Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
Für die Suche nach Co-Autoren, Verfassern von Vorbemerkungen und Gesprächspartnern nutzen Sie bitte die Stichwortsuche (Suchfeld im Menü rechts oben).
Raab, Harald
- 4/1964 | Bemerkungen zu Alexander Puschkins Romanfragment »Maria Schoning«
Rabearivelo, Jean-Joseph
- 2/1967 | Die drei Vögel
Rabemananjara, Jacques
- 2/1967 | Heimweh
Rack, Jochen
- 5/2001 | Gespräch mit Wolfgang Engler
- 1/2004 | Gespräch mit Rüdiger Safranski
- 5/2006 | Gespräch mit Norbert Bolz
- 4/2008 | Gespräch mit Alexander Kluge
- 5/2010 | Gespräch mit Odo Marquard. Über das Alter (2004), S. 667 Leseprobe
Rack, Jochen
Gespräch mit Odo Marquard. Über das Alter (2004)
JOCHEN RACK: Sie haben in Ihren philosophischen Essays immer wieder betont, daß Erfahrung für die Philosophie unersetzlich sei. Sie sind jetzt 76 und insofern durchaus qualifiziert, über das Altern zu sprechen. Wann beginnt es eigentlich?
ODO MARQUARD: Man sagt, normalerweise um die fünfzig, aber für mich ist das kein Einschnitt gewesen. Der erste Einschnitt kam schon mit 28, als ich anfing, über mein Leben nachzudenken, ein anderer war natürlich die Emeritierung mit 65. Ich habe drei Jahre vor der Zeit aufgehört, weil ich mir sagte, es wird nicht lange dauern, bis ich sterbe, und dann habe ich wenigstens vom Ruhestand noch was gehabt. Außerdem gibt es so viele gute junge Leute, die nur darauf brennen weiterzukommen. Etwa mit siebzig erfuhr ich, daß ich Altersdiabetes habe. Ich brauche zwar nicht zu spritzen – das läßt sich mit Pillen beherrschen –, aber es waren Signale, die mir zeigten, daß es nicht mehr lange weitergehen würde. Und nun bin ich ganz überrascht, daß ich schon elf Jahre im Ruhestand bin. Ich habe mich eingerichtet und mache jetzt, was ich immer gemacht habe, nur intensiver, nämlich schreiben. Das Alter bringt Probleme, aber auch Erleichterungen, und die Konzentration aufs Schriftstellerische ist sicher eine Erleichterung. Ich muß keinen Verwaltungskram und auch keine Vorlesungen mehr machen. Das waren ja keine leichten Aufgaben, im Gegenteil. Mit 65 hatte ich das Gefühl: endlich hast du gelernt, wie man Vorlesungen macht, und jetzt hörst du auf. Auch das ist ein Problem des Alters.
RACK: Sie sagten, mit 28 sei Ihnen dieses Problem zum ersten Mal aufgegangen. Das erinnert mich an Montaignes Ausspruch, philosophieren lernen heißt sterben lernen. Ist denn der Philosoph zur Pflege dieses Endlichkeitsbewußtseins besonders disponiert und erlebt er den Schock des Alters so gesehen vielleicht weniger stark?
MARQUARD: Möglicherweise ja. Montaigne sagte übrigens, Philosophieren ist sterben lernen. Aber das hat er von Platon. Ob die Philosophie an sich eine gewisse Nähe zum Alter hat? Ich würde sagen, ja, aber das trifft nicht für jede Philosophie zu. Für die analytischen Philosophen insbesondere aus dem angelsächsischen Bereich gilt das wohl eher nicht, die betonen mehr das Formale, das, was man in der Jugend macht. Ernst Tugendhat, der aus dieser Richtung kommt, ist deswegen eine interessante Ausnahme, weil er fragt, wie man diese Philosophie mit dem Sterbenlernen verbinden kann.
RACK: Platons Staatstheorie, die »Politeia«, beginnt mit einem Gespräch zwischen Sokrates und einem älteren Mann. Dieser Kephalos meint, philosophisch denken könne man erst mit fünfzig. Es scheint so zu sein, daß Philosophie mit Erfahrung verknüpft ist, insbesondere mit der Erfahrung des Alters.
MARQUARD: Aristoteles argumentierte ähnlich, aber nicht mit Bezug auf die Philosophie im allgemeinen, sondern auf die Ethik. Er meinte, erst ab vierzig könne man ethisch verantwortlich handeln, eine Position, die mir auch sehr nahe ist. Daß sie in unserer modernen Welt kein Gehör mehr findet, geht in gewisser Hinsicht auf Kant zurück. Die Grundnorm des kategorischen Imperativs gilt a priori, und a priori heißt unabhängig von aller Erfahrung. Doch wie ist Ethik ohne Lebenserfahrung möglich?
RACK: Diese Bewegung weg von der Erfahrung ist zugleich ein Aufbruch in die Moderne. Die damit verbundene Beschleunigung sowie der allgemeine Fortschrittsglaube scheinen die traditionelle Vorstellung vom Alter verändert und seine Wertschätzung verringert zu haben.
MARQUARD: Ich glaube, daß diese Diagnose der modernen Welt zwar richtig, aber unvollständig ist. Wir halten die Beschleunigung des Fortschritts und den ständigen Wechsel nicht aus, sondern brauchen als Gegengewicht eine Kultur der Kontinuität. Es wird immer mehr weggeworfen, weil etwas Neues kommt, aber es wird auch immer mehr aufbewahrt: in Museen, Büchern, anderen Medien. Während die harten Wissenschaften darauf aus sind, alles immer besser und immer neu zu machen, sammeln die Geisteswissenschaften das Ausrangierte und halten es präsent. Ich nenne das Kompensation.
RACK: In der Alterserfahrung sind eben lebensweltliche Geschichten aufgehoben, die angesichts von Rationalisierung und immer rasanterem Fortschritt Orientierung bieten. Wir wollen uns aber jetzt keine Illusionen machen und das Alter ausschließlich als Ressource von Weisheit sehen. Die Wertschätzung des Alters, die Sie einfordern, haben wir im Augenblick nicht, Frank Schirrmacher spricht sogar von Altersrassismus.
MARQUARD: Ich habe etwas gegen Versuche, die Nützlichkeit des Alters zu beweisen – da sieht man gleich den erhobenen Zeigefinger. Ich versuche mir an mir selber klarzumachen, was am Alter Elend und was Kompensation des Elends ist. Mein Lehrer Johann Ritter sprach in einem Aufsatz vom »Alter als Elend und Bürde«.
RACK: Aber er hat auf ein wichtiges Problem hingewiesen, nämlich daß Alte deshalb abgewertet werden, weil sie aus dem Arbeitsprozeß herausfallen und weil unsere Gesellschaft zwischen Berufstätigkeit und Rente einen Schnitt macht. Simone de Beauvoir hat Ritters These weiter zugespitzt. In ihrem Buch über das Alter schrieb sie, der Umstand, daß ein Mensch in den letzten fünfzehn, zwanzig Jahren seines Lebens nur noch Ausschuß ist, offenbare das Scheitern unserer Zivilisation.
MARQUARD: Das stimmt wohl nicht so ganz, so negativ sehe ich die Sache nicht. Im Alter wird man theoriefähig, man entwickelt eine besondere Fähigkeit zu sehen, was ist, weil man nicht mehr durch die Zukunft korrumpiert wird. Natürlich gibt es da nicht bloß Erfreuliches zu berichten, aber man gewinnt zumindest einen Überblick.
RACK: Kommen wir noch einmal auf die Kränkungen des Alters zurück, die körperliche Seite. Vor zwei Jahren hatten Sie einen Schlaganfall. Wie ist es Ihnen damit ergangen?
MARQUARD: Ich sage jetzt mal was Provozierendes. Natürlich hat ein Schlaganfall, den man einigermaßen heil übersteht, auch sein Gutes: Früher mußte ich immer überlegen, mit welcher Begründung ich die wöchentlich eingehenden Vortragsanfragen absage. Plötzlich wurde das ganz einfach. Man sagt: Ich hatte einen Schlaganfall und muß jetzt kürzertreten, ich bitte um Ihr Verständnis. Und schon ist man die Sache los. So gewinnt man unglaublich viel Zeit, auch zum Nachdenken. Ich hatte nach meinem Schlaganfall keine Lähmungen, sondern eine Aphasie und mußte zum Logopäden. Ich hatte Schwierigkeiten, mich in der jeweiligen Situation auszudrücken, weil mir bestimmte Worte nicht einfielen, und mußte eine Art Slalomtechnik entwickeln, um diese Worte zu umgehen und sie durch andere zu ersetzen. Wenn man das einmal gelernt hat, merken es die anderen kaum noch. Ich spreche heute langsamer als früher und habe sogar ein gewisses Vergnügen daran, diesen Slalom zu beherrschen. Vielleicht geht es Skifahrern genauso. Mein erster Gedanke nach dem Schlaganfall war: Meine Eltern und Großeltern sind daran gestorben, es wird wohl nicht mehr lange dauern. Das war aber eher eine nüchterne Feststellung und weckte keine besondere Angst bei mir.
RACK: Weshalb wird in unserer Gesellschaft das Alter so wenig anerkannt? Hängt das damit zusammen, daß wir den Tod nicht mehr so leicht in unser Weltbild integrieren können wie unsere religiös geprägten Eltern, die noch eine gewisse metaphysische Gewißheit hatten?
MARQUARD: Da ist sicher etwas dran. Aber ich bin auch der Meinung, daß die Zeit der aufgeklärten Moderne, die mit Religion nichts anfangen konnte, schon wieder vorbei ist. Es kommt zu einer Wiederkehr der Religionen und damit auch zu einer Öffnung für Jenseitsvorstellungen. Ich persönlich finde immer mehr Geschmack an den institutionellen Seiten der Religion, habe aber als Philosoph Schwierigkeiten mit bestimmten Sachen, beispielsweise mit dem Jenseits, mit dem Leben nach dem Tode. Ich gehöre nämlich zu den Leuten, die Auferweckungen fast nur negativ erfahren. Schon die Vorstellung, morgens oder nach dem Mittagsschlaf das Bett zu verlassen, ist bei mir negativ belegt. Wenn der liebe Gott es gut mit mir meint, wird er mir die Auferweckung im Jenseits vielleicht ersparen und mich schlafen lassen.
RACK: Der Schlaf als Bruder des Todes ist allerdings eine antike Vorstellung und keine christliche.
MARQUARD: Das stimmt.
RACK: Mit dem Tod beschäftigte sich auch ein Philosoph, dessen Denken im Widerspruch zu Ihrem steht: Ernst Bloch, der Philosoph der Hoffnung. Für ihn war der Tod die letzte vorstellbare Utopie, ein Übergang, ein Aufbruch ins Ungewisse. Können Sie damit etwas anfangen?
MARQUARD: Ich kann viele philosophische Positionen nachvollziehen. Das bedeutet aber nicht, daß ich sie akzeptiere oder daß sie mir sympathisch sind. Blochs Prinzip Hoffnung ist für mich das Prinzip Unbelehrbarkeit. Ich halte schon den Ansatz seiner Philosophie für falsch.
RACK: Unser Denken über den Tod muß doch zwangsläufig spekulativ bleiben, weil kein Toter je zurückgekehrt ist, um davon zu berichten.
MARQUARD: Sicher, aber es gefällt mir nicht, den Tod im Sinne einer Utopie zu interpretieren. Vielleicht gehört Bloch zu jenen alten Philosophen, die im Kontakt mit Jungen noch einmal jung sein wollen. Ich nenne sie die Revoltiergreise. Marcuse war wohl auch so einer. Die Großelternrolle besteht unter anderem darin, Kindern Süßigkeiten zu geben. Wenn die Kinder größer sind, bekommen sie statt dessen süße Theorien. Das scheint mir bei Bloch und bei Marcuse das Problem zu sein.
RACK: Sie sprachen eben von der Illusionsresistenz des Alters. Das heißt doch auch, Sie wehren sich gegen die Vorstellung des Alters als Vollendung. Bei Bloch ist von »Reife«, »Weinlese« und »Kälte« die Rede, er hat die Vorstellung eines Lebenslaufes, der sich runden kann.
MARQUARD: Schön wäre es, aber ich habe meine Zweifel. Vom runden Leben ist es nicht weit zur runden Philosophie. Lieber mehrere Dinge verfolgen, die vielleicht nicht zusammenpassen, als unbedingt etwas Rundes schaffen wollen.
RACK: Das ist doch eine Zumutung für den einzelnen.
MARQUARD: Natürlich. Aber ich möchte weitergeben, wie für mich das Alter aussieht.
RACK: Das wäre ein Plädoyer für Bescheidenheit, dafür, das eigene Leben als etwas Unfertiges anzunehmen, wozu auch Scheitern und Abbrechen gehören.
MARQUARD: Man sollte davon Abstand nehmen, das Lebensende als Ziel zu betrachten. Es ist mehr Ende als Ziel.
SINN UND FORM 5/2010, S. 611-614
- 4/2011 | Leben und Konsum. Gespräch mit Zygmunt Bauman
- 4/2012 | Gespräch mit Karl Heinz Bohrer
Radanovic, Nenad
- 4/1976 | Die Tochter des Gärtners
Raddatz, Fritz J.
- 6/2005 | Briefwechsel mit Uwe Johnson
- 4/2022 | Besuch bei Katia Mann und Gespräche mit Lou Eisler-Fischer, Charlott Frank und Walter Mehring. Mit einer Nachbemerkung von Joachim Kersten
Radisch, Iris
- 1/2024 | Die Wand des Lebens und der Literatur. Abschied von Martin Walser
Raditschkow, Jordan
- 3/1972 | Die Verhaftung
Radtke, Valerie
- 5/1984 | Mein großer Brief
Radványi, Pierre
- 3/1990 | Gespräch mit Friedrich Albrecht
Ragunathan, Cidambara
- 4/1969 | Der schmale Pfad
Rähmer, Joachim
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Rahn, Klaus
Raickovic, Stevan
- 1/1966 | Gedichte
Raillard, Alice
- 3/1980 | Gespräch mit Jorge Amado
Rainis, Janis
- 1/1990 | Gedichte
Rákos, Sándor
- 1/1969 | Kampf mit dem Vogel
Ramírez, Sergio
- 3/1973 | Eine glanzvolle Zeit
Ramuz, C.-F.
- 1/1949 | Über Dostojewski
Randig, Christina
- 6/2018 | Ferdinand Hardekopf als Übersetzer
Rang, Florens Christian
- 3/2015 | Abrechnung mit Gott. Pädagogik und Bildung. Vorbemerkung von Anne Weber
Ranga, Dana
- 2/2009 | Wasserbuch
- 6/2010 | Kardia
- 1/2018 | Cosmos! Gedichte
- 1/2020 | Cosmos II. Gedichte
- 1/2021 | Stop. Gedichte
Ranicki, Marceli
- 2/1953 | Erich Weinert - ein Dichter des deutschen Volkes
Rarisch, Klaus M.
- 6/1980 | Wüster, Rothester Socialdemokrat
Rasche, Friedrich
- 2/1950 | Neue Lyrik
Raschkowski, J.
- 6/1971 | Ciurlionis und seine Zeit. Anmerkungen eines Historikers
Rasputin, Valentin
Rasumny, Mark
- 6/1988 | Gepräch mit Josef-Hermann Sauter
Ratnam, Radscha S.
- 5/1955 | Rinder sind heilig
Rau, Johannes
- 3/1988 | Zur Eröffnung der Beuys-Ausstellung im Marstall
Rauchfuss, Hildegard Maria
- 3/1989 | Nachruf
Raulff, Ulrich
- 1/1998 | Die Historie und ihre Bilder
- 3/2006 | Wie kommt die Literatur ins Archiv - und wer hilft ihr wieder heraus?
- 4/2009 | Stefan Georges Tod und Begräbnis
Rauschenbach, Brigitte
- 6/1994 | Am Kreuzweg der vaterlosen Gesellschaft
Raveling, Wiard
- 3/1997 | Über Vladimir Jankélévitch
Ray, Sibnarayan
- 6/1991 | Tagore, Gandhi und die Dialektik der Indischen Renaissance
Razanau, Ales
Razizadeh, Nasima Sophia
- 2/2024 | Zeichensprache. Gedichte
Real, Anna
Rebing, Günter
- 3/2020 | Freuds aliquis-Anekdote. Eine psychoanalytisch-philologisch-literarhistorische Textbefragung
- 6/2021 | »Aber so arbeitet nun einmal das Genie«. Wie der Ödipuskomplex erfunden wurde
Rebling, Eberhard
- 2/1971 | Bekenntnis zu Beethoven
- 4/1973 | Dreimal Jugend und Hanns Eisler
- 1/1984 | Avantgarde - Arbeiterklasse - Erbe. Gespräch zu Peter Weiss´ »Die Ästhetik des Widerstands«
Rector, Martin
- 6/2022 | Die Ordnung, der Text und der Körper. Laudatio auf Kurt Drawert
Redaktion
- 5/1964 | Die Schweizer Behörden
- 5/1972 | »Wie soll es weitergehen?«
- 4/1973 | Gespräch mit Konstantin Simonow
- 4/1976 | Diskussion mit Christa Wolf
- 3/1991 | Der Fall Heiner Müller Dokumente zur »Umsiedlerin«
- 5/1992 | Der Fall von Peter Huchel und »Sinn und Form«
- 1/2015 | Berichtigung zu »Der arme Spitzel« (3 /2014, S. 307 ff.)
Redaktion »Sinn und Form«
- 5/1964 | Die Schweizer Behörden
- 5/1972 | »Wie soll es weitergehen?«
- 4/1973 | Gespräch mit Konstantin Simonow
- 4/1976 | Diskussion mit Christa Wolf
- 5/1992 | Der Fall von Peter Huchel und »Sinn und Form«
- 1/2015 | Berichtigung zu »Der arme Spitzel« (3 /2014, S. 307 ff.)
Reemtsma, Jan Philipp
- 1/1991 | Der Bote. Walter Benjamin über Karl Kraus
Regler, Gustav
- 2/2011 | Briefe an Klaus Mann. Mit einem Briefentwurf von Klaus Mann
- 4/2023 | Paris bei Nacht, S. 149 Leseprobe
Regler, Gustav
Paris bei Nacht
Wenn dann der Mann von Radio Française bonne nuit gesagt hat, fast wie ein braves Kind bei einer Abendgesellschaft, zu der es noch fünf Minuten zugelassen wurde,
wenn die Geisterhäuser des Sacré-Cœur, des Panthéon, der Notre-Dame und des Napoleongrabes mit einem Ruck ihr Licht abdrehen und der Horizont noch unwirklicher wird ohne die unwirklichen Fassaden,
wenn sich clochards unter oder auf den Seinebrücken ihr Lumpenbett zurechtklopfen und noch einen letzten Schluck aus der Flasche nehmen,
wenn auf dem Pont Neuf die Lieblingstaube von Henri Quatre nah bei seinem gußeisernen Herzen den Kopf in die Federn steckt,
wenn das Barmädchen Suzanne auf ihre Nase eine kleine Wolke von Puder tupft, die Flaschen wegstellt und sagt: »Il fait tard«,
dann ist Nacht in Paris, und der kuriose Glaser nimmt sein Fahrrad aus dem Stall und sein mittelalterliches Gewand aus dem Schrank, wirft es über und stößt vorwärts in die Straßen, die sich aufatmend erholen von dem Getöse der Wagen und dem Gift der Verbrennungsgase, und hat eine ganze Stadt für sich, deren Ruhe endlich wieder nach der Geschichte riecht, die sie schuf, nach den Königen, die ihre Avenuen breit in ihr Herz legten, nach den Dichtern, die ihre Cafés, nach den Malern, die ihre Hügel bevölkerten.
Und Glaser, der eine der besten Autobiographien unserer Zeit schrieb, als Deutscher in der französischen Armee kämpfte, Gefangener der Maginotarmee wurde und das Wunder erlebte, daß keiner der Kameraden ihn dem Henker verriet, Glaser pfeift auf seinem Rad, grüßt die herumstreunenden Hunde und Katzen und die schlafenden Schiffe in der Seine, schlägt ein Kreuz vor dem Kriegerdenkmal, das wie ein Pegel geformt ist, als mäße es die Flut des vergossenen Bluts, schnüffelt ein Mönchslächeln beim Passieren des Riesenbahnhofs der Weinfässer und ist bald im zeitlosen Land der Nacht, wo er sich einbilden kann, daß es nur ihn gibt in diesem Gewirr von Straßen, wo von Balkon zu Balkon sich die Geschichten spannen wie mehr oder weniger saubere Wäsche, und er überlegt, während er seine Lenkstange die Seine entlangführt, aus welchem Jahrhundert sie stammen und warum er allein übriggeblieben ist, die Geschichten nachzuschmecken wie einen Medoc und wie würzige Schnecken aus den Weinbergen von Reims.
Er schwenkt heute Nacht zum Norden. Er wird nie wissen, warum. Bald ist er nah der Place de la République. Am Gitter eines Parks hält er an; entzückt setzt er den Fuß vom Pedal auf den Asphalt; ein echtes Idyll bietet sich seinen Augen.
Ein Hirte schläft dort mit Hund und Ziege; er schläft den Schlaf des Gerechten, der nicht berührt ist, weder von der Arroganz der Afrikaner, die sich seit kurzem für ein Jahrhundert der Verachtung an den hilflosen Parisern rächen, noch von den lasterhaften Buben des Café Monaco, noch von den Mädchen der Rue de Lappe, die ihn lange vor Mitternacht sahen, als er sich sein nächtliches Haus ohne Dach baute.
Der Holzkasten mit den runden Käsehäufchen deckt seinen Osten, die braune Ziege seinen Westen, seine Füße wärmt ein Hund, der an eine größere Herde gewohnt war in seinen guten Zeiten.
Um den Hals des Hirten hängt die Schalmeienflöte, deren archaische Tanzweise er am Tag in die benzinvergifteten Boulevards geblasen hat.
Glaser ist voll brüderlicher Rührung; er sieht, daß die Ziege aufgewacht ist, sucht in den Tiefen seiner Mönchskutte und wirft eine Brotkruste vor das Tier, die sie ohne den Körper zu bewegen mit der Zunge erfaßt.
Glaser riecht nun Ziege und Käse. »Der einzige authentische Geruch in der Stadt der Parfüme!« murmelt er und stößt sein Rad wieder an.
Place de la République. Er winkt hinauf zu der bronzenen Dame mit dem ausgestreckten Lorbeerkranz, den sie immer noch nicht vergeben hat.
Hinüber zum Quai de Jemmapes. Der Wassergraben Saint-Martin zieht Glaser an.
Jean Jaurès! Der Canal de l'Ourcq. La Villette ist nah. Glaser hat es nicht bedacht, hat die Schlachthäuser seit Jahren vermieden. Nun blökt und bäht es in den Morgen, der voll Mord ist. Und andere finstere Geräusche mischen sich hinein:
Das Quietschen der Schweine, eh ihnen die Elektroden angelegt werden. Der kurze, aber brutale Knall der Pistolen, die an die Ochsenstirnen angelegt werden. Paris, das fleischgierige, schläft. Der Radfahrer aber erinnert sich der Ziffern, die er einmal studiert hat. Man tötet hier von sieben bis elf Uhr morgens. Gegen Mittag müssen sich die Seelen der Tiere drängen wie die Menschen im Bombenkeller. In einem Jahr 370.000 Großvieh. 230.000 Kälber. 800.000 Hammel. 50.000 Pferde. 840.000 Schweine, die Spanferkel, Apfel im Mund, eingeschlossen.
Wer hat ihn hierhergetrieben? Einer, der ihm die Freude an seinem einsamen Paris verderben wollte? Ein Poltergeist?
Er sieht über die Mauern der Korrale Menschen wimmeln; es gibt viertausend Schlächter und Verkäufer; um 22 Uhr beginnt der Verkauf durch Ausschreier. Vorher hat jeder eine Frühvesper genommen; man serviert als Minimum-Portion ein Pfund Entrecôte pro Person; sie sollen wissen, warum sie töten. Die viertausend sprechen übrigens einen fast unverständlichen Jargon; man nennt ihn „Louchébem“; Glaser versteht kein Wort davon. „Ich will auch gar nicht verstehen“, grummelt er und dreht sein Rad herum. „Was hätte ein solcher mir schon zu sagen!“ Stößt sich ab und zielt wieder nach dem Zentrum. Sein zweiter Fehlgedanke diese Nacht: Er will zu den Hallen, vergißt, daß er da dieselben Tiere steif und blutig vorfinden wird, er aber denkt nur an das Meer von Gemüse, an die Früchte und Blumen, an die Räder von Käse und die Körbchen mit Himbeeren; er fährt, als flüchte er und hätte selbst zu lange die Pistole an starke Stierköpfe gesetzt und zu viele Gurgeln von Schafen geschlitzt. Erreicht die Hurenstraßen von Saint-Martin und fühlt sich in der lauwarmen Atmosphäre der lächelnden Mädchen fast beruhigt. Sie kennen ihn; sein Mönchsgewand erregt ihren heidnischen Widerspruch. Er steigt ab, begrüßt einige, wehrt ihren Versuchen, sein Kleid aufzudecken, schiebt sein Rad weiter zu den mittleren Hallen: der Segen der Erde breitet sich aus!
Hügel von weißem Blumenkohl, die Köpfe wispernd zur Seite gedreht, Riesenkränze von leuchtender Brunnenkresse.
Körbchen von Himbeeren und Walderdbeeren aus Chambord, wie sie die Lippen der Poitiers schleckten.
Trauben der Touraine, die die Tafel von François Premier überkrochen in saftigem Reichtum.
Durchsichtige Säcke von frischen Zwiebeln neben Häuten, die von neuen hellen Kartoffeln strotzen.
Kisten von Pfirsichen von Orléans, deren Duft über die Träume der Jeanne d'Arc wehte. Melonen aus dem Süden van Goghs. Eine Brandung von leichten und heftigen Wohlgerüchen. Feigen aus erster Evahand. Blaugrüne junge Mandeln. Mundreife Birnen. Feste Äpfel aus Lothringen. Reineclauden, schon fast verfallend in ihrem fließenden Zucker.
