axt, immer weiter die Straße entlang im Dunkeln – wir blieben stehn, die Angst kam nachgekrochen, kroch in mich hinein und lachte und lachte. Sie lachte laut wie der Fuchsschwanzmit seinen Zähnen, wie die Axt ins Holz schlug und widerhallte. Ich prüfte schnell den Inhalt des Leiterwagens, das Holz, den Fuchsschwanz, den Sackstoff – wo war die Axt. Noch mal mit heißen, mit kalten, krallenden Fingern – die Axt war weg.
Der andere Holzdieb blieb mit dem Wagen allein an der Arnstädter Straße im Dunkeln. Ich rannte zurück zum Wall, auf den Wall hinauf, stolperte überbrüchige Zweige, wühlte mit allen zehn Fingern im Buschwerk, im Dunkeln, die Axt war weg.
Der andere Holzdieb mit dem Leiterwagen stand allein an der Arnstädter Straße, als ich zurückkam. Angst stärker als Entsetzen, stärker als Angst. Verschwitzt. Zerschmettert. Ich sagte zu ihm. Ich bat: sag, daß du die Axt verloren hast. Er sagte nichts, und ich wußte: ich hatte die Axt verloren. Ich war es, der dem Großvater und allen andern, und den polnischen Witwen, dem Schuster zu sagen hatte: daß ich die Axt aus dem Sessel geholt, ich allein die Axt verloren hatte.
Alles wie immer: Knurrende, lange Wut des alten Mannes, Jammer der Großmutter, bitterer Vorwurf der Mutter, meine kleinen ratlosen Brüder und Lucie, schweigend, die die Schuld mit mir zu teilen schien.
Am Abend des ersten Sankt-Martins-Tags nach dem Krieg fand auf dem Domplatz ein Fest für die Kinder statt. Ich wußte nicht, und kein Kind schien zuwissen, was passieren würde und was uns allen bevorstand. Festbeginn nach Dunkelwerden – Fest war ein Wort, das den Deutschen nicht mehr gehörte. Etwas Unerhörtes stand bevor, denn Jedermensch war eingeladen – die Erwachsenen und alle Kinder –, sich mit Windlicht und Kerze, Laterne, Lampion auf der riesenhaften Steintreppe zu versammeln, die zum Dom und zur Kirche Sankt Severin aufstieg. Ich zerschnitt – wir zerschnitten, meine Brüder und ich – mit alter Schere Papiere und Pappen, bekrakelten sie mit Stiften, in Groß-elternkoffern gefunden, und klebten mit Leimersatz aus Wasser und Mehl eingedrungenes, krummes Gehäuse zusammen, mit Fenster aus Buntpapier, offenem Dach und festem Boden aus Sperrholz, auf dem, im Schuh aus erkaltetem Wachs, eine Kerze stand, die in Goldfarben brannte. Das Gehäuse baumelte an gebogenem Draht, der befestigt mit Pflaster und Schnur an einer Holzstangeschwang. Wir trugen – die Brüder und ich in Begleitung Lucies – die Laterne zur Probe durchs Treppenhaus und hinaus in den Garten, um vom Herbstwind zu erfahren, was mit ihm und dem Licht geschah – Funkenspucker, Feuerspeier. Es kam darauf an, mit leichten, geübten Schritten das Flämmchen über der Kerze ruhigzuhalten. Was war unser wanderndes Licht im grauen Mittag im Vergleich zu dem Flammenschein in der Frühwinternacht.
Der Tag war trocken, windstill, kalt. Meine Brüder zappelten durch das Haus, mich hatte die Hoffnung ungeduldig gemacht. Ich drängte zu früh, immer eiliger aus dem Haus, um den besten Platz auf der Treppe für uns zu erobern, ganz oben, von wo aus man alles sieht. Meine Mutter und Lucie begleiteten uns. Der lange Hinweg zu Fuß in Zwielicht Dämmerung Dunkel ging an Schwarzfensterhäusern, zerbombten Gärten vorbei. Immer mehr Leute, die Kerzen und Lichtkästen trugen, kamen aus dunklen Straßen und Winkeln zusammen. Kann sein, daß das kleine Licht beschämt das hellere wahrnahm, der funkelnde Feuerkasten gelassen vorbeizog an einem, der ohne Kerze im Lichtschein der anderen ging. Stärker waren Erwartung und Feuereifer im gemeinsamen Drängen auf das Fest. Ich war zum erstenmal Teil einer Menge Menschen, die nicht Zähnezeigen, Faust und Getrampel, sondern Durcheinander ohne Feindlichkeit war.
Auf dem weiten Platz unterm Dom war noch Raum genug, um gefahrlos drängend auf die Treppe zu kommen und hochzuklettern in die Nähe des Chors, der weit über mir im Dunkeln befestigt schien. An den Mauern flammte Widerschein ungezählter Kerzen. Wir verteidigten unseren Familienplatz auf der hohen Stufe und hörten, daß Sitzen und Platz haben hier nicht vorgesehen sei. Der Stein war kalt, wir mußten stehn. Wer sich setzte, nahm zwei Stufen für sich in Anspruch, der Zweistufenplatz nahm einen Stehplatz weg, doch suchte kein Mensch einen Vorteil auf Kosten der anderen.
Der Platz unterm Domberg und seine Treppen waren unüberschaubar dicht mit Kindern besetzt. Immer mehr Lichter sprangen an, richteten sich in die Höhe und flammten hell, jede Kerze war einzig. Es war auf den Stufen immer kälter geworden. Die Kälte prickelte an den Beinen, doch waren Körper und Kleider nah zusammengerückt, daß die Kälte nicht durchkam. Sie verschwand in Mänteln, Röcken, Hosen und blieb auf Schenkeln und Knien ein flüchtiger Frost. Wir hatten an, was zum Anziehn für uns da war, nicht genug für den Stehplatz auf Stein im beginnenden Winter. Die Schuhe waren verbraucht, die Sohlen zertreten, die Wollsocken dünn. Einen, der Schuhe verschenkte, kannten wir nicht.
Das Summen und Schallen der Stimmen und ihr Lachen fiel in Augenblicken zusammen, es wurde still, alle Lichter brannten. Eine einzelne Stimme begann zu sprechen, ich sah nicht, woher sie kam und wem sie gehörte, verstand das Gesagte nicht, es ging verloren, aber der Verlust enttäuschte mich nicht. Nie wieder vermißte ich Rede und Reden, die mir im öffentlichen Raum entgingen. Was fehlte, war das Fest, es mußte kommen.
Stille, die erfaßte und festhielt, was da war – viele Kinder und Leute, unfaßbar viel Licht. In diese Stille – sie hielt eine Weile an – fiel der erste, metallene Klang der kleinsten Glocke. Das Domgeläut begann. Die zweite Glocke setzte ein, ihr Schall war langsamer, schwerer als das helle Schallspiel der ersten. Die dritte Glocke brachte das erste Dröhnen, die vierte den Donner, die nächste bebte hart in den Steinen der Treppe. Nach den Einschlägen immer schwererer Glocken schien der Dom mit dem Fels und der Treppe davongeflogen, im Getöse standen die Lichter der Kerzen still. Ich hatte das Domgeläut von ferngehört, im Steigerwald oben verlor sich sein Widerhallen, hier war ich im Geläut wie in einem Gewitter, das Glockengewitter schlug zu und machte ein Ende mit mir. Von meinen zehn Jahren, von der Zeit aller anderen, schien nicht der stillste Notschrei übriggeblieben – es wurde im Nachkrieg mehr als im Krieg geweint. Es gab Kinder, die fingen zu weinen an. Andere blickten in das Licht ihrer Kerzen, hielten erwachsene Hände fest, standen in ihren kalten Schuhen, und ich glaubte zu wissen: sie froren nicht.
In der ältesten, schwersten Glocke des Doms befand sich seit Hunderten Jahren ein Riß, das wußte ich, seit wir in Erfurt wohnten, und hatte die Glocke nie gehört. Ihr Läuten war für die Zukunft eingeschränkt, sie wurde geschwungen an wenigen Tagen im Jahr, ich hörte sie am Abend des Martinstages, das grabtiefe, schwerste Gewummer an diesem Geläut, aus dem ihr Himmel- und Höllschlag als erster verschwand. Die Glocken setzten aus, wie sie eingesetzt hatten, das Geläut wurde leichter, geringer, immer mehr hell, bis der Schlag der kleinsten Glocke allein in der Nachtluft verhallte.
Hunderte Kerzen waren heruntergebrannt, in Laternen und Fäusten der Kinderneu angesteckt, vielfarbenes Wachs war heruntergetropft und hing kalt an den Mänteln. Vor der Domwand fing einer zu singen an, von den Treppen unter uns kam dasselbe Singen. Immer mehr helle und dunkle Stimmen, Kinder- und Frauenkehlen, Altmännerbässe fielen von überall aus der Lichtflut ein. Lieder, die jeder zu kennen schien, anschwellende, abklingende, schöne Stimmen –was mir schön erschien, konnte Heulen und Schrillen sein. Von soviel Herrlichkeit hatte ich nichts gewußt, aus einem Stück & Glück, auf einem lichten Haufen. Ich vergaß nie, daß ich mit Tränen dastand, und daß es mir gut ging mit den Tränen. Wenn ich mit Tränen in Krieg und Nachkrieg dastand, dann lieber wehrlos allein als unter Leuten, die gewöhnliche kalte Augen besaßen. Ein Klumpen Seele aus Eis war nicht in mir. Ohne Heulen und Wüten in mir war mein Atem nicht gut.
Wie man zusammenkam, ging man weg, mit leeren Laternen, wenige Kerzen brannten, verschwanden um eine Ecke, loschen aus. Die Luft war schwarz vom Rauch verlöschender Kerzen. Man sah sich nicht nach den anderen um. Wir gingen betäubt zurück in das Großelternhaus, der kleine Bruder wurde von Lucie getragen. Die Nacht nach dem Fest war meine längste Nacht, der Schlaf nach dem Fest mein tiefster Schlaf. Sechs Jahre später schrieb ich die ersten Gedichte.
Russische Nacht voller Umtriebe und Geräusche, geisternde Unruhe draußen in Nähe und Ferne, die ich mir nicht als harmlos ausreden konnte. Etwas ging vor, das Dunkelheit brauchte, um geschehen zu können. Morgens sah ich mich um in der Umgebung des Hauses, fand aber nichts, was aus der Nacht noch da war. Straßenbeleuchtung gab es nicht.
Sperrstunden, Ausgehverbote in der Nacht, willkürlich anberaumt, vorzeitig beendet. Überraschender Ausmarsch von Militär, das Verlassen der Kaserne gegen Morgen drei Uhr. Sperrposten mit Maschinengewehren an Kreuzungen und in Straßenzügen, durch die sich der Marsch ohne Licht und Stimmen bewegte. Sobald die Miliz vorbei war, verschwanden die Posten, kann sein sieschlossen sich den Marschierenden an. Von der eigenen Schlaflosigkeit bemerkte ich nichts, ich hatte schlaflose Nacht im Krieg gelernt. Wenn ich vielfaches Stampfen und Gleichschritt hörte, war ich beruhigt und schlief wieder ein – die großen Haufen Sowjets kamen nicht in die Häuser, das uniformierte Marschieren bedrohte uns nicht. Das zog zu Manövern hinter den Steigerwald, kam drei Nächte später zurück ohne Stimmen und Licht. Angst machte der einzelne Mensch im Dunkeln, der Russe allein mit einem Stock, drei geräuschlos Gehende, Hände in den Taschen, drei gelangweilte Typen vor einem Haus, auf einer Straßenkreuzung, vor einer Garage, Pfotenklatschen rennender Hunde, Aufschrei von Vögeln. Ich wußte, es strichen Marodeure herum, Diebe mit Dietrichen, Knüppeln, Säcken, sie huschten und rannten durch die Gärten, kletterten über Zäune und blieben unsichtbar im Zwielicht. Eine Zeitlang überlegten wir, ob der Schuster im Haus Komplize von Gaunern sei, die Kellertür heimlich aufschließen könne, aber der Zweifel ging an uns allen vorbei. Zwischen der Nacht und mir waren Mauern und Türen, doch gab die Gewißheit mir keine Ruhe, wenn Gefühl von Ohnmacht-Unmacht und Unheil mich wachhielt.
Der Schuster und seine Frau waren glücklose Leute, schleichäugig, ungesprächig, knurrende Hälse, auf ihren Fluchtwegen nirgends willkommen, von kalter Bitternis weiter getrieben. Zwei Kästen voll Werkzeug, auf dem Rückengetragen, vier Taschen voll Kleidung und Brot, das war ihr Gepäck, so wurden sie am Wintertag einquartiert. Sie standen nachts hinterm Vorhang am Fenster, als wir Kohlen im Leiterwagen zur Kellertür brachten. Ich zog ihn, der Großvater ging hinterher. Ein Heizer der Russenkaserne war unser Geschäftsfreund, er kassierte den Smoking des gefallenen Onkels. Der Schuster belauerte uns am dunklen Fenster, und ich ahnte, daß er die Hälfte der Kohlen verlangte. Die Bemerkung der Frau, uns anzuzeigen, am nächsten Morgen durch den Türspalt geflüstert, warf den Großvater um und ins Bett, er blieb lange liegen.
Schlechter Schlaf in allen Zimmern des Hauses. Der Großvater hustete, schlappte laut auf den Treppen. Mein kleiner Bruder schlafwandelte mit dem Nachttopf. In allen Seelen rumorten Jedermanns Ängste – Todesangst Krieg und Lebensangst Nachkrieg. Die Großmutter schleppte Unschuld und Leidgemurmel durch das kalte Haus in die Ankleidekammer, wo alte Garderoben wie Fahnen hingen, sommerleicht, überlebt, nicht mehr zuständig für den Tag, kein Wahrzeichen für die Frauen und keins für sie selbst.
Aus der Nacht, von nah und weit draußen, bei jedem Wetter, drangen Schreie ins Haus, die jeder hörte, der wach war, die keiner beantworten konnte und keiner vergaß – Vorrat der Schrecken unten im Labyrinth, die der Minotaurus im Finstern bewachte – Rufe, Hilferufe, Gewimmer von Frauen und Männern, einzelne Frauen, wie vielen Männern, und ich wußte nicht – und ich wußte –, was dort passierte. Widerhall aus hundert Höllen Nacht, die kein Freund, kein Feind mir erklären wollte. Morgens lag ein Toter im Rinnstein, gestorben im Schlaf, verhungert, erschossen; lagen verreckte Leiber am Rinnstein und lebten, lebten ungefähr weiter, vielleicht nicht mehr lange, Köpfe zwischen Steinen, Kleider im Schlamm, Beine in Schuhen unter Haufen Schutt.
Es kam eine Russenzeit, da verschwanden Menschen, immer mehr einzelne Leute und kamen nicht wieder. Sie wurden bei Nacht aus ihren Betten, am Tag in Mänteln aus den Häusern geholt, von Razzia geschnappt und abgeführt, in Fahrzeuge reingeschoben und fort damit, dann wußte man nichts mehr. Im Hörensagen, das alles und nichts erfaßte und in der Russenzeit ein Grundgeräusch war, in allen Stimmen und Hirnen ein Widerhall, Hydra mit schleifenden Köpfen und tropfenden Zungen – Bilder, die ich in alten Zeitschriften fand –, war die Rede von Arbeitskräften für die Sowjets, Männer, die ohne Adresse für immer verschwanden, im sowjetischen Hinterland, in Gebirgen und Sümpfen, wo Fabriken, Camps, Versuchsanstalten in Schlechtwetter und Eis ohne Aussicht auf Leben versanken, und kein Mensch je wieder ins Licht einer Zukunft hinaufkam. Ich hatte keinen der Abtransportierten gesehn, ihre Namen wurden nie genannt. Im schwirrenden Gerede, in trüben Legenden, verwackelte die Welt bis vors Großelternhaus, brach östlich von Erfurt auseinander in Sibirien und Meerwasser ohne Anfang und Ende, die an der Chinesischen Mauer als Schuttmasse angeschwemmt wurden.
Nach dem Verschwinden der Männer – von Frauen war nicht die Rede – kam eine Russenzeit, da verschwanden Kinder, immer mehr Kinder – wohin – und kamen nicht wieder. Ich hatte keins der verschwundenen Kinder gesehn, ihre Namen wurden nicht buchstabiert. In den Umgebungen, die ich kannte und wahrnahm, und in der Himmelspforte fehlte kein Kind, in den Straßen um die Veranda des Großelternhauses war jeder Mensch in seinem Loch am Leben, bloß die Männer, die Väter fehlten noch. Sie fehlten seit Menschengedenken und sieben Jahren, und die Kinder wußten nicht, wer und was ihnen fehlte.
Seitdem gesagt worden war, daß Kinder verschwanden, lief kein Kind mehr allein in die Gegend fort. Sie liefen in stolpernden, trödelnden Scharen über die Kohlfelder, auf den Wegen zur Schule, begleitet von Dienstmädchen aller Art und Herkunft, Mütter und Frauen verkleidet und alt gemauschelt, alten Männern und Onkeln ohne Gewähr. Ich ging morgens immer mit anderen zur Himmelspforte, und mit ganz anderen zurück in die Straße, wo das Haus der Großeltern mir Gewißheit gab. Sie war trostlos wie die Großeltern trostlos waren, grau wie der einzige alte Kürbis im Garten, ohne Hoffnung wie Himmel im Winter und morsches Holz.
In die russisch-sowjetische Nacht gehörte ein Offizier, der mit seiner Frau ein beschlagnahmtes Haus bewohnte, nicht weit von den Kohlfeldflächen am Steigerwald, in Spazierweg-Nachbarschaft des Großelternhauses. Er war ein eleganter, schöner Riese, Bilderbuch-Soldat und Vorzeige-Russe – schwarze Locken, fleckenlose Stiefel, Prachtuniform mit Bügelfalten und Orden. Er verfügte über ein singendes, weiches Deutsch und die Höflichkeit eines Chevalier im Märchen, war Wodka- und Weintrinker ohne Hemmung, der sich in jeder Nacht betrank und besinnungslos randalierend am Morgen verschwand. Ich hörte: der Mann verstand was von Kunst und Frauen, und außerdem, er war Jude aus Kiew. Mit ihm tranken Offiziere und Zivilisten, die am Abend mitwechselnden Frauen kamen. Wer nachts ein Fenster zum Wald hin offenließ, hörte Gelächter, Gesang und klirrendes, splitterndes Glas.
Die Frau des Offiziers erschien zierlich, biegsam, sehr jung, hatte fließendes, weißblondes Haar und war ein Wunder für mich. Konnte sie überhaupt eine Russin sein. Wenn sie ohne den Offizier ging, schien sie zu fliegen, ihre Schritte folgten einander flüchtig und flink, die hellen Schuhe wirbelten unter dem Mantel, die weißen Handschuhe huschten vor ihr durch die Luft. Sielächelte hin an alles, was da war, sie lächelte mich an, weil ich ging, wo sieduftend vorbeiflog. Das in Trübsinn gepackte Großelternhaus verlor seine lähmende Aura, weil der Offizier mit seiner Königin da war. Ich hatte von früh an nur deutsches Dasein erfahren und war geblendet von Leichtsinn und Glanz. Da nie von Juden gesprochen wurde, war es leicht für mich, sie für Riesen zuhalten, die schön gekleidet mit herrlichen Frauen spielten.
Wenn nachts der Offizier alleine trank, sich betrunken allein im Haus verirrte, lief seine Frau aus der Hintertür und verschwand in den Straßen. Immer mal wieder wurde erzählt, die Frau sei barfuß über das Kohlfeld geirrt und einer Patrouille nackt in die Arme gelaufen. Der Offizier war hinter ihr her, schrie und weinte und heulte nach ihr, fand sie im Dunkeln oder sie ließ sich fangen, er klappte sie zusammen, als sei sie ein Parkstuhl, trug sie auf beiden Armen ins Haus zurück, ihre Haare hingen am Bauch des Riesen herunter. So sah ich sie hängen ein einziges Mal, als der Riese sie an der Veranda vorbei trug, ihr Haar hing hell an seiner Schulter herunter. Ich wußte nicht, was hier passierte, und glaubte doch zu wissen – gesehn zu haben –, daß nicht Angst allein das Paar auseinanderriß, in derselben Nacht zusammentrieb. Ich wollte glauben, daß es ein Spiel und schön war.
An einem Morgen im Winter waren beide verschwunden. Das Haus stand verschlossen leer, das zeigten die Fenster. Sie haben es, wurde gesagt, zu weit getrieben. Ich war verwirrt, dann erstaunt und froh, daß der Offizier zu uns in das Haus kam, allein und nüchtern mit meiner Großmutter sprach. Die Großmutter konnte nur Deutsch, sie sprachen Deutsch. Wovon sie sprachen, blieb für mich im Dunkeln. Warum der Offizier kam, erfuhr ich nicht.
SINN UND FORM 3/2011, S. 304-321
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Meckel, Christoph
Naftali Bezem, der Maler
Als ich Naftali Bezem zum erstenmal besuchte, hatte er neun oder zehn Jahre in Basel verbracht, in kaum nachvollziehbarer Weise wie in Verbannung allein, private Isolation, die keinen politischen Anlaß, keine künstlerische Notwendigkeit zu erkennen gab. Er arbeitete und wohnte in einem Backsteinkomplex voller Werkräume, Ateliers und Büros, nicht weit von der Rheinpromenade auf der Kleinseite Basels. Sein Studio und Privatraum war grau vom Nordlicht und Durcheinander der Dinge. Er hatte immer Zeit, war immer allein, gedrungene Gestalt, schwer beweglich, prallbäuchig, leicht schwankend auf krummen Beinen, Sancho Pansa ohne Maultier und Don Quichote, vogeläugig, scharf blickend, in charmanter und heftiger Weise gesprächig, sein Lachen war Spott und Gelächter, leise, halblaut, laut, und war ein Auslachen, krähende, krächzende Ironie. Naftali, der Kurzgewachsene, schien sich zu amüsieren, wenn großen Männern, prachtvollen Gestalten ein Pech passierte, wer in den Dreck flog, bekam seinen Frohsinn zu spüren. Es geschah ohne Bösartigkeit, es war sein Spiel, bescheidene Gerechtigkeit, die Naftali für sich beanspruchte, durchtriebene Unschuld eines Bucklicht Männleins, in Gestalt eines schwerbeladenen alten Juden.