Glaser geht herum mit seinem Rad und schnuppert. Es ist wie das Atmen an der Küste oder im Gebirge: man saugt alles tiefer ein; wie ein Elixier, wie die Gesundheit selber, wie die Reinheit, denn nichts ist tot hier; der Duft scheint die Garantie zu geben, daß das Leben noch weitergeht, daß die Beete wieder blühen werden, daß die Bäume sich mit grünem Schatten füllen, daß der Reichtum für alle Zeiten gesichert ist, daß dies alles durch den Menschen hindurchgehen und ihn leicht machen und die Brutalität aus seinen Knochen wegnehmen wird und die Mordlüste aus seinen Adern.
Da stößt ihn jemand von hinten an; ein Warnungsruf, ein fader Geruch von Blut, und dann bewegt sich dicht an ihm vorbei die Riesenwand eines geschlachteten Ochsenkörpers; die Wand wankt mit ihrem Fett unter einem verschmierten Menschen, der stark genug scheint, Berge zu versetzen. Gelbes Fett; zersplitterte Knochen, das Gitter eines Brustkorbs, alles unheimlich still, und da es seine Formen noch verrät, merkwürdig zwischen Tod und Leben.
Glaser tritt betroffen zur Seite und bemerkt erst jetzt, daß er schon an die Fleischhallen gekommen ist.SINN UND FORM 4/2023, S. 515-521, hier S. 515-518
Reich, Bernhard
- 1-2-3/1957 | Erinnerungen an den jungen Brecht
Reichart, Elisabeth
- 3/1987 | Gedanken vor und nach einem Interview
Reichel, Käthe
- 2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Bertolt Brecht. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold, S. 149 Leseprobe
Reichel, Käthe
»Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Bertolt Brecht
Vorbemerkung
Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin eine eigene Theatertruppe, das Berliner Ensemble, aufzubauen, das zunächst noch als Gast am Deutschen Theater spielt. Käthe Reichel ist gerade vierundzwanzig, als sie Brecht im Oktober begegnet. Bis dahin hat sie sich vor allem durchgeschlagen: Sie ist in einfachen Verhältnissen in Berlin Mitte aufgewachsen, kannte von frühester Kindheit an Existenzängste und Hunger, war aber mutig und dreist genug, nach Ende des Krieges ans Theater zu gehen und zu behaupten, sie sei Schauspielerin, ihre Zeugnisse seien im Bombenhagel verlorengegangen. Sie wird zunächst in Greiz engagiert, dann in Gotha und Rostock. Anschließend wechselt sie ans Berliner Ensemble. Am 12. Januar 1951 schreibt Käthe Reichel ihren ersten Brief an Brecht: »Allerherzlich danke ich für die Hilfe und große Freundlichkeit, die Sie mir bei meinen ersten Gehversuchen in Berlin, in so reicher Zahl erwiesen haben. Ich danke sehr und bin ganz ergeben Ihre Käthe Reichel«.
Brecht fördert die junge Schauspielerin, unterstützt sie beim Rollenstudium. Schnell scheinen beide sich nahegekommen zu sein. Vermutlich im Sommer 1951, der Brief ist nicht datiert, sendet Brecht ihr »10 Vorschriften«: »lieber k., hier sind 10 vorschriften, bitte studier sie nicht daraufhin, ob sie gerade für dich gemünzt sind. Sie sind für dich geschrieben, aber nicht auf dich gemünzt. (1 z.b. bedeutet nicht, dass ich bei dir laschheit gesehen habe. aber ich sah die anspannung und wenn du sie vermeiden willst, dürfte es nicht durch laschheit geschehen. von 3 erliegst du nur der verführung zur absonderung ein wenig. 4 und 7 musst du beachten. auch 8.) praktische vorschläge«. Käthe Reichel bedankt sich am 16. September 1951. Sie befindet sich zu einem Erholungsaufenthalt auf Schloß Wiepersdorf in Brandenburg, dem ehemaligen Wohnsitz von Achim und Bettina von Arnim. Schon kurz nach ihrer Bekanntschaft mit Brecht muß sie verstehen, daß sie ihn nicht für sich allein haben kann, was für sie schwer zu ertragen ist. Die aus diesen Tagen erhaltenen Briefe erzählen von einem vertrauten Umgang miteinander, immer wieder hört man auch Reichels Berliner Tonfall heraus, mit dem sie zwischen Frechheit und Verehrung für Brecht changiert.
Im Sommer 1952 ist Käthe Reichel offenbar erneut zur Kur. Auch in dieser Zeit halten die beiden engen Kontakt. Brecht zeigt sich sachlich fürsorglich, Reichels Briefe sind gefühlvoller, bringen ihre Verliebtheit und Sehnsucht zum Ausdruck. Er schreibt von seiner Arbeit, von den Stücken, die ihn beschäftigen, und von den Rollen, die sie spielen soll. Sie wiederum berichtet kleinteiliger und ausführlicher, schildert ihr Tagewerk und spricht immer wieder von ihrer Zuneigung zu ihm.
Daß es eine enge Beziehung zwischen Brecht und Reichel gibt, bleibt auch den Mitarbeitenden, den Schauspielern und Schauspielerinnen am Berliner Ensemble nicht verborgen. So schreibt etwa Regine Lutz in einem Brief an ihre Eltern vom 21. September 1952 bezüglich der Rolle der Manuela in »Die Gewehre der Frau Carrar«, diese bekäme wohl »die Reichel, die Freundin vom Brecht«.
1955 geht Käthe Reichel als Gast an die Städtischen Bühnen in Frankfurt. Sie kehrt nicht mehr fest ans Berliner Ensemble zurück. Der Kontakt zu Brecht bleibt bestehen, sie bekommt sogar ein bescheidenes Häuschen in Buckow von ihm geschenkt. Auch dieses Haus ist Gegenstand der Briefe. Reichel hat es zunächst gepachtet, will es aber besitzen. Sie will nie wieder aus einer Bleibe hinausgeworfen werden, wie sie es als Kind erleben mußte. Brecht gewährt ihr den Wunsch. Das Haus befindet sich in der Nähe von Brechts und Weigels Sommersitz am Schermützelsee. Reichel ist, außer Ruth Berlau, der er ein Haus in Dänemark schenkte, die einzige von Brechts zahlreichen Mitarbeiterinnen und Freundinnen, die ein solches Unterpfand bekommt.
Aus dem gesamten Briefwechsel sticht ein Stück besonders hervor. Ein Brief ohne Datum, ohne Anrede, ohne Unterschrift, der in der Forschungsliteratur schon Käthe Rülicke zugeordnet wurde, aber sicher von Käthe Reichel stammt. Indizien wie die Schreibmaschinentypen und Besonderheiten in Ausdruck und Interpunktion sprechen eindeutig für sie als Verfasserin. Für ihre Perspektive auf die Beziehung zu Brecht ist er besonders aufschlußreich: »Daß man Dir keinen Liebesbrief schreiben kann, all den törichten Unsinn, den man denkt, nie sagt, den man höchstens schreibt – nur Dir nicht – das ist schlimm. Sicher verstehst Du gar nicht was ich meine (ich meine das Bedürfnis, jemanden zu streicheln, auf die Augen zu küssen – Deine Augen sind lustig und listig – solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich). Du ›betrachtest‹ alles, immer produktive Folgerungen ziehend – d. h. es gibt wenige, ganz wenige und seltene Sekunden, wo Du es nicht mehr tust! Wie ich diese Sekunden liebe!!!«
Für Brechts Sicht der Dinge ist ein Brief mit angefügter Keuner-Geschichte bezeichnend. Er schreibt ihr (ohne Datum): »liebe kattrin, nach alldem argen: wäre es nicht gut, wenn du mir alles gäbst, was du an freundlichkeit geben kannst und von mir alles nähmst, was ich an freundlichkeit dir geben kann und wir nähmen als maass der freundlichkeit handlungen? dann wäre keine frage nach dem was fehlt, dann gäbe es eine zuversicht von dem was da ist. es gibt nichts besseres als freundschaft; was darüber hinaus ist, ist nur gut, wenn es die freundschaft gibt.«
Insgesamt liegen 99 Briefe vor. 33 davon tragen ein Datum, 66 keines, was die chronologische Zuordnung erschwert. Über Hinweise und Bezüge wurde dennoch versucht, eine sinnvolle Reihenfolge und Gliederung zu erstellen. Kurz vor Redaktionsschluß kamen zu den bereits bekannten 84 Briefen, die sich im Archiv Darstellende Kunst und im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste befinden, 15 Schriftstücke hinzu, deren Sperrung gerade erst abgelaufen war. Ein Glücksfall, denn darunter waren Antworten auf bereits vorhandene Briefe, außerdem werden die Hintergründe von Reichels Frankfurter Engagement näher beleuchtet. Die hier vorgelegte Auswahl umfaßt 22 Briefe von Käthe Reichel und 21 von Bertolt Brecht. Außerdem existieren 12 kurze Zettelgrüße, die alle kein Datum tragen und hier nicht abgedruckt werden.
Die Briefe sind mit wenigen Ausnahmen mit der Schreibmaschine geschrieben, von Brecht in seiner bekannten Kleinschreibung. Die Zettelgrüße wurden meist per Hand verfaßt. Auffällig sind Brechts Anreden »lieber k.« sowie »liebe kattrin«. Sie schreibt immer an ihren »lieben Bert«.
Den letzten Brief an Bertolt Brecht schreibt Käthe Reichel am 22. August 1956, nicht wissend, daß er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebt. Sie ist auf einer Reise durch den Kaukasus und berichtet ihm von dort, von einer langen Überfahrt über das Schwarze Meer und von einer Sternschnuppe, bei deren Anblick sie seinen Namen ausspricht, weil Leute ihr erzählt hätten, das bringe Glück.
Das Berliner Ensemble verläßt sie endgültig nach Brechts Tod und wird festes Mitglied am Deutschen Theater. Als Schauspielerin macht sie noch auf vielen Bühnen und auch beim Film Karriere. Immer wieder ist sie politisch aktiv. 1989 ist sie Mitinitiatorin der großen Massenkundgebung vom 4. November auf dem Alexanderplatz und nach der Wende hungert sie mit den Kali-Kumpels von Bischofferode für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. 1996 erhält Käthe Reichel den Alternativen Nobelpreis für die Kampagne »Mütter, versteckt eure Söhne«, eine Aktion gegen den Tschetschenien-Krieg. Ab 2001 tritt Käthe Reichel mit einer eigenen Fassung von Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« auf und trägt das Drama als Ein-Personen-Stück vor.
Brecht bleibt zeit ihres Lebens der wichtigste Mann für sie. Seinem Eindruck konnte und wollte sie sich nie entziehen. Dem Medium, das sie verbunden hat, ist sie treu geblieben und hat mit dem Buch »Windbriefe an den Herrn b.b.« 2006 noch einmal 45 Briefe an den Abwesenden gerichtet. 2011 veröffentlicht sie ihre Autobiographie unter dem Titel »Dämmerstunde – Erzähltes aus der Kindheit«. Käthe Reichel ist 2012 in ihrem Haus in Buckow gestorben.Helene Herold
SINN UND FORM 2/2024, S. 149-181, hier S. 149-151
Reichelt, Klaus
- 2/1989 | Gespräch mit Jannis Ritsos
Reichelt, Regina
- 4/1988 | Das Gothaer Bändchen
Reichert, Klaus
- 4/2010 | Adorno und das Radio, S. 454 Leseprobe
Reichert, Klaus
Adorno und das Radio
Ludwig von Friedeburg zum Gedenken
Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren anfing, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dem boten sich dafür zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten: die Schule, obwohl damals noch ein reiner Paukbetrieb und für die Entwicklung geistiger Fähigkeiten eher hinderlich, und, andererseits, das Radio. Morgens Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort, abends Gottfried Benn, Günter Eich, Ingeborg Bachmann und manchmal auch der von den Deutschen jener Jahre ungeliebte Thomas Mann, der das Gespräch zwischen Felix Krull und Professor Kuckuck im Zug nach Lissabon vortrug und dessen Schillerrede im Jubiläumsjahr 1955 übertragen wurde, von der mir noch im Ohr ist, wie der Autor die von der Schule heiliggesprochenen Dichtungen als »höheres Indianerspiel« charakterisierte.
Es gab im Radio aber auch neue Formen des Erkenntnisgewinns im Abend- oder Nachtstudio, im Radiogespräch, im Funkfeature. Wenn wir also morgens Formen des attischen Griechisch in Sätzen Platons eingetrichtert bekamen, konnten wir am Abend lernen, daß Denken, daß Philosophie und Gesellschaftstheorie, daß Bildung etwas mit uns selbst zu tun hatte und Orientierungshilfen anbot in einer unübersichtlichen, durchaus als fragwürdig empfundenen Wirklichkeit. Zumal die großen Debatten im Radio zeigten, daß die Akkumulation von Wissen oder der uns von den Lehrern vermittelte Dünkel, wer griechisch könne, sei ein besserer Mensch oder stehe unmittelbar mit dem Sein in Berührung, mit Bildung nicht das geringste zu tun hatten. So war das Radio der fünfziger Jahre eine Art Gegenschule, Gegenuniversität, die uns half, in den staatlichen Zwangsinstitutionen nicht zu verkümmern.
Die Stimme, die am häufigsten an den Abenden im Radio zu hören war, war die Stimme Theodor W. Adornos. Kein Gelehrter, kein Philosoph oder Soziologe, kein Intellektueller oder Schriftsteller hatte eine solche Präsenz. Michael Schwarz hat rund dreihundert Tonaufzeichnungen von Vorträgen und Gesprächen archiviert und ausgerechnet, daß, wenn man die Wiederholungen in den verschiedenen Rundfunkanstalten zusammenzählt, Adorno fast einmal pro Woche in irgendeinem Sender zu hören war. Sein Denken war durch seine Stimme viel weiter verbreitet als durch seine zunächst nur spärlich und in kleinen Auflagen erscheinenden Schriften, die zudem als schwierig, um nicht zu sagen als unlesbar galten. Die Stimme hatte eine ganz eigene Faszination, die Zigtausende von Hörern den auch im gesprochenen Wort keineswegs leicht verständlichen Gedankengängen folgen ließ. Sie hatte einen unverwechselbaren Duktus und Klang; schon nach zwei, drei Worten wußte der Hörer, wer sprach. Und sie war ganz anders als die vom Radio gewohnten Stimmen, die oft nicht zu wissen schienen, was sie da vorlasen, sich aber bisweilen bedeutungsvoll hoben oder senkten. Adornos Stimme dagegen ging gewissermaßen gradaus, in mittlerer Tonlage, mit nur minimalen Schwankungen nach oben oder unten. Er sprach in der Regel schnell, drängend, so als müßte – war der hypotaktische Satzbau auch kompliziert und durch viele Einschübe gegliedert – eine musikalische Periode durchmusiziert werden. Dieter Schnebel schrieb darüber: »Es läßt sich nichts festhalten, nichts be-halten, fixieren wie in der Musik.« Und Rudolf zur Lippe meinte, das Gefüge von Adornos Sprache entspreche »Beziehungsmodellen, die sich in der Musik geradezu notwendig herausgebildet haben. Diese entwickeln eine Logik des Ausdrucks und der Mittel, die in der Wortsprache für uns ungewohnt wirken, aber einer bestimmten Auffassung vom Verhältnis zwischen der Gedankenbewegung und ihren Momenten (…) entgegenkommt.« In eigentümlichem Gegensatz zum Fluß der Rede stand, daß sie nicht dahinglitt, daß sie die Wörter nicht verschliff, sondern daß jedes Wort gleichsam freigestellt wurde, mit einem winzigen Abstand zum nächsten, als habe ein jegliches ein Recht darauf, gehört zu werden. Wenn durch die Stimme ein Wort so wichtig wird wie das nächste, mag man das einen Hierarchieabbau der Sprache nennen, man kann aber auch sagen, die Stimme verwende Sprache wie musikalisches oder poetisches Material, im Sinne eines von Adorno gern zitierten Wortes von Schönberg, wonach jeder Ton gleichweit vom Mittelpunkt entfernt sei. Dieses Spannungsverhältnis scheint mir für die Stimme Adornos charakteristisch zu sein: der drängende Fluß der Rede, durch den manchmal, selten, der Gegenstand als ganzer aus dem Blick gerät und die Aufmerksamkeit auf jedes seiner Partikel gelenkt wird. Das macht es übrigens auch so schwer, das gesprochene Wort zu resümieren, so wie es später fast unmöglich war, seine Vorlesungen mitzuschreiben.
Man konnte freilich Adornos Redestil, irritiert von der Ungewöhnlichkeit seiner Sprechweise, auch ganz anders hören. Man nannte ihn manieriert und überartikuliert, fand die Aussprache bestimmter Laute – Kualität statt Qualität – lächerlich, mokierte sich über französisch betonte Wörter wie ›sitüation‹, ›décadence‹ ›rancune‹, was aber, wie ich mir habe sagen lassen, im alten Frankfurter Bürgertum üblich war, verhöhnte die eingestreuten Amerikanismen, worin sich zugleich ein Vorbehalt gegen die Reeducation-Programme der Amerikaner kundtat, ärgerte sich über die viel zu vielen Fremdwörter. Dem letzten Ärgernis hat sich Adorno in einem Vortrag 1958 im Hessischen Rundfunk eigens gestellt, »Wörter aus der Fremde«, in dem es heißt: »Versuche der Formulierung, die, um die gemeinte Sache genau zu treffen, gegen das übliche Sprachgeplätscher schwimmen, (…) erregen durch die Anstrengung, die sie zumuten, Wut. Der sprachlich Naive schreibt das Befremdende daran den Fremdwörtern zu, die er überall dort verantwortlich macht, wo er etwas nicht versteht, auch wo er die Wörter ganz gut kennt. Schließlich geht es vielfach um die Abwehr von Gedanken, die den Wörtern zugeschrieben werden: der Sack wird geschlagen, wo der Esel gemeint ist.« Genau das war wohl der Punkt: wo sich so trefflich spotten ließ, konnte man getrost zur Tagesordnung übergehen, die doch gerade zur Disposition gestellt wurde. Aber sollte man sich denn anhören, daß die Welt alles andere als wieder ›heil‹ war, daß in der Erziehung vieles schieflief, daß der große Verdrängungsmechanismus des Wirtschaftswunders vor allem den Warenfetischismus hervorbrachte? In einem Brief schrieb Adorno einmal von der »Schmutzflut, die sich über mich ergießt«. Die Hörerreaktionen und Besprechungen sind im Nachlaß gesammelt. Heute hätten sich Redakteure, Intendanten und Rundfunkräte wohl den Beschimpfungen der Hörer gebeugt und auf weitere Beiträge ihres Mitarbeiters verzichtet; es zeugt von der Unerschrockenheit der damals Verantwortlichen, die im Radio ein Instrument des kritischen Denkens, der Aufklärung und – nach einem Wort Adornos – der ›Erziehung nach Auschwitz‹ sahen, daß sie ihrem Autor die Treue hielten. Die Namen dieser Redakteure waren Alfred Andersch, Horst Krüger, Adolf Frisé, Roland H. Wiegenstein, Gerd Kadelbach. Viele heute weniger bekannte gehören noch dazu. Trotzdem muß gefragt werden, wie es dazu kam, daß ein schwieriger, gewiß nicht leicht übers Ohr faßlicher Denker ein Medienstar wurde und das eroberte, was man einmal seine Medienhoheit nannte.
Adorno hat früh, schon vor Hitler, die Bedeutung des Mediums Radio erkannt und wie sein Freund Walter Benjamin für den Südwestdeutschen Rundfunk, der seinen Sitz in Frankfurt hatte, gearbeitet. Als er im November 1938 auf Einladung von Max Horkheimer von Oxford nach New York an das dorthin übergesiedelte Institut für Sozialforschung kam, arbeitete er die Hälfte seiner Zeit, um sich zu finanzieren, am Princeton Radio Research Project, das der Wiener Soziologe Paul Lazarsfeld – er hatte 1937 eine große Untersuchung über Familien zur Zeit der Great Depression durchgeführt – leitete. Das Radio war in Amerika rasch ein ökonomischer Faktor geworden: besaßen 1922 zehntausend Familien einen Empfänger, gab es 1937 27 Millionen Geräte für 32 Millionen Familien. Gesendet wurde vorwiegend klassische Musik; der berühmte Dirigent Stokowski gab persönlich Anweisungen, wie man den Knopf am Gerät drehen mußte, um den bestmöglichen Empfang zu haben; der legendäre Bürgermeister von New York, LaGuardia, sprach Einführungen zu Beethovensendungen, ließ aber auch nach der von Adorno lancierten Übertragung des Oboenkonzerts von Stefan Wolpe die geplanten weiteren Sendungen mit neuer Musik unterbinden. Adorno hat später den Schock beschrieben, den er empfand, als er sich den Teams des Radio Project gegenübersah, die empirische Erhebungen zu Themen wie »Likes and Dislikes in Music« oder »Success or Failure of a Programme« veranstalteten, die sich auf Hörerbefragungen stützten und langfristig Auswahlkriterien für die Programme liefern sollten. Er war einerseits fasziniert von den für ihn neuen quantifizierenden Methoden zur Beschreibung von Massenkultur, andererseits bestürzt von deren Naivität bzw. davon, was die Empiriker unter evidence verstanden. Man kam nicht auf die Idee, die Reaktionsweisen selber als, wie er sich ausdrückte, »vermittelte« zu befragen, die zum Beispiel durch eine bestimmte Form der Fragestellungen oder durch die »Suggestionskraft des Apparats« gelenkt waren und in denen sich, in einem weiteren Schritt, gesellschaftliche Strukturen abbildeten. Das heißt, die Erhebungen standen letztlich im Dienst einer Vermarktung von Kultur und gaben Adorno das Stichwort für das, was er Kulturindustrie nannte. Er plante ein großes Buch über Radiotheorie, das »Current of Music« heißen sollte, zu dem er auch Hunderte von Seiten schrieb, das er aber nie in eine publizierbare Form brachte. Es gibt Projektanträge, Dossiers, Einzelanalysen und ausformulierte Sendungen zur Einführung in das musikalische Hören. So beeindruckt Adorno auch von den Möglichkeiten quantifizierender empirischer Forschung war – ohne sie hätte er ein paar Jahre später in Kalifornien seine extensiven Studien zur Authoritarian Personality gar nicht durchführen können –, es ging ihm in seinen Untersuchungen und Vorschlägen zur Musik im Radio immer auch um die Reflexion der kompositorischen Verfahrensweisen und der darin abgebildeten gesellschaftlichen Zusammenhänge. Er analysiert zum Beispiel, daß bei den vorhandenen tontechnischen Möglichkeiten eine Beethovensymphonie mit ihren weiten Registersprüngen radiophon gar nicht hörbar gemacht werden könnte, wohl aber Tschaikowsky, was für die Geschmacksbildung der Hörer natürlich Konsequenzen hatte. Er untersucht eine beliebte regelmäßige Sendung zur musikalischen Erziehung, »Music Appreciation Hour«, und zeigt, wie falsche Informationen, beliebig ausgewählte Beispiele, fragwürdige Wertungen und das, was er atomistisches Hören nennt – die berüchtigten schönen Stellen – musikalische Erziehung verhindern. Dagegen entwirft er einen eigenen musikpädagogischen Rundfunkkurs in zwölf Sendungen, der sein großes didaktisches Geschick zeigt, dem Laien musikalische Fragestellungen so vorzuführen, daß er ihre Entwicklung von Haydn über Schubert bis Schönberg verstehen kann. Der Text des »Entwurfs« ist einer der wenigen deutsch geschriebenen oder auf deutsch erhaltenen aus dem »Currentof-Music"-Projekt. Der folgende Auszug dokumentiert, daß der Emigrant sich um Klarheit und Verständlichkeit bemüht, ohne seine Haltung aufzugeben: »Es werden keine fertigen Werturteile übermittelt. Es soll insbesondere nicht für Musik geworben, Reklame gemacht, Wunderwerke und große Komponisten angepriesen werden, sondern eine Gruppe von Menschen, bei denen man einige musikalische Teilnahme voraussetzen kann, dazu gebracht werden, dann immer richtiger, bewußter und differenzierter zu hören. Anstelle der Überlieferung kritischer Clichés und eines staubigen Pantheons von Händel bis Sibelius soll wirkliche Unterscheidungsfähigkeit und ernsthafte, kritische Selbständigkeit treten. Diese macht auch vor großen Meistern keinen Halt und bringt die Hörer zum Bewußtsein, daß alles Ungelöste und Widerspruchsvolle der Realität in die Musik eingeht; daß diese kein Reich freischwebender Vollkommenheit ist. (…) Dies Urteil soll über bloßes Gefallen und Mißfallen hinausgehen. Es wird sich zeigen, daß Gefallen und Mißfallen weithin nur Rückstände vergangener Konventionen sind. Es wird sich weiter zeigen, daß der Begriff des An der Musik Spaß habens wirklicher musikalischer Erfahrung unangemessen ist. Der Begriff des Spaß habens ist nach dem Modell des commercial entertainment gebildet und von dorther auf ästhetische Gegenstände übertragen, denen er nicht angemessen ist.«
In ganz schlichten Worten – das kann er also auch – beschreibt Adorno, was immer schon seine Herangehensweise an Musik war. Zugleich stellte er sich als mutiger Hidalgo gegen die Kommerzialisierung von Musik und die Produktion von Geschmacksurteilen, in deren Dienst er doch gestellt war. Es verwundert nicht, daß sein Vertrag mit dem Radio Research Project nicht verlängert wurde. Aus dem riesigen Konvolut der Radioarbeiten erschienen zu seinen Lebzeiten nur wenige zu Aufsätzen umgearbeitete Stücke, »Social Critique of Radio Music«, »On Popular Music« mit einer Theorie der Standardisierung und kalkulierten Pseudo-Individualisierung des Jazz und des Schlagers sowie der berühmt gewordene Text über den »Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens«. Adorno hat aber auch darauf hingewiesen, daß seine Bücher über Wagner und die »Philosophie der neuen Musik« ohne seine Radioerfahrungen so nicht hätten geschrieben werden können, weil diese es ihm ermöglichten, die eigene, internalisierte europäische Kultur von außen, gleichsam als fremde zu sehen.
Durch seine Erfahrung mit dem Radio als Massenmedium zur Manipulation der Hörer, aber auch, wenn man das denn durfte, zu ihrer Aufklärung, Erziehung und kritischen Meinungsbildung, war Adorno für die Rolle, die er in der Bundesrepublik spielen sollte, bestens vorbereitet. In den kommerzialisierten Rundfunkanstalten Amerikas hätte er gewiß nicht die Sendungen machen können, für die er hierzulande berühmt wurde. Trotzdem bleibt die Frage, wie es dazu kam.