Es war Asher Reich, der mich auf Durchreise aus der Innerschweiz anrief und in rauhem, jiddisch-anarchischem Straßendeutsch beschwor: Besuch ihn, besuch ihn! Er kennt dich! Und ich: Wie kann er mich kennen, ich kenne ihn nicht. Und Asher: Hat er was gesagt von Moèl – kennst du nicht Moèl? Ich schrieb an den unbekannten Naftali Bezem nach Basel, schickte eine Radierung des Zyklus Moèl, der 1959 veröffentlicht worden war, und erhielt von ihm daraufhin eine Monographie seiner Malerei und eingelegt eine Lithographie mit den Zeilen: »Lieber Christoph, Danke für Deinen Moèl und den beigefügten Brief. Ich freue mich auf Dein Besuch, alles Gute, Dein Naftali der Dich immer gesucht hat.« Ein paar Tage später fuhr ich zu ihm nach Basel.
Badischer Bahnhof – neben den dunklen, alten Bahnhofshallen Paris – Gare du Nord, Gare d’Austerlitz, Gare de Lyon – die mir von Kind an vertraute, persönliche Station Europas. Durch den Badischen Bahnhof her und hin war mir Zukunft, Hoffnung, Freundschaft entgegengekommen wie nirgends sonst, hier konnte ich Deutschland verlassen, wann immer ich wollte, und mit ganz anderen Leuten sorglos sein. Asher Reich hatte mitgeteilt, daß DIE KUNST VON NAFTALI bedeutend in Israel sei und die offenbar bekannteste weltweit seit Gründung des Staates. Sie dekorierte die Eingangshalle des Präsidentenpalastes in Jerusalem und als Metallrelief – mit der Allegorie des judaischen Löwen – den Vorraum von Yad Vashem.
*
Wenn ich einen halben oder ganzen Tag bei ihm in Basel gewesen war, fuhren wir am Abend mit der Tram zum Badischen Bahnhof, Naftali begleitete mich durch lange, hallende Gänge, an nicht mehr besetzten Zoll- und Kontrollkiosken vorbei auf den Bahnsteig und wartete mit mir in einem Cafeteria-Container auf meinen Zug. Seine kleine, massive Gestalt blieb winkend im Zwielicht der Halle zurück, sein Gesicht schien von Ernst verschlossen, er lächelte nicht.
Bahnhöfe machten auf ihn einen starken Eindruck. Ungewißheit schien ihn zu befallen, die eigene Neugier befremdete ihn, er sprach halblaut, verstummte, hielt sich mit kurzen Schritten an meiner Seite, und ich verspürte in ihm Befürchtung und Zweifel. Etwas Nichtgeheures hinderte ihn, sich allein in Bahnhöfen aufzuhalten.
Ich holte ihn mit dem Wagen in Basel ab, brachte ihn durch das Markgräflerland auf Nebenstraßen nach Freiburg, zeigte ihm Orte und Häuser, die ich kannte, brachte ihn an den Abenden zum Zug nach Basel, besorgte sein Ticket – er selbst schien außerstande, ein Ticket zu kaufen –, blieb auf dem Bahnsteig zurück und winkte, wie er in Basel zurückblieb und winkte. Spät in der Nacht wurde telefoniert und mit Genugtuung festgestellt, daß er ohne Probleme durch den Badischen Bahnhof und danach mit der Tram und zu Fuß nach Hause gekommen war.
Als ich ihn einmal bitten mußte, allein mit dem ICE nach Freiburg zu fahren, löste die Bitte in ihm Erschrecken aus. Wie einem angstvollen, kopfscheuen Kind mußten ihm in endlosen Telefonaten die Unsicherheit und die Furcht genommen werden. Mit dem ausgesuchten ICE kam er nicht an. Er hatte sich auf einen falschen Bahnsteig verirrt und war in einem REGIONALEXPRESS von einer kleinen Station zur nächsten, zwei ungewiß endlose Stunden nach Freiburg getuckert worden. Unglücklicher, erleichterter Naftali, entgeisterte Augen. Es waren wohl nicht nur die Bahnhöfe und die Züge. Um sich in Deutschland orientieren zu können, brauchte er, schien mir, die Gegenwart eines Menschen, der ihm vorausging in einer Schneise.
*
Sulzburg, eine kleine, einstmals christlich-jüdische Landstadt in den Vorbergen des südlichen Schwarzwalds. Ich wollte ihm den Jüdischen Friedhof zeigen, wir fuhren im Wagen hin. Er liegt in alt vorgeschriebener Entfernung vom Ort an einem Berghang im Mischwald, ein starker Bergbach strömt vorbei. Vor dem Friedhofstor wurde ein Campingplatz eingerichtet. Man durchquert ihn zu Fuß, um in den Friedhof zu kommen.
Entlang einer steilen Treppe aus schiefen Steinen, auf mehreren Terrassen vergrast und verfallen im Zwielicht, steigt der Grabsteingarten – einstmals ein Totenpark – hoch in den Wald und verliert sich unter bemoosten Bäumen. Die Schriften der ältesten Gräber sind nicht zu entziffern, die Steine grün und schwarz von Moder, versinken in Erde und Laub. Es gibt keine Steine mehr auf den Böden des Friedhofs, sie liegen in Haufen und einzeln auf den Gräbern. Stimmen der Vögel, wenn das Camping außer Betrieb ist, tiefe Ruhe. Eine neue Stele in der Nähe des Eingangs trägt die Inschrift: »Den Opfern der Judenverfolgung von 1933–1945 gewidmet und dem Gedenken der Juden von Sulzburg und Staufen, die schutzlos preisgegeben den Tod für ihren Glauben erlitten.« (1970)
Hier wurden Mitte der dreißiger Jahre die letzten Toten der Jüdischen Gemeinde beerdigt. Aus Sulzburg stammte Gustav Weil, ein Jude, der das Gegenteil eines Juden sein wollte, Arabisch lernte, in Kairo lebte und als erster die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vollständig ins Deutsche übersetzte. Das Leben der Juden, die mit den Christen gemeinsame Arbeit – der Wein, das Vieh, das Holz und ein Bergwerk – wurden rabiat und schnell zerschlagen, die Juden nach Gurs deportiert.
Ich sagte: – die den Tod für ihren Glauben erlitten und das Camping vorm Friedhof, das ist deutsche Kultur.
Naftalis Lachen war unfroh, doch schien dieser Satz ihn kaum zu erreichen. Wann warst du zum letztenmal auf einem Jüdischen Friedhof? Er gab keine Antwort, stieg schnell, ohne Vorsicht die steilen, schiefen Stufen hinauf, verschwand im Halbdunkel zwischen Gräbern und Sträuchern, kam dann langsamer, doch ohne Vorsicht die Stufen wieder herunter, stand zwischen Gräbern und starrte mich an, als wüßte ich nichts von diesem Ort. DAS IST DOCH, WOHER ICH KOMME! Ein geflüsterter Ruf, ein Schrei.
Naftali, der gern im Auto lachende, rücksichtslos schwadronierende Ausflügler war während der Weiterfahrt still. Monate später sagte er: ich kann den Ort nicht vergessen.
*
In seiner Wohnung in Basel sah ich Fotografien seiner Frau Hannah an der Wand, andere nahm er aus Büchern, Mappen und Kästen, die er, am Tisch sitzend, mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte. Hannah war eine große, schöne, sportlich trainierte Frau. Er hatte als Lehrer für Kunst und junger Dozent auf Zypern und in Tel Aviv mit ihr zusammengearbeitet. Sie war eine Tochter russischer Immigranten der ersten Generation von Einwanderern. Er selbst sah sich als EINEN DER LETZTEN, DIE DORT – in Europa – GEBOREN UND NACH EREZ ISRAEL GEKOMMEN WAREN. Nach der Geburt ihres zweiten Sohns wurde PARKINSON bei ihr diagnostiziert. Naftali brachte sie nach Deutschland, in ein Klinikum in Freiburg. Eine Operation, die nicht wiederholt werden konnte, rettete ihr Dasein für zehn Jahre.
In einer kleinen Buchhandlung in der Salzstraße in Freiburg entdeckte Naftali die Bildergeschichte des Moèl, die ich 1958 gezeichnet, 1959 veröffentlicht hatte. Er kaufte das Buch, nahm es überall hin mit, nach Israel, nach Paris und zuletzt nach Basel. Er liebte Moèl und den Fisch und brauchte sie. Bei meinem ersten Besuch zeigte er mir das alte Exemplar voll von Flecken und Eselsohren.
BEHOLD! I DO NOT GIVE LECTURES, OR
A LITTLE CHARITY: WHEN I GIVE,
I GIVE MYSELF.
(Walt Whitman)
»Dies ist die Geschichte von Moèl und seinem Fisch, sie ist in der Bildersprache geschrieben. Vor Zeiten ging es Moèl gut, er lebte angenehm. Aber das Angenehme brachte ihm nichts ein, das Unbekannte lockte aufzubrechen. Da machte sich Moèl an sein Leben schwarzen Glücks.
Seine Tage sind nicht gezählt, und er besitzt nichts außer seinem Fisch; er ist weder arm noch reich und steht in niemandes Dienst. Es geht ihm besser als dem Bauern Sancho Pansa, der sich bitter beklagt, daß er das von Don Quichote versprochene Königreich nie bekommen hat, denn Moèl ist nie etwas versprochen worden, nicht einmal ein verwilderter Rübenacker. Daher wird Moèl nichts fordern oder erwarten, aber alles erobern und sich anverwandeln, was er an Welt und ihren wechselnden Bildern findet. Er wird durch die Länder und Labyrinthe, Bestürzungen und Niederlagen, Tollheiten und Schwänke bis an die großen Seen der Träume kommen. Er wird Licht und Schatten queren und ein König heimlich gesicherter Schätze sein, für die man keine Häuser baut, und er wird reich sein in dem Bemühen, ohne Fesseln zu leben.
Unterwegs hat Moèl manchen Freund gefunden. Er lacht, wenn der eine von ihnen in einer Bretterbude überm Abgrund balanciert und sein Stöckchen schwenkt. Er erinnert sich auch, mit manchem unentbehrlichen Taugenichts auf derselben Landstraße getippelt zu sein. Er hat mit dem, der die Welt entsetzlich fand und sich dafür bedankte, ein paar Zwischenblicke des Einverständnisses ausgetauscht. Er ist dem, der sein Gauklergewand zerfetzte, an den Ecken zugiger Boulevards begegnet. Und einmal hat er einen Mann das Lied von der Freundlichkeit der Welt singen hören; das hat Moèl nicht mehr vergessen können.
Hellwach schlafwandelt Moèl von einem Land in das andere. Was er erlebt ist unwirklich, aber wahr. Er füllt, was er leer findet, und leert das Volle. Er erfährt, daß weder sein Schatten, sein Fisch noch sein Traum, weder sein Schuh noch seine schöne Magelone wirklich ihm gehören, und er richtet sich darauf ein. Er nimmt sein Leben in die Hand und geht brüderlich mit ihm um. Er liebt es und tut alles, um es instand zu halten. Er schuldet ihm nichts, das hofft er.
Man wird ihn foltern, erniedrigen und um jegliche Würde bringen. Man wird ihn das Fürchten lehren. Zorn, Erschöpfung und Grimasse, das Große Gelächter und der letzte Schmerz werden ihn treffen. Aber man wird ihn nicht vernichten können. Moèl, geschunden, zerschlagen und betäubt, wird von neuem zu leben anfangen.«
Naftalis Fisch ist Gegenstand der Malerei, Geschwistergeschöpf des Moèl, jüdisches Lebewesen und Symbol, das über die Kraft der Verwandlung verfügt. Er kann als Luftgestalt erscheinen, als Flucht- und Flugtier, befrachtet mit Zauberzeug und Kram des Lebens. Er hat eine Zunge und schreit.
[...]
SINN UND FORM 3/2013, S. 325-329
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Meerapfel, Jeanine
Eine Frau
Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerungen zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung dafür zu finden. Vielleicht geht es darum, mich so lange zu erinnern, bis ich vergessen kann.
Ich erfinde immer neue Ordnungssysteme, die ich dann wieder verwerfe. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach einer logischen Archivierung ein. Es ist, wie wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang bringt.
Andererseits birgt die Unordnung ein enormes Versprechen; sie verspricht eine Zeit, in der alles geordnet werden wird … eine zukünftige Zeit. Also bleibe ich dabei, die Erinnerungen durch eine Erzählung zu ordnen …
Ich suche nach einer Erinnerung. Nach meiner eigenen verschütteten Erinnerung an Marie Louise Chatelaine, meine Mutter.
Ich suche nach »einem kohärenten Bild der Vergangenheit«.
Man nannte sie – oder sie nannte sich – Malou. Ich habe vor vielen Jahren einen Film mit diesem Titel gemacht, mein erster langer Spielfilm: Darin wurde einiges aus ihrem Leben erzählt, aber vieles auch im Dienste einer nachvollziehbaren Dramaturgie hingedreht – ein gutes Wort, hingedreht.
Jetzt will ich versuchen, die Reste, Bruchstücke, Fundstücke in einen Zusammenhang zu stellen. Erinnerungen aufheben. Aus den biographischen Materialien, Fotos, 8-mm-Filmen, Dokumenten kristallisiert sich die Geschichte einer Emigration, einer Emigration von Europa nach Südamerika heraus und wie dieses »Leben woanders«, wie die Verpflanzung eines Menschen das Schicksal dieses Menschen verändern kann. Aber nicht nur das.
Im letzten Haus, in dem meine Mutter in Buenos Aires lebte, fand ich die Dinge, die ich heute noch von ihr habe.
Ich nahm so viel ich konnte mit nach Deutschland. Das Silberbesteck mit den Initialen »c« und »m« (für Carl und Malou – oder vielleicht doch nur für Carl Meerapfel?). Das Besteck, das sie so liebte, sie hatte es als Geschenk zur Hochzeit mit meinem Vater in Untergrombach bekommen.
Einen alten, silbernen Brotkorb, silberne Aschenbecher. 24 Mal Fischbesteck, 24 große Eßlöffel, 24 große Messer, 24 große Gabeln, 24 mittlere Löffel, 24 mittlere Messer, 24 mittlere Gabeln. Aber von den kleinen Teelöffeln ist nur einer übrig. Das erzählt wieder eine andere Geschichte: daß einer ihrer Freunde die Löffelchen einen nach dem anderen mitnahm. Oder daß sie versehentlich im Abfall gelandet sind … Oder … Die kleinen Löffel existieren nur in meinem Gedächtnis, als eine Lücke, als etwas, das fehlt.
Ihren Kroko-Koffer für die Schminksachen, einen Ring mit Tigerauge – nichts Wertvolles mehr, denn alles Wertvolle hatte sie verkauft oder verschenkt. Drei Handtäschchen aus Kroko im Stil der fünfziger Jahre, ein braunes Kleid mit Pailletten, Bücher, viele Bücher, auf französisch. Ein »Catéchisme« – eine religiöse und moralische Unterweisung für junge Juden, eine Bibel, Guy de Maupassant, Honoré de Balzac … Aquarelle, teilweise verblaßt, von trinkenden Menschen in einer Pariser Kneipe, ein Nähkästchen auf vier Beinen aus gedrechseltem Holz, in dem sie Knöpfe und farbige Seidengarne aufbewahrte.
Papiere, Pässe, Geburtsurkunden, Todesurkunden, Fotoalben, viele Fotoalben. Massen von Fotos, und 8-mm-Filmmaterial.
Die meisten Aufnahmen stammen wohl aus der Zeit, nachdem Malou meinen Vater, Carl Meerapfel, kennengelernt hatte, den wohlhabenden Mann aus Untergrombach, einer kleinen Stadt in Süddeutschland, der mit ihr Reisen unternahm, überallhin, nach Italien, zum Skifahren, in die Schweiz … Und alles fotografierte. Es sieht aus wie ein wunderbares Leben.
Fotos aus Neapel, aus Florenz, Sorrent, Rom. Sonnendurchflutete Fotos, Malou immer elegant und geschmackvoll gekleidet, meist umrahmt von Carl und von Franz, seinem Bruder (meinem Onkel), zwei gutaussehende Männer in passender Reisekleidung.
Sie war blond, zierlich, hatte blaue Augen, ein sonniges Lächeln. Manchmal, ganz im Stil der Zeit, sah sie auch leicht melancholisch aus.
In den Archives Municipales de Mâcon, im südlichen Burgund, ist Monsieur Franck Metrot stolz, das, was ich suche, gefunden zu haben: die Geburtsurkunde. Am 3. November 1911 wurde in der Maternité der Stadt Mâcon um zehn Uhr abends ein eheliches Kind weiblichen Geschlechts geboren, Tochter des Ehepaars Antoine Chatelaine, 24 Jahre alt, arbeitslos und ohne Adresse, und Françoise Chateau, 24 Jahre alt, Näherin in Saint-Martin-en-Bresse. Sie geben dem Kind den Namen Marie Louise.
Marie Louise Chatelaine, genannt Malou.
Ihre Eltern ließen sie in einem Waisenhaus in Chalon-sur-Saône, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte.
Dann, als sie vermutlich etwa sechs Jahre alt war, hat ihre Tante Jeanne, die Schwester ihrer Mutter, sie mit nach Hause genommen, in die Rue des Tonneliers. Die Mutter war gestorben, der Vater mußte 1914 in den Krieg.
Ihre Adresse finde ich in einem alten, mit Tesa beklebten Dokument, eine Zuwendung des Militärs. Allocation militaire. Darin heißt es: Unterstützung für Soldaten, die während des Krieges die Familienernährer sind.
Das Kind Chatelaine »est admis à toucher pour la famille«: die folgende Familie ist berechtigt, das Geld anzunehmen: Chatelaine Vieublé.
Die Existenz des Kindes wurde also benutzt, um Geld für die Familie zu bekommen.
In der Rue des Tonneliers ist es schwierig, in das Haus zu gelangen. Wir treffen Alexis, der eine Kneipe nebenan besitzt und bereit ist, uns den Durchgang zum Innenhof des Hauses zu öffnen, in dem Malou lebte. Aber er sagt, wir bräuchten die Erlaubnis der Wohnungseigentümer, um hier zu drehen. Eine helle Stimme ruft von oben: Es ist Hélène Frigiolini, die uns in ihre Wohnung läßt und meint, wir könnten bei ihr drehen. Eine Lichtgestalt bildet sich oben an der Wand ab …
Wenn man nach einer solchen Geschichte sucht, findet man überall Zeichen und Hinweise.
Meine Überraschung, als ich eine große Karte von Lateinamerika sehe: Hélène erzählt, daß sie Professorin für Spanisch ist. Sie erzählt mir von ihrem Liebeskummer, von ihrer Katze Chachou, die sie auf der Straße fand. Seit unserer Begegnung schreiben wir uns E-Mails …
Ich kann mir nicht erklären, warum ich nicht früher hierhergefahren bin, nach Mâcon und nach Chalon-sur-Saône. Ich habe Hinweise, Adressen … Kann man eine Biographie, ein Schicksal an den Orten, an denen sie sich abgespielt haben, ablesen, verstehen? Die Städtchen Mâcon und auch Chalon-sur-Saône liegen am Ufer der Saône … Dieser Fluß, der in die Loire mündet, ist vielleicht schon ein Hinweis auf die Bedeutung, die ein anderer Fluß, der Río de la Plata, in Malous Leben haben wird.
Das wenige, was sie mir von ihrer Herkunft erzählte, war: Sie sei ein Waisenkind gewesen und von einer Tante großgezogen worden.
Eine Tante, die Jeanne hieß. Ansonsten gab es wohl nur noch einen Bruder, das erzählte sie mir, einen Bruder, den sie sehr geliebt hat und der dann weg war. Weg wohin? In den Krieg? In die Fremdenlegion?
Sie hat unter den vielen Papieren besonders eines aufbewahrt: den Beweis, daß sie die Grundschule erfolgreich abgeschlossen hat. Als ich es Monsieur Pascal Voisin, dem Leiter der École du Centre, zeige, erlaubt er uns, in seiner Schule zu drehen. Mit einem Lächeln.
Einmal bat ich Malou, ihre Kindheitsgeschichte für mich aufzuschreiben.
»Ich wurde am 2. November 1911 geboren. Ich lebte bei meiner Tante Jeanne und meinem Onkel. Ich war zwei Jahre alt, meine Mutter kannte ich nicht. Sie hatte eine Arbeit als Hausmädchen. Einmal kam sie mich besuchen und brachte mir eine große Puppe mit. Die Puppe zerbrach, ich weinte viel. Ich ging zur Schule, ohne je einen Tag zu versäumen. Meine Tante war eine Hexe. Jeden Abend mußte ich im Schein einer Kerze meine Hausaufgaben machen. Wenn ich aus der Schule kam, ließ mich meine Tante Hausschuhe nähen, Kleider nähen, die Kleider meines Onkels reparieren, der als Bauarbeiter arbeitete. Ich sah die anderen Mädchen auf der Straße spielen, ich mußte viel weinen, aber so war es nun einmal.«
Die Kathedrale erinnert mich an meine Suche als Fünfzehnjährige, an der Hand meiner zwei Jahre älteren Schwester Denise. Sie schleppte mich in die Kirchen in Buenos Aires. Denise meinte, Gott wäre da zu finden.
Bist du hier gewesen, Maman? Hast du das sinnliche Gesicht von Jesus gesehen? Mußtest du zur Kommunion gehen? Beichten? Hast du dich hier zumindest eine Zeitlang zu Hause gefühlt?
(…)
SINN UND FORM 5/2023, S. 597-616, hHier S. 597-600
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- 5/2023 | Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden, S. 1054 Leseprobe
Mensching, Steffen
Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden
1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. Als er 1950 aus dem Exil zurückkehrte, steckte in seinem Gepäck ein Exemplar der Studie, die er in den Jahren der Emigration handschriftlich bearbeitet hatte. Die Neuausgabe war eine der Illusionen, die er sich machte, als er in der jungen DDR, dem demokratischen Deutschland, wie der Dichter gesagt hätte, seinen Wohnsitz wählte. Er sollte keine Wiederauflage seiner Texte aus der Zwischenkriegszeit erleben.
Vermutlich erfuhr er auch nie, daß ihm und seiner Untersuchung von einem Kollegen Beachtung geschenkt wurde, der wie er durch Emigration und Vertreibung an Popularität verloren hatte, dem aber – im Gegensatz zu ihm – eine Renaissance und ungeahnter Nachruhm bevorstand. Der Philosoph Walter Benjamin hatte seinem Freund Gershom Scholem in Jerusalem am 25. Oktober 1932 in einem Brief aus Italien »Das Wort« als lesenswert empfohlen, nicht ohne spitzzüngig anzumerken, diese Leistung sei um so erstaunlicher, als es sich bei Leonhard um einen »bis dato recht unbeträchtlichen Literaten« handele. »So bedenklich ihr völliger Mangel an theoretischer Fundierung« sei, gebe die »kleine sprachphilosophische Studie« doch ungewöhnlich viel Stoff zum Nachdenken.
Der Kulturkritiker war nicht der einzige bedeutende Kopf, dem die Publikation auffiel. Lobende Rezensionen verfaßten Joseph Roth, Hermann Hesse, Marcel Brion und Hans-Adalbert von Maltzahn. Im Literaturblatt der »Frankfurter Zeitung « vom 14. August 1932 beschrieb Roth die Schrift als »merkwürdigen Versuch «, keineswegs eine im althergebrachten Sinne philologische Arbeit, eher eine aphilologische oder antiphilologische. »Leonhard möchte nachweisen, daß die Wörter – in seinem Sinne sagt man vielleicht besser: die Worte – ein klangliches und optisches, gewissermaßen sogar bewußt klangliches (und optisches) Leben führen – unabhängig von ihrer philologischen Bedeutung, ihrer Herkunft und (um einen modernen Ausdruck rascherer Verständlichkeit halber zu gebrauchen): ihrer ›Rasse‹.«
Die Formulierung Roths irritiert den heutigen Leser. Es ist anzunehmen, daß der Romancier den Begriff Rasse sechs Monate später nicht mehr benutzt hätte. Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, dem Reichstagsbrand, dem Wahlsieg der NSDAP am 5. März 1933 kam es in Deutschland am 1. April 1933 zum ersten Judenboykott, der deutlich machte, daß die antisemitischen Parolen der Nazipartei keine leeren Phrasen waren, sondern Handlungsanleitungen für Brandschatzung, Raub und Mord. Zwei Jahre später wurde die nationalsozialistische Rassenlehre mit den Nürnberger Gesetzen zur juristischen Legitimation für die Vernichtung der Juden in Europa. Leonhards Studie über die Mysterien der Sprache erschien zur Unzeit. Durch deutsche Straßen hallte das Gebrüll »Deutschland erwache!«
Roth ahnte, worum es Leonhard ging: »Wie die Künder der ›Physiognomik‹ einst das ›Wesen‹ des Physiognomieträgers aus dessen Gesichtsbildung zu lesen beflissen waren, so bemüht sich Leonhard, den ›Sinn‹ des Wortes aus dessen ›Klangbild‹ zu erklären.« Allerdings äußerte er auch Zweifel an dieser Methode. Die Interpretationen, die Leonhard anstellte, seien zu stark von den Empfindungen der jeweiligen Betrachter abhängig, ein Pfälzer hätte beispielsweise eine andere Beziehung zum Wort »Pfütze« als ein Hanseat, und ihm, Roth, sei die Fügung »um die Ecke rennen« durchaus geläufig, während Leonhard überzeugt sei, es müsse »um die Ecke laufen« heißen. Seine Rezension schloß Roth allerdings versöhnlich, man müsse Leonhard dankbar sein für seine Kühnheit: »Er ist ein Dichter, den wir schätzen. Wenn er seine ›Werkstatt‹ öffnet, ist es uns ein Vergnügen.«
In der literarischen Beilage der »Neuen Zürcher Zeitung« würdigte Hermann Hesse »Das Wort« als »Vorstoß in eine zukünftige Art von Philologie«, Leonhard nehme die Sprache »rein als Ausdruck, nicht als Mittel der Mitteilung«, und belausche »im nuancenreichen Spiel der Vokale und Konsonanten, in geduldiger eindringlicher Behorchung, den Geist der Sprachschöpfung«. Ein Kritiker der »Prager Presse« schrieb: »In wörterbuchartiger Anordnung und verdichtetster Diktion wird eine Anzahl von Wortbildungen geboten, deren Methodik und Technik eine von allem Historismus abgelöste, in ihrem Radikalismus neue Art der Sprachbetrachtung konstituiert. Diese Betrachtungsart ist die charakterologische (…).« Und die »Neue Badische Zeitung« aus Karlsruhe stellte fest, die Studie wirke »wie eine Offenbarung«: »Nichts in der Sprache ist Zufall (…). Es gibt keine klangliche Identität der Nomina und der Res. Daher gibt es auch keine ›Synonyma‹. Immer gibt es mindestens eine Nüance, die sie voneinander unterscheidet (…).« Es sei verblüffend, zu welchen Ergebnissen Leonhard komme: »Wie er ein Wort aus sich heraus erklärt. Wie er in die Bedeutung eines Wortes eindringt. Es sind keine philologischen, es sind tief philosophische Erkenntnisse.«
Diese Einschätzung traf den Kern der Untersuchung. Aber ähnelten sich die philosophischen Intentionen Benjamins und Leonhards? Letzterer behauptete, die Abfassung seiner Schrift habe »etwa fünfzehn Jahre – natürlich nicht ununterbrochner – Arbeit erfordert«. Wenn er sich in der Zwischenzeit anderen Stoffen widmete, sei das damit verbundene Problem »eigentlich niemals dem Bewußtsein des Verfassers« entrückt. Tatsächlich gibt es im Werk des Expressionisten frühe Verweise auf das Thema. Seine 1919 bei Rowohlt erschienene Aphorismensammlung (die keine klassischen Aphorismen enthielt) umkreist die Fragestellung. Nach einer im O-Mensch-Pathos gehaltenen Einleitung (»Hört denn! Und wenn nur Steine hören. Wir wollen schrein, daß Steine und sogar Menschen hören.«) folgt eine Passage, die Benjamin hätte aufhorchen lassen: »Denn das Wort ist nicht Mittel der Mitteilung, sondern des Ausdrucks, ist Ausdruck selbst.«
In seinem Aufsatz »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen « gelangte der Philosoph zu einer ähnlichen Einschätzung, der Text wurde Ende 1916 verfaßt: »Das heißt: die deutsche Sprache z. B. ist keineswegs der Ausdruck für alles, was wir durch sie – vermeintlich – ausdrücken können, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck dessen, was sich in ihr mitteilt.« Fünfzehn Jahre später – Benjamin lebte auf Ibiza und steckte in einer tiefen Depression – nahm er die sprachkritischen Betrachtungen wieder auf. Daß sich Leonhard und Benjamin inmitten einer gesellschaftlichen Krise auf ein Gebiet wagten, das zeitlos und weltabgewandt anmutet, erscheint als seltsamer Zufall. Deutet der Ausflug in die Sprachwissenschaft auf Weltflucht? Maximilian Scheer, ein enger Freund Leonhards in den Jahren des französischen Exils, bezeichnete »Das Wort« in einer Skizze über den Autor abschätzig als »zeitabgewandtes Werk«.
Benjamin wurde zum Klassiker der Moderne, Leonhard blieb eine Randfigur der Literatur des 20. Jahrhunderts, ein zweitrangiger Autor mit kommunistischem Stigma. Über die Beziehung der ungleichen Gleichen ist wenig bekannt. Benjamin erwähnte den Namen des Kollegen nur im Brief an Scholem und im Aufsatz »Lehre vom Ähnlichen«, der erst nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Ob Leonhard in seinen unveröffentlichten Briefen oder Tagebüchern auf Benjamin zu sprechen kam, ist ungewiß, in den Traum-Protokollen von 1940 bis 1944 taucht der Name nicht auf, allerdings findet man in Leonhards Adreßbuch (das ebenfalls im Archiv der Akademie der Künste einzusehen ist und sich wie ein Who’s Who des Exils liest) mehrere Anschriften des Emigranten Benjamin; das Hotel Floridor im 14. Arrondissement, Place Denfert-Rochereau, die Villa Robert-Lindet im 15. Arrondissement oder ein Zimmer in der Rue Dombasle Nummer 10, wo zeitweise auch Otto Katz (alias André Simone) und Hans Sahl wohnten.
Trotzdem dürften sie sich begegnet sein, beide gehörten eine Zeitlang zur freideutschen Jugendbewegung. In einem Fernsehinterview erwähnte Gershom Scholem 1973, daß Benjamin mit einem Wortführer dieser Bewegung, Kurt Hiller, in eher distanziertem Verhältnis stand. Leonhard hingegen war mit Hiller bis Anfang der dreißiger Jahre befreundet, die bereits erwähnten, bei Rowohlt erschienenen Aphorismen »Alles und Nichts« sind ihm gewidmet. In der von Hiller 1923 herausgegebenen Publikation »Das Ziel. Aufrufe zu tätigem Geist« stehen Texte von Leonhard und Benjamin hintereinander. Auch in dem von Ignaz Ježower 1928 zusammengestellten »Buch der Träume« folgen auf Leonhards Notate die des drei Jahre jüngeren Benjamin. Man kann davon ausgehen, daß sie die Texte des anderen gelesen haben. Auch hatten sie gemeinsame Bekannte in Berlin, Paris oder Nizza, etwa Lion Feuchtwanger, Wieland Herzfelde und Maria Osten, und werden sich bei Zusammenkünften des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller im Exil, den Leonhard ab 1933 leitete, über den Weg gelaufen sein.
Die französische Sprache war beiden vertraut, Leonhard folgte bereits 1927 seinem Freund Walter Hasenclever nach Paris, lebte dort in dessen Wohnung, später, nach der Heirat mit einer Französin, Yvette Prost, zog er nach Hyères an die Côte d’Azur. Benjamin floh Mitte März 1933 aus Deutschland und lebte vorwiegend in Frankreich. Beide standen links. Während sich Benjamin theoretisch der Idee des Sozialismus näherte, war Leonhard Aktivist, ohne Parteimitglied zu werden, und scheute sich nicht, auch propagandistisch aufzutreten. Er stellte seine literarische Arbeit in den Dienst der Sache, als Pazifist und Sozialist – eine freiwillige Unterwerfung, die für Benjamin nicht in Frage kam. Die agitatorischen Tendenzen in Leonhards Werk dürften ihn wenig überzeugt haben, auch ist anzuzweifeln, daß er die esoterischen, ja dandyhaften Seiten des Lyrikers zur Kenntnis nahm. Benjamin interessierte sich für den Rausch, seine Haschisch-Experimente verweisen auf die dunkle Sehnsucht des sonst Struktur und Regelwerk achtenden Theoretikers; Leonhard, der in seinen lyrischen Texten zum freien Vers und einem Parlando-Ton neigte, lebte sein Bedürfnis nach Rausch aus. Sexualität und Libido spielten in seinem Leben eine mindestens so wichtige Rolle wie der politische Kampf. Leonhard war praktizierender Hedonist, etwas, das Benjamin gelegentlich auch gern gewesen wäre.
(…)
SINN UND FORM 5/2023, S. 681-697, hier S. 681-684
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Michon, Pierre
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Michon, Pierre
Der Himmel ist ein sehr großer Mann
Übrigens hatte schon Swedenborg,
der eine weitaus größere Seele besaß,
uns gelehrt: Der Himmel ist ein sehr großer Mann.
BaudelaireEs kommt selten vor, daß ich bete. Anfang September 2001 lag meine Mutter, die ihr Erwachsenenleben lang versucht hatte, mir Vater und Mutter zu sein und im hohen Alter meine Tochter hätte sein können, in der Kleinstadt G. im Sterben. Vor dem Fenster standen gewaltige Bäume, ein Blätterwall. Jeder Tag dieses Spätsommers war schön, die Sonne spielte auf der Mauer in immer neuen Variationen unter den Augen einer Sterbenden, die Bäume geliebt hatte. Ich ging jeden Tag zu ihr, aber als ich am siebten September kam, sah ich, daß es aus war (mein Geist sah es, mein Herz konnte nicht folgen): Sie röchelte, würde nicht mehr sprechen; sie war in jenen Zustand der umherirrenden Seelen eingetreten, den die Tibetaner das Bardo nennen. Ich setzte mich zu ihr, und nach einer Weile, die für mich unermeßlich war, Stunden oder Minuten, sprang ich auf und lief hinaus in eine Buchhandlung, um Bücher zu kaufen. Ich nahm mir Zeit, auszuwählen. Ich kehrte zurück mit dem XXIII. Band der »Carte archéologique de la Gaule Romaine«, dem zweiten Band von Michel Foucaults »Dits et écrits« in der Quarto-Ausgabe und einem dritten Buch, das ich vergessen habe. Noch immer rannte ich, wie der Hase in der Fabel. Es war vielleicht sechs Uhr nachmittags. Als ich ins Zimmer meiner Mutter kam, röchelte sie nicht mehr, sie atmete nicht mehr, aber ihre Hand war noch ganz warm, als ich sie nahm. Nachdem die herbeigerufene Krankenschwester den Tod bestätigt hatte, ließ man mich allein. Einzig mein Geist war da und registrierte, wie zuvor. Die Bücher lagen brav in ihrem Tragetäschchen am Fußende des Bettes, bei den Leichenfüßen, die winzig sind. Der grüne Wall tat dem Geist wohl. Auch der Geist war lau, wie er immer ist. Ich mußte beten, mußte das Herz und die Seele herbeirufen, wie es dieser Frau gebührte. Ich versuchte es mit einer jener im Katechismusunterricht erlernten Sachen, dem Vaterunser wahrscheinlich, kam nicht weit. Und dann drängte sich der Text auf, das von sehr weit her gekommene, wie von einem anderen gesandte Gebet, und ich sprach es laut, wie damit die Tote es höre: »Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt, / laßt euer Herz nicht gegen uns verhärten, / denn alles Mitgefühl, das ihr uns gebt, / wird Gott dereinst euch um so höher werten.« (Villon, Ballade der Gehenkten, Übersetzung K.A. Ammer) Herz und Seele sprangen herbei, ich sagte das Gedicht von Anfang bis Ende auf, wie es gesagt werden muß, unter Tränen, ich stand vor der Leiche meiner Mutter, wie man vor ihr stehen muß, unter Tränen.
Ein anderes Mal habe ich gebetet, ein paar Jahre zuvor, im Oktober. Ein Kind war in der Nacht geboren worden, ich war gerade nach Hause zurückgekehrt, im Morgengrauen. Etwas kam in mir auf, was das Verlangen war zu beten, mich abzuschließen, mich zu öffnen. Ruhig auf meinem Bett sitzend, lächelnd wie man lächelt, wenn man allein ist, sagte ich laut, von Anfang bis Ende, Victor Hugos »Der Schlaf des Boas« auf. Ich sagte es, wie es gesagt werden muß, in einem Gefühl der Ruhe, der völligen Ergebenheit, der Hoffnung entgegen jeder Vernunft, der nie ausbleibenden Glorie.
Die »Ballade der Gehenkten« kann für eine tote Mutter gesprochen werden, »Der Schlaf des Boas« für eine lebend geborene und lebensfähige Tochter, wie die Gebärhelfer in ihrem Routinebericht schreiben. Es gibt nur wenige Gedichte, die diesen beiden Ereignissen standhalten, so wie es von Wolfram heißt, daß es der absoluten Nulltemperatur ständhält; das Metall, in das die schönen, zwischen Erde und Mond schwebenden, den Big Bang betrachtenden Teleskope gekleidet sind. Das Wolfram betrachtet den Big Bang. Die beiden Gedichte, die ich aufsagte, betrachten Leichen, alle Leichen, darunter die der Mütter, sie betrachten die Seele, die sich des von ihr einst bewohnten Leibes erinnert, aus dem heraus sie den kleinen, für kurze Zeit ihr zugeteilten Ausschnitt des Big Bang beobachten konnte; sie betrachten die lebendigen Leiber, die kleinen Kinder, die zur Welt kommen, älter werden und sterben. Sie betrachten sie, sie sprechen zu ihnen, sie sprechen von ihnen, von Leichen, kleinen Kindern und von uns, die wir dazwischenstehen, als ob Leichen, kleine Kinder und wir dasselbe wären – und es ist dasselbe. Sie beruhigen die Leiche, helfen dem Kind, auf seinen Beinen zu stehen. Wahrscheinlich ist das die Funktion der Poesie. Eine andere vermag ich kaum zu sehen. Gedichte können diese Wirkung haben, sie können den Big Bang und das Jüngste Gericht und alles, was dazwischen geschieht, die ewige Trauer und die ewige Freude, den Reichtum und seinen Schatten, das Elend, den grünen Wall, die Tote, die Adjektive lebend und lebensfähig, im selben kurzen Blick festhalten; sie können Menschen erschüttern, indem sie ihnen für kurze Zeit diesen doppelten Blick verleihen. Wozu sind Dichter gut in unserer Zeit, die eine Zeit der Not ist, das Jahr der Not 2002, wie das Jahr 1462 in Moulins ein Jahr der Not war, als Villon das Testament zu Ende brachte, und das Jahr 1859, als Victor Hugo im Mai »Der Schlaf des Boas« schrieb, wie das ungewisse Jahr des späten Neolithikums, als Boas träumte – Wozu Dichter? (Im Original deutsch.) Nur dazu.
Gewiß habe ich noch einige Male gebetet, aber diese Gebete waren keine ganz richtigen, sie waren nicht an eine alte Tote oder eine kleine Lebende gerichtet – sie waren an nichts gerichtet, an die Bäume, an meine Selbstgefälligkeit, an eine Freude, auf die man sich keinen Reim machen kann und die sich Reime beschert, um sich zu verzehnfachen. Einmal bin ich Archäologen-Freunden zu einer Ausgrabungsstätte in Oberäthiopien gefolgt, in der Provinz Menz: dreitausend Meter Höhe in den Tropen, das heißt in etwa das Klima der Toskana, das extravagante Blau des Himmels und jene Pflanzendecke, die die Geographen Park nennen, eine Savanne also, die aber an einen Weideplatz und an die französischen Causses erinnert, ein englischer Rasen. Die Ausgrabungen umschlossen die Zeltstadt eines mittelalterlichen Königs, der Sorge getragen hatte, wie Vegetius rät, »sein Lager an einem sicheren Ort einzurichten, wo man reichlich Holz, Viehfutter, Wasser und gesunde Luft vorfindet«. Das alles war hier reichlich vorhanden; es gab auch Korn, das die Einheimischen mit einer Pflugschar aus hartem Mimosenholz in die Erde bringen, mit der Sichel ernten und auf der Tenne dreschen; es gab riesige, tafelartige, königlichen Schatten spendende Wacholder; Basaltorgeln mit bloßliegendem Fundament, ein Felsdurcheinander, schöne, polyedrische Brocken, die zum Anbeißen aussahen, wie in Rimbauds »Festen des Hungers«, und auf denen man sich niederließ wie ein König; und wenn man das königliche Lager und die eingestürzten Orgeln hinter sich ließ, kam man in eine weitläufige, mit Eukalyptusbäumen bewachsene Prärie, die steil bis zum natürlichen Schutzgraben eines dreihundert Meter tiefen Canyons abfiel.
Dorthin ging ich oft. Es war einsam dort und auch wieder nicht. Oft glaubte ich mich allein und plötzlich umstanden mich Kinder, aufmerksam, gelassen, hilfsbereit und willig, einem in schlechtem Englisch den Zweck einer beliebigen Sache, des Windes, der Bäume, der Zweige, Gottes oder, wenn man darauf aus war, der gereimten Poesie zu erklären. Schwer zufriedenzustellen waren sie nicht. Nur hatten sie schon am ersten Tag gemerkt, daß in meinen Taschen immer mehrere dieser bunten Plastikstifte steckten, die es in Bahnhofskiosken zu kaufen gibt und die ein wahrer Schatz für sie waren; auch wurden das Gespräch und die Gefälligkeiten immer wieder unterbrochen: »Father. A pen? Give a pen, father.« Der Umgang mit dem father (hielten sie mich für einen Priester? einen Patriarchen? oder war ich einfach ein Alter für sie?) hinderte sie nicht daran, abgestorbene Eukalyptuszweige aufzusammeln, denn deshalb waren sie in die Prärie über dem Canyon gekommen. Das Sammeln war Aufgabe der Kinder von Menz, höchstens noch der jungen Männer; ich wußte, daß die wenigen Frauen, die Holz suchten, verwitwet oder von ihren Männern verlassen worden und kinderlos waren. Viele Frauen sind in dieser Situation, sie suchen verzweifelt einen beliebigen Gefährten, einen Ernährer. Sie sind nicht besonders anspruchsvoll.