Horkheimer und Adorno kehrten 1949 aus dem Exil nach Frankfurt zurück. Es war Horkheimer, der sofort die alten Verbindungen zur Universität wieder aufnahm und ausbaute (wiewohl er an seine Frau schrieb, wie widerwärtig ihm die Zusammenarbeit mit den alten/neuen Kollegen war, von denen einer bereits 1930 das Institut als »kommunistisch« angezeigt hatte), der neue Verbindungen knüpfte zu den Politikern der Stadt, des Landes und des Bundes, zu den Rundfunkanstalten, zu den Redakteuren der von den Amerikanern finanzierten überregionalen Neuen Zeitung, zum Herausgeber der neugegründeten Frankfurter Rundschau, etwas später zur FAZ mit Karl Korn und Helene Rahms usw., ohne dabei seine Kontakte zu amerikanischen Kollegen und Institutionen zu vernachlässigen. Er baute also ein weitgespanntes Beziehungsnetz auf, denn er hatte in Amerika gelernt, daß für den, der wahrgenommen werden, der in die Öffentlichkeit hineinwirken, der Forschungsgelder akquirieren will, der Hörsaal allein nicht der rechte Ort ist. Horkheimer gelang es mit Hilfe der Gutachten amerikanischer Soziologen, darunter des berühmten Talcott Parsons, in kürzester Zeit Gelder für die Neugründung des Instituts und für den Wiederaufbau des Institutsgebäudes zu beschaffen. Er organisierte Pressekonferenzen mit handverlesenen Journalisten zu jeder halbwegs interessanten Veranstaltung des Instituts und sorgte so dafür, daß es in Presse und Funk auch überregional, bis in die Schweiz, wahrgenommen wurde. Ein wichtiger Schritt auf Horkheimers Weg zu einer deutschlandweiten Berühmtheit war seine Wahl zum Rektor der Universität, zumal der besonders kompromittierten Frankfurter! Sein Wirken als Rektor – unter anderem durch die Einrichtung von Austauschprogrammen mit Amerika – war so erfolgreich, daß er wiedergewählt wurde. Adorno entwarf ihm übrigens die Antrittsrede vom 20.November 1951 mit dem Titel »Zum Begriff der Vernunft«. Im Jahr darauf verfaßte er Horkheimers Vortrag vor der Deutschen Rektorenkonferenz, »Zum Problem des akademischen Unterrichts«, und zur Immatrikulation im Wintersemester eine Rede über den Begriff der Bildung. Weitere Redeentwürfe folgten.
Die überragende öffentliche Gestalt war in den frühen fünfziger Jahren Horkheimer, nicht Adorno, obwohl die propagandistischen Schachzüge und Selbstdarstellungen des Instituts in den Zeitungen und im Funk eher seine Handschrift tragen. Im Schatten seines Übervaters aber widmete er sich nicht nur dem Aufbau des Instituts unter Horkheimers Leitung, nahm nicht nur den Lehrbetrieb als Philosoph und Soziologe auf und betrieb nicht nur die Publikation seiner im Exil geschriebenen Bücher, sondern begann auch seine thematisch weitgespannte Vortragstätigkeit außerhalb der Universität. Bereits im Dezember 1949, unmittelbar nach der Rückkehr, hielt er an der Technischen Hochschule der fast total zerstörten Stadt Darmstadt einen Vortrag über »Städtebau und Gesellschaftsordnung«. Im Jahr darauf, bei den Darmstädter Gesprächen, die vom Hessischen Rundfunk übertragen wurden, stritt er mit dem Wiener Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, dessen Generalabrechnung mit der modernen Kunst, »Verlust der Mitte«, in Deutschland begeisterte Zustimmung fand – man denke: 1950, wenige Jahre nach der Vertreibung der modernen Kunst aus Deutschland! Adorno sagte sinngemäß und, wie es seine Art war, konziliant: Sie haben völlig recht, die Kunst hat keine Mitte mehr, aber genau darum geht es ihr, darin liegt ihre historische und aktuelle Bedeutung. Im gleichen Jahr sprach er im RIAS Berlin über die Wissenssoziologie Karl Mannheims, die mit der seinen nichts zu tun hatte; im nächsten Jahr vor Marburger Studenten über »Die Aktualität der Soziologie«, also die des Instituts; im Jahr darauf, 1952, gab er »Anweisungen zum Hören neuer Musik« im Nordwestdeutschen Rundfunk. Im gleichen Jahr war er wieder als Diskutant zu hören, und zwar bei den damals vielbeachteten Kölner Mittwochsgesprächen des Kongresses für kulturelle Freiheit. Man sprach über »Die kulturelle und soziale Strukturveränderung im geeinten Deutschland«, als stünde die Vereinigung der Bundesrepublik mit der SBZ – es gab ja noch keine Westverträge und noch keine Bundeswehr – unmittelbar bevor. Ab 1954 war Adorno regelmäßiger Gast bei den Hessischen Hochschulwochen, bei denen er Themen wie »Zur Einführung in die neue Musik«, »Über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft heute«, »Kultur und culture«, zur »Soziologie des Aberglaubens« und andere mehr behandelte. Kein Hochschullehrer jener Jahre durchreiste häufiger die Bundesrepublik zu Vorträgen, von denen er die meisten hinterher noch einmal im Radio vorlas, bevor sie in Zeitungen oder Zeitschriften veröffentlicht wurden, um dann ihren Weg in die Bücher zu finden. Er war immer, auch das hatte er wohl in Amerika gelernt, ein guter Marktstratege und Verwerter seiner Sachen. Der junge Siegfried Unseld, seit 1957 im Suhrkamp Verlag, hat in dieser Hinsicht sicher von ihm gelernt.
Ab 1950 war Adorno ständiger Gast und führender Kopf der Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt. Diese Ferienkurse waren der weltweit einzige Treffpunkt, an dem die Avantgarde neuer und neuester Musik zusammenkam. Angeboten wurden Kurse zur Komposition und zur Interpretation älterer oder schon etablierter Komponisten wie Edgar Varèse und Stefan Wolpe oder Messiaen und John Cage, es kamen Interpreten wie Eduard Steuermann, der alle Klavierwerke Schönbergs uraufgeführt hatte, und Rudolf Kolisch, der Primarius des nach ihm benannten Quartetts, der die einschlägigen Werke der Zweiten Wiener Schule erstmals zu Gehör gebracht hatte. Adorno war der Theoretiker, der den jungen Musikern ästhetisch, philosophisch und soziologisch auseinandersetzte, was sie da taten – oder zu tun hätten –, denn er schärfte ihnen auch ein, daß hinter den erreichten Fortschritt der Musik im Umgang mit dem Material nicht zurückgegangen werden dürfe. Das hatte durchaus auch missionarische Züge, gegen die Jüngere, wie Luigi Nono, sich wandten.
Die im lokalen Rahmen der Ferienkurse gehaltenen Vorlesungen ergänzte Adorno in einer Art Parallelaktion durch Auftritte in der Öffentlichkeit oder im Radio. Er diskutierte 1954 im Hessischen Rundfunk über »Interpretation und neue Musik« mit Rudolf Kolisch, den er übrigens mit großem Engagement, aber ohne Erfolg aus dem Exil im Mittleren Westen Amerikas nach Deutschland zurückzuholen versuchte. Er erinnerte im Süddeutschen Rundfunk an Alban Berg – »Musik des zarten Riesen« – aus Anlaß seines zwanzigsten Todestags 1955. Er diskutierte mit Boris Blacher 1957 im Sender Freies Berlin »Fragen des gegenwärtigen Operntheaters«; er sprach mit dem klugen, kürzlich verstorbenen Heinz-Klaus Metzger, dem in diesen Jahren wohl wichtigsten Gesprächspartner in diesem Bereich, 1958 im Westdeutschen Rundfunk über »Jüngste Musik – Fortschritt oder Rückbildung«. Das war eine echte Kontroverse, denn Adorno hatte sich abschätzig über elektronische Musik – »Das Altern der Neuen Musik« – geäußert, und Metzger replizierte mit einem Artikel über »Das Altern der Philosophie der Neuen Musik«. Adorno hörte sich stundenlang diese Stücke im Studio für elektronische Musik in Köln an und sagte am Ende: »Ich habe mich geirrt.« Er diskutierte im gleichen Jahr wie mit Metzger, 1958, im WDR mit dem sehr jungen Karlheinz Stockhausen über die Frage »Ist das noch Musik? Eine alte Frage vor neuen Klängen«. Zwei Jahre später sprach er noch einmal mit Stockhausen im Hessischen Rundfunk über den »Widerstand gegen die neue Musik«. Das alles – es sind nur wenige Beispiele – fand in den fünfziger Jahren statt. Später unterhielt er sich dreimal mit Pierre Boulez im Norddeutschen Rundfunk über »Avantgarde und Metier«. Erwähnen möchte ich noch einen schlicht »Über Mahler« betitelten Vortrag, den er im Oktober 1958 im Radio Wien hielt. Die Namen der Komponisten, deren Bedeutung Adorno so nachdrücklich in Erinnerung brachte, waren noch in den fünfziger Jahren der damnatio memoriae verfallen. Selbst Mahler wurde nicht gespielt. Es gibt die Geschichte, daß Klemperer in den fünfziger Jahren mit den Wiener Philharmonikern Mahler zu probieren versuchte und es abbrach, weil sie technisch nicht dazu in der Lage waren, vielleicht auch, weil sie sich dagegen sträubten. Die Mahler-Renaissance setzte – ich glaube, das ist unstrittig – erst 1960 mit Adornos Mahler-Buch ein.
Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wogegen Adorno alles anzuschreiben, anzudiskutieren hatte. Was wurde denn damals gespielt? Bach als Vertreter einer christlichen, »trotz allem« heilgebliebenen Welt, Beethoven, der unter den Händen Elly Neys zu einer Heiligenfigur verkam. Und sonst, als neue Musik, Carl Orff, Cesar Bresgen, Werner Egk, Harald Genzmer, Pfitzner und als äußerste Konzession an die Moderne ein bißchen Hindemith. Im übrigen war die Musikerziehung vergiftet durch die sogenannte Singbewegung, die, aus Wandervogel- und Jugendbewegung stammend, über die HJ bis in die Singwochen des Bärenreiterverlagskreises sich gehalten hatte. Das war die am weitesten verbreitete Musikerziehung der Jugend. Nie wieder hat sich Adorno vehementer geäußert als gegen diese perpetuierte, in der Bundesrepublik sanktionierte Ideologie. Wenn die Musikkultur dann in den sechziger Jahren offene Ohren für das Veränderte, das Neue bekam, so ist das vor allem dem Wirken Adornos und derer, die mit ihm diskutierten oder ihm zuhörten, zu verdanken. So steht auch die Musik und das Musikhören für Adorno im Zeichen der Aufklärung, der Veränderung des Bewußtseins, der Befreiung aus verkrusteten Strukturen.
Die Musik war freilich nur ein Bereich, zu dem er sich äußerte, wiewohl der, der ihm besonders am Herzen lag. Aber er hatte praktisch zu jedem Thema etwas zu sagen und wurde zum gefragtesten Deuter der Zeit. Der Soziologe Clemens Albrecht schrieb dazu: »Es war nicht die fachwissenschaftliche Kompetenz und es waren selten fachwissenschaftliche Fragen, sondern die besondere Kompetenz zur Deutung und Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die die meisten der Anfragen bestimmten und für die dann Soziologie, Psychologie und Philosophie einen geeigneten Antworthintergrund, die Legitimationsbasis boten.« Zu keinem Themenkreis aber hat sich Adorno häufiger geäußert als zu dem der Bildung, insbesondere der politischen Bildung. Was geschieht in den Köpfen der Menschen? Wie kommen sie zu ihren Urteilen? Hier konnte er auf seine großen, gemeinsam mit Horkheimer in Kalifornien gemachten empirischen Studien zum Vorurteil, besonders zum Antisemitismus zurückgreifen. »Kann Aufklärung helfen? Gesellschaft und Erwachsenenbildung« war 1956 das erste in einer langen Reihe berühmt gewordener Gespräche mit dem Bildungsforscher Hellmut Becker. (Der Jurist und Sohn des legendären preußischen Kultusministers Carl Heinrich Becker war als Hauptverteidiger von Ernst von Weizsäcker im Nürnberger Wilhelmstraßenprozeß bekannt geworden, bei dem er mit Hilfe des Radios und der Presse das Meinungsbild zu beeinflussen versuchte. Becker war ab 1956 Präsident des Deutschen Volkshochschulverbands und ab den sechziger Jahren Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung.) Adorno war, mit Horkheimer, der erste, der die Frage der Vergangenheitsbewältigung, wie das von ihm verwendete, aber auch kritisierte Wort hieß, zu einem öffentlichen Thema machte, Jahre vor dem Frankfurter Auschwitz-Prozeß, dem er durch seine Freundschaft mit dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer vorgearbeitet hatte. »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?« hieß 1959 ein Vortrag vor dem Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der danach vom Hessischen Rundfunk gesendet wurde. Die letzten Sätze der Rede lauten: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.« Die Ursachen aufzuklären und zu beseitigen, dazu brauchte es weniger historische Forschung – die gewiß langfristig auch – als vielmehr vor allem ein Umdenken in den Köpfen, also in der Erziehung. Adorno sprach noch nicht vom Bildungsnotstand, der dann ab den späten sechziger und in den siebziger Jahren beklagt wurde, er hatte überhaupt kein nostalgisches Verhältnis zur Bildung und ihren sogenannten verlorenen Gütern, die durch die jüngste Vergangenheit unwiederbringlich kompromittiert waren. Erziehung – gerade auch die aufkommende Erwachsenenbildung – konnte nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Adorno erkannte in der herrschenden – immer noch herrschenden – »angeblich kultivierenden Erziehung barbarische Elemente, nämlich unterdrückende, repressive Momente, (die) in den der Kultur Ausgelieferten die Barbarei produzieren und reproduzieren«. Er sah aber auch die Schwierigkeiten, die der Forderung nach Aufklärung im Sinne eines Mündigwerdens entgegenstanden. In seinem letzten Gespräch mit Hellmut Becker, gesendet wenige Tage nach seinem Tod am 6.August 1969, sagte er: »Ob wir heute noch in derselben Weise sagen können, daß wir in einem Zeitalter der Aufklärung leben (wie Kant es von seinem Zeitalter gesagt hatte), ist angesichts des unbeschreiblichen Drucks, der auf die Menschen ausgeübt wird, einfach durch die Einrichtung der Welt und bereits durch die planmäßige Steuerung auch der gesamten Innensphäre durch die Kulturindustrie in einem allerweitesten Sinn sehr fragwürdig geworden (…) Und zwar ganz einfach aus dem Grund, weil nicht nur die Gesellschaft, wie sie ist, die Menschen unmündig hält, sondern weil bereits jeder ernsthafte Versuch, sie zur Mündigkeit zu bewegen (…), unbeschreiblichen Widerständen ausgesetzt ist, und weil alles Schlechte in der Welt sofort seine beredten Anwälte findet, die einem beweisen werden, daß gerade das, was man dabei will, schon längst überholt oder nicht mehr aktuell oder utopisch sei.« Hört man sich heute die ausführlichen Radiogespräche an, ist man erstaunt über ihre Aktualität, als läge nicht schon ein halbes Jahrhundert zwischen damals und heute. Viele der Analysen Adornos zur Kulturindustrie, zur Erziehung, zur politischen Bildung, zur »Ideologie in der Unbildung«, zur Mentalitätsstruktur des Vorurteils, zur von der Wirtschaft und den Medien geförderten Manipulierbarkeit der Menschen, ihrem Betrogenwerdenwollen, sind womöglich aktueller als damals, als hätte seine amerikanische Erfahrung ihn für einen Strukturwandel sensibilisiert, dessen Erscheinungsformen in Europa noch kaum geahnt wurden. Was er zum Beispiel über die Kontrollmechanismen an den Universitäten sagte, durch die das, was Forschung und Lehre unternehmen sollten, »kastriert und sterilisiert« wird, scheint direkt zu den Debatten über die unseligen Bachelor-Studiengänge zu gehören. Man könnte es ein eigenes Kapitel der Dialektik der Aufklärung nennen, daß der erste Analytiker und schärfste Kritiker der von ihm so genannten Kulturindustrie über das mächtigste Medium ebendieser Industrie gehört werden wollte, daß es ihm offenbar ein Vergnügen war – man kann es auch eine List der Vernunft nennen –, sich selbst zu vermarkten. Der Erfolg gab ihm recht. Was sind schon vierhundert Leute im Hörsaal gegen vierhunderttausend am Radio. Und welcher Intellektuelle konnte damals von sich sagen, daß er gefragt war? Adorno war viermal so oft im Radio zu hören wie Jaspers, Heidegger, Gadamer, Gehlen, Schelsky zusammen. Der Redakteur beim Hessischen Rundfunk, der die Gespräche mit Hellmut Becker angeregt hatte, Gerd Kadelbach, schrieb in seinen Erinnerungen: »Daß er auch und gerade über ein Medium der ›Kulturindustrie‹ verstanden wurde, war ihm erstaunlicherweise ungemein wichtig. Die Tontechnikerinnen, die für seine Aufnahmen eingeteilt wurden, mußten danach in freier Rede und mit ihren eigenen Worten wiedergeben, was er gesagt hatte, und oft entspann sich daraus eine Diskussion, die weit besser und faßlicher war als der Vortrag, den er eben vor dem Mikrophon gehalten hatte.«
Adornos Rede hatte eine geradezu schneidende Präsenz, eine Geistesgegenwart – »eine beklemmende Geistesgegenwart«, wie Joachim Kaiser das nannte –, die ihn auch bei entlegensten Fragen nie mit der Antwort zögern ließ. Er hatte alles parat, schien alles schon vorbedacht zu haben. Doch kam es wie spontan, auseinandersetzend, also kritisch, nie belehrend, nie von der hohen Warte des Katheders herab. In gleichmäßigem Duktus redend – ›weder erhebliche Unterschiede der Tempi noch solche der Lautstärke‹ (Dieter Schnebel), – dozierte er nicht, er formulierte. Das war die Anstrengung hinter den Gedanken, die man vielleicht daran merkte, daß, ganz selten, die Konzentration sekundenlang nachließ und er in seine Frankfurter Mundart verfiel, die er allerdings gelegentlich auch durchaus strategisch einsetzte. (Von hessischen Philosophiestudenten sagte er in einem Vortrag, sie sprächen den Namen des berühmtesten englischen Staatsphilosophen so aus wie das Wort für ›etwas‹, das in ihrer Sprache ›ebbes‹ hieß.)
Wer Adorno kannte, weiß, wie leise, wie behutsam, wie verloren er sprechen konnte, wenn er über Menschen oder Kunstwerke redete, die ihm etwas bedeuteten, oder wenn er sich an etwas erinnerte. Nur ein einziges Mal ist im Radio etwas davon zu spüren. In dem bewegenden Gespräch mit Erika Mann über beider Rückkehr nach Europa erwähnt er, wieder in Deutschland, den ersten Rehbraten, den Geschmack der Rahmsoße, die er wie eine Wiederherstellung eines verlorenen Lebens empfand (in Amerika hatte jeder Rehbraten wie vom Freischütz geschossen, wie Oper und Kulisse geschmeckt), spricht er von den Dingen, die noch ihre eigenen Namen haben, sie selber sind, nicht für anderes stehen, spricht von seinem ersten Besuch in Paris vor der Rückkehr nach Frankfurt: er geht spät abends durch alte, enge, gepflasterte Straßen zu seinem Hotel und hört das Echo der eigenen Schritte, das er in den Jahren der Emigration nie gehört hatte. Da wußte er, daß er wieder in Europa war, und als erste Erinnerung verbanden sich mit diesem Echo die Kindertage in Amorbach. Heimkehr über einen Klang, leise gesprochen.
SINN UND FORM 4/2010, S. 454-465
- 2/2019 | Vom Mitschreiben der vergehenden Zeit. Gedenkrede für Wilhelm Genazino
- 2/2020 | Lob des Verzettelns. Gespräch mit Thomas Sparr und Matthias Weichelt, S. 454 Leseprobe
Reichert, Klaus
Lob des Verzettelns. Gespräch mit Thomas Sparr und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende Veränderung des Blicks. Nachdem der Himmel so lange für Gefahren stand, für fliegende Angriffsmaschinen, sieht man nun, was da noch alles ist. Ist Ihnen diese Situation noch gegenwärtig?
KLAUS REICHERT: Sie ist mir noch sehr präsent, in diesem Alter nimmt man so etwas ja schon ziemlich deutlich wahr. Man sah auch die abgeschossenen Flugzeuge, eines stürzte in unseren Garten, darin lag ein toter Engländer. Der Vollalarm kam abends, wenn es dunkel wurde, gegen sieben. Gießen hatte einen großen Fliegerhorst und viel Schwerindustrie und war ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt. Insofern war das ein idealer Ort zum Bombardieren. Die totale Auslöschung der Stadt geschah am Nikolaustag 1944. Die Wochen davor habe ich immer im Keller statt im Bett verbracht. Ich hatte ein kleines Köfferchen mit ein paar Büchern dabei, wie »Grimms Märchen« mit Illustrationen von Otto Ubbelohde. Der Himmel bestand für mich in dieser Zeit aus unglaublichem Radau, aus ständigem Rasseln. Es gab ja damals diese Sammelbüchsen, fürs Winterhilfswerk und anderes. Mir kam es so vor, als wäre da oben eine gigantische Sammelbüchse, so hat das gescheppert. Und als dann alles abgebrannt war, wohnten wir in einem Dorf, waren bei Bauern einquartiert, bis ich sieben war, im Mai 45. Vor dem Dorf gab es eine ruhige Blumenwiese, ohne Geräusche. Ich habe mich ins Gras gelegt und diese stille Wolke gesehen, die sich kaum bewegt hat, eine wunderbare, perfekte Cumuluswolke, wie ich sie nur aus Märchen- oder Kinderbüchern kannte. Das war ein großes Erlebnis für mich. Und dann habe ich mich am Abend hingesetzt und mit meiner steilen Kinderschrift aufgeschrieben, was ich gesehen hatte. Dann habe ich es noch einmal durchgelesen und gemerkt, das war nicht meine Wolke, das hatte gar nichts mit ihr zu tun.
WEICHELT: Die Wolke war für Sie damit ja auch ein Bild für den Frieden. REICHERT: Ja, vor allem durch diese Stille und dieses Weiß. Und dann dieses Angstlose, das auf einmal da war. Dann kamen die schwarzen Soldaten, die fand ich natürlich toll, die waren kinderlieb und schenkten einem Kaugummi und brachten einem den amerikanischen Ausdruck dafür bei, den ich mir als »Schwing-Gum« übersetzt habe. Chewing Gum, das habe ich nicht verstanden, aber Schwing und Gum, darunter konnte ich mir was vorstellen. Als ich ein bißchen älter war, habe ich auch gehandelt, mit Rheinwein für Zigaretten und Schokolade, Nescafé, Orangen. Das war ziemlich abenteuerlich.
WEICHELT: Haben Sie damals auch die Nervosität der Erwachsenen wahrgenommen, als das Ende des Krieges näherkam?
REICHERT: Ich erinnere mich genau an die Nacht der Ausbombung. Wir wohnten mit den Großeltern im zweiten Stock, dann kam ein großer Hof, dann Lagerräume und dahinter das große Verlagsgebäude meines Großvaters, der den Großherzoglich- Darmstädtischen Schulbuch-Verlag in vierter, fünfter Generation führte. Hier wurden für alle Schulklassen die Schulbücher hergestellt, auch das Lager war im Haus. Das brannte alles lichterloh. Mein Vater war im Krieg Nachrichtenmann, Entschlüsseler, seine Einheit kam aus Paris und war in der Nähe von Gießen stationiert, auf dem Vetzberg neben dem Gleiberg. Von dort aus sah er den Brand. Er fuhr sofort mit dem Fahrrad runter und hat mitgeholfen, Sachen aus dem Haus zu retten. Man konnte nicht mehr viel machen, es waren Sprengbomben gewesen. Und die geretteten Sachen auf dem Hof gingen durch Funkenflug in Flammen auf, da mußte man wieder löschen. Hinter dem Haus hatte mein Großvater einen riesigen Garten, einen Park im Grunde, und dahinter begannen Gänsewiesen, über die sind wir dann mit einem ganzen Treck von Leuten gezogen, darunter eine Tante von mir mit ihrem vier Monate alten Kind. Alle sind geflüchtet aus dieser Stadt, die zu neunzig Prozent zerstört war. Über die Wiesen ging es für uns ins nächste Dorf, wo unser Packer wohnte, den ich sehr geliebt habe, weil er mir Spielzeug gebastelt hat. Ich habe das alles eher mit verwunderten Kinderaugen gesehen. Und gar nicht richtig wahrgenommen, daß es alle meine Spielsachen nicht mehr gab. Ich war ein großer Soldatenspieler, hatte diese kleinen Plastilin-Soldaten, ganze Armeen, Marine, Luftwaffe, auch einen Hitler und einen Göring. Es war keine Trauer, nur Verwunderung darüber, daß die so vertraute Stadt auf einmal nur noch aus Schornsteinen bestand, feuerfest gemauerten Schornsteinen, die in die Luft ragten, und drumherum rauchende Trümmerhaufen. Dann ist meine Mutter mit mir in ein anderes Dorf gekommen, in diesem strengen Winter 44 / 45. Wir sind jeden Morgen die sieben Kilometer nach Gießen gelaufen, wo die Großeltern im Keller hausten und noch ein bißchen was zu essen hatten. Das war ein komisches Gefühl, weil es damals noch Tiefflieger gab und meine Mutter und ich mit unseren schwarzen Mänteln natürlich wunderbare Ziele abgaben … Das habe ich noch im Ohr, dieses Zischen der Kugeln, die um unsere Ohren pfiffen. Wir konnten uns nicht richtig verstecken, weil alles weiß war. Am Abend sind wir die sieben Kilometer wieder zurück. Wir lebten bei einer Bauernfamilie, die genug zu essen hatte, mußten mit am Tisch sitzen und hatten natürlich selbst nichts. Die Bauern hatten drei Buben, einer so alt wie ich, die anderen beiden älter, die haben riesige Koteletts bekommen. Der Kleine konnte seines nicht aufessen, und da sagte die Bäuerin zu meiner Mutter: »Wolle Se’s huuh, sonst gewwe mer’s der Katz«. Und meine Mutter hat gesagt, nein, vielen Dank. Das bißchen, was man gerettet hatte, haben einem die Bauern damals abgenommen gegen ein paar Kartoffeln …
WEICHELT: Hat in dieser Zeit auch schon Ihr Interesse an der Literatur begonnen?