Eines Abends sah ich eine von ihnen. Sie kam vom anderen Ende der Prärie. Beim Näherkommen machte sie mir, Holz auflesend, kleine Zeichen. Es waren diskrete und zugleich offensichtliche Offerten, ein Lächeln, Blicke, bescheidene und offene Versuche, sich vorteilhaft zu präsentieren, ohne Affektiertheit oder Vulgarität, so wie sexuelle Offerten wahrscheinlich von Urbeginn an in den Agrargesellschaften, die wir nicht mehr kennen, ausgedrückt wurden. Ich begriff erst überhaupt nicht, was sie wollte, hielt ihr Gebaren für Freundlichkeit. Dann stand sie vor mir, ihr Reisigbündel im Arm. Sie mochte dreißig oder vierzig Jahre alt sein und war noch recht hübsch, aber ihr fehlten ein paar Zähne und der Bauch war unförmig. In dem schlechten Amerikanisch, über das die ganze Welt verfügt, in diesem Weltreich-Syriakisch sprach sie mich an, freundlich sich darbietend, ohne Zurschaustellung. Ihre vier Kinder waren tot, ihr Mann auch. Sie lächelte. Sie besaß eine unbeugsame Lebenstapferkeit. Sie schaute mir gerade ins Gesicht. »Come home. Bread. Milk. Me. Tala« (so heißt Bier auf äthiopisch). Sie lachte, es war ihr ernst. Ich lachte auch, sagte, ich hätte bereits homes und families, und einer aus meinem Dorf erwarte mich zum Tala-Trinken. Ich gab ihr etwas anderes als Liebe, was man in der Hintertasche der Jeans trägt und was zu allem gut ist. Sie ging fort mit demselben Lächeln, derselben offenen und direkten Art.
Der falsche Patriarch hatte die richtige Ährenleserin nicht gewollt.
Sie hatte mich bewegt. Sie war weggegangen. Der Wind blies ein wenig vom Canyon her und mir brannten die Augen. Ich sagte von Anfang bis Ende »Der Schlaf des Boas« auf, für die Eukalyptus- und die Wacholderbäume, für die toten Könige, für das Neolithikum, für die Tenne und die Sintfluten, um mir eine Freude zu machen und um mich zum Weinen zu bringen, um schon vor der Tala trunken zu sein, für den Canyon, in den man hinunterfallen kann, für das universelle Kauderwelsch, für die verpaßten Gelegenheiten, für die Frauen, die man will, und für die, die man nicht will, für nimmer mehr, für den Corvus crassirostris, der in Menz nistet, den thick-billed raven mit seinem schwerfälligen Flug, seinem schmutzigen Schnabel, seinem widerwärtigen Geschrei, seinem Gefieder, schwärzer als das alter Krähen, aber mit einer Kinderhandbreit Hermelin auf dem Nacken, Milch, Schnee, ein reiner Spiegel, in dem die Arglosigkeit sich betrachtet.
Als ich fertig war, war sie deutlich zu sehen, die goldene Sichel im Feld der Sterne. Ich ging die Tala trinken.
[...]Aus dem Französischen von Anne Weber
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- 1/1979 | Franz Jung: Aus dem Nachlass
- 4/1981 | Welimir Chlebnikow in diesem Augenblick
- 4/1982 | »Petersburg« oder Das Ende einer Flucht
- 5/1991 | 35 Jahre Slawist in Ostberlin
- 6/1991 | Oleg Zingers Erinnerungen
- 1/1992 | Pawel Florenskis konkrete Metaphysik
- 6/1992 | Das Verschwinden von Franz Jung
- 1/1993 | Sehnsuchtsfigur Sergej Jessenin
- 4/1994 | »Die treibende Wucht der Menschen...« Franz Jungs Vertrustung des Geistes
- 2/1995 | Die Hamburger Rechnung. Zur Topographie der russischen Deutschland - Mythen
- 4/1995 | Zwei Reden Pawel Florenskis
- 6/1995 | Franz Jungs Wiederkehr
- 2/1996 | Pawel Florenski - Briefe und Gespräche
- 6/1997 | Heimwärts. Franz Jungs späte Jahre
- 2/1998 | Das Vermächtnis Pawel Florenskis. Die Gefängnis- und Lagerbriefe 1933 - 1937
- 2/1998 | Zuger Dialoge
- 3/2000 | Verfängliche Nähe. Versuch über Florenski und Dostojewski
- 4/2003 | Um die Grenze
- 5/2004 | Briefwechsel mit den Eltern. Vorbemerkung Fritz Mierau
- 4/2005 | Gespräch mit Adelbert Reif
- 4/2005 | Autorität und Freiheit. Mein Lehrer Arthur Pfeifer
- 5/2009 | Koktebel - Blaues Siegel oder Erfindung einer Landschaft, S. 251 Leseprobe
Mierau, Fritz
Koktebel - Blaues Siegel oder Erfindung einer Landschaft
Vor vierzig Jahren überwältigte mich der Anblick einer Küstenlandschaft am Schwarzen Meer. Auf meiner russischen Reise vom Sommer 1965 hatte ich den Osten der Krim erreicht: Homers Kimmererland, Kolonie von Milet, später von Genua, vor der Eroberung durch Rußland Chanat der Tataren, Hitlers geträumten »Gotengau«, heute Ferienparadies und gepriesene Weingegend der ukrainischen autonomen Republik Krim.
In einer Bucht erhob sich unmittelbar am Meer vor dem Hintergrund schroffer kahler Berge ein Steinbau mit hohen Fenstern im Stil einer frühchristlichen Basilika. Seitlich Balkons, daran Holztreppen, die bis hinauf zu einer Dachterrasse führten. Angelehnt ein paar bescheidenere niedrige Gebäude. Bänke im umliegenden Gärtchen. Zwar hoffte ich dieses Anwesen zu finden, das in Rußlands Künstlerkreisen legendären Ruhm genoß, ahnte aber nichts von seiner Gestalt. Beschreibungen kannte ich, vor allem die Ilja Ehrenburgs, dessen Memoiren ich damals übersetzte. Doch das Beieinander, das Gegeneinander von Meer, häuslich umarmtem Sakralbau und vulkanischem Fels traf mich unvorbereitet in dem Licht des südlichen Vormittags.
Neben den Quartieren der Sommerfrischler, den Holzhäusern der Weinbauern und den Kunststoffbaracken einer Stolowaja für die Verpflegung der »Wilden«, der Zeltnomaden, wirkte der Bau am Meer wie ein Relikt aus fernster Zeit und schien die Würde der alten Genueserfestung auszustrahlen, deren Ruine ich auf meinem Weg hierher passiert hatte.
Die russische Geistesgeschichte kennt den Ort als Koktebel und den Mann, der ihn berühmt machte, »fand«, gar »erfand«, als den Dichter und Maler Maximilian Woloschin. »Erfand« im alten Verstande von entdecken und ersinnen in einem, wie das Goethe begriff: »Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende … Bethätigung eines originellen Wahrheitsgefühls … Es ist eine aus dem Innern ans Äußere sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen eine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist.«
Von den Winden der Jahrtausende sah Woloschin sich den Bergen in einer Weise eingeschrieben, daß er im Felsvorsprung von Kok-Kaj sein Profil vorgebildet wähnte. Nach Jahren in St.Petersburg, Moskau und Paris hatte er sich lange vor dem Ersten Weltkrieg hier angesiedelt, am alten Karawanenweg von Asien nach Europa seine eigene Karawanserei bauen lassen und dabei tischlernd selbst mit Hand angelegt: Koktebel erschien ihm als der Ort, der ihm und dem er bestimmt war.
Tatsächlich ist Woloschins Leben in Koktebel einem Anschmiegen an das Wirken der Elementarkräfte verglichen worden. Ossip Mandelstam erzählt, wie ihm ein Zimmermann Woloschins Grab zeigte, das hoch in den Bergen des Karadag über dem linken Ufer der Iphigenie-Bucht liegt. Als sie Woloschins sterbliche Überreste an den Ort trugen, den der Dichter im Testament bestimmt hatte, seien alle von der weiten Rundsicht überrascht gewesen, die sich ihnen von da über Meer, Berge und Steppe eröffnete. Allein Maximilian Alexandrowitsch habe den Blick für diesen Ort besessen. »Der Zimmermann«, so Mandelstam, »trug ein Stemmeisen deutschen Fabrikats bei sich. Einmal tauchte er es in seine Nägel. Herausgezogen, war der nackte blaue Stahl berauscht von an ihm klebenden winzigen Eisenmücken.
So auch hat Maximilian Alexandrowitsch – Kustos einer wunderbaren geologischen Zufallsbildung namens Koktebel – aus freien Stücken sein ganzes Leben der Magnetisierung dieser ihm anvertrauten Bucht gewidmet.«
Der Empfang
Der Empfang im Haus am Meer war höchst zeremoniell und von feierlicher Strenge.
Wen ich treffen würde, wußte ich nicht. Es war ein Besuch auf gut Glück. Ich besaß lediglich einen Empfehlungsbrief an den achtzigjährigen Professor Iwan Pusanow, einen Biologen, intimen Kenner der Krim, seinerzeit Bekannter Woloschins, den ich in Odessa nicht erreicht hatte, was nun in Simeïs, wenige Kilometer vor Jalta, nachgeholt werden sollte, aber auch mißlungen war; in dem Schreiben wurde ich als »interessiert an Gumiljow, Woloschin und den anderen Dichtern vom Vorabend der Revolution« vorgestellt.
Nachdem ich mich in der Kunststoffbaracke an Quark, Milch, Tomaten, Gurke, Brot und Boulette mit Kartoffeln gelabt hatte, setzte ich mich draußen vor dem Haus des Dichters auf eine Bank in den Schatten der Akazien. Zu einem jungen Mädchen, Lenin-Pionierin, dem roten Halstuch nach zu urteilen. Maria Stepanowna sei nicht sehr gesund, sagte sie gleich. Gestern sei ihr nicht gut gewesen. Man müsse das Schlimmste befürchten. Sie ruhe im Augenblick noch. So erfuhr ich erst, daß Maria Stepanowna Woloschina, die zweite Frau des Dichters, lebte und wie die Jahrzehnte zuvor die Hüterin des Hauses war. Sie mußte Ende Siebzig sein. Von sich erzählte das Mädchen, sie sei zur Erholung in Koktebel und nutze die Gelegenheit, Woloschins Gedichte zu lesen und abzuschreiben. Gegen elf ging sie hinein. Ich sollte nach einer Weile folgen.
Empfangen wurde ich im Atelier, dem Raum mit den hohen Fenstern. An der Fensterfront hinter einem langen Tisch eine Frau und zwei Männer, stehend. An einem Pult die junge Verehrerin des Dichters. Erwartungsvolle Blicke: Woher kommst du, Fremdling? Wer bist du? Und was ist dein Begehr?
Ich war der erste Deutsche, der nach der Besetzung durch Hitlers Wehrmacht dort auftauchte, und vermutlich der erste Westeuropäer, der nach dem Besuch der englischen Malerin Violet Hart im Sommer 1907 das Haus des Dichters betrat. Johannes von Guenther, der Münchner Essayist und Übersetzer, ein Vertrauter und Nachdichter der russischen Symbolisten, der auch mit Woloschin verkehrt hatte, war nie hier gewesen. Im zweiten Weltkrieg hatte Maria Stepanowna das Haus vollkommen ausgeräumt und alles vergraben. Niemand von der deutschen Besatzungsmacht erfuhr etwas vom Geist und Vermächtnis des Dichters.
Offiziell hieß der Ort 1965 nicht einmal mehr krimtatarisch Koktebel – »Blaues Siegel«, was an den alten Brauch der Viehhirten erinnerte, ihre Tiere mit einem blauen Siegel zu zeichnen –, sondern Planerskoje, nach dem Wort für Segelflugzeug, Vehikel einer jüngeren Passion, die der Gunst der Winde auf ihre Weise vertraute. Die Gegend gehörte zu einem Sperrgebiet, das ich als Ausländer an sich nicht betreten durfte. Meine Touristenkarte für die Krim von 1964, die Puschkin- und Tschechowgedenkstätten pries, verschwieg den angestammten Namen des Ortes und des Gründers des Hauses. Auf den Rußland-Baedeker von 1912 in meiner Tasche war freilich Verlaß. Da hieß es: »Von Ssudak nach Feodossija, zwei Straßen. a.Küstenstraße 52 Werst, Wagen 12–15, Mallepost l 1 / 2.Rubel. Die Straße führt über Taraktasch, Kosy, Otusy und Koktebel.« Für mich galt also a.
Auf das Woher? ließ sich leicht antworten. Morgens mit einem schnellen Tragflügelboot die 80 Kilometer an der Küste entlang von Jalta nach Ssudak. Von Ssudak zu sechst im offnen Jeep durch Täler und Steppe die 40 Kilometer hierher, umweht von den Düften von Salbei, Wermut und Thymian.
Schwerer zu bestimmen war schon, wer ich sei. Philologe? Übersetzer? Eher eigentlich Liebhaber russischer Poesie mit einer Vorliebe für die geistigen Pflanzstätten in »Dichters Lande«. Ich ahnte nicht, daß ich mich in Koktebel in der mit Petersburg bedeutendsten befand.
Am schwersten fiel mir der Bescheid, woher ich denn von »Max«, wie Maria Stepanowna vertraulich sagte, überhaupt wisse. Als ich Ehrenburg nannte, der in der Pariser Zeit mit Max befreundet gewesen war, hieß es brüsk: »Von diesem Klatschmaul?!« Ehrenburg war in Koktebel verschrieen, weil er sich angeblich zu sehr mit den Geschichten von der Verspieltheit des Dichters befaßt und seine mystifikatorischen Leidenschaften hervorgehoben habe. Und auch Ehrenburgs launige Anrede Maxens als »Großer Pan« und »Papa Silen« paßte nicht ins Dichterbild von Koktebel, wo Woloschin als der Weise der russischen Moderne galt, doch nicht für trunken vom Wein, für lüstern.
Ganz unvorbereitet war ich nicht. Zwar gab es damals keine Ausgaben von Woloschin, und die sowjetische Literaturgeschichte kannte ihn höchstens am Rande. In den zwanziger Jahren hatte ihn die proletarische Literaturkritik einen Konterrevolutionär, einen »lebenden Leichnam« genannt, und in den dreißiger Jahren konnten Lektüre und Besitz seiner Gedichte Grund für die Todesstrafe sein. Erst 1962 hatte Andrej Sinjawski ein kleines Porträt über ihn für die neue Literaturenzyklopädie geschrieben.
Durch Zufall war ich kurz vor meiner Reise auf die Berliner russische Ausgabe von Woloschins Gedichtsammlung »Taubstumme Dämonen« von 1923 gestoßen. Weil sich niemand sonst dafür interessierte, hatte ich sie in der Bibliothek des »Hauses der Kultur der UdSSR« als Dauerleihgabe erhalten. Sicher war das Büchlein aus der Hinterlassenschaft des »Russischen Berlin« der zwanziger Jahre dorthin gelangt: Gedichte aus den russischen Revolutionen von 1905 und 1917/1918, Gedichte über den Terror der französischen Revolution und eine Dichtung über den Protopopen Awwakum, den geistigen Führer der russischen Altgläubigen im 17. Jahrhundert, der mehrfach verbannt und 1682 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.
Den russischen Aufruhr zu fassen nimmt das Titelgedicht des Bändchens Worte aus Jesaja 42,16 und 19 auf: »Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen … Wer ist so blind, als mein Knecht? Und wer ist so taub, wie mein Bote, den ich sende? Wer ist so blind, als der Vollkommene? Und so blind, als der Knecht des Herrn?«
Die »Taubstummen Dämonen« zeichneten ein Rußland- und Revolutionsbild, das dem herrschenden in keiner Hinsicht entsprach: Im Kapitel »Rußlands Weg« die Verse »Heiliges Rußland« vom 19.November 1917 in Johannes von Guenthers Übertragung:
Du doch liebtest seit der Kindheit Zeiten
Zellen rauh in Urwaldeinsamkeiten,
Weglos über Steppen Wanderschaft,
Büßerketten, freier Weiten Atem,
Prätendenten, Diebe, Apostaten,
Nachtigallenschlag und Kerkerhaft.Zarin sein, das war nicht dein Verlangen –
Welch ein tolles Ding war angegangen.
Raunt der Böse doch: Gib alles weg,
Gib dein Gold den Reichen und den Prachern,
Macht den Sklaven, Kraft den Widersachern,
Deine Schlüssel den Verrätern keck.Untergabst dich Worten dreist und Trieben,
Branntest Korn und Siedelungen hin,
Hingst Verderben an die alten Zinnen,
Gingst geschmäht und bettelhaft von hinnen,
Als des letzten Sklaven Dienerin.Ists an mir, den Stein auf dich zu werfen?
Glut aus Leidenswegen zu verwerfen?
Tief gebeugt vor dir in Schmutz und Sand,
Preis ich bloßen Fußes Spur betroffen,
Heimatloses du, verbummelt und versoffen,
Du in Christo närrisches Russenland.Wenige Tage später, am 23.November 1917 im Kapitel »Racheengel« die Bitte für Rußland um den Frieden der Demut: »Wir haben es gelästert, zerquatscht, verhöhnt, entblößt, versoffen, ausgespuckt … feilgeboten auf der Straße: Braucht keiner Land, Republik, Freiheit und Menschenrechte? O Herr … schick Feuer, Seuche, geißle uns. Deutsche von Westen, Mongolen von Osten – schick Sklaverei von neuem und für immer, in Demut die Judas-Sünde zu büßen bis zum jüngsten Gericht.«
Den Ernst meines Interesses zu beglaubigen konnte ich noch vorbringen, daß ich die Erinnerungen der Malerin Margarita Sabaschnikowa kannte, der ersten Frau des Dichters, die Rudolf Steiners Anthroposophie gefolgt war. Ihr Buch »Die grüne Schlange« war 1954 in Stuttgart erschienen. Max, wie er auch hier heißt, beschrieb die Malerin als ein naives Gemüt von kindlicher Weichheit, das seine frühe Körperfülle leicht zu tragen wußte und mit Paris spielend zurechtkam: »Max fühlte sich überall in der Welt wie der Fisch im Wasser, wenn er nur einige paradoxe Aussprüche daraus machen konnte. Sein Gleichmut und seine Heiterkeit wirkten auf mich in all diesem Chaos beruhigend. Ich bewunderte seine Toleranz und sah in ihm eine große Reife. Wenn er eine originelle Idee gefunden oder etwas Interessantes zu berichten hatte, glich er in seiner graziösen Tapsigkeit einem jungen Bernhardiner, der mit einem Lumpen zwischen den Zähnen spielt.«
Ob ich das Buch wohl für Koktebel besorgen könnte – so die abschließende Frage. Das Examen war offenbar bestanden. Maria Stepanowna stellte mir nun die Männer zu ihrer Rechten und Linken vor. Rechts Viktor Manujlow, Philologe aus Leningrad, links ein Redakteur der russischen Zeitschrift »Prostor« aus Alma-Ata. Manujlow nehme den dichterischen Nachlaß für eine geplante Ausgabe auf, der Journalist erwäge die baldige Veröffentlichung mehrerer Gedichte Woloschins. Beiden glückte das damals nicht. Erst 1977 erschien wieder eine kleine Ausgabe in der Leningrader »Bibliothek des Dichters«. Manujlow werde mich jetzt durch das Haus führen – Maxens Arche, sein Schiff mit den vielen Kojen. Zum Abschied sei ins »Unterdeck« auf einen Tee geladen. […]
SINN UND FORM 5/2009, S. 603-608
Mierau, Sieglinde
- 2/1978 | Gespräch mit Cläre M. Jung und Fritz Mierau
Mieth, Günter
- 1/1970 | Hölderlin. Bildungsjahre im Banne Schillers und Fichters
Miething, Christoph
- 3/1994 | Drei Frauen, drei Romane, dreimaliger Tod. Eine Reflexion zum Problem des Schönen in der Moderne
Miezelaitis, Eduardas
Mihajlovic, Dragoslav
- 6/1968 | Schafblattern
Mikołajewski, Jarosław
Miliunas, Viktoras,
- 4/1971 | Der schwarze Strom
Millán, Gonzalo
- 2/1977 | Gedichte aus Chile
Millas, Orlando
- 2/1986 | La Araucanía
Millay, Edna St. Vincent
- 2/2010 | Eulkid allein hat Schönheit nackt gesehn. Sonette
Miller, Dallas
Miller, Norbert
- 1/2008 | Ein Blick in lange, lange Freudengärten. Jean Paul und die Romantisierung der Landschaft
Millstatt, Erich
- 5/1970 | Manas. versuch einer Aufhellung
Millu, Liana
- 3/2000 | Der Bleistiftstummel aus Mecklenburg
Milosz, Czeslaw
- 5/1989 | Gedichte
- 1/1994 | Spätschicht in Baltikum
- 2/1995 | Tagebuch 1987 (I)
- 3/1995 | Tagebuch 1987 (II)
- 5/2000 | Kisielewski
- 4/2001 | Über Erosion
- 1/2002 | Mein ABC
- 6/2002 | Die Heimatlosigkeit der Wahrheit
- 6/2003 | Gespräche mit Renata Gorczynska
- 6/2003 | Theologischer Traktat
- 4/2005 | Die Grenzen der Kunst
Milska, Anna
- 1/1956 | Heine über Polen
Miłkowski, Maciej
- 3/2019 | Nicht-Fiktion
Minder, Robert
- 4/1968 | Paris in der französischen Literatur (1760-1960)
Minh, Ho Chi
Mirowa-Florin, Edel
- 1/1980 | Ich wünschte mir einen richtigen Scheiterhaufen
Mishol, Agi
- 1/2024 | Schutzraum. Gedichte
Misiak, Anna Maja
- 3/2019 | Räume zwischen Licht und Abglanz. Gedichte
Mistral, Gabriela
- 4/1949 | Gedichte
Mitrani, Nora
- 3/2023 | Chronik eines Schiffbruchs. Mit einer Nachbemerkung von Dominique Rabourdin
Mittenzwei, Ingrid
- 2/1982 | Preußens neue Legenden. Gedanken beim Lesen einiger neuer Bücher über Preußen
Mittenzwei, Werner
- 4/1963 | Brecht und Kafka
- 5/1964 | Endspiele der Absurden. Zum Problem des Figurenaufbaus
- 6/1964 | Zwischen Resignation und Auflehnung. Vom Menschenbild der neuesten westdeutschen Dramatik
- 5/1965 | Historiker der Absurden. Gedanken zu Martin Esslins Buch »Das Theater des Absurden«
- 6/1965 | Eine alte Fabel, neu erzählt
- 1/1966 | Gespräch mit Heiner Müller
- 4/1966 | Der Dramatiker Jean-Paul Sartre
- 1/1967 | Die Brecht-Lukács-Debatte
- 1/1968 | Wie modern ist das »moderne theater«? Das schwarze Theater des Luchterhand-Verlages
- 3/1968 | Brecht und kein Ende oder das Ende der Brecht-Bewegung?