REICHERT: Ja, das hat sehr früh angefangen. Meine Eltern, meine Großmutter und meine Tante haben mir von früh an vorgelesen, die »Grimmschen Märchen« immer wieder, mit den wunderbaren Zeichnungen von Ubbelohde, der ja aus der Marburger Gegend kam. Seine Märchengestalten waren mir alle vertraut vom Gießener Wochenmarkt mit den Bauersfrauen in hessischen Trachten, die dort Obst und Gemüse verkauften.
WEICHELT: Das Personal dieser Märchen war für Sie also keine bloß imaginäre, sondern eine reale und lebendige Welt.
REICHERT: Ja, sehr lebendig. Das Rotkäppchen sah aus wie meine Klassenkameradinnen, mit einem roten oder andersfarbigen Häubchen, wie auf den Zeichnungen von Ubbelohde. Die Marktfrauen hatten einen Knerz wie die Hexen. Ich habe auch ganz früh Kinderausgaben des »Robinson Crusoe« gehabt und bin überhaupt in einer Buchwelt aufgewachsen. Die ganze Familie hat gelesen, es gab ja noch kein Fernsehen. Auch mein erstes Kinoerlebnis war ganz wunderbar. Als mein Vater aus dem Krieg zurückkam, 1946, gab er amerikanischen Offiziersfrauen Deutschunterricht. Und die backten mir zum Geburtstag eine Torte und schenkten mir Comic-Hefte. Oder sie unterstützten meinen Vater, der mit eigenen Händen ein Haus auf dem Grundstück seiner Eltern baute. Einmal sagte eine dieser Amerikanerinnen zu ihm, er sehe so traurig aus, ob sie ihm irgendwie helfen könne? Und er meinte, er bräuchte sieben Pfund Kaffee, um den Dachstuhl und die Ziegel zu bekommen. Und zwei Stangen Zigaretten für die Klosettschüssel. Das haben sie ihm dann gegeben. Eine ganz unglaubliche Großzügigkeit. Einige hatten Kinder, mit denen durfte ich spielen und die luden mich auch zu sich ein. Ich werde nie vergessen, wie einer dieser Buben, etwa mein Alter, Geburtstag hatte und zwanzig Ami-Kinder eingeladen wurden und ich auch. Ich verstand natürlich kein Wort außer Schwing-Gum, aber ich durfte mitgehen in das einzige Kino in Gießen, das nur für die Alliierten da war und für diesen Kindergeburtstag geöffnet wurde. Wir haben »Goldrausch« von Chaplin gesehen, mein allererster Film. Heute noch geht mir das Herz auf, wenn ich an diesen Film denke und an die Umstände, unter denen ich ihn sah.
THOMAS SPARR: Das ist eine schöne Doppelgeschichte. Das Kriegsende lehrte Sie, die Wolken zu sehen, und brachte Sie mit dem Englischen zusammen. Sie sind auch deshalb Anglist?
REICHERT: Nein, ich bin eher Anglist geworden aus Protest gegen ein autoritäres Gymnasium, wo man nur Latein und Griechisch gepaukt, aber nicht gelernt hat, wie man diese wunderbare Literatur hätte verstehen können. Der Unterricht bestand nur aus grammatischen Beispielen, es ging um attische Formen, um dorische und so weiter. Es ging nie um Literatur, immer nur um Grammatik. Dagegen war für mich die deutsche, aber auch die englische Literatur etwas Lebendiges, das konnte ich verstehen. Die englischen Sachen konnte ich natürlich nicht im Original lesen, aber es gab in dieser kurzen Spanne vom Kriegsende bis zur Gründung der Bundesrepublik unglaublich viele Literaturzeitschriften. Und mein Vater hatte fast alle abonniert. Die »Story«, herausgegeben von Heinrich Ledig in Stuttgart, mit einer monatlichen Auflage von fünfzigtausend Exemplaren, zum Preis von einer Reichsmark. Dann gab es »Die Erzählung« aus Konstanz und »Das Karussell«, das Arnold Bode in Kassel machte, der später die Documenta gründete. Da standen in ein- und demselben Heft Manfred Hausmann, der ja ein Nazi-Autor war, und ein völlig unbekannter junger Schriftsteller namens Heinrich Böll. Dann gab es Willi Weismann in München mit der Zeitschrift »Die Fähre«. Da habe ich zum Beispiel einen Text auf deutsch gelesen, bei dem ich überhaupt nichts verstand und dachte, das muß was Besonderes sein, wenn du das nicht verstehst. Das war ein Auszug der »Anna-Livia"-Übersetzung aus »Finnegans Wake«, die Goyert 1933 auf Wunsch von Joyce gemacht hatte und dann aber nicht mehr erscheinen durfte. Damit begann meine Faszination für Joyce. Und dann gab es auch noch »Das goldene Tor«, das Döblin in Mainz herausgab. Das war die einzige Zeitschrift, die nicht nur schöne Literatur machte, sondern auch politisch erziehen wollte. Dort las ich zum Beispiel einen großen Aufsatz von Ludwig Marcuse über die Geschichte der nicht gebauten Heinrich-Heine-Denkmäler in Deutschland. Diese Zeitschriften waren ein Segen.
SINN UND FORM 2/2020, S.230-243, hier S. 230-233
Reichl, Veronika
- 2/2022 | Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector, S. 215 Leseprobe
Reichl, Veronika
Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector
Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. Während ihre Eltern bei Wanderungen immerzu weiterwollten, weil sie an den Kaiserschmarrn in der Gastwirtschaft oder den Kuchen zu Hause dachten, konnte Katherina einem berückenden Sonnenuntergang kaum den Rücken zukehren. Es wäre furchtbar, wenn die Schönheit umsonst dagewesen wäre. Nur wenn Katherina sah, daß andere Menschen den Sonnenuntergang bewunderten, mochte sie weitergehen. So ging es ihr mit allem, was sie liebte. Katherina trauerte die letzten drei Wochen der Sommerferien darum, daß sie zu Ende gingen. Der kommende Tod ihre Oma machte sie schaudern, das kommende Sterben ihrer Eltern war zu schrecklich, um gedacht zu werden. Und doch wußte sie jeden Tag darum. Das gab ihr etwas Altmodisches, aus der Zeit Gefallenes. Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler verstanden nicht, daß alles eines Tages wirklich und für immer verschwindet. Sie lebten, als beträfe der Tod sie nicht. Katherina dagegen sah, wie durch und durch angemessen es war, unendlich traurig zu sein.
Als Katherina zehn Jahre später in Frankfurt studierte, bemühte sie sich, das Leben leichter zu nehmen. Sie fand neue Freundinnen und Freunde, die wie sie für Kultur und Philosophie brannten und sich um die Umwelt, den Rechtsruck der Gesellschaft und alle Arten von Ungerechtigkeiten sorgten. Über alle diese Dinge konnte sie nun endlich nächtelang mit anderen sprechen. Doch sie war mit ihrer Trauer über das Vergehen der Schönheit immer noch ziemlich allein. Weiterhin spürte sie eine Pflicht, möglichst viel Schönheit wahrzunehmen und ihr Verschwinden zu betrauern. Niemand außer ihr schien diese Aufgabe zu übernehmen.
Während sie an ihrer Dissertation schreibt, kommt Katherina durch ihre Lieblingsphilosophin auf Clarice Lispector. Die wichtigen Dinge zeigen einem ja immer die anderen. Sie und die Philosophin lernen sich bei einer Konferenz kennen und unterhalten sich länger beim Conference-Dinner, und die Philosophin sagt: Sie müssen Die Passion nach G. H. lesen. Gerade Sie, unbedingt! Sie erzählt voller Begeisterung, daß der Text von der Begegnung einer Frau mit einer Schabe in einem kleinen Raum handelt und gleichzeitig vom Leben und der Immanenz an sich. Die Philosophin ist klug und empfindsam und hat einen feinen Humor. Sie ist persönlich fast noch beeindruckender als in ihren Texten. Katherina möchte gern so ähnlich sein, wenn sie einmal sechzig ist. Es wird Katherina ob der persönlichen Empfehlung warm ums Herz. Doch das Buch ist vergriffen und die Fernleihe der Stabi weist eine ellenlange Warteliste auf. Vier Monate später findet Katherina das Buch in der Grabbelkiste eines Antiquariats. Es liegt da wie für sie hingelegt: ein dünner, vergilbter, grasgrüner Suhrkamp-Band für zwei Euro. Katherina freut sich ungeheuer. Sie trägt das Buch nach Hause, legt sich ins Bett und beginnt zu lesen. Der Text hat sofort etwas Besonderes. Katherina hält den Atem beim Lesen an, so schön ist die Sprache. Da steht zum Beispiel:
»Nein. Jedes plötzliche Verstehen ist schließlich die Enthüllung eines durchdringenden Nichtverstehens. Jeder Moment des Findens ist ein Sich-Selbst-Verlieren. Vielleicht widerfuhr mir ein Verstehen so vollständig wie eine Unwissenheit, und daraus gehe ich so unberührt und unschuldig hervor wie vorher. Kein Verständnis meinerseits wird jemals die Höhe dieses Verstehens erreichen, denn zu leben ist die einzige Höhe, die ich erreichen kann – meine einzige Ebene ist, zu leben. Nur daß ich jetzt – jetzt von einem Geheimnis weiß. Das ich schon wieder beginne zu vergessen, ach ich spüre, ich vergesse …«
Doch obwohl der Text Katherina fasziniert und sie Satz um Satz anstreicht, kann sie nach dreißig Seiten kaum sagen, was eigentlich gesagt wird. Das ärgert sie, denn sie möchte das Buch so tief in sich aufnehmen, wie es nur geht. Sie nimmt den Text deutlich wahr: Er ist erstaunlich hell. Er leuchtet geradezu. Katherina hatte Angst gehabt, daß die Schabe ihn ekelhaft machen würde. Sie hatte Erde, Schweiß und Kotze erwartet. Aber das kommt nur hier und da vor. Vor allem gibt es gekalkte Wände und Plasmen, die Wüste und die helle Sonne. Lispector spricht vom Leben an sich. Und doch mutet sie Katherina dieses Leben nur in kleinen Dosen zu. Sie gibt Katherina nur ein wenig Plasma, ein wenig weißliche Masse, ein paar Augenblicke blanken Lebens zu lesen. Katherina fühlt sich auf eine merkwürdige Weise geschont und weiß nicht, ob sie das gut finden soll.
Beim Weiterlesen wird Katherina nach und nach klar, daß Clarice Lispector versucht, von etwas kaum Sagbarem zu sprechen. Mit immer neuen Sätzen nähert sie sich etwas an. Darum widerspricht und verbessert sich die Erzählerin wieder und wieder: Weil der Text eine Suche ist, die zu keinem endgültigen Ergebnis kommt. Katherina muß das bewundern: diesen Eigensinn, ein ganzes Buch lang zu versuchen, etwas auszudrücken, was sich dem Ausdruck entzieht. Diese selbstbewußte Hartnäckigkeit einer Frau.
Die Erzählerin sagt irgendwo: »Ach, ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll, denn ich neige nur dann zur Beredsamkeit, wenn ich irre, der Irrtum verleitet mich dazu zu diskutieren und nachzudenken. Doch wie soll ich mit Dir reden, wenn Schweigen herrscht, solange ich nicht irre?«
Katherina hat das Gefühl, daß das für das ganze Buch stimmt. Die Erzählerin versucht etwas zu formulieren, das so zentral und so schwer zu denken ist, daß die bestmögliche Annäherung ihr hundertfacher, übermütiger Versuch ist, einen Zipfel davon zu formulieren. Die Erzählerin ist bereit, sich tausendmal zu täuschen, tausendmal das Falsche zu sagen. Sie übertreibt immerzu. Nichts von dem, was sie sagt, stimmt ganz. Und trotzdem: Während der Text immer wieder neu ansetzt und immer wieder beredt wird in etwas, das Katherina als übertrieben und nicht ganz richtig wahrnimmt, sagt Lispector etwas, das zwar so nicht richtig sein mag, aber ein wenig anders gedreht vielleicht doch ganz ungeheuer richtig ist. Katherina vertraut Lispector. Denn der Text beschreibt Wahrnehmungen, Katherina kann es genau hören. Lispector fängt jeden ihrer Beschreibungsversuche mit einem Perzept an. Katherina haßt es, wenn Texte erfunden sind. Sie interessiert sich nicht für das, was die Leute sich so ausdenken. Schrecklich viele Romane tun das, manche gewinnen dabei sogar Preise für ihre Sprache, und Katherina schüttelt es. Weil man doch hört, wenn die Sprache lügt, wenn die Autorinnen und Autoren Satz für Satz die schnelle Pointe suchen und dabei Satz für Satz die Wahrheit opfern. Vermutlich ist ihnen das nicht einmal klar. Lispectors Text aber hat seinen Ursprung in Wahrnehmungen. Auch Lispector erfindet öfter mal etwas, auch sie ist immer wieder zu begeistert von ihren Ideen und läßt sich von ihnen fortreißen. Aber dann setzt sie wieder neu an.
Nach ein paar Tagen findet Katherina den perfekten Vergleich, um das Gefühl, Lispector zu lesen, zu beschreiben. Es fühlt sich an wie mit dem Rauchen aufzuhören. Wie damals fühlt Katherina sich noch ein Stück weiter vom Rest der Menschen entfernt. Wie damals fühlt sie eine leuchtend hellgraue Nüchternheit, die unbequem ist. Wie damals kann sie nicht sagen, welcher Rausch sich da eigentlich gelichtet hat. Und doch möchte Katherina diese hellgraue Nüchternheit – damals wie heute – nicht zurücktauschen gegen den angenehmen Nebel zuvor.
Nach 110 von insgesamt 180 Seiten beginnt Katherina darauf zu warten, daß es nun wirklich richtig losgeht. Denn sie hat zwar Seite für Seite das Gefühl, daß alles wichtig ist, aber sie kann den Inhalt weiterhin nicht recht festmachen. Sie findet sich selbst undankbar. Die bisherigen Seiten waren toll, sie sollte erfüllt sein. Und wenn man 110 Seiten in einem Buch gelesen hat, das immer neu ansetzt, ohne wirkliche Aussagen zu machen, warum sollte da noch etwas anderes kommen? Doch es stellt sich heraus, daß Katherina zu Recht gewartet hat: Die letzten 40 Seiten haben noch einmal einen besonderen Schub. Ein paar wichtige Motive bekommen einen ganz neuen Dreh und Gott bekommt vier Seiten, die Katherina den Atem nehmen. Katherina kommt aus einer katholischen Familie, Gott ist ihr wohlbekannt. Sie kennt ihn als einen gewalttätigen und fordernden Gott. Sie glaubt längst nicht mehr katholisch, doch sie weiß, daß die Position Gottes nicht leer ist. Was auch immer diesen Platz besetzt, es hat Macht. Und da sie keine stabile Alternative hat, drängt ihr alter christlicher Gott mit seinem Purpur und Gold und seinen tief in Katherina eingebrannten Formeln ständig in diese Position. In ihrer Kindheit auf dem Land war Katherina in ihrem Kampf gegen Gott allein, an der Uni kommt Gott nicht einmal vor. Die meisten Menschen um sie herum sprechen, als wäre das Leben im Prinzip freundliche Vernunft und gegen den Rest hülfe Homöopathie. Und selbst denen, die den Ernst der Lage spüren, ist Katherinas Interesse an Gott und ihr Kampf mit ihrem katholischen Erbe fremd. Lispector aber kennt Gott. Sie weiß um den Tod und um die Gnade. Katherina hat das Gefühl, Lispector biete ihr einen Tausch an: Katherina könnte ihren alten Gott gegen einen neuen, neutralen, farblosen Gott eintauschen. Nur so kann es gehen: Im Tausch von etwas angsterregend Universellem gegen etwas anderes angsterregend Universelles. Auf der Grundlage von Wahrnehmungen. Alle, die das Leben ohne Angst und Schmerz wollen, verkennen die Bedingungen ihrer eigenen Existenz. Katherina würde sehr gern Gott gegen Gott tauschen und liest die vier Seite viele Male.
* * *
Den Sommer verbringt Katherina mit einer Freundin schreibend in einem Gartenhaus. Sie stellen die Rechner auf alte, klapprige, grünlackierte Holztische und sitzen unter einem Kirschbaum, rundherum die Sträucher eines halbverwilderten Gartens. Sie gehen jeden Abend im See schwimmen. Wenn es sehr heiß ist, liegen sie in den Hängematten und dösen. Um sie summen Bienen und Hummeln. Im Gras zirpen die Grillen. Es ist herrlich.
Katherina hat es nicht geschafft, Gott gegen Gott zu tauschen. Als Anleitung für diesen Schritt taugte Lispectors Buch dann doch nicht. Doch etwas ist anders geworden, seit sie Lispector gelesen hat. Sie ist irgendwie fröhlicher. Die Hummeln summen seitdem lauter. Die Blätter der Eschen und Buchen rauschen unentwegt. Alles Lebendige ist ungeheuer stark. Überall sirren Insekten. Bisher erschien Katherina alles Leben zart und zerbrechlich. Und das ist es ja auch. Doch die Blätter der Bäume werden immer rauschen und immer werden Viecher herumkrabbeln. Auch dann, wenn Katherina längst nicht mehr da sein wird. Selbst wenn alle Bienen an Pestiziden sterben, selbst wenn die Erde zerspringt, werden auf einem anderen Planeten Schaben krabbeln. Bei Lispector ist jedes Leben mit gleich viel Bedeutung angefüllt. Jedes einzelne ist unendlich wichtig und zugleich völlig egal. Im Gartenhaus fühlt es sich tatsächlich so an. Wenn das so ist, muß Katherina keine Zeugin der Schönheit mehr sein. Weil immerzu neues Leben nachkommt, immer noch mehr Leben, das von innen vor Bedeutung leuchtet. Bisher war es Katherinas Aufgabe gewesen, die vergängliche Schönheit in sich aufzubewahren und um alles Verlorene zu trauern. Lispector hat ihr diese Aufgaben genommen. Sie hat Katherina unwichtiger gemacht. Sie hat sie den Schaben ähnlicher gemacht. Katherina und die Schaben sind heilig und zugleich unwichtig, und sie alle fliegen schnell durchs Leben und dann sind sie weg. Katherina wird weiter studieren. Sie wird weiter politisch streiten, sie wird Bücher schreiben und hoffentlich irgendwann selbst Professorin sein. Sie wird jedesmal untröstlich sein, wenn jemand stirbt, den sie liebt. Doch das alles ist nicht wirklich wichtig. Nur das Leben an sich ist wichtig. Katherina, die keine Kinder möchte, hat keine weitere Aufgabe, als lebendig zu sein, solange sie es ist. Katherinas Arbeit, ihre Karriere und sogar die Politik sind nur eine Zugabe, eine Spielerei. Das tut weh. Seit ihrer Kindheit war Katherina eine ernste Person, die alles besser verstand als die anderen und deshalb die große Aufgabe übernahm, um die vergehende Schönheit zu weinen. Sie hatte schon vor Jahren verstanden, daß das eine tendenziell narzißtische Idee ist. Weil es beinhaltete, daß sie eine größere Empfänglichkeit für die Schönheit und ein klareres Wissen um die Vergänglichkeit hatte als die anderen. Sie hatte sich eine Sonderrolle gegeben und sich selbst besonders wichtig genommen. Das war nicht sympathisch, und so hatte sie das Ganze mit zwei Therapeutinnen ausführlich besprochen, um es loszuwerden. Doch es war ihr nicht gelungen. Das Gefühl, daß dies nun einmal ihre Aufgabe war, war zu stark gewesen. Es hatte aus einer großen Tiefe an ihr gezogen und sie mit dieser Tiefe verbunden. Sie hatte das Gefühl geliebt. Das konnte sie nicht einfach loslassen. Vielleicht hatte ihr die Aufgabe des Trauerns auch geholfen, sich selbst als künftige Philosophin ernst zu nehmen und zu glauben, einen besonderen philosophischen Beitrag leisten zu können. Jetzt im Garten zieht die Aufgabe nicht mehr an ihr. Die Tiefe ist nicht mehr da, es gibt sie einfach nicht mehr. Dafür summen die Bienen und die Bäume rauschen und Katherina ist eine irgendwie fröhliche, aber auch verwirrte Schabe. Eine Schabe ohne Aufgabe. Daran muß sie sich erst mal gewöhnen.
SINN UND FORM 2/2022, S. 215-219
- 3/2022 | Der doppelte Kompaß
Reid, Alexander
- 6/1979 | Basiliskeneier
Reif, Adelbert
- 4/1993 | Gespräch mit György Ligeti
- 5/1993 | Gespräch mit Julien Green
- 4/1994 | Gespräch mit Alexander Schwan über Martin Heidegger
- 2/2001 | Pindar, Hölderlin und die Aktualität der frühen Griechen. Gespräch mit Michael Theunissen
- 4/2005 | Gespräch mit Fritz Mierau
- 3/2009 | Gespräch mit Frido Mann
- 4/2013 | »Lukács war bereit, sein Leben für eine Sache hinzugeben«. Gespräch mit Ruth Renée Reif und István Eörsi
Reif, Ruth Renée
- 4/2013 | »Lukács war bereit, sein Leben für eine Sache hinzugeben«. Gespräch mit Adelbert Reif und István Eörsi
- 6/2016 | Das unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Efrat Gal-Ed über Itzik Manger, S. 463 Leseprobe
Reif, Ruth Renée
Das Unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Efrat Gal-Ed über Itzik Manger
RUTH RENÉE REIF: Der »Prinz der jiddischen Ballade« wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen »jiddischen Baudelaire«, einen der größten Dichter jiddischer Sprache. In Ihrer Biographie entwerfen Sie ein lebendiges Bild seines Schaffens und seiner jiddischen Lebenswelt. Wie bewerten Sie aus heutiger Perspektive die Bedeutung seines Werks?
EFRAT GAL-ED: Itzik Manger war ein überaus origineller Künstler. Er schaffte es, eine eigene Stimme zu entwickeln, indem er verschiedene Formen der europäischen Literatur mit dem Jiddischen verschmolz. In den zwanziger Jahren übernahm er zum Beispiel die Ballade und goß das traditionell Jiddische in sie hinein. Das war völlig neu. Manger war mit der Weltpoesie vertraut. In seiner Lyrik setzte er neben romantischen auch symbolistische und expressionistische Stilelemente ein. Er leistete, was auch andere bedeutende Lyriker seiner Zeit leisteten. Nur hatte er das Unglück, dies in einer Sprache zu tun, die heute nur noch wenige Menschen lesen und sprechen.
REIF: Wie verbreitet war das Jiddische damals?
GAL-ED: Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges wurde Jiddisch von etwa elf Millionen Menschen gesprochen. Über diese Sprachgemeinschaft hinaus war es aber nicht bekannt. Das hing vor allem mit dem Antisemitismus der dreißiger Jahre zusammen.
REIF: Wurden Mangers Texte zu seinen Lebzeiten in andere Sprachen übersetzt?
GAL-ED: Der Schriftsteller Alfred Margul-Sperber übersetzte bereits 1932 erste Balladen ins Deutsche, ebenso die Lyrikerin Rose Ausländer. Als Manger 1935 in Warschau unter dem Titel »Chumesch-lider« ("Fünfbuch-Lieder«) seine avantgardistischen Bibelgedichte herausgab, übertrug Mascha Kaléko einige Texte ins Deutsche, die neben ihrer Rezension in der »Jüdischen Rundschau« in Berlin erschienen. Nach Kriegsende kam es bis in die späten fünfziger Jahre zu keinen weiteren Übersetzungen. So blieb Manger die internationale Bekanntheit verwehrt.
REIF: »Niemandssprache« heißt Ihre Biographie. Sie greifen damit einen Ausdruck Itzik Mangers auf, der das Jiddische 1925 so bezeichnete. Warum schon damals?
GAL-ED: 1925 war Manger gerade vierundzwanzig. Er hatte seinen Militärdienst beendet und begann, für die jiddische Kulturföderation in Rumänien zu arbeiten, die aus einer Initiative des jiddischen Schriftstellers Elieser Steinbarg entstanden war. Manger reiste zwischen Bukarest, Jassy und Czernowitz hin und her, um Bildungsvorträge für die Jugend zu halten. Doch als junger Dichter wollte er auch veröffentlichen. Aus seinen Notizen hatte er jene Gedichte zusammengestellt, die er literarisch für gelungen hielt. Aber es mangelte an Verlegern, an literarischen Bühnen und vor allem an Geld. Angesichts dieser Schwierigkeiten griff Manger zu dem emphatischen Ausdruck »hefker«, was »herrenlos«, »vogel frei« oder »gesetzlos« bedeutet. »Jidisch is hefker« nannte er 1925 seinen Selbstverlag. Mit dieser Feststellung brachte er einerseits zum Ausdruck, daß Juden vogelfrei seien. Zum anderen war das eine Kritik an der jiddischen Gemeinschaft selbst, weil ihre Sprache weder Gesetze noch Traditionen habe und jeder mit ihr machen könne, was er wolle.
REIF: »Jiddisch, die wirkliche Volkssprache, wird gepflegt von den Arbeiterfreunden, den Sozialisten, Weltlichen«, zitieren Sie Alfred Döblin. War Mangers Entscheidung, Jiddisch als Dichtersprache zu wählen, ein politisches Bekenntnis zur Arbeiterschaft?
GAL-ED: Die Frage ist, ob er tatsächlich eine Wahl hatte. Er wuchs im multikulturellen Czernowitz auf. Jüdische Intellektuelle konnten zwischen Deutsch, Jiddisch und Rumänisch wählen. Sie identifizierten sich zumeist mit der deutschen Kultur und schrieben Deutsch. Das hätte auch für Manger nahegelegen. Er behauptete, anfangs deutsche Gedichte geschrieben zu haben. Ich habe aber bei meinen Recherchen kein einziges gefunden. Meine Vermutung ist, daß er seine frühen, stark von Germanismen geprägten jiddischen Gedichte als deutsche ansah. Denn ich bezweifle, daß er Deutsch so gut beherrschte, um Gedichte schreiben zu können. Das deutsche Gymnasium hat er ein knappes Jahr besucht, dann brach er die Schule ab und begann eine Schneiderlehre. Seine literarischen Kenntnisse erwarb er als Autodidakt. Rumänisch kam auch nicht in Frage. Das konnte er zwar sprechen, aber nicht schreiben. So blieb, als einzige Sprache, in der er sich wirklich ausdrücken konnte, seine Muttersprache, das Jiddische. In politischer Hinsicht war die Entscheidung für das Jiddische sicher ein Bekenntnis zur Arbeiterschaft. Manger kam aus dieser Schicht, wuchs in einem armen Schneiderhaushalt auf. Handwerker gehörten in der jiddischen osteuropäischen Gesellschaft zum Arbeitermilieu. Auch seine Haltung, vor allem in der Jugend, war antibürgerlich.
REIF: Fand Itzik Manger auch seine Leser unter den Arbeitern oder waren es doch eher die Intellektuellen, die sich für seine Gedichte und Balladen begeisterten?
GAL-ED: Die Arbeiter waren sein größtes Publikum. Nicht jeder konnte sich damals ein Buch kaufen; dazu waren Bücher zu teuer. Die Verbreitung der modernen jiddischen Literatur beruhte auf der Bekanntschaft mit den Autoren, die ihre Werke wie Handlungsreisende öffentlich vorstellten. Da gab es etwa in Belz die Kulturliga und in Warschau den Schriftstellerverband. Freitags kamen die Arbeiter aus den Provinzen und trafen im Verbandslokal mit den Schriftstellern zusammen. Die Delegierten aus der Provinz engagierten dann einen Autor, am kommenden Schabbat in ihre Stadt zu kommen, um über ein Thema zu sprechen und aus seinem Werk zu lesen. Vor diesem Hintergrund war ein Phänomen wie Itzik Manger möglich. Während seiner gesamten Jugend in Rumänien und auch später während der zehn Jahre, die er in Polen verbrachte, reiste er von Ort zu Ort, hielt Vorträge und rezitierte seine Gedichte. Die jiddische Intelligenz war ebenfalls von ihm begeistert, wie man in der jiddischen Presse nachlesen kann.
REIF: Itzik Manger betonte, ein säkularer Jude zu sein. Zugleich aber wurzeln viele seiner Stoffe in der religiösen Tradition. Wie ist dieser Widerspruch zu deuten?
GAL-ED: Diese Stoffe entstammen dem jüdischen Bücherschrank. Die hebräische Bibel und die Kommentarliteratur können als religiöse Texte betrachtet werden, doch für die damalige jiddische Intelligenz waren sie Kulturgut. Jiddische Dichter, die auf den Tanach, die hebräische Bibel, zurückgriffen, suchten damit nicht nur eine Anbindung an die eigene Volkstradition, sondern an etwas Universales. Denn die Schrift war auch Teil der abendländischen Kultur. Mit der Verarbeitung von Motiven, die jüdischen wie nichtjüdischen Kulturen gemeinsam waren, schlugen diese Dichter eine Brücke.
REIF: Tatsächlich verstand sich Itzik Manger als europäischer Dichter und betonte die Bindung des Jiddischen an Europa. Wie äußerte sich dieses Selbstverständnis?
GAL-ED: Die jiddischen Schriftsteller verstanden sich sowohl kulturell als auch politisch als Teil Europas. Jiddisch war das identitätsstiftende Medium der Minderheitskultur und zugleich die Voraussetzung ihrer europäischen Zugehörigkeit. Es entstand ›Jiddischland‹, eine ›Wortrepublik‹, die Jiddischsprechende weltweit vereinte. Gerade heute, da wir in der Kulturwissenschaft von Transkulturalität und Transnationalität sprechen, erscheint das kosmopolitische ›Jiddischland‹, wie es damals gelebt wurde, als großartiges europäisches Konzept. Manger gehörte der zweiten Generation moderner jiddischer Dichter an. Als Künstler fand er in den zwanziger Jahren zu seinem Stil. Da war die moderne jiddische Literatur gerade einmal sechzig Jahre alt. Manger hatte daher nur wenige Vorbilder. Mendele Moicher Sforim und Scholem Alejchem hatten keine Lyrik geschrieben, blieb also nur Jizchok Leib Peretz. Auf ihn konnte Manger sich beziehen. Hingegen waren expressionistische Dichter wie Melech Ravitch, Moische Broderson oder Uri Zvi Grinberg literarisch für ihn eher wie ältere Brüder. Manger orientierte sich bereits in den zwanziger Jahren an modernen jiddischen Dichtern in Amerika, darunter Impressionisten, Symbolisten und Mitglieder der avantgardistischen Gruppe »In sich«. Sie alle stammten aus Europa und arbeiteten in New York mit Konzepten der zeitgenössischen europäischen und amerikanischen Literatur.
[...]SINN UND FORM 6/2016, S. 753-761, hier S. 753-756
Reimann, Andreas
- 3/1968 | Sonnenaufgang
- 2/1974 | Die neuen Leiden der jungen Lyrik
- 6/1974 | Es ging nicht um Herrn Ypsilon
- 1/1975 | Orpheus unter den Mammuts. Peter Hacks: Lieder, Briefe, Gedichte. Verlag Neues Leben Berlin 1974
Reinecke, Volker
- 4/1991 | Die Konstruktion eines politischen Attentats
- 5/1992 | Tanz ums Goldene Kalb
- 6/1992 | Ästhetik der Abtrünnigkeit. Spekulationen über Hans Henny Jahnns Roman »Fluß ohne Ufer«
- 1/1993 | Die Generation von Kulturen. Ein Versuch über das Spätwerk Franz Borkenau
- 3/1993 | Das Geschöpf des Reichtums
- 5/1993 | Blaise Pascal und Giordano Bruno. Über den Streit von Religion und Philosophie
Reinert, Bastian
- 5/2018 | Lauter lautloses Jetzt. Gedichte
- 3/2019 | Die Wahrheit liegt im Zerfall. Aphorismen, S. 665 Leseprobe
Reinert, Bastian
Die Wahrheit liegt im Zerfall. Aphorismen
Es gibt nichts, was nicht Abschied wäre.
Selbst das Willkommen ist einer.Meist sind Feinde gewissenhafter als Freunde.
An jedem Gedanken hat sich schon einmal ein Mensch erhängt.
Nichts von dem, was wir tun, hat Bestand.
Darum tun wir es und täten nichts, wenn alles bliebe.
Am freiesten sind wir in unseren Widersprüchen.
Wer die eigenen Lügen irgendwann glaubt, dem sind sie zu Wahrheiten geworden, um die man ihn beneiden kann.
Denken heißt: seinem Verstand mißtrauen, daß er etwas bereits verstanden hat.
Du mußt mit den Ohren staunen!
Im Vergleich werden die Unterschiede sichtbar, in den Unterschieden aber verblaßt das Gemeinsame.
Der Mensch ist nicht mehr das Maß seiner Maßstäbe.
Wer Uhren trägt, den trägt die Zeit davon.
Was wir uns selbst verschweigen, verrät uns ein anderer.
Man kann Gott nur wünschen, daß es ihn nicht gibt.
Der Mensch ist das Wie seines Sterbens.
Der Abergläubische steht mit einem Bein im Glauben und mit beiden im Wahn.
Es ist doch so, daß das Böse erklärbar ist und ein Rätsel nur das Gute bleibt.
Wenn wir unsere Widersprüche nicht lösen können, sollten wir neue produzieren.
Wer im Kreis denkt, läuft sich ständig selbst über den Haufen.
Toleranz ist eine Anmaßung.
Was uns so gleich macht, ist, daß wir uns so gerne voneinander unterscheiden wollen.
Uns sind die Töne gegeben, aber nicht die Melodie.
Leben heißt: Einwilligung in den Zufall.
Wer geliebt werden will, sollte (sich) verschweigen können.
Vergangenheit ist die Behauptung, daß etwas war.
Erinnerung ist die Behauptung, wie es war.Alles Leben widerspricht dem Tod – ein Widerspruch auf Zeit.
Extreme sind nur das Gewöhnliche in grellerem Licht.
Unser Wissen wird weniger, je größer es wird.
Das ist kein Paradox, das ist Relativität.
Am schlimmsten sehnt man sich, wenn man nicht weiß, wonach.
Das Leben hat keinen anderen Zweck als den des Überlebens.
Alles andere ist Ideologie, selbst das Überleben ist schon eine.Wer für die Gegenwart blind ist, sollte nicht in die Zukunft schauen.
Die Gescheiterten sind oft die Gescheitesten.
Der einzige Unterschied zwischen Freunden und Feinden ist der, daß man Freunden nicht sagt, was man wirklich denkt.
Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Wahrheit, das keine einzige mehr besitzt.
Wer glaubt, hört auf zu denken. Wer weiß, denkt weiter.
Die meisten Dinge sind schon mehrfach gedacht worden. Aber erst von den wenigsten.
Lügen kann man zurücknehmen, Wahrheiten nicht.
Die größte Kränkung des Denkenden ist, zu wissen, daß es auf ihn nicht ankommt.
Man sucht Streit, um das Gemeinsame zu finden.
Wer seine Flaschenpost in einen Teich wirft, wartet auf ein Urteil der Karpfen.
Der Dilettant findet sich überall bestätigt, das Genie bestätigt sich selbst.
Sich erklären heißt, sich verklären. Man sollte beides vermeiden.
Nur im Unglück sind wir ganz frei.
In manchen Sprachen läßt es sich besser schweigen als in anderen.
Du mußt an dem, was dich kleinhält, wachsen lernen!
Wir sind mit dem Tod geboren und sterben am Leben.
Glauben ist das Unvermögen, das Nichts zu denken.
Die schönste Sehnsucht ist die, die eine bleiben darf.
SINN UND FORM 3/2019, S.393-395
- 4/2021 | Jeder Schmerz sucht sich jemanden, der ihn hört. Aphorismen
- 2/2022 | Ein Wort, dem man noch trauen könnte. Gedichte
Reinfrank, Arno
- 6/1963 | Anmerkungen zum zeitgenössischen englischen Lyrikschaffen
- 1/1964 | Der Same Hoffnung
- 4/1987 | Gedichte
Reinhold, Daniela
- 1/2010 | Distanz und Unverständnis. Zur Erstveröffentlichung der beiden Schlußkapitel von Rudolf Wagner-Régenys »Begegnungen«
Reinhold, Ursula
Reinsch, Diether Roderich
- 4/2014 | Kazantzakis in Berlin
Reisinger, Hans
- 1/1949 | Gespräch und Eleusinischer Gesang. Aus »Aischylos bei Salamis«
Relinger, Jean
- 4/1978 | Barbusse und die proletarische Literatur
Renk, Aune
Renk, Hannelore
- 5/1970 | Der historische Roman auf dem Weg zum sozialistischen Realismus
- 5/1984 | Zu den »Selbstäußerungen«
Renk, Hannelore Aune
- 5/1984 | Zu den »Selbstäußerungen«
Renn, Ludwig
- 4/1951 | Casto und Ramón
- 3/1952 | Trotz Sprechverbot in Habana. Aufzeichnungen vom 4. Februar bis 8. März 1938
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 1/1954 | Die Deutsche Akademie der Künste. Zur Gründung des Ministeriums für Kultur
- 2/1954 | Kindheit
- 5-6/1954 | Im fernen Vaterland geboren
- 2/1959 | Komische Besuche im Felde
- 2-3/1963 | Die vier Weihnachtsabende im Felde
- 2/1964 | Zu Fuß zum Orient
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Briefe an Willi Bredel
- 5/1967 | Erinnerung
- 3/1969 | Erkenntnisse eines gebildeten Hundes. Veröffentlicht nach den hinterlassenen Papieren des Riesenschnauzers Owid
- 5/1969 | Gespräch mit Josef-Hermann Sauter
- 4/1974 | Autobiographie
- 2/1977 | Bericht
- 3/1977 | Über Alexander Abusch
- 6/1977 | Nach Hause mit Hindernissen
- 5/1979 | Die Wirkung eines Vorlesens
- 3/1983 | Der 10. Mai 1933
- 2/1989 | Briefwechsel mit Eberhard Hilscher
Rennert, Jürgen
- 3/1971 | Gedichte
- 6/1971 | Betrachtungen über einen Marabu
- 6/1971 | Gedichte
- 6/1971 | Gedichte aus der DDR
- 6/1972 | Vier Briefe an Francoise
- 4/1975 | Alexander Twardowski, Alexander
- 6/1976 | Der Untermieter
- 1/1977 | Das Kolossale, leise Rascheln der Blätter eines grünen Baumes
- 2/1978 | Gedichte
- 1/1979 | Mein Hrubín
- 2/1979 | Gedichte
- 1/1980 | Budapester Porträts
- 6/1980 | Anti-Meyer
- 2/1982 | Closed
- 3/1983 | Gedichte
- 2/1989 | Bucher Sonette
Renoldner, Klemens
- 1/1987 | »Ach du Engel meines Vaterlandes!»
Rentzsch, Siegfried
- 5/1984 | Über Eduard Winter
Reso, Martin
- 3/1969 | Karl Erp und die Heuhaufen. Zu Günter de Bruyns Roman »Buridans Esel«
- 3/1971 | Von poetischer Treuhänderschaft. Anmerkungen zum Schaffen des Lyrikers Hugo Huppert
- 2/1972 | [Zur Literaturkritik] Martin Reso, A. Endler und die Literaturwissenschaft; Wilhelm Girnus, Nachbemerkung der Redaktion; Redaktion Sinn und Form, Wilhelm Girnus, Erste Gedanken zu Problemen der Literaturkritik; Reinhard Weisbach, Im Zeichen der letzten Konsequenz; Fritz Mierau, Zwei ergiebige Vorschläge; Annemarie Auer, Einige weitere Konsequenzen
- 5/1973 | Deutsche Arbeiterschriftsteller - Weg und Leistung
Retamar, Roberto Fernández
- 3/1973 | Gedichte
Reuter, Hans-Heinrich
- 5-6/1961 | Zu Aufzeichnungen und Briefen Theodor Fontanes
- 5/1964 | Die Geschichte einer Verspätung. Theodor Fontanes Weg zum gesellschaftlichen Schriftsteller
- 2/1970 | Theodor Fontane
- 6/1971 | Kriminalgeschichte, humanistische Utopie und Lehrstück.Theodor Fontane, »Quitt«*
- 4/1973 | Die deutsche Klassik und das Problem Brecht. Zwanzig Sätze der Entgegnung auf Werner Mittenzwei
- 6/1975 | Fontanes Tochter
Rezai, Chirin
- 3/1979 | Überquellender Hass
Ribnikar, Jara
Richler, Mordecai
- 4/1985 | Benny, der Krieg in Europa und Myersons Tochter Bella
Richter, Hans
- 2/1966 | Louis Fürnbergs Lied des Lebens
- 3/1977 | Moralität als poetische Energie
- 2/1978 | Kunst – Geschichten nach der Natur
- 2/1981 | Ein Dichter unserer Epoche in seinen Aufsätzen. [Zu: Johannes R. Becher. »Publizistik«, Band 1-4]
- 2/1982 | Paul Celan
- 6/1983 | Der Kafka der Seghers
- 3/1984 | Gegenwartsprosa der Deutschen Demokratischen Republik in gattungs- und stiltheoretischer Sicht
- 2/1985 | Laudatio auf Stephan Hermlin
- 1/1986 | Generationen, Temperamente, Schreibweisen
- 4/1987 | Günther Rücker, der Erzähler
- 4/1992 | Ein verlorener Sohn Böhmens. Dem toten Franz Fühmann zum 70. Geburtstag
Richter, Helmut
- 5-6/1959 | Im Maßstab der Klassik. Zu einigen Prosastücken Franz Kafkas
- 5-6/1960 | Erinnerung an einen alten Dichter
- 2-3/1963 | Wege zu Jean Paul
- 6/1977 | Briefe zu Annemarie Auer
Richter, Rolf
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
- 2/1981 | Nachdenken über Bredel
- 6/1981 | Bredels »Spanienkrieg« - heute gelesen. Band I und II, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1977
- 3/1983 | Ein Held im Frieden sein
- 5/1986 | Ein Menschenleben
Richter, Stefan
- 1/1988 | Meinungen zu einem Streit - Spektakulär und Belastet
Richter, Trude
- 2-3/1963 | Vom sinnvollen Wahnsinn. Oder der Humanismus als Sujet der russischen Literatur
- 3/1988 | Stadion Kilometer sieben
Riedel, Manfred
- 3/1991 | Melancholie des Wiedersehens
- 4/1992 | Die Sage vom guten Anfang. Über ein Kapitel deutscher Literatur - Geschichte
- 3/1993 | Gewaltrecht des Guten? Moraldämonismus und ursprüngliches Problem der Moral bei Bloch und Lukács
- 3/1994 | Universalismus mit Nationalsinn. Ernst Bloch als Fichte- Leser und Fürsprecher eines aufgeklärten Patriotismus
- 1/1997 | Gespräch mit Steffen Dietzsch
Riedel, Volker
- 1/1983 | Gedanken zu Fühmanns Trakl-Essay. Franz Fühmann: »Vor Feuerschlünden. Erfahrungen mit Georg Trakls Gedicht«. Hinstorff Verlag Rostock 1982
Riese, Utz
Riesman, David
- 1/1996 | Gespräch mit David Barboza
Rietzschel, Thomas
- 5/1981 | Ein Außenseiter wider Willen. Gedanken zu Franz Jung: »Der tolle Nikolaus«, Briefe, hrsg. von Cläre M. Jung und Fritz Mierau, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1980
- 4/1985 | ...unser kleiner Kreis in Wilhelms Weinstuben...
- 1/1989 | Dichtung des Mythos - Mythos der Dichtung
Rigendinger, Rosa
- 5/2005 | Unbestattet
Rihm, Wolfgang
Rilla, Paul
- 4/1950 | Der Weg Johannes R. Bechers
- 6/1950 | Die Erzählerin Anna Seghers
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Heimatliteratur oder Nationalliteratur?
- 2/1953 | Lehrer der Schriftsteller. Zum Tode J. W. Stalins
- 1/1954 | Lessings Waffe der Philosophie
- 3/1954 | Literarische Kritik und Lessing-Preis
- 5/1955 | Zum Werke Gerhart Hauptmanns
Rimbaud, Arthur
- 2/1955 | Ein Herz unter einer Soutane. Intime Aufzeichnungen eines Seminaristen
Rinck, Monika
- 1/2012 | Honigprotokolle
- 4/2013 | Hirsche wittern. Birken imitieren Lichtmaschinen. Zur Kultur des Naturgedichts
Rincón, Carlos
- 3/1973 | Metamorphosen einer Entdeckung
- 4/1973 | Gespräch mit Jorge Amado
- 6/1975 | Gespräch mit Julio Cortázar
Rindfleisch, Wolfgang
- 6/1996 | Theater nach Brecht. Gespräch mit Heiner Müller, Ernst Schumacher, Lothar Sachs, Matthias Thalheim und Marianne Streisand
Ringleb, Heinrich
- 2/1950 | Neue Lyrik
Rinser, Luise
Ritsos, Jannis
- 2/1960 | Das Fenster
- 3/1962 | Die Palette Picassos
- 5-6/1962 | Drei Gedichte
- 5/1968 | Gedichte
- 4/1969 | Philoktet
- 1/1970 | Gedichte
- 1/1974 | Chile
- 2/1979 | Milos geschleift
- 6/1982 | Monochorde
- 1/1985 | Die Nachbarschaften der Welt
- 2/1989 | Delfi
- 2/1989 | Gespräch mit Klaus Reichelt
- 5/1992 | Negativbilder des Schweigens. Letzte Gedichte
- 6/1995 | Gedichte
- 6/2009 | Aus den »Tanagra-Figuren« (Januar 1967)
Ritsos, Yannis
- 4/1957 | Die Mondscheinsonate
Ritter, Henning
- 3/2013 | Freundschaft
Rivière, Alain
- 5/2018 | Also ist alles gesagt. Gedichte
Robbe-Grillet, Alain
- 1/1988 | Gespräch mit Brigitte Burmeister und Vincent von Wroblewsky
Robel, Léon
- 6/1972 | Gespräch mit Andrej Wosnessenski
Roberts, Sheila
- 3/1981 | [Dichtung unter der Apartheid] Arbeitssorgen
Robinson, Marilynne
- 5/2006 | Darwinismus
Roblès, Emmanuel
- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Auf den Höhen der Stadt
- 1/1971 | Ein Frühling in Italien
- 2/2015 | Die kabylische Nachtigall
Röckel, Susanne
- 4/2019 | Unheimliche Natur. Stifter und das Anthropozän
- 4/2023 | Drei Bilder aus Vilnius, S. 511 Leseprobe
Röckel, Susanne
Drei Bilder aus Vilnius
(…)
2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind Unterhosen zum Trocknen aufgehängt. Hundegebell ist zu hören. Habe ich mich verirrt? Ich suche jemanden, der mir Auskunft geben kann, aber alles ist wie ausgestorben. Zwischen den Kiefern steht ein halbgebautes Haus. Ein Mann sägt Dämmstoff. Ich spreche ihn an, frage ihn nach dem Weg zur Gedenkstatte. Er ist jung und blond und hat nur noch wenige Zähne im Mund. Gedenkstätte? Er weiß nichts davon. Er deutet in Richtung Bahnhof und kommentiert mit freundlichem Lacheln: »Maybe! Maybe!«
Also trotte ich zurück. Dann setzt mein Atem aus: Zwei große Hunde fangen plötzlich neben mir zu bellen an, springen an einem nicht sehr verläßlich aussehenden Gitterzaun hoch. Was für ein Ort ist das? Wo bin ich? In der Ferne ein Mann, der in ein Auto einsteigt. Ich renne hin, gestikuliere schwitzend und atemlos, zeige ihm das Wort »Gedenkstätte« auf dem Handy. Endlich versteht er. Er bedeutet mir einzusteigen und fährt mich schweigend eine kurze Strecke bis zu einem leeren Parkplatz. Ich bin am Ziel. Gepflasterter Eingangsbereich im lichten Kiefernwald, schwarzer, beschrifteter Marmor, Hinweistafeln in vier Sprachen, ziemlich verwittert, ein geteerter Weg, gesäumt von grünspanüberzogenen Laternen. In einer großen, unregelmäßigen Schlaufe mit neunzehn Haltepunkten zieht sich der Weg durch die Anlage. Ich habe das seltsame Gefühl, in eine Abgeschiedenheit einzutreten, die mit jedem Schritt tiefer und undurchdringlicher wird. Vielleicht nur deshalb, weil ich zu dieser Stunde die einzige Besucherin bin.
Zur Geschichte der Gedenkstatte gehört, als deren oberste Schicht, die Geschichte der hier aufgestellten Denkmaler. Aus ihr ist zu erfahren, daß auch die vermeintlich eindeutigsten Tatsachen der politischen Bewertung unterliegen und geschichtliche Wahrheiten nicht zu trennen sind von Standpunkten und Perspektiven. Nachdem die Sowjets das 1948 von Überlebenden errichtete Mahnmal für die hier ermordeten Juden abgebaut hatten, setzten sie an derselben Stelle einen mit dem roten Stern gekrönten schwarzen Obelisken, der die Inschrift »Zum Gedenken an die Opfer des Faschismus« trug. (Er steht heute noch, etwas abseits vom Weg.) Wenige Jahre später wurde ein weiterer Gedenkstein aus schwarzem Marmor errichtet, russisch und litauisch beschriftet, für die »mehr als hunderttausend sowjetischen Burger, die in Paneriai erschossen wurden«. Erst 1989, auf Initiative der litauischen Jüdischen Gemeinde, wurde dieser Stein durch einen Granitblock erweitert, auf dem in Hebräisch, Jiddisch, Litauisch und Russisch steht, das sich unter den »im Wald von Paneriai Getöteten siebzigtausend Juden befanden: Männer, Frauen und Kinder«. 2004 wurde der ursprüngliche Text des Gedenksteins mit einer Marmorplakette verdeckt, auf der nicht mehr von sowjetischen Bürgern, sondern von »hunderttausend in Paneriai getöteten Menschen« die Rede ist. Das heute zentrale Denkmal für die an diesem Ort ermordeten Juden wurde 1991 von den litauischen Jüdischen Gemeinden zusammen mit den litauischen Juden in Israel und der Republik Litauen errichtet. Auf der Vorderseite des aus grauen Steinblöcken zusammengesetzten Monuments ist die Menora zu sehen, darüber eine Inschrift mit hebräischen Buchstaben und der Davidstern. Auf der Rückseite Inschriften in Litauisch, Russisch und Englisch und die eingravierte abstrahierte Zeichnung einer menschlichen Figur mit erhobenen Armen. Die englische Inschrift lautet: »Eternal Memory of 70 000 Jews of Vilnius and its environs who were murdered and burnt here, in Paneriai, by Nazi executioners and their accomplices«. Hier liegen Kränze, hier liegen zahllose beschriftete Steine, die Besucher als Erinnerungszeichen hinterlassen haben. Nach und nach sind weitere Mahnmale dazugekommen: für die polnischen und litauischen Opfer, für einzelne jüdische Opfergruppen. Für die etwa hundert Opfer der Roma gibt es nicht mehr als einen sehr kleinen, schon halb im Boden versunkenen »symbolischen« Steinkreis. Auch ein seltsam asymmetrisches, an ein im Boden feststeckendes Geschoß erinnerndes Museum gibt es, in dem, laut meinem Reiseführer, »persönliche Gegenstände« zu besichtigen sind, es ist aber geschlossen, und zwei weithin stinkende Dixi-Klos.
Arunas Bubnys, der Leiter des litauischen »Genozid- und Widerstandsforschungszentrums«, sagte mir einige Tage vor meinem Besuch in Paneriai, er bemühe sich seit Jahren darum, genug Geld zusammenzubringen, damit man dort endlich ein großes Museum bauen könne. Bis jetzt sei so etwas noch nicht in Sicht. Der »vorherrschende historische Diskurs« konzentriere sich nach wie vor auf die Verbrechen der Stalinzeit. Da es fast keine Familie gebe, die nicht in irgendeiner Weise davon betroffen war, da sich überdies durch die jüngsten Ereignisse zeige, daß die Gefahr einer Wiederholung der schlimmsten Erfahrungen seiner Generation keineswegs gebannt sei, halt er die gründliche Aufarbeitung dieser Zeit für dringend nötig. Doch es bleibe schmerzlich, sagt Bubnys, daß die Forschung zu den Geschehnissen während der deutschen Besatzung nur über unzureichende Mittel verfüge. Die Aufgabe, besser und umfassender über diese Zeit aufzuklären, dürfe nicht vernachlässigt werden. Also ein großes Museum in Paneriai – Vitrinen, Schautafeln, Videos, Führungen, ein Souvenirshop, ein gemütliches Cafe – statt diesem karg und provisorisch ausgestatteten, abgelegenen Ort im Wald?