- 1/1971 | Revolution und Reform im westdeutschen Drama
- 1/1973 | Brecht und die Probleme der deutschen Klassik
- 3/1974 | Der Traum des Tadeusz Rózewicz - vom konsequenten Theater
- 6/1974 | Die vereinsamte Position eines Erfolgreichen - Der Weg des Dramatikers Rolf Hochmuth
- 6/1976 | Der Realismus-Streit um Brecht (I)
- 1/1977 | Der Realismus-Streit um Brecht (II)
- 2/1977 | Der Realismus-Streit um Brecht (III)
- 1/1985 | Zwei Kapitel Brecht - Biographie
- 2/1985 | Zur Biographie Brechts - aus einer Diskussion mit Manfred Wekwerth
- 2/1986 | Über Wekwerths »Wallenstein« - Inszenierung
- 6/1986 | Versuch über Wieland Herzfelde
- 4/1987 | Helmut Damerius
- 6/1987 | Das Brechtverständnis in beiden deutschen Staaten
- 1/1988 | Umgang mit einem Fragment im Berliner Ensemble
- 5/1989 | Der Alte - Jürgen Kuczynski und die andere Generation
- 3/1990 | Das weithin unbekannte Leben der Sylta Busse
- 4/1992 | Börries, Freiherr von Münchhausen - der heimliche Gegenspieler. Der Wartburgkrieg gegen die Preußische Akademie der Künste
Mix, York-Gothart
Mix, York-Gothart und Katharina Festner
- 3/1993 | Gespräch mit Erwin Strittmatter
Mjasnikow, Alexander
- 3/1967 | Sozialistischer Realismus und Literaturtheorie
Mkrttschjan, Lewon
- 5/1975 | Fünfzehn Jahrhunderte Armenischer Literatur
Mletschina, Irina
- 4/1966 | Tertium non datur
Mo-Jo, Kuo
- 6/1950 | Zeitgenössische chinesische Prosa. Im Mondlicht
Möckel, Klaus
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
- 5/1963 | Gedichte
- 6/1963 | Robert Desnos, Dichter der Résistance
- 3/1966 | Bücher wider das Vergessen. André Schwarz-Bart und Jorge Semprun
Modiano, Patrick
- 5/2012 | Die Zeit
- 2/2014 | Die zum Untergang verurteilte Welt. Über Joseph Roth
- 1/2019 | Zu Julien Gracq
Möhlmann, Thomas
- 3/2019 | Wir brauchen unter dem Pflaster den Sumpf nicht zu fürchten. Gedichte
Möhrig-Marothi, Emese
Mok, Maurits
- 1/1978 | Gedichte
Molle, Cornelia
- 5/1979 | Ansprüche an einen Riesenroman
- 2/1981 | Unwahrscheinliche Lebensläufe
- 3/1981 | Gespräch mit Erik Neutsch
Möller, Georg
- 6/1970 | Von der Kunst des Übersetzens. Laudatio auf Eva Schumann
Moltke, Helmuth James von
- 4/1994 | Briefe an Helene Weigel und Maria Lazar
Mon, Franz
- 5/1993 | unsere tägliche kühlung vergib uns nie wieder
Monhardt, Stefan
- 5/2006 | Gedichte
Monk, Egon
- 1/1998 | Mutter Courage in München
Montagne, Nicole
- 5/2022 | Jagdzeit
Montaigne, Michael
- 5-6/1961 | Von Wagen und Kutschen
Montale, Eugenio
- 4/2023 | Flieh nicht. Gedichte
Monterroso, Augusto
- 3/1973 | Die Sonnenfinsternis
Montesquieu
- 6/1949 | Tagebuchaufzeichnungen 1716 bis 1755
Morábito, Fabio
- 6/2015 | Schalte die Finsternis an. Gedichte
Moraitis, Jorgis
- 3/1975 | Unter Panzerketten
Morand, Florette
- 5-6/1960 | Gedichte aus Guadeloupe
Morand, Paul
- 6/2012 | Zurück zu Richard Wagner?
Moravia, Alberto
Morgner, Irmtraud
Moricz, Zsigmond
- 1/1951 | Sieben Kreuzer
Morlang, Werner
- 1/2005 | Gespräch über Elias Canetti mit Paul Nizon
Morris-Keitel, Helen G.
- 3/2007 | »Der wissende Mensch« - Das Bildungskonzept Bertha von Suttners
Mosebach, Martin
- 6/1996 | Stumme Musik der Geometrie - Zur Epik Heimito von Doderers
- 4/1997 | Frankfurt am Main - Porträt einer Stadt
- 3/1998 | Nichts, nichts! So, so! Tot, Tot! Zu Kleists »Penthesilea« und Shakespeares »Sommernachtstraum«
- 4/2001 | Bildersturm und Liturgie
- 1/2005 | Nicolás Gómez Dávila - Einsiedler am Rand der bewohnten Erde
- 2/2004 | Brigitte Kronauer und die Malerei
- 3/2005 | Die Schrecken des Sports
- 1/2009 | Ein Winter in Shio Mghvime, S. 390 Leseprobe
Mosebach, Martin
Ein Winter in Shio Mghvime
I.
Das Kloster Shio Mghvime liegt in der Nähe der alten georgischen Königsstadt Mzcheta. Der heilige Einsiedler Shio, ein syrischer Mönch, hauste hier in einer Höhle und sammelte einen Kreis von Nachfolgern um sich, der nach seinem Tod beständig wuchs; im ersten nachchristlichen Jahrtausend haben in manchen Zeiten mehr als zweitausend Mönche in den Höhlen gelebt, die sie in die Steilhänge gruben. So darf Shio Mghvime, das heißt »Shios Höhle«, sich zu den frühesten Klöstern der Christenheit zählen. Und tatsächlich kommt die bergige Landschaft, in der das Kloster liegt, einer ägyptischen Thebais sehr nahe. Dies Gebirge besteht aus einem fest zusammengebackenen, steinhart gepreßten Geröll- und Sandgemisch, das sich Wasser und Wind zu beständiger Formung anbietet. In das Hochplateau hat der Fluß ein tiefes Tal gegraben. Steilwände begrenzen den Blick, zu ihren Füßen fällt das Gelände sanft hügelig ab, aber die Hügel sind von Schluchten durchschnitten, die hinunter zum urzeitlich schlangenhaft sich windenden Fluß führen. Das andere Ufer sieht weniger dramatisch aus, die Abstürze sind hier nicht so steil; in der Talsohle steht eine verlassene und verrostete Fabrik, in majestätisch leerer Mondlandschaft das Zeugnis eines gescheiterten Versuchs der Industrialisierung.
Vor den Steilwänden von Shio Mghvime leuchtete mir der Gedanke ein, alle monumentale Architektur sei im Grunde eine Nachahmung der Berge. Die konkave Riesenwand, die gleichsam über dem Kloster schwebte, glich einem monumentalen Sperriegel, hinter dem gewaltige Wassermassen hätten stehen können. Sie wirkte wie eine menschliche Schöpfung; in diese Wand Höhlen zu graben schien nur die Vervollständigung eines vorgefundenen Bauwerks zu sein. Hier verstand ich den Vers des Matthias Claudius: «... o, wie ist der Mann zu loben, der solch fürchterliches Toben / schon im Voraus hat bedacht / und die Häuser hohl gemacht«, als seien Häuser ursprünglich Skulpturen ohne Innenleben gewesen.
Neben der mächtigen Muschel, in die das winzig wirkende Kloster sich schmiegte, reihten sich hochragende felsige Festungsmauern mit runden Türmen und Bastionen. Die Erosion hatte Titanenburgen geschaffen, die von den Mönchen wie von Termiten durchlöchert worden waren. Die Felstürme blickten in eine weite, von Schneebergen begrenzte Ebene, die immer wieder Schauplatz großer Schlachten war. Meist hatten die Georgier verloren, dann wurden sie von Invasoren unterworfen, wie die Landschaft den Wettergewalten unterworfen war. Sie war von lehmig-staubigem Ockergrau, windflüchtende schwärzliche Pinien klammerten sich an Felsvorsprünge, ein Lieblingsmotiv chinesischer Rollbilder. Aber am Tag, nachdem der letzte Schnee getaut war, begannen sich die Hänge schon mit Zyklamenteppichen zu bedecken, über denen rostrote und hellgelbe Schmetterlinge flatterten, einer war so hellblau, daß er vor dem Himmel manchmal unsichtbar wurde.
II.
Weil ich keine Übersetzungen der langen Lesungen während der Nachtwachen besaß, habe ich eine Weile, beim Schein einer kleinen Kerzenflamme, im Kirchendunkel Dante gelesen. Meine Ausgabe war sehr klein und hatte einen schwarzen Lederrücken und Lederecken. Sie sah wie ein Gebetbuch aus und erregte kein Mißtrauen. Ganz wohl war mir nicht in meinem Gewissen bei meiner Lektüre, die durch eine Reihe kreisrunder gelber Wachsflecken auf den Seiten dokumentiert ist. Nicht etwa weil Dante keine geistliche Literatur gewesen wäre - dafür mag er trotz der großen Freiheiten, die er sich nimmt, wohl durchgehen -, sondern weil er so ausgeprägt katholisch im lateinisch-konfessionellen Sinne war - als »katholisch« im Sinn des Credo versteht sich die georgische Orthodoxie natürlich ebenfalls. Bei Dante, der doch vorgeblich eine ganze Welt beschrieb, gähnte an der Stelle, wo die griechisch-orthodoxe Christenheit hingehört hätte, ein großes Loch, dem er sich noch nicht einmal zu nähern traute. Konstantins und Justinians Größe wird zwar gepriesen, aber Konstantinopel, jenes Wunder einer Stadt, das die beiden Kaiser hervorgebracht und beherrscht haben, findet keine Erwähnung, obwohl Dante ein Zeitgenosse der Kreuzfahrer war und auch die fatale Periode des lateinischen Kaiserreiches in seine Lebenszeit hineinragt. Der Prophet Mohammed, der Kalif Ali und der Philosoph Ibn Rushd sind in Dantes Jenseits bekannt, aber kein Byzantiner. Die für die Entwicklung des Christentums so prägenden Gestalten der östlichen Kirchenväter, die Heiligen Basilius, Johannes Chrysosthomos, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz, fehlen genauso wie die für die Formulierung des Dogmas verantwortlichen Athanasios und Kyrill von Alexandrien. Nur Nikolaus von Myra und der Mönchsvater Antonius aus Ägypten kommen zu Fußnotenehren.
Und dabei ist Dante das Griechenland der Antike mit seinen Göttern, Halbgöttern und Heroen so gegenwärtig, als seien sie besonders ehrfürchtig zu betrachtende Florentiner - nein, eben nicht Florentiner, denn der Autor spricht kein Griechisch und weiß, daß er sich dafür zu schämen hat. Als er in der Hölle zwei Flammen ansprechen möchte, tritt Vergil dazwischen: „Sie könnten deine Rede wohl verachten, weil sie Griechen waren«, Odysseus und Diomedes nämlich.
Das ist der Verdacht, den Dantes auffälliges Schweigen über die griechischen Christen bei mir auslöst: hinderten ihn vielleicht eine ihm peinlich bewußte Unwissenheit und ein allzu großer Respekt daran, mit den christlichen Nachfahren der großen Griechen der Antike so unbekümmert ins Gericht zu gehen wie mit den Abendländern? Dante, der unübertroffene Verflucher und Beschimpfer, sagt kein einziges böses Wort gegen die orthodoxen Schismatiker. Die Verderber der Christenheit sind bei ihm vor allem die Päpste, die sich nicht mit ihrem Priesteramt, ihrer Binde- und Lösegewalt zufriedengeben, sondern weltliche Fürsten geworden sind. Und nichts anderes warfen die Orthodoxen den Päpsten vor. Oder sollte die Pointe am Ende darin liegen, daß Dante die Orthodoxen aus der »Commedia« heraushielt, weil er ihre Papstkritik so vollständig übernahm?
Die Sprachbarriere machte es mir unmöglich, den Mönchen von Shio Mghvime eine umfassende und gründliche Antwort zu geben, wenn sie mich fragten, warum ich nicht orthodox würde. Was ich ihnen hätte sagen müssen, das hätten sie nicht verstanden: ich könne nicht orthodox werden, weil ich es schon sei.
Ich gebe zu, daß es vielleicht sträfliche Sorglosigkeit verrät, sich als Katholik so selbstverständlich der Orthodoxie zuzurechnen. Womöglich verbirgt sich darin sogar jene rücksichtslose Vereinnahmung aus schierer Herrschsucht, wie sie die Orthodoxen von den Katholiken in den tausend Jahren der Trennung leidvoll erfahren haben. Wenn Orthodoxe stolz und kämpferisch auf die Eigenart ihrer Theologie verweisen, die mit der katholischen Theologie unvereinbar sei, dann hören sie ungläubig zu, wenn ein Katholik darauf antwortet, es gebe nichts in der orthodoxen Doktrin, was ein strenggläubiger römischer Katholik sich nicht zu eigen machen dürfte. Das betrifft sogar die Haltung zum Papsttum, dessen Ehrenprimat auch in der Orthodoxie unbestritten ist. Die dogmatisierte Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitten begründet ja keine päpstliche Souveränität, sondern steht unter der Bedingung, daß der Papst in Übereinstimmung mit der gesamten kirchlichen Tradition spricht. Sie unterwirft den Papst der Tradition. Der von den Päpsten beanspruchte juridische Primat mit dem Recht, die Kirche zentralistisch zu führen, ist demgegenüber keine Glaubensfrage, sondern Ergebnis der Kirchengeschichte des Westens und steht, wie der gegenwärtig regierende Papst schon als Kardinal angedeutet hat, bei einer gemeinsamen Zukunft mit der Ostkirche durchaus zur Disposition.
Es kann hier aber nicht darum gehen, und es ging mir auch in Shio Mghvime nicht darum, das Trennende und Verbindende zwischen katholischer und orthodoxer Kirche theologisch präzis und argumentativ gegeneinander abzuwägen und die Unterschiede kleinzureden. Es sei dahingestellt, ob der Papst, der im elften Jahrhundert in das niceo-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis die berühmt-berüchtigte Formel des »filioque« einfügte und damit den Heiligen Geist nicht nur, wie es im Johannes-Evangelium heißt, vom Vater, sondern auch vom Sohne seinen Ausgang nehmen ließ, bloß in grober Weise seine Befugnisse überschritten oder ob er damit eine Häresie begründet hat. Denn der Hinweis auf die zahlreichen Schriftstellen, die der Papst zugunsten seiner Entscheidung hätte anführen können, auf die orthodoxen Väter, die bereits im ersten Jahrtausend eine dem »filioque« verwandte Formel gebrauchten, und auf moderne katholisch-orthodoxe Theologenkommissionen, die in den unterschiedlichen Formeln kein trennendes Element mehr erkennen wollten, hätte die Mönche von Shio Mghvime nicht in ihrer Überzeugung erschüttert, daß die katholische Kirche die Einheit des Christentums bis heute beschädigt habe.
Damit war eine wichtige Voraussetzung für meine Teilnahme an den »Mysterien« oder den »Sakramenten«, wie sie im Westen genannt werden, verlorengegangen. Nur in der Einheit des Glaubens war das Ereignis des »Mysteriums« möglich. Die Heiligenbilder, die die Innenwände einer orthodoxen Kirche bedecken, umgrenzten den Raum, innerhalb dessen nur Eingeweihte, und das heißt Getaufte, anwesend sein durften, um Zeugen der liturgischen Begegnung mit dem Erlöser zu werden. Aber wie konnte ein Mensch behaupten, getauft zu sein, wenn er in einem Irrtum über die Natur des Heiligen Geistes befangen war und Priestern anhing, die diesen Irrtum in das Herz des Glaubens, das Glaubensbekenntnis der großen frühen Konzile, gepflanzt hatten? Da half es wenig, daß inzwischen Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. gemeinsam mit dem Patriarchen von Konstantinopel das Glaubensbekenntnis ohne das inkriminierte »filioque« gesprochen hatten; das war in diese Berge nicht vorgedrungen. Es dauerte eine Weile, bis ich endlich verstand: in den Augen der Mönche von Shio Mghvime war ich gar nicht getauft.
Meiner Begriffsstutzigkeit wurde freilich aufgeholfen. Das erste nächtliche Stundengebet, das ich erlebte, war zu Ende gegangen; nun begann die eucharistische Liturgie. Die heiligen Türen der Ikonostase wurden geöffnet, der Priester trat in goldenem Mantel und mit langem, über den Rücken herabfallendem schwarzem Schleier an den Altar. Epistel und Evangelium wurden vorgetragen, das Glaubensbekenntnis gebetet, alles vielfach unterbrochen durch die langen Kyrie-eleison-Rufe. Die Seitentür tat sich auf und der Priester kam mit den hocherhobenen verhüllten Opfergaben heraus, um sie durch den dunklen Kirchenraum zu tragen. Zugleich trat ein Novize auf mich zu - gelbgesichtig wegen eines Leberleidens, ausgezehrt, mit harten Augen, er war früher Sportlehrer in London - und winkte mir, ihm zu folgen. Im Vorraum warf er sich vor mir auf den Boden und bat mich um Vergebung. »Als Ungetaufter ist es Ihnen verboten, an den heiligen Mysterien teilzunehmen. Lassen Sie sich taufen, dann dürfen Sie bleiben.«
Ich gebe zu, ich fühlte mich gekränkt. War ich nicht als vorbehaltloser Bewunderer der Orthodoxie hierhergekommen? Erklärte ich nicht jedermann, die westliche Kirche habe sich die Orthodoxie zum Vorbild zu nehmen, weil nur in ihr das authentische Christentum des ersten Jahrtausends, des Zeitalters der sieben ökumenischen Konzile, verwirklicht sei? Fühlte ich mich in meinem Katholizismus nicht längst selbst als Orthodoxer? Man sprach mir allen Ernstes die 1951 nach den Riten der Alten Kirche gespendete Taufe ab, während die katholische Kirche doch selbst die Taufe der Protestanten, von denen sie so viel trennt, ohne weiteres anerkennt und alle Sakramente der Orthodoxie als ebenso gültig betrachtet, als kämen sie aus den Händen eines katholischen Priesters. Hier stand ich nun vor einer Mauer.Aber es dauerte nicht lange, bis ich mich mit diesem Ausgeschlossenwerden abfinden und es sogar als einen bedeutenden Gewinn erleben konnte. Ich machte mir klar, wie tief meine Empörung in einer Haltung wurzelte, die ich bei andern Zeitgenossen widerwärtig fand: in dem Anspruch, überall und zu jeder Zeit zugelassen zu sein, keine Grenzen gelten zu lassen, jedes Phänomen selbstverständlich und aus Bildungsinteresse unter die Lupe nehmen zu dürfen. In Shio Mghvime, am Ende der Welt, war ich nun endlich auf ein »Nein!« gestoßen, und noch dazu auf einem Feld, auf dem ich mich als besonders kompetent empfand. Und es lagen ja nicht bloß Ausschluß und Abwehr in diesem Gebot, die Liturgie vor dem Beginn der Mysterien zu verlassen. Auch dies Hinausgehen und draußen im Dunkel Alleinbleiben - ganz dunkel war es auch gar nicht, eine einsame Glühbirne schaukelte im Schneesturm und erzeugte Riesenschatten, in denen die Nacht sich vertiefte -, dieser Aufenthalt im Narthex - der Vorhalle - war als geistliche Übung zu verstehen, als liturgisches Handeln durch Abwesenheit. Mein Hinausgehen trug dazu bei, den heiligen Raum und seine Grenzen sichtbar zu machen. Die Grenzziehung zwischen dem Heiligen und dem Profanen war eine religiöse Uraktion; wer die Liturgie verlassen mußte, erhielt einen Einblick in die Natur der Welt, in der beides voneinander geschieden ist, und durfte erkennen, wohin er selbst gehörte. War es nicht auch schön, daß auf den Ruf des Priesters »Ihr Ungetauften, entfernt euch! Die Türen! Achtet auf die Türen!« (nämlich daß sie geschlossen sind) nun endlich auch einmal einer den Raum verließ und der uralte Ruf nicht bloß ein Überbleibsel aus frühen Jahrhunderten der Erwachsenentaufe war, sondern konkrete Konsequenzen hatte? Wer Riten liebt, darf nicht an ihnen irre werden, wenn sie sich zu seinem Nachteil auswirken - und ob in meiner Entfernung ein Nachteil lag, dessen war ich mir, wie gesagt, bald gar nicht mehr so sicher.