Auf meinem Weg über das Gelände, dessen Einschnitte und Erhebungen im wesentlichen noch so aussehen, wie sie die Russen 1944 vorfanden, begleitet mich durchdringender industrieller Lärm. Woher er stammt – Güterbahnhof? Autobahn? –, kann ich nicht sagen, aber im Lauf meines Rundgangs nehme ich ihn immer wieder mit Erleichterung wahr. Denn er verschwindet hinter den mehr oder weniger hohen Wällen, auf denen die Wachen standen. Sobald man unten ist, am Rand der Gruben, hört man nichts mehr von der Außenwelt. Man ist der Stille ausgesetzt. Der Boden der Gruben, zwanzig oder dreißig Meter im Durchmesser, ist mit Rasen bedeckt, die Ränder sind mit grauen Steinen markiert. Die Menschen mußten sich ausziehen und wurden durch schmale Rinnen gruppenweise hergetrieben. Von den deutschen Einsatzgruppen befehligt, erschossen die Mitglieder der litauischen Hilfspolizei im Abstand von ca. fünf Metern einen nach dem anderen. Dann wurde die nächste Gruppe an den Rand geführt, die Prozedur begann von neuem, mit einer Durchschnittsrate von hundert getöteten Individuen pro Stunde. Geraubte Kleider und Habseligkeiten wuchsen zu Bergen an. Die Gruben füllten sich mit Leichen. Kinder schrien. Sterbende röchelten. Die Schießenden bekamen Schnaps.
Eine der Gruben hat zementierte Ränder. Das war der »Bunker«. Hier wurden die 76 »Brenner« gefangengehalten, die, in Ketten gelegt und von SS-Männern bewacht, zwischen 1943 und 1944 die Aufgabe hatten, die Spuren der Massaker zu verwischen. In der Mitte steht eine Nachbildung der schmalen hölzernen Rampe, die benutzt wurde, um die aus mehreren Schichten bestehenden Leichenpyramiden zu bauen, mit Maschinenöl zu übergießen und in Brand zu setzen. Am 15. April 1944 machten diese ausgelaugten und zertretenen, doch todesmutigen Sklaven einen Ausbruchsversuch, in dessen Verlauf fast alle von ihnen von den Deutschen aufgespürt und erschossen wurden. Grüner Rasen, mit Kiefernnadeln und welken Blattern bedeckt. Nichts mehr zu sehen von den hölzernen Umzäunungen, hinter denen Männer, Frauen, Kinder, Greise ausharren mußten, bevor man sie zu den Erschießungsgruben trieb. Nichts mehr von den Feuern und ihrem schwarzen Rauch. Nichts mehr von dem unterirdischen Gang, den die Insassen des ≫Bunkers≪ mit Löffeln und mit Fingernageln in die kalte Erde bohrten. Nichts mehr von Minen und Stacheldraht. Und nichts mehr zu hören von all dem. Keine Schreie mehr, keine gebrüllten Befehle, kein betrunkenes Gelächter, kein Hundegebell, kein Weinen, kein Beten, nichts mehr vom ohrenbetäubenden Knallen der Schüsse, nichts vom dumpfen Geräusch der Schläge mit Fäusten, mit Stöcken, mit Gewehrkolben – nichts. Stille – und darin meine verworrenen Gedanken, meine vagen, beklommenen Gefühle. Ich versuche festzuhalten, was mich bewegt: Mir ist kalt. Ich will nicht hier sein. Ich will nicht wissen, was hier geschah!
Tima Kats, eine Lehrerin aus Vilnius, der 1941 zusammen mit fünf oder sechs weiteren Frauen die Flucht aus einer der Gruben gelang, schreibt: »Wir kamen [nach der Fahrt vom Lukišk ˙es-Gefängnis auf einem Lastwagen] in eine hügelige, bewaldete Gegend, wo wir uns müde und voller Schrecken auf den sandigen Boden legten. Aus nächster Nähe waren Gewehrsalven zu hören. Aber selbst jetzt konnte sich keiner von uns vorstellen, was hier wirklich geschah.« Auch ich kann es mir nicht vorstellen. Vielleicht ist überhaupt kein einzelnes Gehirn in der Lage, es sich vorzustellen. Wirken die Höllenbilder, die Hieronymus Bosch sich ausdachte, gegen das hier nicht geradezu putzig? Und wer käme darauf, die gelehrten und eleganten Verse Dantes auf das Inferno anzuwenden, das hier Realität geworden ist? »Meister der Hölle, willst du ein Weilchen die Höllen tauschen?« fragt Avrom Sutzkever herausfordernd-sarkastisch in seiner »Ode an die Taube« (aus den »Gesängen vom Meer des Todes«) und fährt im selben Ton fort: »Ich spaziere in deinen, und du in den wirklichen Feuern …« Muß angesichts dieser »wirklichen Feuer« nicht jeder Versuch der Bebilderung scheitern? Wäre ein noch so wohlmeinendes modernes, staatlich finanziertes Museum nicht im Grunde eine Maßnahme der Einhegung und damit der Verkleinerung des Grauens? Andererseits: Gehören nicht Bilder, Kommentare, Erklärungsversuche zu den notwendigen Mitteln, um jene Vergangenheit aufzubewahren, die, von gegenwärtigen Konstellationen überdeckt, immer wieder in Vergessenheit zu geraten droht? Nicht Monster, sondern gewöhnliche Menschen haben diese Vergangenheit hergestellt. Nicht Monster, nicht perverse Sadisten, sondern gewöhnliche Menschen – meine Landsleute – sind fähig gewesen, anderen Menschen die Hölle zu bereiten. Würde mit dem Verlorengehen dieser Einsicht nicht auch die grundlegende zivilisatorische Wachsamkeit an den Grenzen von Moral und Recht erlahmen?
So oder ähnlich lauten meine Gedanken, während ich dem Weg der Gedenkstätte folge, diesem glatten, sauberen, fürsorglichen Weg, der zu den Stätten der Hölle führt – aber schließlich auch wieder zurück. Ich schlendere dahin, als wäre ich auf einem unschuldigen herbstlichen Spaziergang, auf diesem Weg, der doch keinen Zentimeter weit unschuldig ist. Und dann bin ich wieder draußen und gehe, an den Holzhäusern vorbei, an den Gemüsegarten vorbei, an den Gleisen entlang zum Bahnhof zurück. Noch einmal drehe ich mich um und bekomme Angst: Ein großer Hund, von irgendwoher gekommen, läuft mir nach. Noch einmal steht alles auf, was ich über Paneriai gelesen und was ich hier gesehen habe, und es ist, als berührte mich die geisterhafte Hand jener Wirklichkeit – dann aber ist der herannahende Zug zu hören, der mich zurückbringen wird nach Vilnius, der Hund ist weg und ich gehöre wieder ganz der Gegenwart. Am Ende des Gesprächs mit Arunas Bubnys frage ich ihn, ob es in letzter Zeit Aktivitäten rechtsextremer Gruppierungen gegeben habe, die er als gefährlich einschätzen wurde. Er verneint. Allerdings seien die Mahnmale in Paneriai vor kurzem mit Graffiti geschändet worden. Nicht mit Hakenkreuzen, sondern mit einem neuen Symbol, einem einzigen, schnell hingepinselten Buchstaben: Z. (…)SINN UND FORM 4/2023, S. 466-477, hier S. 470-474
Rodari, Gianni
- 6/1982 | Grammatik der Phantasie
Rödel, Wolfgang
- 1/1980 | Erzählen und Zuhören
Rodenberg, Hans
- 3-4/1953 | Paul Fleming und seine Russlandreise
- 4/1968 | Wissen ist Macht - Macht ist Wissen. Zum 75. Geburtstag Walter Ulbrichts
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
- 2/1970 | Jelisaweta Drabkina über Lenin
Roehler, Klaus
- 3/2002 | Tiri
Roehricht, Karl Hermann
Röggla, Kathrin
- 4/2018 | Brechts Notizbücher
Roh, Franz
- 3/2005 | Korrespondenz mit Wilhelm Fraenger
Rohmer, Rolf
- 3/2007 | Gespräch mit Peter Hacks, Gerda Baumbach und Gottfried Fischbach (1974)
Röhner, Eberhard
- 6/1972 | Vom Verhältnis zur Geschichte
Rohr, Angela
- 3/2016 | Begegnung. Mit einer Nachbemerkung von Gesine Bey
Rohrwasser, Michael
Roidis, Emmanouil
- 3/2008 | Lob der Krankheit, S. 364 Leseprobe
Roidis, Emmanouil
Lob der Krankheit
Wahrscheinlich wirst du, lieber Leser, schon bei der Überschrift dieses Artikels mit den Achseln zucken und ausrufen: »Dummes Zeug!« Allerdings wohl nicht, wenn du mal schwer krank warst und noch daran denkst, was du damals empfandest.
Der erste und vielleicht größte Vorzug einer Krankheit besteht darin, daß du dich nur an diesen Tagen erzwungener Untätigkeit völlig frei fühlst von jeder Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dir selbst, deiner Frau und den Kindern, der Gesellschaft und deinen Gläubigern. Erst dann kannst du ruhigen Gewissens sagen: »Mag kommen, was da will – es ist nicht meine Schuld!«
Solange du gesund bist, schuldet dir die sogenannte Gemeinschaft aller Menschen rein gar nichts: weder eine Anstellung noch ärztliche Versorgung noch einen Kredit, weder Produktionsmittel noch Protektion, nicht mal ein Stück Brot. Du hast ja Arme und Hände, und es ist deine Sache, dir dies alles zu beschaffen. Wenn du Pech hast und trotz guten Willens weder Klienten findest, falls du Anwalt bist, noch Stammgäste, wenn du ein Kafenio hast, noch einen Herrn, wenn du Diener bist, oder der Herr Minister dich eines Morgens zum Arbeitslosen gemacht hat und du vergebens darum ersuchst, Prozeßakten abzuschreiben oder Schafe zu hüten, oh! dann nennt man dich natürlich zu Recht einen »Müßiggänger und Faulenzer, einen Tagedieb, Nichtsnutz und Arbeitsscheuen«. Krank zu sein ist also deinem Stolz weit weniger abträglich.
Und so bist du nicht nur die Sorge um das tägliche Brot los, sondern auch die äußerst lästigen gesellschaftlichen Verpflichtungen, Besuche, Visitenkarten, nationale und königliche Feiertage, Handkuß, Namenstage und Begräbnisse.
Statt dich pflichtgemäß um die Deinen zu kümmern, erlebst du nun, wie sie sich alle um dich kümmern. Wie sie sich um dein Bett scharen, besorgt, aufmerksam, beflissen, fürsorglich und bereit sind, dir jeden Wunsch, ja jede Marotte zu erfüllen.
Deine Freunde und Bekannten, die sich gewöhnlich so intensiv um dich kümmern wie um den Khan der Mongolei, sind überzeugt, daß Anstand und Sitte es gebieten, sich nach deinem Zustand zu erkundigen und besorgt zu tun.
Falls dich allerdings Verwandte und Freunde im Stich lassen, hat auch die völlige Verlassenheit ihren Reiz. Die Vorstellung, allein gegen Leiden und Tod zu kämpfen, vermag deinen Stolz zu befriedigen. Sie erlaubt es dir, dich mit dem großen Helden des Äschylus zu vergleichen, mit dem Gefesselten Prometheus, der, nachdem ihn die unbarmherzigen Meerestöchter verlassen hatten, ebenfalls allein zurückblieb an seinem Fels in der Ödnis mit dem Geier, der ihm die Leber zerfetzte.
Außerdem wird dieses völlige Verlassensein deine Studien des menschlichen Herzens und deine Erfahrungen damit bereichern und dir unerschöpflichen Stoff liefern, dich über deinen einstigen Glauben an die Liebe von Verwandten und Freunden lustig zu machen.
»Aber dann spüre ich doch, wie mich die Kräfte verlassen, meine Sinne nicht mehr richtig wach sind, mein Kopf schwer wird, so daß ich nicht mehr denken kann.«
»Und darüber beschwerst du dich, Undankbarer! Jahrelang haben dich die Gedanken gemartert; da ist es doch sicher eine Wohltat und kein Unglück, daß die qualvolle Arbeit des müden Hirns für eine Weile unterbrochen wird.«
Sollten dir indes noch Reste deiner Gehirntätigkeit verblieben sein, liegt das auch an den mit melancholischer Süße getränkten Vorstellungen vom friedlichen Ende des rechtschaffenen Mannes, von der Erlösung von irdischen Qualen, vom ewigen Frieden, vom Paradies der Christen, von der Einswerdung mit dem Gott der Pantheisten, vom Nirwana der Philosophen, und, um die nackte Wahrheit zu sagen, noch viel mehr als all das an der bis zum letzten Atemzug währenden Hoffnung darauf, noch einmal davonzukommen.
Das stärkste Argument zugunsten der Krankheit ist jedoch, daß man, ohne krank gewesen zu sein, nicht die höchste Glückseligkeit der Gesundung genießen kann.
Nach einem Monat strengen Fastens gestattet dir der Arzt, einen Bratapfel zu essen, und jene erlaubte Frucht scheint dir unvergleichlich süßer zu sein als die verbotene und von Eva gepflückte. Dann einmal täglich Suppe, zweimal, dreimal. Wer würde sich nicht die Finger lecken bei der Erinnerung an den göttlichen Geschmack des ersten Hühnchenschlegels und an das erste Glas Wein, süßer als Nektar?
Allmählich kehren die körperlichen und geistigen Kräfte zurück, und du spürst, daß dir die Krankheit eine Art Jungfräulichkeit zurückgegeben hat, daß dein verseuchter, müder und gealterter Körper erneuert wurde, daß in deinen Adern frisches Blut fließt und neues Fleisch deine Knochen umhüllt, daß also der Allgütige Gott dir ein zweites Leben geschenkt hat.
Bist du der Familie und deinen Freunden wiedergegeben, stehst du noch eine geraume Zeit blaß, mild, sanft, arglos wie ein Kind und umgänglich im Mittelpunkt des Interesses; alle hast du gern, und alle haben dich gern dank deiner gesegneten Krankheit, die dich von der Verbitterung befreit und dich gegen Zorn, Launen und Gereiztheit unempfindlich gemacht hat.
Und was sollen wir über den ersten Spaziergang nach langer Krankheit sagen? Du siehst die Sonne wieder, Bäume, Bürgersteige, Schaufenster, Theaterplakate, die zum Schloß marschierende Garde. Was dich früher zum Gähnen brachte, bezaubert dich nun, erfreut dich und rührt dich einzig und allein deshalb, weil du es beinahe nie mehr gesehen hättest. Falls dir der Arzt einen Aufenthalt in Faliron oder Kifissia verordnet hat: Wie viel grüner erscheinen dir jetzt dort die Bäume, wieviel blauer das Meer!
Aber eines Tages siehst du – mitten auf der Straße, als du verzückt einem Leierkasten lauschst, den du so lange nicht gehört hast –, wie ein anderer Patient vorbeikommt, dem das Glück nicht so hold war wie dir und der nun zu seiner letzten Ruhestätte auf dem Ersten oder Zweiten Friedhof gebracht wird.
Dieser Trauerzug, obschon recht häufig auf den Athener Straßen, macht dir zum ersten Mal tiefen Eindruck und wühlt dich völlig auf. Aber wie freust du dich insgeheim, wenn du dein Los mit dem des armen Toten vergleichst!
»Wäre ich«, denkst du, »in jenem abscheulichen Sarg, würde ich wie der Mensch da drinnen inmitten dieser gleichgültigen Menge in die schwarze Grube gebracht, aus der man nicht wieder herauskommt; und die Passanten würden gleichgültig den Hut ziehen und weitergehen wie jetzt. Ob ich das bin oder ein anderer, wäre den bösen Egoisten egal. Wahrlich, ich danke Gott, dem es gefallen hat, mich aufrecht auf diesem Bürgersteig gehen zu lassen, anstatt in jener fürchterlichen Kiste zu liegen«.
Noch ein paar Wochen lang verfolgst du die Leichenzüge mit großem Interesse und glaubst, du müßtest dich mit Respekt und Rührung vor jenen Toten verneigen, zu denen du beinahe gezählt hättest, als wünschtest du, daß sich auch die anderen vor deiner sterblichen Hülle verneigen würden.
Die schwarze Kleidung des Leichenträgers mit dem Kreuz auf dem Rücken läßt dich schaudern, vor allem, wenn du noch ein wenig blaß bist und der Leichenträger dich anblickt, als wolle er sagen: »Du wirst mich bald brauchen, Freundchen«.
Aber mit der Zeit rührt dich der Anblick der Toten immer weniger und du denkst an dich. Deine Wangen sind inzwischen rundlich und rosig, die Leichenträger betrachten dich nicht mehr, und auch du beachtest sie nicht. Bald lüftest auch du mechanisch den Hut und gehst gleichgültig an den armen Toten vorbei, mit denen du dich nicht mehr verbunden fühlst.
Die Zeit vergeht. Tag für Tag legst du ein weiteres Stück deiner Empfindsamkeit ab und verlierst allmählich die Fähigkeit, ergriffen und froh zu sein. Das Gähnen überwiegt wieder, und das Alltagsleben erscheint dir nüchtern wie ehedem, langweilig, eintönig und fade wie Kürbis. Auch gibt es keine Hoffnung, noch einmal die Lust zu kosten, am Leben zu sein, es sei denn, das Glück beschert dir, ein zweites Mal an Plutons Tür zu klopfen.
Aus dem Griechischen von Gerhard Bluemlein und Andrea Schellinger
SINN UND FORM 3/2008, S. 364-367
Rojas, Gonzalo
- 2/1977 | Gedichte aus Chile
Rolland, Romain
- 1/1949 | Römischer Frühling. Aus den »Jugenderinnerungen«
- 2/1949 | Jugenderinnerungen
- 1/1950 | Sieben Briefe an Louis Gillet
- 3/1950 | Briefe an Louis Gillet
- 1/1951 | Wieder in Paris
- 4/1951 | Vorwärts, Freunde!
- 1/1955 | Vier Tage in Bayreuth
- 1/1956 | Reise durch Sizilien
- 5-6/1958 | Briefe an Elsa Wolff
- 4/1960 | Autobiographische Notizen
- 5/1963 | Eine Freundschaft/Frühlingsfröste. Aus den »Memoiren«
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Briefe an Willi Bredel
- 1/1966 | Über die »verzauberte Seele«
- 3/1986 | Romain Rolland und Stefan Zweig. Briefe aus den dreißiger Jahren
Römer, Hubertus und Werner Heidrich
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Arnold-Zweig-Bibliographie
Romo, Eugenio Matuo
- 2/1977 | Die Schippe
Rompe, Robert
- 5/1986 | Die grosse Berliner Physik
Ronen, Diti
- 6/2016 | Kleines Drossel
Rooks, Clay
- 6/1984 | Veteranenbeihilfe
Rosanow, Wassili
- 3/2000 | Apokalypse der russischen Literatur
Rosé, Ariel
- 6/2023 | Postskriptum. Gedichte
Rose, William
- 5-6/1956 | Psychologie und Literaturwissenschaft
Rosen, Charles
- 5/2002 | Die Zukunft der Musik
Rosenau, Christian
- 6/2009 | Gedichte
- 4/2012 | Gedichte
- 1/2017 | Schattenwerk und Hirngespinste. Gedichte
- 1/2018 | Helden sagen. Gedichte
Rosenlöcher, Thomas
- 3/1988 | Gedichte
- 4/1990 | Die verkauften Pflastersteine - Dresdner Tagebuch
- 5/1991 | Der Text von unten.
- 6/2002 | Das Tischwunder. Zu einem Gedicht von Karl Mickel
- 1/2011 | Die unten im Wasser zitternden Lichter. Kleine Erinnerung an Alexander von Bormann
- 4/2022 | Mäandertal
Roshdestwenski, Robert
Roshnowski, Stanislaw
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Zum letztenmal in Moskau
Rösler, Walter
- 4/1980 | Ein bisschen Gefängnis und ein bisschen Irrenhaus
- 5/1981 | Topographie der Hölle. Sieben Kapitel über Walter Mehring
- 6/1983 | Joachim Ringelnatz oder Die Flucht ins Glück
Rosow, Viktor
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Gespräch mit Friedrich Dieckmann
Roß, Jan
- 6/2002 | Der Ungenierte. Zur Verleihung des deutschen Sprachpreises an Karl Heinz Bohrer
- 4/2003 | Konservativität im richtigen Verstande. Laudatio auf Joachim Fest
Rosselli, Amelia
- 6/2020 | Wenn die Seele ihr Gepäck verkauft. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Luisa Maria Schulz
Roters, Eberhard
- 3/1993 | »Ich wünsche meinen Figuren, daß sie am Jüngsten Tage auferstehen können.« Der Bildhauer Hans Wimmer
Roth, Patrick
- 4/2015 | Wie zu lesen sei oder Begegnung mit Herrn K.
Rothbauer, Gerhard
- 3/1979 | Stalingrad: Legendäre Nachricht von einer vergrabenen Liebe
- 6/1980 | Woher kommt diese Freiheit?
- 2/1981 | Das ist der unscheinbare Mann. [Zu: Ludwig Renn: »Anstöße in meinem Leben«]
- 1/1982 | Ich habe auch meine Stunden der Empörung oder Ein Narr, der malt. Jürgen Lehmann: »Strandgesellschaft«, Roman, Mitteldeutscher Verlag Halle/Leipzig 1980
- 3/1982 | Ich bin der Kasper unter braven Puppen. Wilhelm Tkaczyk: »Meine Wolken sind irdisch«, Gedichte; Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig 1981
- 6/1982 | Wenn der Bagger kommt. Joachim Nowonty: »Letzter Auftritt der Komparsen«. Mitteldeutscher Verlag Halle-Leipzig, 1981
- 5/1983 | Die Welt soill blühen. Thomas Rosenlöcher: »Ich lag im Garten bei Kleinzschachwitz«, Gedichte und 2 Notate, Mitteldeutscher Verlag Halle - Leipzig 1982
- 6/1983 | Ein Gemälde von der Würde und der dünnen Haut. Jurij Brezan: »Bild des Vaters«, Roman, Verlag Neues Leben, Berlin, 1982
- 6/1985 | Mir ist gegeben eine verbrannte Scholle fruchtbarer Erde
- 6/1986 | Das verlorene Lächeln des Großvaters
- 1/1987 | Weltende als Theaterdonner
- 3/1988 | Die Mitte des Lebens, des Schreibens - Der Erzähler Gunter Preuss
Rother, Peter
- 2/1988 | Gedichte
Rothmann, Ralf
- 1/2018 | Dunkler Umriß – Kleist und das Glück. Dankrede zum Kleist-Preis 2017
Roumain, Jacques
- 2/1951 | Lateinamerikanische Lyrik
Różewicz, Janusz
- 5/2018 | Słowacki in Versailles. Eine wahre Begebenheit. Mit einer Vorbemerkung von Bernhard Hartmann, S. 651 Leseprobe
Różewicz, Janusz
Słowacki in Versailles. Eine wahre Begebenheit
Vorbemerkung: Janusz Różewicz – ein polnisches Leben (und Nachleben)
Vor fast einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der 72jährige Tadeusz Różewicz ein Buch über seinen drei Jahre älteren Bruder Janusz, der im Zweiten Weltkrieg in der polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer kämpfte und 1944 in Lodz von der Gestapo ermordet wurde ("Nasz starszy brat«, Unser älterer Bruder, Wrocław 1994). Der Band umfaßt dessen erhaltene Gedichte, Prosastücke, Briefe und Tagebucheinträge, Erinnerungen von Angehörigen und Wegbegleitern sowie dem Bruder gewidmete Gedichte von Tadeusz Różewicz. Die ungewöhnliche, weil auf den ersten Blick überaus heterogene Publikation zeichnet das bewegende, in vielen Aspekten durchaus repräsentative Bild eines Lebens in Polen vor und nach dem 1. September 1939.
Janusz Różewicz wurde am 25. Mai 1918 in Osjaków geboren, seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Radomsko, einer Kleinstadt zwischen Lodz und Tschenstochau. In eigenen Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen anderer erscheint er als aufgeweckter, lebenshungriger und abenteuerlustiger junger Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Bezeichnend für das gesellschaftliche Klima in der polnischen Provinz, in der die Brüder aufwuchsen – neben Tadeusz noch der jüngere Stanisław, später ein bekannter Filmregisseur –, ist eine Episode aus der Schulzeit: Janusz, dessen Familie sich das Schulgeld fürs Privatgymnasium vom Mund absparte, schilderte in einem freien Aufsatz die Not vieler Mitschüler, die aus noch ärmeren Verhältnissen stammten. Sein Polnischlehrer bewertete ihn mit »sehr gut«, was beide in Schwierigkeiten brachte, weil das konservative Kollegium sowohl den Schüler als auch den jungen Kollegen sozialistischer Umtriebe verdächtigte.
Nach dem Abitur leistete Janusz seinen Wehrdienst, die Ausbildung wurde durch den Einmarsch der Wehrmacht unterbrochen. Er schloß sich in Lodz der Heimatarmee, dem militärischen Arm des polnischen Untergrundstaates, an. Wegen seiner guten Deutschkenntnisse wurde er zu Missionen ins Reich geschickt. Dieser Teil seiner Biographie trägt in den Erinnerungen von Weggefährten Züge einer Agentengeschichte. So berichtet eine Heimatarmee-Kameradin, daß sich Janusz 1943 in Berlin fast verraten hätte, als er im Überschwang in einem Restaurant ein zu hohes Trinkgeld geben wollte. Bei einer Gestapo-Razzia in Lodz wurde er am 10. Juni 1944 verhaftet. Am 7. November wurde er mit anderen Untergrundkämpfern von der Gestapo erschossen, die Leichen wurden in einem Massengrab auf dem jüdischen Friedhof verscharrt. Im Rahmen einer Exhumierung im Oktober 1946 wurden die sterblichen Überreste identifiziert und anschließend auf dem Rochusfriedhof in Lodz feierlich bestattet.