Meine Lage in Shio Mghvime lernte ich aus Dantes »Commedia« zu begreifen. Vor mir, so lange ich im stockdunklen Kirchenschiff ausharren durfte, lag die Ikonostase, hinter deren geschlossenen Türen der siebenarmige Leuchter auf dem Altar brannte, nur ein schwacher Lichtschein drang nach außen, wie in der Kindheitserinnerung an den Türspalt, durch den der Christbaum leuchtete... Die Priester, die sich hinter den Türen bewegten, waren nur als Schatten zu erahnen. Durch die schwarzen Schleier wurden ihre Umrisse bis zur Unheimlichkeit vergrößert. Sie umkreisten den Altar, so stellte ich mir vor. Dieser Raum hinter den Türen und Vorhängen war der Himmel. Ich war mit meinem Kerzchen und mit den andern Mönchen in einem nächtlichen Purgatorium - stehend, stehend, stehend, bis ich die Beine nicht mehr spürte; gewiß, bei Dante herrscht im Purgatorium ein frostig- frisches Morgenlicht, eine Frühlingsstimmung, aber gemütlich wird es gleichfalls nicht. Und die Hölle? Auch die gab es, und zwar in Gestalt einer greulichen Latrine weit von der Kirche, wie Dante sie als Straflager der Schmeichler und Dirnen beschreibt. Während meines ganzen Aufenthalts in Shio Mghvime verlor ich nicht die Angst, in dies große, übel dampfende Loch hineinzufallen.
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SINN UND FORM 1/2009, S. 44-49 - 4/2009 | Die Kirche Hagios Georgios in Frankfurt
- 1/2011 | Wer einen Roman schreibt - sollte der wissen, was ein Roman ist?, S. 390 Leseprobe
Mosebach, Martin
Wer einen Roman schreibt – sollte der wissen, was ein Roman ist?
Ich war dreißig Jahre alt und hatte soeben meine juristischen Studien mehr schlecht als recht abgeschlossen und noch keine der kleinen Erzählungen und Stilexperimente aus meiner Referendarzeit veröffentlicht, als mich die Lektorin eines Verlages, die die Manuskripte gelesen hatte, fragte, ob ich nicht auch einen Roman schreiben könne. Ich hatte bisher noch keinen Gedanken auf einen eigenen Roman verwandt und zögerte dennoch keinen Augenblick, ja zu sagen, wie ich mehr oder weniger zu allen Zumutungen oder Versuchungen in meinem Leben ja gesagt habe. Ich hatte trotz meiner Neigung zur Literatur Jura studiert, weil ich einen ausgeprägten Widerwillen gegen jede Art von literarischer Theorie verspürte, und das ohne sie näher zu kennen als alles, was sonst so an einen herangespült wird. Es war meine grundsätzliche Überzeugung, es sei besser, ein Gegenstand der Philosophie zu sein, als selbst zu philosophieren. So begann ich denn recht bedenkenlos drauflos zu erzählen, mit großer Handschrift, wie d'Annunzio Berge von Papier verbrauchend, bis ich nach etwa einem Jahr ins Stocken geriet; die Planlosigkeit rächte sich, alles war möglich, und diese Unbeschränktheit erzeugte unüberwindliche Blockaden. Damals lernte ich eine Wienerin kennen, die Förster-Streffleur hieß; ich schrieb ihr einen Brief und betrachtete auf dem Umschlag eine Weile unverwandt ihren Namen, bis ich plötzlich feststellte, daß der zweite Teil dieses Namens beinah ein Anagramm des ersten Teils war – nur das L war überzählig. So kam ich zur Lösung meines Problems: ich würde den zweiten Teil meines Romans einfach mit denselben Figuren wie im ersten erzählen, nur in anderer Anordnung, unter Hinzufügung von ein oder zwei neuen Elementen. Ich kann nicht behaupten, daß dieser Roman mit dem Titel »Das Bett« mir aus den Händen gerissen worden wäre, aber ich blicke immer noch freundlich auf ihn.
Der zweite Roman wurde durch eine Goethe-Maxime inspiriert: »Wir sind naturforschend Pantheisten, episch Polytheisten, moralisch Monotheisten.« Ich nahm mir Tschechows Kirschgarten-Stoff und stellte mir vor, seine Protagonisten seien bürgerlich-modern kostümierte griechische Götter. Götter haben die Eigenschaft, in ihren Ressorts einander feindselig gegenüberzustehen, zugleich aber allesamt recht zu haben und in ihren Kämpfen und Göttermählern ewig zu leben. Die Verkleidung meiner Götter ist mir offenbar allzu gut gelungen; die wenigen Leser von »Ruppertshain« glaubten, es sei ein Roman über Immobilienspekulation, und fanden, daß ich mit diesem ernsten Thema zu leichtfertig umgegangen sei. Danach begann ich den Roman »Westend«, drohte nach munterem Anfang bald schon in ihm zu versinken und stellte nach drei oder vier Jahren fest, daß es nun an der Zeit sei, mich zu entscheiden, ob ich wirklich Schriftsteller werden wolle.
Das Bild selig-theorielosen Produzierens, das ich hier entworfen habe, entbehrt nicht einer gewissen Unwahrhaftigkeit, denn es war selbstverständlich keinen Augenblick so, als sei mir oder einem meiner Zeitgenossen ein voraussetzungsloses Erzählen auch nur im Traum möglich gewesen. So begeisternd für den jungen Autor die Vorstellung auch sein mag, er schreibe den ersten Roman – nicht den ersten eigenen wohlgemerkt, sondern den ersten überhaupt –, sie wird sich nur in den flüchtigen Augenblicken der Berauschtheit durchhalten lassen. Das Reich der Romane ist übervölkert; es wird von einem Riesengeschlecht toter Schriftsteller bewohnt, die mit der Zeit immer noch weiter wachsen, wie der Prophet Samuel, der in seinem Sarkophag zu Samarkand beständig größer wird und inzwischen schon über sechs Meter mißt. Aber auch die neueren, kleineren Autoren haben eindringliche Stimmen, die verführerisch dissonant klingen. Da hatte die Warnung meines Vaters viel für sich, es sei ein sinnloses Unterfangen, dem Romankosmos noch eigene Bücher hinzuzufügen, wenn meine Lebenszeit ohnehin nicht ausreiche, dem bereits Geleisteten auch nur annähernd gerecht zu werden. Schon nach oberflächlicher Würdigung auch nur einiger der großen Romane mußte mir klar sein, daß es Gesetze des Erzählens gab, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hatten, ja, daß es einen großen, manchmal unhörbaren, aber immer gegenwärtigen Rhythmus gab, nach dem die europäischen Erzähler hüpften, tanzten oder würdig voranschritten, je nach Temperament, aber bei aller Verschiedenheit eben doch einer grundsätzlichen gemeinschaftlichen Ordnung verpflichtet. Diese gemeinsame Tradition und ihre allmähliche Verwandlung oder besser Entfaltung, so wie sich ein großer Organismus beim Altern und Reifen entwickelt, nehmen die Leser als unterirdische Strömung unter dem äußeren Gang der Handlung wahr. Auf die Frage, was ein Roman sei, gibt es unzählige Antworten, aber die Leser wissen es besser, auch ohne Definition; so ungreifbar, so proteushaft, wie die Legende tut, ist der Roman gar nicht. Seine kühnsten Formsprengungen und Gattungsüberwindungen waren von Beginn an in ihm angelegt. Als Horaz an der Ilias rühmte, daß Homer nicht pedantisch »ab ovo« erzähle, sondern den zehnjährigen Krieg in ein paar Wochen zusammendränge – ohne sich im übrigen das spektakuläre Ende, das er einfach unter den Tisch fallen ließ, als Schmankerl aufzusparen –, da war dies Werk schon sechs- oder achthundert Jahre alt; die gegenwärtige Forschung neigt wohl eher zur Spätdatierung. Und wenn dies Mittel der Zeitverdichtung heute angewandt wird, kann es immer noch so frisch wirken, als sei es eine originelle Erfindung, die alle überrascht. Also nichts da von Unschuld und Naivität des theorieunkundigen Neophyten: Wer Romane liest – und das habe ich, bevor ich welche zu schreiben begann, in reichlichem Maße getan –, in den ist genug Modellhaftes, Erzähltechnisches, Typologisches eingesickert, auch wenn er sich darüber noch keine Rechenschaft abgelegt hat. Und die Pseudo-Unschuld des sich mit seiner Theorielosigkeit brüstenden Autors, im besten Fall einer novellistischen demi-vierge, birgt auch Gefahren. Dalí's Wort, wer die Tradition nicht kenne, könne nur Plagiate hervorbringen, spricht von der Neigung des Originalgenies, bei sich für neuartig zu halten, was lange vor ihm schon meisterhaft bewältigt worden ist.
Auch ich habe aber schließlich, nachdem ich die mir wichtigsten Bücher schon geschrieben hatte, einen Romantheoretiker gefunden, den ich dankbar als meinen Romantheoretiker annehmen konnte, der beim Namen nannte, was ich nur geahnt hatte, und den ich mit der Liebe gelesen habe, die nur ein Buch in uns wecken kann, das uns in unseren Anschauungen bestätigt – dieser Satz gilt natürlich nicht für Wissenschaftler, die sich bekanntlich gern und vorbehaltlos in ihren vorgefaßten Meinungen erschüttern und revidieren lassen. Erich Auerbachs Werk »Mimesis« ist nun über sechzig Jahre alt, und ich bedaure unendlich, daß ich nicht zu Füßen dieses großen Lehrers sitzen konnte, dessen Lebenszeit sich mit der meinen um wenige Jahre überschneidet. Er hat die Gründungssätze des nachantiken, des europäischen und damit auch des modernen Romans benannt; jeder kennt sie, sie stehen im zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums: »Es begab sich aber zu jener Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzet würde, ein jeglicher in seiner Stadt; da machte sich auch auf Joseph aus Galilea aus der Stadt Nazareth nach der Stadt Davids, die da heißet Bethlehem in dem jüdischen Land, daß er sich schätzen ließe mit Maria seinem angetrauten Weibe, die war schwanger.« Mit diesen Zeilen eröffnet sich die Möglichkeit eines neuen Blicks auf die Welt: die große Geschichte, die Weltpolitik, der Gründer des römischen Kaisertums, dessen Wirken bis in die Gegenwart reicht, werden darin mit einer armen Handwerkerfamilie aus einer vernachlässigten Kolonie des Römerreichs zusammengespannt, und so etwas ist bis dahin undenkbar gewesen. Von nun an können Werke entstehen, die die Gattungsbegriffe der Antike aufheben. Bis zu diesem historischen Moment waren in der Literatur das Erhabene und das Alltägliche, die Sphären der Heroen und der kleinen Leute, die großen Zeremonien und die formlose Banalität streng voneinander geschieden. Aber nun verschmolzen sermo sublimis und sermo humilis zu einer Prosa, die die Sprache des europäischen Romans werden sollte. Auerbach hat sein Werk während des Kriegs in Istanbul geschrieben; der Istanbuler Universität müssen die Deutschen ewig dankbar sein, daß sie den Flüchtling auf einen Lehrstuhl berief, doch eine dieser Arbeit genügende Bibliothek gab es am Bosporus damals nicht. So hat Auerbach die »Mimesis«, wie er berichtet, weitgehend ohne Bücher geschrieben – er bekennt sogar, daß sein Buch anders wahrscheinlich nie entstanden wäre. Liegt in dieser Entstehungsweise auch der Grund, warum ich es mit solcher Freude gelesen habe?
Wenn ich nun beginne, einige Gedanken über den Roman auszusprechen, geschieht dies gleichsam im Gespräch mit Erich Auerbach, durch ihn angeregt, ihn gelegentlich weiterspinnend und mit Eigenem vermischend. Die Frage, was diese Überlegungen für meine Romane bedeuten könnten, stelle ich mir nicht, aber da mein Denken und mein Tun nicht mehr als üblich auseinanderklaffen, wird sich ein gewisser Zusammenhang nicht leugnen lassen.
Ist Realismus etwas Wirkliches?
Es war ein alter Verfassungsrechtler, der mich mit seinem Mißvergnügen und seinen Bedenken gegen die literarische Form des Romans in Verlegenheit brachte: »Ich verstehe nicht, weshalb man Romane liest«, sagte er. »Da heißt es dann: ‚Der Baron stand auf den Zinnen seiner Burg und blickte über die Felder, die in der Abendsonne lagen‹ – wenn er das in Wahrheit doch gar nicht getan hat, ja, wenn es diesen Baron doch überhaupt nicht gab.« Man sieht, welchen Typus Roman der Jurist im Auge hatte, aber er hätte seine Bedenken auch äußern dürfen, wenn der Roman mit den Worten begonnen hätte: »Der Junkie Kevin öffnete den Eisschrank und blickte auf eine angebohrte, verschimmelte Velveta-Ecke.« Wann das Interesse der Menschheit an fiktionalen Erzählungen erwacht ist und welche Gründe es dafür gegeben haben mag, wann aus Mythen, die keinesfalls Fiktionen sein wollten, wann aus Epen, die sich als Geschichtswerke begriffen, Mythologien wurden, deren sich die individuelle künstlerische Phantasie bemächtigte, wann Märchen, die in ihrem Kern historische Ereignisse aufbewahrten, sich in Unterhaltungsstoff verwandelten, der zur literarischen Disposition der Erzähler stand – das soll hier nicht weiter erörtert werden. Und zwar nicht aus Geringschätzung für die Vielzahl der dazu angehäuften Erklärungen, sondern weil es für den Romancier unfruchtbar ist, sich die Welt ohne Romane vorzustellen, so wenig wie ein Pianist beim Einstudieren einer Haydn-Sonate von dem Gedanken profitieren kann, die Erfindung des Pianoforte sei im Grunde eine Absurdität. Es gibt ihn halt, den Roman, er erzählt, was sich niemals oder nicht in dieser Form ereignet hat, oder schlimmer: er exzediert im heillosen Verdrehen, Verknüpfen und Durcheinanderwerfen von Erfundenem und Tatsächlichem auf moralisch bedenklichste Weise – das Durcheinanderwerfen ist bekanntlich das Metier des Diabolos. Und das wahrhaft Unbegreifliche, meinen würdigen Juristen Verstimmende liegt dabei doch in der Übung, den größten Teil der in den letzten Jahrhunderten geschriebenen Romane ganz selbstverständlich einem »Realismus« zuzuordnen – was mag das wohl für ein Verhältnis zur Realität sein, das eine solche Verbindung des Unvereinbaren immer wieder erlaubt?
Es scheint da ein etwas fragwürdiges Spiel mit sehr feinen Kategorien zu geben: da treten eine »Wahrheit« und eine »Wirklichkeit« und eine »Wahrscheinlichkeit« gegeneinander an und versuchen zu beweisen, daß man ihren Ansprüchen auch genügen könne, wenn das im Roman Dargestellte nicht mit kriminalistischen Methoden zu sistieren sein sollte, wenn es sich vor den Schranken des Gerichts und unter Eid gar als schiere Lüge erwiese.
Ich greife zum Anekdotischen, um zu illustrieren, wie der Begriff des Realismus im Roman vielleicht am besten verstanden werden könnte. Ein inzwischen verstorbener Pianist erzählte mir von den Verhältnissen im Hause Rubinstein, die er kannte, weil er dort so lange zu Gast gewesen war, bis Madame Rubinstein ihn auf die Straße setzte. Er bewahrte der Dame deshalb kein gutes Andenken. »Sie war eine fürchterliche Frau«, sagte er, »stellen Sie sich vor: sie hatte auf dem Klo einen Goya hängen.« Ein Zuhörer protestierte: »Aber bitte – sie hatte doch keinen Goya auf dem Klo hängen!« Der Pianist revidierte sich etwas gereizt: »Natürlich hatte sie keinen Goya auf dem Klo hängen – aber so war sie!«
Mein Jurist ist mit solchen Mätzchen nicht zu trösten, aber ich muß ihn seinem Gram überlassen, denn auch »der kreative Umgang mit der Wahrheit« im Roman, um eine berüchtigte Formel zu gebrauchen, kann auf verschiedene Weise gehandhabt werden. Zwei Schulen sind es, die mich beschäftigt haben: der Naturalismus und der eigentliche Realismus. Das Bestreben, die Welt mit den Mitteln der Erfindung zu zeigen, wie sie ist, scheint dem Naturalismus und dem Realismus gemeinsam, aber der Naturalismus hat hier offenbar einen Vorsprung. Er sammelt bei seinen Recherchen unerschrocken alle Phänomene der Wirklichkeit, er blendet kein Wahrnehmungsorgan aus und weigert sich, den Ekel, die Scham, den Takt, die Rücksicht als Grenzen seines Tuns zu akzeptieren. Er befürchtet, daß all dies von dem Interesse geleitet sein könnte, die geschilderten Verhältnisse irgendwie zu beschönigen, und daß solche Beschönigungs-Absichten ein Zeugnis unwürdiger Ängste oder gar des handfesten Betrugs seien. Und diese Befürchtung trifft ja allzu oft ins Schwarze. Allzu oft werden unter dem Anschein realistischer Schilderung Verhältnisse idealisiert, harmonisiert, geschminkt und veredelt, und das nicht nur in der Absicht, eine angenehme Unterhaltung herzustellen, sondern auch, mit durchaus politischen Nebengedanken, um die Verfälschung in den Dienst einer Propaganda zu stellen. Aber ist das Objektiv des Naturalismus mit der angestrebten eisigen, gnadenlosen Apperzeption denn wirklich so unbeteiligt, so unparteiisch gegenüber den Phänomenen, die es registriert? Könnte es nicht sein, daß der schonungslose Blick auf das Häßliche, das Abstoßende, das Übelriechende und Verfaulte in Wahrheit Symptom einer Gequältheit ist? Verbirgt sich hinter der Kälte des Naturalismus nicht vielleicht eine große Bitterkeit, eine tiefe Enttäuschung darüber, »daß nicht alle Blütenträume reiften"? Wird das Grausame und Abscheuerregende am Ende gar nicht deshalb ausgebreitet, weil es eben da ist, sondern weil es, ginge es mit rechten Dingen zu, gerade nicht da sein sollte? Wenn er auf die Eingeweide des Menschen zu sprechen kommt, ist da nicht eine geheime Verletztheit spürbar, daß wir innerlich nicht aus einem Röhrensystem aus Straßburger Fayence bestehen? Bis heute bewahren die Hervorbringungen des Naturalismus ihre Herkunft aus der barocken Vanitas-Mentalität, wenn auch zersprungene Lauten und elfenbeinpolierte Totenköpfe sich dekorativer ausnehmen als das Erbrochene neben der halbleeren O-Saft-Tüte, aber das sind Fragen des Zeitgeschmacks. So würde ich es für mich definieren: der Naturalismus will, seinem tiefsten Antrieb entsprechend, darstellen, was nicht da sein sollte, empörenderweise aber dennoch da ist, um die Leser zum Aufstand gegen das existierende Böse zu ermutigen – und der Verdacht bleibt: alles Daseiende ist böse. In seiner Darstellung der faktischen Verhältnisse ist er nicht zu übertreffen, aber dieser Gefühls- und Gedankenhintergrund schiebt sich während der Lektüre immer mehr nach vorn, bis sich in den Blut- und Urinlachen das verwundete Herz des Autors spiegelt, der sich für eine schönere Welt geboren glaubte. Alles zu sagen, das ist freilich auch das Ziel des nicht- oder gar antinaturalistischen Realismus. Ein Ausweichen vor den tristen und schlimmen Aspekten der Welt will auch er sich nicht gestatten, obwohl er nicht davon überzeugt ist, daß gerade diese schlimmen Aspekte vor allem wahrheitsträchtig seien. Die Beschränkungen, die er sich auferlegt, entstammen aber nicht dem verhohlenen Wunsch, dem Unangenehmen ausweichen zu wollen, im Gegenteil. Aber zum Alles-Sagen des Realismus gehört oft genug auch das beredte Schweigen, ja, das Schweigen ist für ihn ein so bezeichnendes Mittel, daß seine Liebhaber einen Autor oft nicht nur dafür rühmen, was und wie er spricht, sondern auch dafür, was alles er nicht gesagt hat. Bemerkenswert ist da zunächst seine Art zu sehen, nicht mit dem Mikroskop auf die Details gerichtet, sondern wie das menschliche Auge sieht, das die zahllosen Einzelheiten eines Bildes verbindet und blitzschnell zu einer Komposition zusammenfaßt, in der Licht, Stimmung, Duft und Geräusch sich mit den Bildern unauflöslich vermählen. Realistisches Erzählen versucht unsere Erlebensweise nachzuahmen, die nicht analysiert, sondern das einzeln Wahrgenommene und unwillkürlich Ausgewählte mit einer Gesamtstimmung auflädt. In der Erinnerung kann diese Gesamtstimmung einer Situation durch die Evozierung eines einzelnen Details, in dem sie wie in einer verschlossenen Büchse gefangengehalten wurde, wieder frei werden – sie ist wortlos, aber an ein Wort gebunden, sie überschreitet dies Wort, hätte sich ohne das Wort aber verflüchtigt. Man denke nur an die Häuser in Dostojewski-Romanen, die der Leser durchwandert zu haben glaubt, obwohl er beim Nachlesen zu seinem Verwundern feststellen muß, daß sie eigentlich kaum beschrieben worden sind.
[…]
SINN UND FORM 1/2011, S. 46-64
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Mosebach, Martin
Der Feind
Ein junger Autor fragte einmal Ernst Jünger um Rat; er plane einen Essay mit dem Thema »Die Insel« – Jünger riet ab, das Thema sei nicht in den Griff zu bekommen, es sei zu groß. Für einen Aufsatz über den Feind müßte dasselbe gelten, schon gar in einer Kultur, in deren Grundfesten ein Bewußtsein von ewiger, unüberwindlicher Feindschaft eingemauert ist: der Glaube an den Satan, den Menschenmörder und Menschenfeind schlechthin. Große mythische Erzählungen berichten von seinem Aufstand gegen Gott, von der Eifersucht eines der ersten unter den Engeln, von seinem Sturz aus dem Himmel in die Bereiche, die von da an die Hölle sind, das Reich des Bösen. Er ist Fürst dieser Welt, Gott läßt ihn hier schalten und walten, und zugleich ist er schon gerichtet; während des Weltenlaufs darf er sich über immer neue Etappensiege freuen und hat aufs ganze gesehen doch schon jetzt verloren. Wie es einem Dämon entspricht, hat er viele Gesichter: Man kennt ihn als dummen und als armen Teufel, als schönen und als häßlichen, als Fratze und als Titan. Nur eines steht fest: Mit diesem Person gewordenen Mysterium iniquitatis gibt es keine Verhandlungen und keine Kompromisse, keinen Waffenstillstand und schon gar keinen Frieden. Und zugleich ist er notwendig – so wie es Gott gefallen hat, die Welt einzurichten, war ohne den Teufel nicht auszukommen. Der Teufel garantiert die Freiheit der Menschen, sich gegen Gott zu entscheiden, und an dieser Freiheit scheint dem Schöpfer alles gelegen. Und umgekehrt: Der Herr wünscht offenbar, daß sein menschliches Ebenbild angesichts des scheinbaren Sieges des bösen Feindes, im Eindruck der Übermacht des Bösen und der Vergeblichkeit, dagegen zu kämpfen, dennoch das Gute und damit Ihn wählt. Die christliche Religion spricht in vielfacher Weise vom Frieden, aber sie ist eine Religion des Kampfes; sie begreift die Welt als Kampfplatz und verleiht denen die Palme, die auf Erden diesen Kampf mit ihrem Leben bezahlen.
Carl Schmitt hat sich besonders mit dem eigentümlichen Prozeß beschäftigt, in dem sich theologische Begriffe und Auffassungen in den letzten dreihundert Jahren säkularisierten; mit der Krise des Glaubens verschwanden die theologischen Denkmuster nicht einfach, sondern wanderten ins Politische ab. Eine der gefährlichsten dieser Transformationen erlebte der böse Feind. An den Dämon, den Versucher, den aufständischen Engel wollte man nicht mehr glauben, dafür entdeckte man ihn nun unter den Menschen. Zum Satan erklärt wird der Feind, der nicht einfach besiegt, sondern ausgerottet werden muß. Es war ohnehin alarmierend, daß der Begriff der Feindschaft in der politischen Theorie eine Rolle spielen sollte, denn politisch sind solche Festlegungen eigentlich gerade nicht. Politisch ist das Offenhalten aller erdenklichen Optionen, im Feind von heute den Verbündeten von morgen, im Verbündeten von heute den künftigen Feind zu sehen. Die englische Devise sagt es am knappsten: »England hat keine Freunde und keine Feinde. England hat Interessen«, was bekanntlich nicht pazifistisch gemeint ist. Politik ist ein Schachspiel, bei dem die geschlagenen Figuren meist auf dem Brett bleiben; Siege sind anstrengend, Niederlagen nicht aussichtslos – wer wüßte das besser als die Deutschen. Und doch hat auch in jüngster Vergangenheit noch der Begriff einer »Achse des Bösen« eine unheilvolle Rolle spielen dürfen. Nur das militärische und wirtschaftliche Scheitern hat die Verkündung der bedingungslosen Feindschaft verhindert, schmähliche Blamagen haben die Rückkehr zu einer maßvolleren Sprache erzwungen, wer weiß wie lange. Denn die Rede von der totalen Feindschaft ist ja eben nicht nur eine Entgleisung politischer Abenteurer, sie gehört zu den Gesetzmäßigkeiten einer vom Geist der Säkularisation bestimmten Öffentlichkeit. Ächten, An-den-Pranger-Stellen, Teeren und Federn, öffentliche Hinrichtungen gehörten seit jeher zur Domäne der Massen, deren Eintritt in die Geschichte dies Gesetz bestätigt hat.
Aus dem Riesenkomplex der »Feindschaft« möchte ich auf höchst impressionistische Weise einzelne Bilder herausgreifen, wie es sich für mich gehört als Erzähler, dem alle Theorie fremd ist, wenn sie nicht theoria – Anschauung – wird. Und ich möchte dabei vor allem Zusammenhänge betrachten, in denen Feindschaft fruchtbar war. Als Europäer stammt man von einem Kontinent, der seine spezifische, in der ganzen Welt unübertroffene Vielgestalt der Feindschaft unter seinen Völkern verdankt. Die europäische Geschichte bietet ein Schauspiel ohnegleichen. An ihrem Anfang steht das Römische Reich, das viel mehr als ein zusammengerafftes Imperium war. Goethe hat es in den »Zahmen Xenien« in einem Kurzdialog auf den Punkt gebracht: »Jesus: Und unser Pakt, er gilt für alle Zeit? / Rom: Jetzt heiß ich Rom, dann heiß ich Menschlichkeit. « Das war die Verwandlung eines Staates in ein zivilisatorisch-religiöses, in ein nationenübergreifendes Ideal, das bestehen blieb, als das Reich zerfiel. Ob es wirklich aufhörte zu bestehen, war übrigens bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts umstritten. Aber dies war nicht die einzige Verwandlung. Wie in einer Kelter wurde die Substanz dieses Großreichs zerstampft und dann einer Gärung unterzogen. So entstand der köstliche Wein der europäischen Nationen. Was diese Völker aber auszeichnete, war, daß sie sich allesamt als legitime Erben Roms betrachteten und andern diese Erbschaft eifersüchtig absprachen. Rom lebte in vielen Töchtern weiter – nicht nur in der römischen Kirche mit dem Papst, der die Stelle des römischen Kaisers einnahm und Anspruch auf die Universalität seiner Herrschaft erhob, sondern auch in Deutschland mit seiner translatio imperii, in Frankreich, dessen König kaiserliche Würde behauptete (noch Joseph II. konnte mit seinem Schwager Ludwig XVI. nicht öffentlich zusammentreffen, weil die Frage des Vortritts nicht geklärt war), und in England, dessen Herrscher Heinrich VIII. erklärte: In England ist der König Kaiser. Alle diese Ansprüche bestanden durchaus zu Recht und lösten einen Wettstreit aus, der oft blutig, oft zerstörerisch bis zum Selbstmord war, der aber zugleich die Eigentümlichkeit der Volkscharaktere zu skulpturaler Deutlichkeit steigerte. Es kam schließlich zur Überspitzung des Nationalen, das sich mit dem imperialen Prinzip verband. Im neunzehnten Jahrhundert war fast jede europäische Nation ein Kaiserreich: England, Deutschland, die Donaumonarchie, Rußland, Frankreich, den türkischen Kaiser zu Stambul nicht zu vergessen, Portugal mit Brasilien – im zwanzigsten gelangte selbst Italien noch kurzzeitig zu einer Kaiserkrone. Jetzt schlug die agonale Tradition in Selbstvernichtung um, wie sie das einst auch im antiken Griechenland getan hatte – aber sprach das in allen Epochen gegen sie? Nachdem sich von Deutschland aus ein Kreis von Catilinariern aus der europäischen Konkursmasse ein Verbrecherreich erobert hatte, wurde der Agon geächtet, begreiflich genug, es war auch keine Kraft mehr da. Ein post-histoire gibt es freilich nicht. Die Zeit, die keine nationalen Interessen mehr kennen wollte, scheint an ihr Ende gelangt zu sein, nur daß der neue Nationalismus sich nicht mehr aus gewaltigen historischen Träumen speist, sondern ohne auf Vergangenheit und Zukunft zu blicken an Wagenburgen für eine Notgemeinschaft baut. Prophezeiungen für die weitere Entwicklung werde ich mir versagen. Statt dessen richte ich den Blick zurück, denn die Vergangenheit ist die Utopie des Romantikers.
Die Feindschaft der Brahmanen
Der Nachfahre der Herrscher eines kleinen indischen Königreiches, das seit 1947 im Bundesstaat Rajastan aufgegangen ist, führte mich durch sein Staatsarchiv. Auf vielen Regalen lagen Aktenstapel, die in großzügig verknotete Baumwolltücher eingeschlagen waren. Die Einnahmen und Ausgaben des Staates, die Kosten für die Armee, die Gerichtsurteile, die Aufwendungen für die Hofhaltung bis hin zum Schmuck der Frauen des fürstlichen Harems sowie das Futter für die Elefanten waren hier dokumentiert, in Kalligraphien, die jede Seite der Buchführung zum Kunstwerk machten. Nur eines ließ mich stutzen: Die Herrscherfamilie führte ihren Ursprung auf den Mond zurück, auf unvordenkliche Zeiten also, die ältesten Dokumente des Archivs reichten hingegen nur bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, bis zum Eintreffen der Engländer also, die durch ihren Agenten die Außenpolitik des Königreichs zu lenken begannen. Was mit den älteren Teilen des Archivs geschehen sei? »In den Jahrhunderten vor der indirekten Herrschaft der Engländer haben wir uns unablässig im Krieg mit unseren Nachbarn befunden«, sagte der Maharaj Kumar. Alle paar Jahre sei alles zerstört worden. Die Kriege hatten die Vergangenheit abgeschafft und für ein andauerndes Jetzt gesorgt. Dabei wurden sie keineswegs als Unglück empfunden – hier gab es keinen Raum für Klagen à la »Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr den gantz verheret!«, keinen bitteren Blick auf die unerhörten Verluste à la »Das hat der Feind getan!« Wechselseitige Zerstörung, Belagerung, Überfälle, Beutezüge hatten zum Lebensrhythmus dieser Reiche gehört, die Fürsten nahmen einen Krieg wie die Fortsetzung einer Tigerjagd, die ja gleichfalls nicht völlig ungefährlich war. Die Rajputen, die Kaste, der die Fürsten angehörten, waren für den Krieg geschaffen, so wie die Vaishas für den Handel und die Shudras für die Feldarbeit.
Gewisse Gesten aus dieser Vergangenheit lebten noch in den Gewohnheiten des Maharaj Kumar: Nachdem er mir die meisterlich geschmiedete Klinge seines Säbels gezeigt hatte, fügte er sich damit einen kleinen Schnitt auf dem Handrücken zu – »Ein gezogener Säbel darf erst wieder in die Scheide gesteckt werden, nachdem er Blut geschmeckt hat«. Zum Rajputen Dharma gehörte das Töten; sie erfüllten ein ihnen innewohnendes Gesetz, wenn sie zu Felde zogen. Erst als die erzwungene Pax britannica begann, stieg aus der Stille der verwaisten Schlachtfelder die Geschichte empor. Der erste englische Resident, der legendäre Colonel Tod, sammelte, was es an Überlieferung noch gab, in seinem Werk »Annals and Antiquities of Rajastan«, das zu den großen Historienbüchern des neunzehnten Jahrhunderts gehört, und gab den in unwirklichen Frieden gesunkenen Kriegern ihre Vergangenheit zurück, die in bunter Einförmigkeit eine nicht abreißende Folge von Kämpfen gewesen war. Fruchtbar wird man diese Jahrhunderte nur mit Einschränkung nennen dürfen, aber der Frieden war gleichfalls wenig fruchtbar. Aus den Hauptstädten streitsüchtiger Königreiche wurden graue, armselige Provinzstädte.
Mehr noch als in Tods Geschichtswerk wurde die Vergangenheit mir aber durch ein dickes, aus dem Leim gegangenes Buch aus der königlichen Bibliothek lebendig. Auf meinem Nachttisch lag eine der großen brahmanischen Enzyklopädien, die im ersten nachchristlichen Jahrtausend zusammengetragen worden sind, vor den muslimischen Eroberungen also, als die Kriege noch nicht religiös motiviert waren und die Aggression noch reine, man möchte sagen, begründungsunabhängige Grundfigur der Reiche war. Mein Purana war das Agnipurana, in den zwanziger Jahren ins Englische übersetzt, ein Fürstenspiegel, ein Ritenkompendium, eine Rhetorikschule, eine Lehre der Götter und der Sterne, des Hausbaus und der Behandlung der Frauen, aber eben auch ein Lehrbuch über Feindschaft und Krieg. Im zweihundertvierzigsten Kapitel wird dem König geraten, stets einen Kreis von zwölf ihn umgebenden Königen im Auge zu behalten: den Feind, den Freund, den Verbündeten des Feindes, den Verbündeten des eigenen Verbündeten, den Verbündeten eines Verbündeten des Feindes – sie liegen vor dem Eroberer. Die hinter ihm liegenden Heere werden gleichfalls in die durch ihre Lage zur Feindschaft verurteilten, die durch ihre Lage zur Freundschaft befähigten und die neutralen differenziert. Zwanzig Kategorien werden aufgezählt für die Mächte, mit denen kein Vertrag möglich ist; fünf Klassen von Feindschaft existieren; vier Voraussetzungen werden genannt, die einen Krieg ratsam erscheinen lassen. Aber es wird auch zu bedenken gegeben: Niemand ist nur aus sich heraus Freund oder Feind. Es gibt immer einen Grund; auch ein Verbündeter kann zum Feind werden. Das Agnipurana war ein ganz auf die Liturgie praktischer Gottesverehrung ausgerichtetes Buch; deshalb berührte es sonderbar, daß Priester, heilige Asketen und Astrologen beim Kampf gegen den Feind im Sinne der lächelnden römischen Auguren hinzuzuziehen waren, mit erdichteten Weissagungen, die den Feind entmutigen sollten. Es lag nahe, die Muster dieser Sammlung auch auf die europäischen Verhältnisse anzuwenden; die Kämpfe des Abendlands, in denen es für unser Verständnis immer auch um die Durchsetzung kultureller Prinzipien ging, erschienen unversehens in kälterem Licht, wurden zu physikalischen Vorgängen, Dynamiken zwischen Kräften und Gegenkräften – Feindschaft ohne Haß, beinahe ohne Emotion, Krieg und Frieden gleichsam als Ein- und Ausatmen. Ein fahles Element der Ehrsucht brachte nur das Schicksal der Frauen ins Kriegstheater; es mochte sich aber erst in den Kämpfen mit den islamischen Moguln so verschlimmert haben. Mein Gastgeber sprach stolz von den Hunderten Frauen, die vor Eroberung der Festung Chittorgharh auf einen riesigen Scheiterhaufen gesprungen waren, um sich dem Zugriff der Eroberer zu entziehen. Und auch das mit Miniaturen im persischen Stil erlesen geschmückte Empfangszimmer seiner eigenen Festung besaß ein grausiges Geheimnis. Hinter der Marmorwand war die Ehefrau eines Monarchen, vom Feind geraubt, in einen fremden Harem verschleppt und schließlich daraus wieder befreit, bei lebendigem Leibe eingemauert worden.
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SINN UND FORM 1/2014, S. 5-9
- 2/2018 | Der Aquarellblock als Tagebuch. Über die Malerin Elisabeth von Förster
- 3/2018 | Wiedersehen mit Rom, S. 390 Leseprobe
Mosebach, Martin
Wiedersehen mit Rom
Mit fünfzehn Jahren habe ich Rom zum ersten Mal betreten, eine Schwester meiner Mutter lud mich ein; wir wohnten in einem kleinen Hotel nahe der Via Nomentana und waren von morgens bis abends auf den Beinen, denn ich hatte die Absicht, »alles« zu sehen, und reiste auch in der Überzeugung ab, nun »alles« gesehen zu haben. Es dauerte noch einige Jahre, bis mir dämmerte, daß ich niemals »alles« in Rom würde gesehen haben, und brächte ich auch mein restliches Leben vorwiegend mit seiner Erforschung zu. Wer nach dem Krieg im westlichen Teil Deutschlands aufgewachsen ist, in unseren zerstörten und fade wiederaufgebauten Städten, der kam 1966 in ein Rom, das die scharfen Einschnitte der Modernisierung noch vor sich zu haben schien. Ich sah Papst Paul V. noch auf einem goldenen Tragsessel, der sedia gestatoria der republikanischen Konsuln, an mir vorüberschweben, getragen von acht in roten Damast gekleideten »sediarii«; die Kardinäle, die ihn begleiteten, trugen Hermelinmozetten um die Schultern und hatten ihre langen roten Atlasschleppen hochgeknöpft, so daß sie sich in ihrem Rücken bauschten. Da waren die radikalen Entscheidungen für einen Bruch mit der liturgischen Tradition schon gefallen, aber die alten Bilder wurden noch reproduziert, so wie von der Erde aus gesehen gewisse Sterne noch funkeln, deren Licht bereits erloschen ist. Rom war eine düstere Stadt in diesen Jahren, die Kirchen und Paläste waren braun-rot verputzt, Sonne und Wasser hatten diesen Putz fleckig gemacht, jede Wand glich einem Gemälde von Tàpies. In dieser braunen Dunkelheit schien die Stadt wie aus anderen Erdepochen in die Gegenwart hineinzuragen. Die barocken Paläste und die antiken Backsteinruinen waren dadurch nicht streng geschieden, sondern verschmolzen farblich miteinander. Daß Rom während der Herrschaft Mussolinis, die so lange schließlich noch nicht zurücklag, und schon vorher unter den Savoyer-Königen eine Reihe von rabiaten Modernisierungen hinter sich hatte, die den Vergleich mit dem Abriß des mittelalterlichen Paris unter Napoleon III. nicht scheuen mußten, war für mich in meinen jungen Jahren nicht spürbar. Ich erlebte die Stadt, als stehe in ihr, nach ungeheuren gewaltsamen Verwerfungen in vergangenen Jahrhunderten, die Zeit nun für immer still.
»Still« freilich nicht im Sinne von Lautlosigkeit. Bis zum Ende der achtziger Jahre gab es keine Bedenken in Rom, dem anwachsenden Verkehr in allen Straßen und Plätzen der Stadt Freiheit zu gewähren. Die engen Gassen des Marsfeldes waren von Autoschlangen blockiert, die sich manchmal erst nach Stunden auflösten. Wo freie Fahrt möglich war, rasten knallend die Motorräder, die Passanten drückten sich an die Hauswände. Der Verkehrslärm war allgegenwärtig, nur auf den Dachterrassen im siebenten Stock eines Palazzo verwandelte er sich zu einem Meeresrauschen. Lange waren die berühmtesten Plätze Roms – die Piazza del Popolo, die Piazza Navona, sogar der Petersplatz – vor allem Parkplätze. Das alles war nicht schön, aber es wirkte unbekümmert. Die Stadt wurde nicht unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie sie am besten von Reisenden besichtigt werden könne. Die alte Auffassung, daß eine Stadt ein Raum der Freiheit bis hin zur Anarchie, des ungeregelten Aufeinanderprallens vieler Kräfte sei, die ungesteuert in ein Zusammenwirken hineinfinden, das sich von staatlicher Gesetzlichkeit unterscheidet und dem Außenstehenden überhaupt undurchschaubar bleibt, die Stadt als harmonisches Chaos, sie war in diesem Rom noch zu finden, wenngleich die Urbs aeterna dabei war, in die Selbstvernichtung zu gleiten. Noch 1986, als ich im Ghetto meinen Roman »Westend« zu schreiben begann, waren die Plätze voller Abfall, streunten die Katzen, entleerten sich die Tauben, verstärkten die Straßenschluchten das Motorendröhnen zum Donner. Aber aus dem Erdendreck hoben sich die braunverkrusteten Riesensäulen in den pflaumenfarbenen Nachthimmel; die Stadt ächzte unter der Last ihrer Geschichte – für mich war eine Befreiung von dem verödeten Deutschland des Wiederaufbaus, eine Überwindung des großen historischen Bruchs mit dem Aufenthalt in römischen Mauern verbunden.