Seit seiner Jugend interessierte sich Janusz für Literatur. Er schrieb Gedichte und Erzählungen, erhielt Auszeichnungen bei Schreibwettbewerben und korrespondierte mit Józef Czechowicz, einem großen polnischen Dichter der Zwischenkriegszeit. Janusz war es, der seinen jüngeren Bruder Tadeusz in die Literatur einführte, ihm Lektürehinweise gab und ihn zum Schrei ben anregte. Und auch in anderer Hinsicht war sein Einfluß prägend. In »Nur soviel« (SINN UND FORM 5/2011) erinnert Tadeusz sich, wie Janusz ihn angesichts seiner Sympathien für die Linke warnte: »Paß bloß auf! Neben der braunen Diktatur gibt es auch noch eine rote … eine ist so schlimm wie die andere … vergiß das nie … beide wollen uns vernichten …"
Der Tod des älteren Bruders markierte für Tadeusz Różewicz eine tiefe Zäsur. An Januszs letzten Heimatbesuch Ostern 1943 erinnert er sich in »Nur soviel« als an »das letzte Fest, an dem unsere Familie noch heil und ganz war«. Einen großen Teil seines Spätwerks widmete er dem Versuch, diesen Bruch mittels Rekonstruktion der Familie wenigstens literarisch zu heilen. Einige Jahre nach »Nasz starszy brat« erschien »Matka odchodzi« (Mutter geht, 1999), ein ebenfalls aus Texten verschiedener Autoren kompiliertes Erinnerungsbuch an die Mutter, die den Verlust des Ältesten ebensowenig verwand wie Tadeusz und Stanisław den Verlust des Bruders (der Vater ist in beiden Büchern kaum präsent). Die Veröffentlichung dieser beiden Bücher in deutscher Sprache war bis zu seinem Tod 2014 ein großes Anliegen Tadeusz Różewiczs, das mit »Mutter geht« (2009) bislang nur halb erfüllt werden konnte.
Gerade das Buch über den Bruder sah er auch als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung. Im Vorwort zur geplanten deutschen Ausgabe schreibt er: »In Radomsko lebten Deutsche und Polen zusammen, wir hatten deutsche Schulfreunde. Diese Freundschaften waren stärker als die Propaganda, die schon vor 1939 in der deutschen Minderheit Abneigung und Haß gegen alles Polnische schüren wollte. Mit Kriegsbeginn fanden wir uns auf unterschiedlichen Seiten wieder. Nach dem Krieg (…) erfuhren wir von der Weißen Rose (…). Hans Scholl wurde 1918 geboren, im selben Jahr wie mein Bruder Janusz, Sophie Scholl 1921, im selben Jahr wie ich. Hans und Sophie Scholl, Christian Probst, Alexander Schmorell und andere kämpften ebenso wie wir gegen Hitler und starben 1943 einen ähnlichen Tod wie mein Bruder Janusz. Die Weiße Rose, uns und alle Menschen unserer Generation, die Widerstand leisteten, einte der Kampf gegen den Nationalsozialismus. Wir waren, über Grenzen und Nationalitäten hinweg, Geschwister im Geiste.«
Wenngleich das komplette Buch noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, sind wichtige Teile inzwischen auch dem deutschsprachigen Leser zugänglich. Sinn und Form publizierte die erwähnte Erinnerung Tadeusz Różewiczs, in Radomsko erschien im Mai 2018 anläßlich von Januszs hundertstem Geburtstag eine Ausgabe seiner Gedichte in polnischer, englischer und deutscher Sprache. Nun kommen zwei weitere Texte hinzu: eine Erzählung von Janusz Różewicz, die sein großes literarisches Talent zeigt, sowie eine Erinnerung von Stanisław Różewicz, der den Bruder noch einmal aufleben läßt, zugleich aber auch den Schmerz schildert, den der Verlust für die Familie bedeutete.
Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 5/2018, S. 651-655, hier S. 651-652
Różewicz, Stanisław
- 5/2018 | Wie ein graues Basrelief
Różewicz, Tadeusz
- 3/1966 | Polnische Lyrik
- 2/1980 | Zwei Gedichte
- 3/1982 | Zwei Gedichte
- 6/1985 | Die »Theatralisierung« der Poesie
- 3/1993 | Gedichte
- 4/2006 | Gedichte
- 2/2007 | Nach Vollendung des achtzigsten Lebensjahrs
- 5/2011 | Eine Erinnerung und ein Gedicht, S. 238 Leseprobe
Różewicz, Tadeusz
Eine Erinnerung und ein Gedicht
Nur soviel
Ich wollte Erinnerungen an den Herbst 1939 in Radomsko notieren … das Bombardement, die brennende Stadt, unsere Flucht durch Flammen und Rauch. Das Feuer ist klein und kalt. Die deutschen Bomber ziehen wie Schatten vorbei, das schrille Pfeifen der fallenden Bomben ist wie Stille. Das Ganze wirkt wie ein verschwommenes Bild, wie ein altes, zwischen Zetteln wiedergefundenes Foto. Selbst die große Angst ist klein. Die Asche der Stille, in der ich mit meinem schwarzen Kugelschreiber wie mit einem Stöckchen herumwühle. Die Lebenden und die Toten schrumpfen und verlieren sich am Horizont. Wir flüchten über Stoppel- und Kartoffelfelder in den Wald. Ich erkenne mich nicht mehr in der Million Gestalten, die sich unter dem Septemberhimmel dahinwälzen. Die Brände. Die stummen Sterne. Habe ich überhaupt noch etwas damit zu tun …? Der Faden der Erinnerung blitzt in der Sonne auf und erlischt. Deutsche Flugzeuge fliegen über die freie Flur, verschwimmen, verschwinden wie unser ganzer tragischer polnischer Krieg. Verblaßte Farben, erkaltete Gefühle. Alles ist zum Grabstein geworden … durch Wälder, über Felder und Feldwege hasten polnische Soldaten aus der aufgeriebenen 7. Division von General Gąsiorowski, in Gruppen, einzeln, ohne Waffen, ohne Uniform, ringsum die Deutschen, im Westen, im Osten, überall
ich lebe noch atme spreche
gehe in Deine Richtung*
Heute vor 53 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Staatsvertreter legen aus diesem Anlaß Kränze am Grab des Unbekannten Soldaten nieder … in Warschau. Noch ein Jahrestag also. Ich wohne jetzt in Breslau und bin 71. Ja, lieber Janusz, ich bin alt. Wir haben uns 1943 zum letzten Mal gesehen. Zu Ostern. Das letzte Fest, an dem unsere Familie noch heil und ganz war: Mutter, Vater, du, Stanisław und ich. Du warst nur kurz da. Du schenktest Stasio und mir einen sehr zurückhaltenden Bericht darüber, daß du im Zirkus warst – in Berlin, daß du im Kino warst – in Wien. Nur ich wußte, was das für ein Zirkus war … Ich hatte die geheime Fähnrichschule absolviert und vergnügte mich vorerst (im Büro für Information und Propaganda) mit »Löschpapier«. Ich wartete sehnsüchtig darauf, daß in unserem AK-Bezirk die erste Partisanen-Einheit geschaffen würde … erst im August ging mein Wunsch in Erfüllung und ich wurde in »Zbigniews« – »Warszyc'« – Einheit einberufen. Am Abend vor seiner Abreise sagte mir Janusz, er wisse nicht, wann er das nächste Mal nach Hause komme. Wir sprachen über Gedichte, ich schrieb damals patriotische Lyrik über Wilna und Lemberg, die Poesie an sich hatte ich aus den Augen verloren … Janusz hatte keine Zeit mehr, Gedichte zu schreiben. Die Arbeit im Untergrund wurde immer mühsamer, komplizierter, gefährlicher. Ich merkte, daß er auf eine früher unbekannte Weise innerlich angespannt war … Als ich ihm meine Sympathie für die Linke offenbarte, die ich schon als Gymnasiast für die »Piłsudski-Linken« hegte, sah er mich eindringlich an und sagte: »Paß bloß auf! Neben der braunen Diktatur gibt es auch noch eine rote … eine ist so schlimm wie die andere … vergiß das nie … beide wollen uns vernichten …"
Vater brachte dich zum Bahnhof. Er hatte gute Papiere (alle echt), einen ganzen Stoß samt Passierschein für die Nacht. Wir scherzten, er habe zu viele Dokumente … das könne Verdacht wecken. Die deutsche Gendarmerie war mitunter launisch und ließ gar keine »Papiere« gelten, egal ob echt oder falsch. Als er zurückkam, erzählte Vater, am Bahnhof habe es von Gendarmen, Wehrmachtsoldaten, Bahn- und Selbstschutzleuten usw. nur so gewimmelt. Unterwegs hätten sie in Jasna Góra angehalten. Janusz habe lange und innig gebetet … ich ging seit 1940 nicht mehr zur Beichte und betete nicht mehr … Bei diesem letzten Treffen verabredeten wir etwas: Falls wir uns im Krieg nicht mehr sehen sollten, würden wir uns nach Kriegsende … in Paris treffen.
Paris. Was machten wir uns in Radomsko für Gedanken um Paris … Vielleicht, weil es so unbekannt und unerreichbar war wie Atlantis. Wir wollten uns am Mickiewicz-Denkmal treffen … An dem und dem Tag in dem und dem Monat um zwölf Uhr mittags … in den ersten drei Jahren nach dem Krieg wollten wir alles versuchen, um zur vereinbarten Stunde dort zu sein … wenn wir uns nicht träfen, hieße das … wir würden uns nie wiedersehen. Mein Gott, damals saßen die Deutschen in Paris. Ich erinnere mich, für unsere Generation war der Fall des fernen Paris eine persönliche Tragödie. Hitler nahm dort Paraden seiner Armee ab.
[...]Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 5/2011, S. 581-590
Rozman, Smiljan
- 4/1976 | Das Kaffeehaus
Różycki, Tomasz
- 5/2008 | Über die Farben - vor und nach 1989
- 5/2011 | Als ich zu schreiben anfing
- 2/2014 | Gedichte als Lebenschronik. Über Joachim Du Bellay, S. 660 Leseprobe
Różycki, Tomasz
GEDICHTE ALS LEBENSCHRONIK Über Joachim Du Bellay
Ich weiß nicht, warum ich diese Gedichte gefunden habe, die Frage ist sogar etwas absurd. Von allen möglichen Gründen, potentiellen und realen Verkettungen von Ereignissen scheint die einzig wahre und – bei aller Paradoxalität – einzig sinnvolle Antwort zu lauten: Die Gedichte haben mich gefunden. So ist es wohl mit allen Lektüren – unser Unterbewußtsein wartet nur darauf, sich im Licht der weißen Blätter zu enthüllen, die schwarzen Buchstaben dienen ihm als Weckruf. Und weil ich nichts über mein Unterbewußtsein weiß, denke ich lieber, die Gedichte hätten mich gefunden. Sie haben mich gefunden – aus einem fragwürdigen Grund, über den ich mir nicht ganz im klaren bin, den ich aber herausfinden möchte, weil es eine so ernste Sache ist. Meine Intuition in bezug auf Dichter (auch tote, insbesondere tote) und Dichtkunst sagt mir, daß es kein ganz unschuldiger Grund sein wird, daß es zu Berührungen kommen wird, zu Ausbeutung, nächtlicher Stickluft oder gar nächtlichem Ersticken, womöglich wird auch Blut getrunken. Bestimmt wird Blut getrunken. Auf jeden Fall geschieht etwas Fragwürdiges. Und genau das will ich beobachten.
Die Gedichte haben mich gefunden, aber natürlich habe ich auch auf sie gewartet. Das heißt, etwas in mir hat gewartet, etwas, das eben durch sie geweckt wurde und von dem ich bis dahin nichts wußte. Jetzt kann ich nur noch versuchen, dem nachzuspüren, den Spürhund zu spielen, der in der Dunkelheit lauert und beobachtet, wie zwei Gestalten im blassen Licht des Mondes ihre Streiche beginnen. Zwei Gestalten, eine aus dem Nichts aufgetaucht, die andere im Dunkeln auf sie wartend. Beide gleich blaß und merkwürdig.
Man weiß nicht viel über das Leben ihres Autors, Joachim Du Bellay. Nicht, daß seine Biographie gänzlich unbekannt wäre. Wir kennen einige der wichtigsten Ereignisse, aber jedes Mal, wenn ich etwas darüber lese, kommt es mir vor, als bleibe die Hauptperson gänzlich »unberührt« in ihrem Geheimnis, als hätten die Biographen keinen Zugang zu ihrem wahrem Leben, als passe ihre, wie Sartre sagen würde, Existenz nicht zu der in ein paar Dutzend Sätze gefaßten Essenz, die ihm andere zuschreiben. Sitzt Du Bellay also in Sartres Hölle, irrt seine Seele noch immer umher und fleht um Befreiung?
Er kam 1522 zur Welt, wie Pierre de Ronsard als Sohn einer reichen Familie: Seine Onkel und Vettern machten Karriere, und einer seiner Verwandten spielte in Du Bellays Leben später eine wichtige Rolle. Der Junge war von Geburt an kränklich, aber das ist in Dichterbiographien nichts Besonderes. Ehe er zehn wurde, verlor er Vater und Mutter. Von da an stand er unter der Vormundschaft seines älteren Bruders und hatte, wie die Biographen schreiben, »eine traurige Kindheit«, der Bruder vernachlässigte zunächst seine Bildung, erst später studierte Du Bellay in Poitiers Jura, was ihm die Aussicht auf eine Anstellung als Sekretär beim Cousin seines Vaters, einem Kardinal, eröffnete.
Geboren wurde er im Schloß La Turmelière, unweit von Liré im Anjou. Liré liegt an der Südseite der Loire – der Fluß ist nah, nur eine Viertelstunde entfernt. Ich war einmal in der Gegend, damals wußte ich noch nichts von Du Bellay; die Loire strömt breit dahin, sie ist flach und heiter, auf den Sandinseln im Fluß wachsen Bäume und Sträucher, entlang des Wegs Pappeln, ihre flauschigen Flugsamen legen sich in so dicken Schichten auf die Steinbrücke, daß man hindurchwaten muß. Zwischen sanften grünen Hügeln die Ruinen eines Schlosses aus dem fünfzehnten Jahrhundert: Hier lebte Du Bellay. Zwanzig Jahre zwischen diesen Hügeln. Die Franzosen nennen diesen Landschaftstyp bocage – gemeint sind durch Baumreihen abgeteilte Felder. Man findet sie in ganz Nordeuropa, von der Bretagne bis nach Masowien.
Angeblich nahm sein Leben eine Wende, als er an einem Sommertag in einem Wirtshaus an der Loire Ronsard kennenlernte: Beide waren zwanzig, beide schrieben Gedichte, beide hatten Soldaten werden wollen und diesen Plan wegen früher, schnell voranschreitender Taubheit aufgeben müssen – solche Zufälle gibt es nur einmal, wollen wir also die Sache näher betrachten. Zwei fast taube junge Dichter, zwei der größten Dichter aller Zeiten. Derselbe Ort und dieselbe Zeit. War Taubheit etwas Normales in dieser Zeit, diesem Milieu, dieser Gegend? Befiel sie vielleicht insbesondere Personen, die ihr Leben der Arbeit mit Rhythmus, Reim und Melodie widmeten? Oder bewirkte umgekehrt die fortschreitende Taubheit, die Beeinträchtigung des Gehörs von früher Kindheit an, daß die betroffene Person um so mehr nach Klängen, nach Musik forschte und sie auch schuf? So wie Beethoven? Ronsard wollte von Anfang ein großer Dichter werden – deshalb schrieb er. Du Bellay wurde von ihm angesteckt. Beide gingen nach Paris, am Collège Coqueret unterrichtete sie der Hellenist Dorat, dort lernten sie die Antike und Petrarca kennen. Mit Freunden gründeten sie eine Dichtergruppe. Erst nannten sie sich La Brigade, später La Pléiade.
Du Bellay wurde recht schnell bekannt – erst durch sein berühmtes Manifest über die französische Sprache und die neue Dichtkunst ("Défense et illustration de la langue française«), dann durch seine lateinischen Gedichte und seine Sonette; er wurde zum französischen Ovid und zum französischen Petrarca, wurde anfangs sogar mehr gepriesen und geschätzt als Ronsard. Aber das Wichtigste stand erst noch bevor. Die Sonette und anderen Gedichte, die Du Bellay in Paris schrieb, waren eigentlich nur Fingerübungen, ein wenig langweilig und gekünstelt (war er wirklich verliebt oder pflegte er bloß die Tradition des Petrarca-Sonetts?), Fingerübungen für das, was später kommen sollte. Die Besonderheit dieser Gedichte war, daß sie in Französisch geschrieben waren; sie führten neue Gattungen in die Lyrik ein und ahmten alte, antike Autoren nach. Dazu kamen Konvention und Abstraktes, Mythologie und Courtoisie, Pose und Manier. Wahrscheinlich bin ich furchtbar ungerecht; ich werde es bis zum Ende dieses Textes bleiben. Der Band mit Sonetten wurde für eine gewisse Olive geschrieben, worin manche ein Anagramm des Namens der Mademoiselle de Viole sahen. Doch Olive wie auch Viole bleiben geheimnisvoll und literarisch. Über keine von beiden wissen wir etwas Genaues – sowenig wie über Petrarcas Laura. Olive kann ein Name sein oder die Frucht, ein Verweis auf den Süden, auf die Provence oder eben auf Petrarca. Viole ist ein mehrdeutiger Name: Er bezeichnet ein Instrument (damals die Viola da Gamba), klingt aber auch nach Gewalt.
Just als Du Bellay berühmt und am Königshof gelesen wurde, begannen seine finanziellen und gesundheitlichen Probleme (der Ausbruch der Schwindsucht, die Verschlechterung des Gehörs). Es eröffnete sich aber auch eine außergewöhnliche Chance: eine Reise nach Rom als Sekretär seines Verwandten, des Kardinals, in geheimer politischer Mission. Eine wahrlich formidable Chance für jemanden, der die italienische und lateinische Literatur liebte. Er konnte zur Quelle seiner Inspiration vordringen, die Wiege der Antike und der Renaissance sehen, in der Hauptstadt der Welt leben. Dieser Moment, der Moment, in dem er Frankreich verließ, war – glaubt man den Biographen, aber insbesondere auch seinen späteren Gedichten – das größte Unglück seines Lebens.
Die Enttäuschung kam schnell. Sicher, anfangs war Rom schön und faszinierend, aber schon bald begann ihn die Arbeit zu ermüden – er verbrachte sinnlose Stunden damit, sich um die Angelegenheiten und Ausgaben des Kardinals zu kümmern, die Höflinge des Kirchenstaats waren noch weitaus schlimmer als ihre Pariser Pendants, die Priesterschaft, die ganze kirchliche Hierarchie war (glaubt man den Gedichten) eine Bande gemeiner, neidischer und bis ins Mark verdorbener Leute, Italienisch und Latein gingen ihm auf die Nerven. Aus Frankreich kam die Kunde von Prozessen und vom Verlust des Vermögens, vor allem aber von den Erfolgen der Pléiade-Kollegen. In Rom kannte niemand den Dichter Du Bellay, hier hielt man ihn für ein Nichts. Also schrieb er Nacht für Nacht, zunehmend krank vor Sehnsucht, Melancholie, Groll und Langeweile, Sonette nach dem Vorbild von Ovids »Tristia«, die er später »Regrets« (Klagen) nannte. Welch ein Paradox: Rom wurde für Du Bellay zum Verbannungsort. Rom, die Hauptstadt der Kultur, wurde ihm zur Wüste, zu einem Gefängnis wie Ovids Tomis. Und wie Ovid Rom nachweinte, weinte Du Bellay Frankreich nach und flehte um die Erlaubnis, die Ewige Stadt zu verlassen.
[...]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2014, S. 247-255, hier S. 247-250
- 4/2014 | Sankt Petersburg
- 1/2016 | Tomis. Notizen vom Haltepunkt, S. 660 Leseprobe
Różycki, Tomasz
Tomis. Notizen vom Haltepunkt
Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem Anschein nach ist es ein richtiger Winter, sentimental und mythisch, die Stadt ist eingeschneit, die Autos passieren einander vorsichtig wie beladene Elefanten auf einem Dschungelpfad. Fluß und Kanäle sind zugefroren, im Fernsehen schneit es. Einstweilen muß man nicht über den sechs Monate langen, bis in den April dauernden winterähnlichen Herbst voller Schlamm klagen, die Zeit des Schlamms kommt später – wenn es taut, wenn die Schneewehen, -berge und -halden schmelzen und die Sintflut einsetzt. Vorerst ist alles, wie es sein soll, wie es auf dem Wunschzettel steht: Das Licht ist zurück, wird vom Schnee reflektiert, selbst die Nacht leuchtet festlich, als sei die Kindheit zurückgekehrt und halte Ausschau nach uns. Gloria. In unserem Tomis spricht freilich niemand Latein, hier gefriert der Wein in der Flasche, und der einzige rote Fleck auf der weißen Tischdecke könnte ein Blutfleck sein. Doch alle verfluchen in ihren Dialekten den Winter, sie kratzen Schnee und Eis von den Autos und tauen die Batterien auf. Und wiewohl ich eine direkte Verbindung nach Rom habe, sind zum Glück sämtliche Wege zugeschneit.
Die Besuche in der Hauptstadt, in dieser wie in jener, enden immer gleich: mit der Einfahrt des Zuges in den verdreckten Bahnhof, der von Jahr zu Jahr zu schrumpfen scheint, bis er eines Tages ganz verschwindet – dann werde ich auf der weißen Flur aussteigen und verdutzt durch den Schnee stapfen. Ich steige aus und stecke gleich fest im Schnee, im Schlamm, in der Provinz, und mir wird klar, eine bestimmte Art von Fremdheit muß wohl sein. Man empfindet sie sicher auch, wenn man in New York im vierzigsten Stock lebt und jedes Mal beim Zigarettenkaufen denkt, man kehre von einer Reise um den Mond auf unseren grünen Planeten zurück. Tomis ist wohl eine Notwendigkeit: der Ozean von Schlamm ringsum, die verschneiten Felder bis zum Horizont, die staubigen Straßen, und fast niemand spricht Latein. Hier kann man vergessen werden, während man auf der Veranda jeden Tag neue altmodische Simulakren der Wirklichkeit heranzüchtet, indem man Geschichten erfindet oder erschütternde Briefe an die Nachkommen schreibt.
Das große Gebäude am Platz ist das Hauptgebäude der Universität. Es gibt eine unklare Verbindung zwischen uns. Zuweilen bekomme ich den Schlüssel zu einem Zimmer in der obersten Etage, ich komme, wenn schon alle weg sind, und gehe – mit dem seltsamen Gefühl, doch nicht allein zu sein – durch die Korridore. Früher befand sich hier ein Kloster, später lange ein Spital; ich erinnere mich noch an die Barmherzigen Schwestern mit den spitzen Hauben. Die gleichen, denen Rimbaud ein hoch in den Alpen aufgestelltes Klavier vererbte. In den Sälen lagen die Kranken. Ich habe meine Großväter besucht, beide sind hier gestorben. Wohl kaum ein Universitätsgebäude in Polen hat eine vergleichbare Tradition und Geschichte. (…) Inzwischen wurde das Gebäude generalüberholt, die Wände und sehr dicken alten Mauern desinfiziert, wobei ja Bakterien und Viren tief ins Gemäuer eindringen können, sie verstecken sich und liegen noch Jahrzehnte auf der Lauer. Ich sitze hier, atme den Geruch ein und versuche mit Hilfe des Tamtams mit den Seelen der hier Verstorbenen in Kontakt zu treten. Eine von ihnen wird mich schon hören. Die einstige Augenklinik ist heute die Anglistik, die Innere Medizin die Polonistik. Die Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist die Romanistik, die Neurologie die Slawistik. Wo jetzt die Bibliothek ist, war früher die Intensivstation. Das Dekanat war Operationssaal, das Büro des Rektors die Toilette. Wo heute die Toiletten sind, war früher das Chefarztbüro. Für den Rest der Universität wurden zum Glück ehemalige Kasernen umgebaut. Sie haben eine andere Tradition, aber auch die läßt sich erzählen.
Mit Hilfe des Tamtams kontaktiert mich Leonardo, der Castaneda zitiert: »Unsere Sprache ist überaus schwach.« Und tatsächlich, meine Zunge ist kalt und die Hände klopfen mit letzter Kraft auf die Tastatur des Tamtams. Das kommt bestimmt vom gefrorenen Wein. Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Obwohl der autobiographische Pakt vermutlich so clever erdacht ist, daß er uns alle mit seinen sieben Mäulern verschlingen kann – mein Pakt ist wohl anders, und man darf hoffen, daß nicht nur böse, sondern auch gute Geister über dem Papier kreisen. Solange der Tiefkühlwein sie nährt, besteht Aussicht auf Fortsetzung. Heute faßte ich den Entschluß, diese Notizen zu beginnen. Erster Eintrag: Winter.
Auf dem Hügel, wo das heutige Universitätsgebäude steht, gibt es einen Brunnen und eine heilige Quelle. Der Legende nach soll 984 der heilige Adalbert, Schutzheiliger Polens, nach Oppeln gekommen sein. Der damalige Bischof von Prag predigte auf dem Hügel und taufte die bekehrten Einheimischen. Als ihm einmal das Taufwasser ausging, stieß er den Bischofsstab auf die Erde, und an dieser Stelle entsprang eine Quelle. Das Wasser hatte wundertätige Eigenschaften: Es förderte die Fruchtbarkeit, festigte die eheliche Treue, heilte Melancholie, Depression und Jugendakne.
Der heilige Adalbert wird häufig mit einem Bischofsstab in Gestalt eines doppelten oder einfachen Kreuzes dargestellt, was sein missionarisches Wirken betonen soll. Doch die schmuckvollen Basreliefs an der Bronzetür der Gnesener Erzkathedrale aus dem zwölften Jahrhundert zeigen, wie Otto III. Adalbert als Bischof einsetzt und ihm den Bischofsstab überreicht. Der Griff dieses Bischofsstabs, von dem sich Adalbert der Darstellung auf der Bronzetür zufolge bis zum Tod nicht trennte, ist schneckenförmig nach innen gewunden und wird von einem Schlangenkopf abgeschlossen.