Über vergangene Zeiten zu sprechen geht oft auch mit Klagen über Verluste einher. Man muß vernünftig sein – so wie es war, konnte es nicht weitergehen. Rom hat sich seitdem verändert, und viele würden sagen, daß diese Veränderungen vorteilhaft waren. Überall in Europa sind die kleinen Geschäfte und Handwerkerateliers aus den Innenstädten verschwunden – warum nicht auch in Rom? Überall sind die kostbaren historischen Altstädte nicht mehr von den kleinen Leuten bewohnt, die sie einst in so unnachahmlicher Weise belebten. Wenn London auf den alten Markt von Covent Garden und Paris auf die Hallen verzichten dürfen, warum muß dann auf dem römischen Campo dei Fiori alles beim geräuschvollgemüseduftenden alten bleiben? Nach den Fußgängerzonen des Nordens, die unsere Stadtkerne in Einkaufszentren verwandelt haben, hätte man sich in Rom nicht sehnen dürfen? Warum nicht aufatmen, daß der gewalttätige Krach aus der Stadt verschwunden ist? Denn die alten Steine sind schließlich nicht verrückt worden. Wenn man durch die Gassen schlendert und nicht zu genau hinsieht, ist alles noch wie vor hundert Jahren – die Kulisse steht doch, auch wenn in den Läden nicht mehr Salat und Kartoffeln angeboten, sondern Jeans und Touristenschnickschnack verhökert werden. Die Kunsthistoriker haben inzwischen herausgefunden, daß das römische Braun-Rot, das der Stadt ihre Monumentalität verliehen hatte und das so großartig alterte, nicht der Farbigkeit des Barock entspreche – es sei erst von den Savoyer-Königen eingeführt worden. Seitdem wird überall, wo eine Kirche oder ein Palazzo zur Restaurierung ansteht, Weiß gemalt – ein schönes Weiß übrigens, ein leicht gebrochener Knochen- oder Elfenbeinton, der den Gebäuden die Massigkeit und Schwere nimmt. Aber war es nicht gerade diese Schwere, die der Stadt ihre in Zeitlosigkeit brütende Großartigkeit gab? Die Palazzi auf der Piazza Navona, der Palazzo Farnese, die Architektur rund um die Spanische Treppe, die Galleria Borghese, sie sind nun weiß oder doch gereinigt, und auch St. Peter wurde so gründlich abgewaschen, daß der Stein wie weißes Styropor aussieht. Die Plätze sind frei, die Autos vertrieben, der Tourismus findet kein anderes Hindernis mehr vor als sich selbst – in den wärmeren Jahreszeiten wälzen sich die Heerscharen in Freizeitkleidung hinter Führern mit emporgereckten Fähnchen und versperren sich gegenseitig die Sicht. Zwischen März und November sind die großen Museen, die Vatikanischen an der Spitze, unbetretbar – selbst streng demokratische Volksfreunde geraten im Massenandrang in der Sixtinischen Kapelle in elitäre Empörung. Wer weiß, wo man noch römisches Volksleben – »come una volta« – erleben kann, schweigt und verrät es nicht. Und wo sind die Katzen geblieben und die verwirrten alten Frauen, die ihnen an den Straßenecken einen Haufen Spaghetti mit Tomatensauce hingeschüttet haben – das war kein appetitlicher, aber ein sehr römischer Anblick, vor allem wenn an dieser Straßenecke die Trommel einer antiken Säule im mittelalterlichen Gemäuer steckte. Die Taubenschwärme werden hingegen von den Möwen dezimiert, die seit längerem in die Stadt vorgedrungen sind und mit ihrem scharfen Schnabel die erjagten Vögel wie Sardinenbüchsen aufschneiden.
Lange hat sich Rom gegen die Modernisierung gewehrt; schließlich ist sie doch angekommen. Für den Besucher hat das auch Vorteile: Es gibt viel weniger Streiks als früher – die paar Streiktage werden gewiß nur aus folkloristischen Gründen aufrechterhalten –, es gibt mehr Museen mit großzügigeren Öffnungszeiten, auch an die Leute im Rollstuhl wird überall gedacht. Die ganze Altstadt ist zu einem einzigen riesigen Restaurant geworden, das um die Piazza Navona herum erst um vier Uhr früh schließt.
Kein Raum für Rom-Romantik also mehr? Aber obwohl im Begriff Romantik der Name Rom aufgehoben ist, gehört sie eigentlich nicht nach Rom. Das Wunder Rom besteht weniger in seinen zahlreichen Untergängen als in seinen Auferstehungen. Die römische Symphonie ist nicht in Moll, sondern in Dur geschrieben – ganz wörtlich, denn Dur steht für jene Härte, die eine lange Dauer verleiht. Wer aus Sentimentalität – auf Moll gestimmt! – im einundzwanzigsten Jahrhundert das Rom der sechziger Jahre sucht, wird enttäuscht sein, wer einen Blick für die epochenübergreifende lange Dauer entwickelt hat, wird sie auch heute in Rom finden.
[…]
SINN UND FORM 3/2018, S.293-307, hier S. 293-296
Moseley, Merritt
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Motte-Sherman, Brunhild de la
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Motyljowa, Tamara
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Moussinac, Léon
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Mövius, Ruth
- 4/1984 | Helene Herrmann - ein Lebensbild
Mrozek, Slawomir
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Mtshali, Oswald
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Mucchi, Gabriele
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Mühlberg, Dietrich
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Mühlestein, Hans
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Mukherjee, Subhas
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Müller-Jentsch, Walther
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Müller-Lauter, Wolfgang
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Müller-Waldeck, Gunnar
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- 1/2008 | Woyzeck in Umea, S. 242 Leseprobe
Müller-Waldeck, Gunnar
Woyzeck in Umeå
Reisen erweitert den Horizont, ist aber teuer und daher mehr etwas für Wohlhabende. Goethe in Italien, Humboldt in Südamerika, Schliemann in Kleinasien, Griechenland, Ägypten. Die Finanzierung ihrer Unternehmungen bereitete diesen Reisenden kaum Kopfzerbrechen. Nicht jeder konnte sich das leisten. Doch auch viele Plebejer brachten es auf beachtliche Kilometerzahlen. Ihr Herumreisen in der Welt war freilich nicht Bildungsidealen und geistigen Interessen geschuldet, sondern allein ihrem Stand - sofern sie etwa Bedienstete oder Soldaten waren. Ein solch militärischer und damit eher unfreiwillig Reisender war Johann Christian Woyzeck, dessen Schicksal im 19. Jahrhundert nicht mehr als eine Marginalie war. Er war einer jener namenlosen kleinen Leute, die höchstens von der Statistik erfaßt werden. Allein der Zufall hat uns seinen Namen überliefert, und daß sich ein Dramatiker seines Geschicks annahm, bescherte ihm einen gewissen Ruhm, von dem er nichts mehr hatte, da er erst mit seinem Tode einsetzte. Er war nämlich der letzte, der in Deutschland öffentlich geköpft wurde: am 27.August 1824 vor dem Leipziger Rathaus wegen Mordes an seiner Geliebten.
1780 in Leipzig geboren und früh verwaist, kann er seine Lehre in der Kunst des Frisierens und Perückenmachens nur mit Mühe abschließen. Danach geht er auf die Walz, kommt nach Wurzen, Töplitz, Wittenberg, hat allerdings nicht viel Glück, denn Gesellen waren teurer als Lehrlinge und wurden ungern eingestellt. So fristet er sein Dasein als Diener von Adligen, ehe er schließlich 1806 mit den Preußen gegen Napoleon zieht. Ob freiwillig oder nicht, für die nächsten zwölf Jahre war sein Schicksal jedenfalls besiegelt. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt wurde er von den Franzosen im mecklenburgischen Grabow gestellt, in eine holländische Uniform gesteckt und in einem Hilfsregiment nach Norden geführt. Vor Stralsund ging es am 7. April 1807 gegen die Schweden - und nach der Niederlage auch nach Schweden: in Internierung und Gefangenschaft - und bald auch in eine andere Armee (Gefangene durchzufüttern war seinerzeit nicht üblich). Der Zwangs-Schwede wurde nach Stockholm verlegt und bald darauf in den nächsten Krieg verwickelt: Woyzeck schoß in Finnland auf die Russen und mußte froh sein, daß er die Rückzugsaktionen General von Klingspors und die Fehldispositionen des Generalstabschefs Karl von Adlercreutz bei Oravais in Nordfinnland überlebte. Hier kam es am 14.September zu einer der blutigsten Schlachten des Krieges, in der die Russen die Oberhand behielten. Die Gefangenschaft blieb dem Leipziger diesmal erspart und damit auch die Einkleidung in wieder eine andere Uniform. Sonst hätte der Friseurgeselle womöglich in russischen Diensten gegen die Türken gekämpft oder gegen die napoleonischen Truppen, bei denen einst sein Elend begonnen hatte. Nein, Woyzeck gelangte wieder nach Schweden, weil die Kommandeure, von den Russen getrieben, wenigstens den Rückzug auf dem Landweg um den nördlichen Bottnischen Meerbusen herum schafften. Aber um welchen Preis, berichtet Wolrad Eigenbrodt: »Im Dezember mußten die Reste des finnländischen Heeres, das Vaterland in den Händen des Feindes lassend, in jammervollem Zustande die Grenze überschreiten. Auf schwedischem Boden in und um Torneå verbrachten sie einen furchtbaren Winter. In zerrissenen Kleidern und ohne Bedeckung auf dem Boden liegend, gingen Hunderte an Kälte und Krankheit zugrunde. Gleichwohl wurde im Frühjahr 1809 mit ungebrochenem Mut gegen die nachrückenden Russen weitergekämpft. Aber der sonst so tapfere General Gripenberg mußte, völlig verzweifelt angesichts der Übermacht, trotz heftigen Widerspruchs seiner Offiziere und Mannschaften, am 25.März bei Kalix kapitulieren.«(Kommentar zu Johann Ludvig Runeberg, »Fähnrich Stahl«, Helsingfors 1907)
Die Rückzugsgefechte dauerten noch bis zum Sommer und erstreckten sich bis kurz vor Umeå, wo im Dorf Sävar die Kapitulation erfolgte. Finnland fiel an die Russen. In Umeå steht jetzt ein Denkmal auf dem Platz, wo Woyzeck von seinem letzten Feldherrn, General Georg Carl von Döbeln, verabschiedet wurde. Natürlich nicht per Handschlag und schon gar nicht allein. Im heutigen Döbeln-Park zelebrierte der General am 8. Oktober 1809 den Abschiedsappell vor den »geretteten« Verbänden. Der kleine Sachse dürfte von der feierlichen Rede nicht viel verstanden haben, vielleicht nur die auch für deutsche Ohren vertraut klingende Anrede »Soldater! Kamerater! Broeder!« (die Rede liegt gedruckt vor), aber er wußte, worum es ging, oder, besser, wohin es ging: nämlich durch ganz Schweden ins über tausend Kilometer entfernte Stralsund, wo er Glück und Ruhe zu finden hoffte. Aber die Stadt wurde gerade von den Franzosen belagert. Der hoffnungsfrohe Heimkehrer geriet abermals in Gefangenschaft, erhielt wieder eine andere Uniform, diesmal die mecklenburgische, und wurde, ungefragt, unter der Fahne einer Rheinbundmacht, Verbündeter des großen Korsen, der Zurüstungen für den Rußlandfeldzug traf. Überliefert ist der Name einer jungen Frau, der Wienbergerin, mit der er ein Kind zeugte, die ihm aber nicht treu gewesen sein soll. Kurz bevor der Franzosenkaiser gegen Rußland zog, desertierte Woyzeck - eine der wenigen eigenständigen Handlungen des völlig fremdbestimmten Soldaten - zu den Schweden, die ihm nach seinen wechselvollen Erfahrungen die kulantesten Herren zu sein schienen.
[...]SINN UND FORM 1/2008, S. 136-138
- 2/2008 | Wolfgang Borcherts »Draussen vor der Tür« im Westen und im Osten
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- 3/2015 | Ein expressionistischer Dichter
namens Wolfgang Koeppen, S. 242 Leseprobe
Müller-Waldeck, Gunnar
EIN EXPRESSIONISTISCHER DICHTER NAMENS WOLFGANG KOEPPEN
Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und lautete: »Gab’s damals in Augsburg nicht«. (Daß es diesen Einfluß gleichwohl gab, steht auf einem anderen Blatt!) Sein acht Jahre jüngerer Bewunderer Wolfgang Koeppen hätte nicht so lakonisch über sich und seine Geburtsstadt sprechen können. Zum einen war der literarische Expressionismus für ihn die Eintrittspforte in die Literatur, zum andern gab es ihn in Greifswald durchaus. Genauer: Es hatte ihn gegeben, wenn auch nicht im Sinne einer Gruppe oder Schule.
Der Jurist und elegante Kabarettdichter Walter Serner erwarb hier den Doktortitel, Oskar Kanehl, der Linksexpressionist, erregte 1913 als Germanistik-Doktorand mit seiner Zeitschrift »Der Wiecker Bote« Anstoß. Richard Huelsenbeck, der Dadaist, studierte an der pommerschen Universität Medizin, Werner Schendell Philosophie; Gustav Sack, der dem Expressionismus nahestehende Skandalautor, und auch Paul Meyer, der Dichter und spätere Rowohlt-Lektor, hatten als Greifswalder Studenten begonnen. Das alles geschah freilich in Koeppens frühen Kinderjahren. Zudem ging es den meisten angehenden Autoren mehr um die Erlangung eines Brotberufs als um den Ausritt ihres Pegasus. Mit Ausnahme der Kanehlschen Zeitschrift dürften in Koeppens Jugendzeit kaum noch Spuren all der schriftstellerischen Ambitionen vorhanden gewesen sein. Aber als er »Mädchen für alles« am Greifswalder Theater wurde, war zumindest noch ein Nachhall spürbar. Der enthusiastische Expressionismusjünger mußte an der städtischen Bühne jedoch bald ernüchternde Erfahrungen machen: Er hatte dem Intendanten Emanuel Voß vorgeschlagen, »Gas« von Georg Kaiser zu inszenieren. Der konservative Theatermann und Wagner-Sänger konterte die kühnen Pläne des schüchternen Vorpommern mit dem Gegenangebot einer Art Hilfsassistenz. Ausschlagen konnte dieser die Stelle nicht: Wer Geld braucht, greift nach jedem Strohhalm. Aber natürlich wurde der jugendliche Träumer nicht um visionäre Menschheitsentwürfe gebeten, sondern gefragt: »Wo stand der Tisch bei der letzten Probe?«
Der geborene Leser Wolfgang Koeppen hatte sich früh dem Expressionismus angenähert, angeregt vielleicht durch seinen Ortelsburger »Onkel« Theodor Wille (zur Eheschließung mit Koeppens Tante Olga war es nicht gekommen, Wille hatte die Schwestern Maria und Olga als Baumeister der Greifswalder Klinik kennengelernt) oder zumindest durch dessen umfangreiche Bibliothek. Hinzu kam das, was Koeppen später sein »Leben gegen die Norm nannte«. Er, der als Neunjähriger zu Kaisers Geburtstag auf der Schulfeier patriotische Verse rezitieren mußte, rächte sich später durch die Lektüre einer für kaisertreu Empfindende völlig unbrauchbaren Lyrik, eben der expressionistischen. Das frühe Faible für diese Dichtung war freilich noch Spiel, betrieben von einem wohlversorgten Bürgersohn. Koeppens Biographie glich der vieler expressionistischer Dichter: Aus besserem Hause stammend (der Nenn-Onkel war Leiter des königlich-preußischen Hochbauamtes, und den Makel von Koeppens unehelicher Geburt dürfte die Anstellung der Mutter beim Fast-Schwager weitgehend vergessen gemacht haben), versehen mit einer soliden Gymnasialbildung. »Das fing alles so gut und anständig an«, sagte er später nicht ohne Ironie über sich und seine Dichterkollegen.
Aus dieser sicheren Höhe stürzte der junge Mann hinab in die harte Greifswalder Realität: Hierhin ging die Mutter 1919 zurück, vermutlich wegen Spannungen in der »Kleinfamilie«. Das Gymnasium mußte aus Kostengründen gegen die ärmliche Bürgerschule eingetauscht werden, die gediegenen Ortelsburger Wohnverhältnisse gegen ein enges Dachstübchen, die Zugehörigkeit zu »besseren Schichten« gegen den Ruch der Unterprivilegierten. Koeppen kehrte in den Ferien wiederholt zurück, heuerte 1923 für kurze Zeit auf einem Finnlanddampfer an und setzte zwischendurch auch den Schulbesuch in Ortelsburg fort.
In diesem räumlichen Hin und Her entsteht in Greifswald 1924 an zwei Apriltagen die Szenenfolge »Gleichnis«, die Koeppen als eine Art Auftragswerk der Ortelsburger Freunde bezeichnet und offenbar im Sommer in diesem Kreis zur Aufführung bringt. Es handelt sich um ein Verkündigungsdrama über den standhaften Christus und den satanischen Verführer, der ihm die Macht über die Welt anbietet, und bezieht sich auf Matthäus 4/ 1–11: »Nochmals nahm ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Königreiche der Welt samt ihrer Herrlichkeit und sagte zu ihm: ›Dies alles will ich Dir geben, wenn du dich niederwirfst und mich anbetest.‹ Da antwortete ihm Jesus ›Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Den Herren, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen‹«. Koeppens Teufel will Christus verführen, Macht über andere Menschen auszuüben, doch dieser bekennt sich, anders als der biblische Gottessohn, weniger zu seinem Vater als eben zu den Menschen, für die er den Opfertod auf sich nimmt. Der Einfluß von Franz Werfels religiösem Verkündigungspathos auf diese Verse liegt nahe. »Ich sah die Not der Menschen, sah ihre Angst, ihr suchend Irren – und fühlte und ahnte! – In die Einsamkeit ging ich und fand – Licht! In mir! Strahlend, brennendes Licht! Allerkenntnis – riesiger höchster Schatz mein! Die Erkenntnis trieb, unwiderstehlicher Ruf: Hilf – Gib – Zeige! Da ging ich lehren. Von Güte, sprach ich zu Menschen, von großer Liebe, von allem was rein und edel war …"
Der Duktus ist spröde, ein Gemisch aus feierlich-bildreicher Prosa und ebensolchen Versen, die Reime holpernd und scheinbar naiv, an großen Gefühlen, sprachlichen Kostbarkeiten und bedenklichen Bildern ("Rausch in Blut und Rosen«) herrscht kein Mangel. Das Vorbild der Mysterienspiele schimmert durch, wobei wohl einem sentimentalen Eindruck vorgebeugt werden sollte, der durch den im Nebentext verfügten Einsatz einer »entfernte(n) Geige – traurig und schwer« aufkommen konnte. Denn ein expressionistischer Gag taucht die Szenerie gleichzeitig in ein verfremdendes Licht: Taschenlampen und Fahrradlaternen, mit denen die Darsteller ihr Gesicht aus dem Halbdunkel herausmodellieren sollen, sind vorgeschrieben. Rasch wird deutlich, daß es nicht um eine religiöse Botschaft geht, sondern um einen Aufschrei gegen die alles beherrschende Macht des Geldes. Mögliche Alternativen gibt es allerdings nur im Sinne des Hasencleverschen »Christus"-Gedichts von 1913: »Sei, Mensch, zur Hilfe der Menschen bereit.«
Den ganzen Text durchzieht eine reiche expressionistische Farbsymbolik: Weiß ist die Farbe Christi, weiß sind die Hände der Maria, weiß die Rosen der Liebe, rot hingegen ist das Märtyrerblut, aber auch das Teufelsgesicht ("grell rot und sehr beweglich«). Schwarz steht offenbar für die Kirche, die der Autor als zweifelhafte Institution ins Bild setzt: Christus wirft schon zu Beginn das dunkle Übergewand ab und erstrahlt in weißem Licht, der Teufel »trägt einen schwarzen Talar und sieht wie ein Pfarrer aus«.
Zum Schluß, als der stark an Goethes Mephisto erinnernde Teufel seine Niederlage eingestehen muß, wartet Koeppen mit einer gewitzten Pointe auf: Der Böse entwickelt umgehend eine neue Geschäftsidee: »Die Lehre muß in starre Form und Angst muß sein …«, sagt er abgehend und gewissermaßen die weltliche Macht der Kirche begründend, während Christus das Schlußwort hat, in welchem er dem fortdauernden Dualismus von Gut und Böse seine Botschaft der Liebe entgegenhält: »Ewig wird Böses sein und kreisen. Aber ich bin flammend Mal und Ziel. Aufruf – Gleichnis.« Keine Frage, daß aus dieser Christusgestalt auch der junge Autor selbst spricht. Das im trüben Greifswalder April entstandene Stück für seine Freunde ist auch eines des Heimwehs nach dem verlorenen Paradies Ortelsburg und der Auflehnung gegen den Materialismus der Welt. Aber immer noch handelt es sich um literarische Spiegelfechtereien, um bloßes Spiel, denn seine Verhältnisse sind zwar nicht glänzend, aber doch gesichert, und Christi Opfertod bleibt ein gesucht heroisches Bild – jenseits persönlicher
Erfahrungen.
Das ändert sich im November 1925. Ein Tumorleiden löscht das Leben der Mutter aus, und die Not greift nun unvermittelt nach dem neunzehnjährigen Osram-Hilfsarbeiter Wolfgang Koeppen, der inzwischen in Berlin lebt. Im Winter 1925/26 versucht er sich in der Hauptstadt durchzuhungern und die große Erschütterung zu verarbeiten. Die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse zu »Onkel« und Tante verbieten ihm Bettelbriefe. Er ist auf eigene Erfolge aus. So entstehen zwischen November 1925 und Frühjahr 1926, vermutlich in Berlin, eine Reihe expressionistischer Gedichte, in einer Mischung aus lateinischer Schrift und Sütterlin auf Schulheftpapier mit Rechenkästchen geschrieben und von Koeppen mit Faden geheftet, die er vergebens an verschiedene Adressen, an Zeitschriften und Verlage schickt. »Knospen Staubblüten Schrei« schreibt er auf das Titelblatt. Das Werdende, das Befruchtende, das Aufbegehrende: ein ganzes expressionistisches Programm in drei Worten, geschrieben in einer Zeit, in der der Expressionismus schon von der Tagesordnung verschwunden war. Der Debütant war ein zu spät Gekommener. Trotzdem darf die Ablehnung der Zeitungen und die Tatsache, daß Koeppen nie auf sein Frühwerk zurückkam, nicht das letzte Wort über diese Dichtungen sein, zumal sie – bzw. der Expressionismus – sein Schreiben lebenslang beeinflußten: »In jedem Werk der Literatur, der Kunst ist Expressionismus als Geburtshelfer zu finden«, schreibt der Siebzigjährige bekenntnishaft.
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SINN UND FORM 3/2015, S. 300-308, hier S. 300-303
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