Ein Bild: Mitteleuropa, Lemberg, 1945 oder Anfang 1946. Die sowjetischen Behörden organisieren die Deportation der Polen aus der Stadt, was sie frech Repatriierung nennen. Nach Beschluß der Siegermächte UdSSR, Großbritannien und USA wird Lemberg der Sowjetunion zugeschlagen, die Polen sollen in die von Deutschland gewonnenen neuen polnischen Westgebiete umgesiedelt werden. Man kennt die Geschichte, aber ich versuche sie mir jetzt vorzustellen – in der Stadt herrscht Chaos, wie ein böses Omen erscheinen die Güterzüge, in denen die polnischen Lemberger, die den Krieg überlebten, abtransportiert werden sollen. Man kann eine Kiste mit persönlicher Habe mitnehmen, vielleicht zwei. Gemeinsam mit den Nachbarn zimmert Großvater eine Kiste, danach eine zweite, kleinere. Mehr wird er ohnehin nicht tragen können – er muß alles allein zum Bahnhof schleppen. Großmutter hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, es gibt nun drei Kinder im Haus: die Tochter und die zwei jüngeren Söhne. Der ältere ist mein Vater.
Großvater geht durch die Wohnung und überlegt, was er mitnehmen soll. Versucht es euch vorzustellen: zwei Kisten, um das Leben eurer Familie einzupacken. Großvater betrachtet Möbel, Figuren, Bilder, Fotografien und alte Briefe, Schrank und Nachtschränkchen, Küche und Bad. Wenige Monate später werden die Familien von NKWD-Offizieren in die großen, ruhig gelegenen Wohnungen einziehen. Zwei Häuser weiter wohnten der Architekt Szulim Barenblüth und seine Frau Debora Vogel, die Freundin von Bruno Schulz, mit ihrem Sohn Aszker. Alle drei wurden 1942 bei der Liquidierung des Lemberger Ghettos von der ukrainischen Polizei erschossen. Sie hinterließen Dokumente und Schriften, darunter unveröffentlichte Manuskripte von Bruno Schulz, Briefe und unvollendete Romane sowie Erzählungen von Schulz und Vogel – als neue Bewohner 1964 den Keller aufräumen, verbrennen sie alles.
Lemberg wurde im Juli 1944 im Rahmen der Aktion Burza von der polnischen Heimatarmee befreit. Die Rote Armee rückte auf die Stadt vor, man kämpfte gemeinsam gegen die deutschen Besatzer – die Polen sahen trotz allem die Rote Armee als Verbündete in der Anti-Hitler-Koalition. Wenige Tage darauf verhafteten diese Verbündeten polnische Offiziere und Soldaten und verschleppten sie tief ins russische Landesinnere. Lemberg war zum zweiten Mal während des Krieges sowjetisch besetzt. Nach der ersten Besetzung von September 1939 bis zum Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941 hatten die Sowjets in Lemberg Berge von in der Junisonne verwesenden Leichen hinterlassen. 1945 richteten die Behörden Repatriierungspunkte ein, die Deportationen erfolgten in mehreren Phasen bis 1946, als man bekanntgab, die verbleibenden polnischen Einwohner würden nach Kasachstan oder in den Donbaß gebracht. Nur wenige wagten es, in der Stadt zu bleiben und abzuwarten, ob diese Ankündigung wahrgemacht würde.
Großvater geht durch die Wohnung. Sie können nicht viel mitnehmen, sie müssen wählen, viele Dinge werden sie nie wieder sehen. Großmutter packt Bettzeug, ein paar Teller, Töpfe, Kinderkleidung und einige Andenken in die erste Kiste, nur das Allernotwendigste, dennoch ist sie bald voll. Die zweite Kiste füllt Großvater – zu Großmutters Verzweiflung – bis zum Rand mit Büchern aus seiner nicht sonderlich umfangreichen Bibliothek. Services, das Radio und alles andere Wertvolle läßt er zurück. Die Kiste ist höllisch schwer und läßt sich selbst mit Hilfe von Bekannten und Nachbarn kaum bis zum Bahnhof transportieren, wo der Zug wartet und sie in den Waggon geladen wird. Einmal rutscht sie jemandem aus der Hand und verfehlt nur knapp einen herumwuselnden Sechsjährigen – um ein Haar wäre mein Vater von einer Kiste voller Bücher erschlagen worden.
Die Kiste war schwer. Moby Dick und die Nautilus mußten hinein, Captain Bloods Piratenschiffe, Die geheimnisvolle Insel, Wolfsblut, Wotan, der Wolfshund. Winnetou und Der letzte Mohikaner, das Lager des Vaters der Pestkranken, Soplicowo, Kamieniec Podolski, die Lauda und Elefant King. Die Alte Mär und Krakau zu Łokteks Zeiten. Die Jungen von der Paulstraße und Die drei Musketiere. Der Graf von Monte Christo und Lord Jim. In einem anderen Land und Der Zauberberg. Der brave Soldat Schwejk und Ivanhoe, Zwanzig Jahre später und Madame Bovary, Anna Karenina und Das Dschungelbuch. Die Kartause von Parma und Der Mann mit der eisernen Maske. Die Brüder Karamasow und Die Elenden. Einige dieser Bücher habe ich selbst noch gesehen, manche sogar gelesen, andere gingen verloren. Mein Vater hat bestimmt alle gelesen.
Die Kiste war mehrere Wochen unterwegs, bis sie in Oppeln ankam. In den Zügen war nicht genug Platz, die Männer reisten auf dem Dach. Sie sangen: »Eine Atombombe oder zwei, dann kehren ist Lemberg wieder frei.« Alle glaubten, der nächste Krieg stehe unmittelbar bevor, nach Hitler komme nun Stalin an die Reihe, der Alptraum dauere schon lange genug und werde bald enden. Niemand wußte, was sie am Ziel ihrer Reise erwartete. Unten im Waggon weinte ein Säugling, mein Onkel.
Ich weiß nicht, warum Großvater ausgerechnet Bücher einpackte. Er hielt sie wohl für das Wertvollste, das er besaß. Ansonsten sprach alles dagegen: Der Krieg war zwar zu Ende, aber die Geschehnisse der letzten Jahre zeigten deutlich, daß die Geschichte über die Kultur triumphieren würde. Meine Großeltern waren aus ihrem Zuhause vertrieben worden und sollten nie wieder zurückkehren, sie fuhren ins Unbekannte, nachdem sie wie durch ein Wunder den Krieg und die anschließenden Gemetzel überlebt hatten. Der neue Staat, der gerade auf Grundlage der Beschlüsse von Jalta entstand, war fremd und verhieß nichts Gutes. Ihre Heimatstadt war von der Roten Armee besetzt und sie waren unterwegs in die einstmals deutschen Gebiete, die von den Sowjets unter polnische Verwaltung gestellt worden waren, wiewohl jeder wußte, daß es sich um eine Marionettenregierung handelte. Man mußte weiter ums Überleben und Durchkommen kämpfen. Um so erstaunlicher war die Entscheidung für die Bücher – sie zeugte von Hoffnung, vom privaten Sieg der Kultur über die Geschichte, von der Kontinuität des Geistes gegen das Chaos von Gewalt, Krieg und Materie. Großvater wußte wohl nicht, daß er eine rettende Geste vollzog. Er war kein Universitätsprofessor, sein Vater war Fleischer gewesen. Er selbst, ein aufsässiges Einzelkind, war viel gereist, er hatte die Welt gesehen und sich in Häfen herumgeprügelt. Auf seinen Armen prangten Seemannstätowierungen, darunter das Zeichen der Fremdenlegion. Er war ein Batiar, ein Kind der Lemberger Straße, kein Intelligenzler. Ich weiß nicht, was er im Krieg gemacht hat, er sprach nicht darüber, wahrscheinlich aus politischen Gründen. Er blieb manchmal tagelang fort, während Großmutter verzweifelt wartete. Er konnte gut mit Waffen umgehen. Er trieb ein wenig Handel, so kamen sie über die Runden. Er nahm an der Befreiung der Stadt teil, vielleicht als Angehöriger der Heimatarmee, vielleicht spontan. Nach dem Krieg war es nicht ratsam, sich bestimmter Dinge zu rühmen, also erfuhr ich nie, ob er sich gut oder schlecht verhalten hatte, heldenhaft oder feige oder von beidem etwas. Ich erfuhr nicht, ob er ein gutes oder ein schlechtes Gewissen hatte, ob er Leben gerettet oder getötet hatte – er starb lange vor dem Fall des Kommunismus in Polen.
Die Bücher, genauer die Erinnerung an die Titel dieser Bücher – die meisten sind zerfallen oder bei Umzügen verlorengegangen –, sind mein einziges Andenken an ihn. Er hatte sonst nichts aus Lemberg mitgebracht, keinen materiellen Beweis für die Existenz dieser Welt, nichts, was er mir hätte vererben können. Er hinterließ mir eine Liste mit den Titeln nicht existierender Bücher, exotische Namen und Nachnamen. Einen leeren Koffer, eine sprechende Kiste, Mikroben, Staub, Rußkrümel.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 1/2016, S. 15-27, hier S. 15-19
- 4/2016 | Wolkenschatten. Gedichte
- 6/2018 | Der Typ, der die Welt gekauft hat. Gedichte
- 3/2019 | Die Kunst des Überdauerns. Ein Gespräch mit Bernhard Hartmann über Geschichte und Sprache
- 3/2019 | Nach Moskau. Eine europäische Reise
- 1/2020 | Die Schlacht im Tal. Aus einem Versepos
- 2/2021 | Morgen die Sintflut. Gedichte
- 2/2021 | Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten, S. 660 Leseprobe
Różycki, Tomasz
Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten
1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this way: it is that which is lost out of both prose and verse in translation« in polnischer Übersetzung zum ersten Mal las, fand ich sofort, dies sei einer jener wunderbaren und zugleich scheußlichen Sätze, in denen kein Wort ersetzt oder gar umgestellt werden kann. Ein Satz wie eine mathematische Gleichung mit einer Unbekannten. Und zugleich eine dieser Definitionen, die, statt etwas zu erklären, weitere Fragen provozieren und uns nicht sicherer machen, sondern leicht benommen und verloren zurücklassen. Wenn sie überhaupt etwas sagt, dann vor allem, was Poesie nicht ist – was sie sein könnte, bleibt offen. Eine Definition, die nichts definiert, die zu keiner Grenze und zu keinem Ende führt, wie sie es dem lateinischen Ursprung des Wortes nach sollte. Eine negative Definition. Es gibt keine Grenze. Es gibt kein Ende. Solche Definitionen mag ich am liebsten. Vielleicht liegt es am Alter, vielleicht an den Dingen, mit denen ich mich beschäftige.
2. Da schon das Wort Grenze fiel: Bei allem, wovon hier die Rede sein wird – Dichtung, Schreiben, Übersetzen –, geht es um vorhandene oder fehlende Grenzen. Es geht darum, sie zu überschreiten, sowohl konkrete, wie Mauern, Stacheldrahtverhaue oder Minenfelder, als auch abstrakte, wie Verbote oder strikte Formen. Das sage ich nicht allein deswegen, weil ich über Fragen des Übersetzens spreche und aufgrund meiner Tätigkeit besonders neugierig bin, was auf der anderen Seite ist, unter anderem auf der Seite der Übersetzer. Ich sage es auch nicht deswegen, weil das Übersetzen heute eine Wertschätzung erfährt wie wohl nie zuvor und weil immer mehr und immer besser übersetzt wird. Dadurch hat die Menschheit die Chance, sich besser kennenzulernen, sich neuer schmerzlicher Details ihrer Existenz bewußt zu werden. Manche behaupten, die Übersetzer retteten die Welt, zu deren größten Problemen es gehöre, daß die Menschen einander nicht verstehen. Sowohl die Globalisierung als auch der große babylonische Turm der westlichen Zivilisation sind nicht zuletzt das Verdienst von Übersetzern. Der menschliche Drang zu Systematisierung und Abgrenzung hat die Translationswissenschaft hervorgebracht, die inzwischen an fast allen Universitäten praktiziert und gelehrt wird. Es wird immer mehr übersetzt und immer weniger gelesen, und vielleicht wachsen deshalb Bitternis und Verzweiflung in der Welt analog zur Zahl ihrer Bewohner, analog zur Zunahme der Möglichkeiten, sich zu äußern, und zur Meinungsfreiheit, während sich in fast allen Sprachen das fortschreitende Bewußtsein vom Ende der Menschheit zu Wort meldet. Wenden wir uns also wieder dem Ende zu, dem Begriff der Grenze, dem Transitverkehr und der Immigration der Wörter.
3. Zunächst geht der Dichter über seine Grenzen hinaus. Er tut das, indem er Wörter schreibt, Buchstaben zu Wörtern zusammensetzt. Dabei offenbart sich seine psychische – oder vielleicht sollte man sagen: geistige – Substanz. Dann geht der Leser aus sich heraus, indem er liest. Seine psychische – oder geistige – Substanz findet ihren Platz auf den für ihn anfangs ja fremden Seiten der Dichtung. Und manchmal geschieht ein Wunder: Der Leser betrachtet die Wörter eines Gedichts als seine eigenen. Später verläßt die Lyrik die Grenzen ihrer Sprache und auch der Übersetzer überschreitet eine Grenze, indem er übersetzt. Er ist in seiner Sprache Leser und Dichter zugleich. Das Wort translatio bedeutet ursprünglich Hinübertragen, Hinüberbringen. Das Wichtigste geschieht also in der Bewegung und in der Überschreitung, in der Transzendierung, und der Übersetzer ist derjenige, der die Ware über die Grenze bringt, derjenige, der selbst bei größter moralischer Integrität mehr transportiert, als in den Frachtpapieren steht, der – ob er will oder nicht – zum Schmuggler wird.4. Natürlich hat Frost recht: Der Übersetzer verliert einen Teil seines Schmuggelguts, ein Teil wird ihm an der Grenze abgenommen, ein Teil verflüchtigt sich von selbst. Außerdem muß er Zoll zahlen. Bisweilen ist die Entfernung, die überwunden werden muß, zu groß, und damit meine ich nicht nur die Sprachen, die durch Meere, Gebirge und Ozeane voneinander getrennt sind, sondern auch die Zeit, zumal wenn etwa in unseren Tagen ein Übersetzer aus unbekannten, zweifelhaften Gründen beschließt, ein Gedicht aus dem 16. Jahrhundert zu übersetzen. Zum Glück – auch zu seinem eigenen – merkt der Übersetzer oft gar nicht, daß ihm etwas entging. Auch deshalb, weil unser ganzes Leben ab der Geburt das Resultat einer Subtraktion ist und der Verlust fest und selbstverständlich dazugehört. Frost hat auch insofern recht, als derartige Sentenzen etwas in sich tragen, das auch ein Merkmal von Poesie ist – sie sind ebenso universell wie hermetisch, sie sollen uns verführen. Ihr Sinn entzieht sich uns, als läge er jenseits der Zeilen, doch sie bezaubern uns durch ihre Anmut, sie wecken unsere Neugier, sie wollen entdeckt werden, wollen, daß wir ihnen folgen. Immer in der Nähe, immer einen Schritt voraus. Frosts Satz ist wie die Poesie, von der er spricht. Sie ist das, was verlorengeht, was wir verlieren, was sich uns entzieht, was in ständiger Bewegung ist. Und wir laufen immer hinterher. Doch wenn die Poesie das ist, was in der Übersetzung verlorengeht, dann müßte man, um sie wiederzufinden, eine Subtraktion durchführen, das heißt Original und Übersetzung vergleichen. Also – welch absurde Operation – die Übersetzung vom Original abziehen, und was übrigbliebe, wäre die Poesie. Nur was sollte das sein? Der Klang? Die Musik? Die Stimme? Der Kontext? Die Geschichte? Die Erfahrung? Das Leben des Autors? Die Geschichte der Sprache, in der er das Gedicht schrieb? Die Summe seiner Lektüren, die Momente der Begeisterung oder der Langeweile beim Lesen oder Hören fremder Texte? All seine Vormittage? All seine Nächte? All seine Feinde und all seine Lieben? Daß er blind war? Daß er hinkte? Daß seine Nachbarn ihn für einen Besessenen hielten? Daß er ein italienisches Mädchen war, das im Lyon des 16. Jahrhunderts auf italienisch schrieb? Daß er der russischsprachige Sohn eines jüdischen Tuchhändlers aus Warschau war? Der Enkel schwarzhäutiger Sklaven, die auf die Antillen verkauft worden waren? Eine Hofdame im Japan des 11. Jahrhunderts? Ja, all das und vieles mehr. Kurzum alles, was sich nicht übersetzen läßt. Wir können aber auch annehmen, das Leben eines Autors sei wenig relevant oder der Autor sei ganz einfach tot und es lebten nur die Originale seiner Gedichte. So sollte es doch eigentlich sein, oder? Was also geht in der Übersetzung verloren? Der Klang? Der Kontext? Die Stimme? Die Historie? Die Geschichte der Sprache, die erklingt, und das Besondere der in ihr gesagten Worte, deren versteckte Bedeutungen und emotionale Aufladungen? Wie, wie oft und von wem sie zuvor benutzt wurden, in welchem anderen Gedicht und in welchem Lied, das abends auf dem Balkon gesungen wird? Oder daß sie eben noch nie in einem solchen Kontext benutzt wurden? Und schon ist nicht mehr der Autor wichtig, sondern der Leser dieser Gedichte: sein Leben, seine Vormittage und Nächte, seine Lektüren und Lieben, seine Krankheiten und Obsessionen. Daß er die Tochter eines Immigranten aus einem armen, vom Krieg zerstörten Land ist. Daß er eine Brille mit sehr dicken Gläsern tragen muß. Daß er Hunde lieber mag als Katzen. Jedesmal spricht ihn die Lyrik auf andere Weise an, weil er ihr jedesmal eine andere Stimme gibt. Jeder einzelne Lektüreakt ist anders, einzigartig, und diese Einzigartigkeit hat wenig mit dem Wörterbuch zu tun, sie spielt sich anderswo ab, neben den Wörtern, vielleicht über ihnen. Vereinfacht können wir sagen: in der Psyche des Lesers oder, wenn wir das griechische Wort übersetzen, in seiner Seele. Im geistigen Raum. Derlei kann man schwerlich einpacken und über die Grenze transportieren und gleichzeitig hoffen, daß sich unterwegs nichts davon verflüchtigt.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2021, S. 240-248, hier S. 240-242
- 4/2021 | Dichter der Vergegenwärtigung. Laudatio auf Durs Grünbein
- 5/2021 | Der dunkle Mantel. Über Adam Zagajewski, S. 660 Leseprobe
Różycki, Tomasz
Der dunkle Mantel. Über Adam Zagajewski
1.
Als sein Gedicht »Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen« in Claire Cavanaghs Übersetzung bald nach dem 11. September 2001 im »New Yorker« erschien und ihn in den USA berühmt machte, war Adam Zagajewski in Europa und insbesondere in Deutschland, wo er von 1979 bis 1981 als DAAD-Stipendiat lebte, schon lange bekannt und geachtet. In Polen kannte man ihn als Verfasser nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch wichtiger und streitbarer Bücher. Die Bühne der amerikanischen Literatur betrat er mit einem Lyrikband, der – auf Empfehlung von Joseph Brodsky, wie Adam einmal erzählte – in einem der wichtigsten Verlage des Landes erschien. Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert, Susan Sontag und viele andere amerikanische Dichter und Kritiker waren von seinen Gedichten begeistert, und Adam unterrichtete an Universitäten in Houston und Chicago. Dann erschien infolge einer Verkettung von Umständen – man weiß ja, wie der Zufall bisweilen spielt – »Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen« im »New Yorker«, und von da an wollte das Publikum meist gerade dieses Gedicht hören. Doch eigentlich sind fast all seine Gedichte so, fast alle wollen von Freude, Leid, Begeisterung und Trauer erzählen – und vom Trost der Poesie, die für Adam all das zugleich war. Er kam in Lemberg zur Welt, in einer Stadt, in der seine Familie seit Generationen lebte und die sie verlassen mußte, als er ein paar Monate alt war. Er kam in einem verstümmelten Land zur Welt, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, der allein Polen sechs Millionen Einwohner genommen und seine Hauptstadt vom Erdboden getilgt hatte. Sein Leben lang hat er versucht, eine Welt zu besingen, die trotz alledem erschütternd schön ist. In seinem Gedicht »Karfreitag in den U-Bahn-Schächten« schreibt er von der »Matthäus-Passion«, die »Schmerz in Schönheit verwandelt«. Er hoffte wohl darauf, daß dies auch seiner Lyrik gelingt.
Er wurde am 21. Juni geboren, dem Tag der Sommersonnenwende, an dem alles beginnt und alles endet, an dem der Zeiger der Jahreszeitenuhr seinen höchsten Punkt erreicht, an dem die Erdachse sich am nächsten der Sonne zuneigt, an dem zugleich aber der erneute Abstieg in die Finsternis beginnt. Sein Geburtsjahr ist 1945, ein Wendejahr, in dem alles endete und alles neu begann. Gestorben ist er am 21. März, dem Welttag der Poesie, dem ersten Tag des kalendarischen Frühlings, an dem man den Winter verabschiedet und der in Polen jahrelang der Tag des Schulschwänzers war, an dem Tausende Kinder zum Blaumachen aus den Schulen flüchteten. Bis zu diesem Jahr, weil im März 2021 die meisten Schulen geschlossen blieben.
Und seine Initialen sind A. Z., als habe das Pendel von einem zum anderen Ende des Alphabets ausgeschlagen und unterwegs alle Möglichkeiten der Sprache, die gesamte Skala, durchmessen. Doch das ist vielleicht allzu billige Kabbalistik. Ich erinnere mich an den Moment, als ich zum Studium nach Krakau kam. Der Kommunismus war gerade zusammengebrochen, die Zeiten hatten sich gewendet, es war das Umbruchsjahr 1989. Krakau war schmutzig – die Häuserwände fast schwarz, die Luft von Abgasen verunreinigt. Die achtziger Jahre in Polen waren Jahre der Erschöpfung, der Krise und des täglichen Kampfs. Selbst einfachste Alltagsdinge erforderten große Anstrengung. Das Leben schien aus nichts als Erschwernissen zu bestehen. Bei einem Straßenhändler an der Jagiellonen- Universität kaufte ich zwei oder drei Bücher, die bis dahin kaum zu bekommen gewesen waren, weil sie im kommunistischen Polen nicht publiziert werden durften: illegale Nachdrucke der Pariser und Londoner Ausgaben von Adams Gedichten und Essays. An diesem warmen Tag erlebte ich auf einer Parkbank im noch immer leicht unwirklichen Krakau einen Augenblick des Rauschs. Ich spürte, daß ich eine Lyrik gefunden hatte, die zum Element der Luft gehört: Sie ließ sich atmen. Man konnte sich erheben, oder anders – man konnte eintauchen und sich tragen lassen, so wie es der Körper im warmen Mittelmeer kann. »Für einen bezauberten Augenblick ist ihm alles gleich nah, alles gleich fern: denn er fühlt zu allem einen Bezug. Er hat nichts an die Vergangenheit verloren, nichts hat ihm die Zukunft zu bringen. Er ist für einen bezauberten Augenblick der Überwinder der Zeit.« (Hugo von Hofmannsthal, »Der Dichter und diese Zeit«) Damals, auf der Bank in den Planty, dem Grüngürtel um die Krakauer Altstadt, erblickte ich mein trauriges und schmutziges Land mit anderen Augen, jemand bestätigte, daß es in unserem Leben noch etwas anderes gibt, etwas auf den ersten Blick vielleicht Unsichtbares, das aber wichtiger und schöner ist, das Kraft und Mut spendet, das befreit. Noch kurz zuvor, in der Volksrepublik Polen, unterlagen diese Gedichte der Zensur. Wie armselig, schwach und niederträchtig, so dachte ich, muß ein Staat mit Zehntausenden Beamten sein, der sich vor einer solchen Lyrik fürchtet.
Es war eine sehr konkrete und polnische Lyrik, so polnisch, wie die polnische Erinnerung an das verlorene Lemberg nur sein kann. Und zugleich war sie losgelöst von den verfluchten polnischen Problemen, anders, weltläufig, frei. Und zwar nicht etwa deshalb, weil die Gedichte von der Wirklichkeit losgelöst gewesen wären, was die polnische Kritik ihnen bisweilen vorwarf, nein – sie handelten von der Wirklichkeit selbst, denn unsere Wirklichkeit ist eine doppelte, schon allein, weil sie aus Sichtbarem und Unsichtbarem besteht und zudem, mit Hegel gesprochen, von der »Furie des Verschwindens« bedroht wird und uns deshalb nur momentweise zugänglich ist. Poesie ist auch das Bewußtsein dieses Verschwindens, das Elegische, das Verabschieden der Wirklichkeit, ein Moment der Trauer, notwendig, damit wir nicht nur den Verlust, sondern auch das Übermaß an Hoffnung ertragen.
Ich schreibe das, weil manche Dinge nur einmal im Leben geschehen, wir können schweigend über sie hinweggehen, doch früher oder später wird uns das Schweigen über den Kopf wachsen und uns verschlingen. Wir können auch versuchen, für sie zu danken, und sei es unbeholfen, doch der Dank ist naturgemäß immer kleiner als das Geschenk. Um etwas beschreiben zu können, muß man auf Distanz gehen. Am besten wäre es, der Gegenstand der Beschreibung käme zum Stillstand, was in diesem Fall unmöglich ist, selbst wenn das Fixiermittel der Tod ist. Man kann nämlich nicht das Herz einer Glocke in Bewegung beschreiben, man kann allenfalls davon sprechen, was es auslöst. Nicht, weil es in diesem Fall wohl immer zu früh sein wird, Abstand zu gewinnen, sondern weil es vielleicht überhaupt unmöglich sein könnte, denn es ist schwer, sich ausreichend von sich selbst zu distanzieren. Wie Wallace Stevens schrieb: »Zitate sind deshalb von besonderem Interesse, weil niemand Worte zitieren wird, die nicht seine eigenen sind, von wem auch immer sie geschrieben wurden. Der ›wer auch immer‹ ist der Zitierende in anderer Gestalt, in einer anderen Zeit, unter anderen Umständen.« (Brief an Elsie Viola Kachel vom 7. Januar 1909) Es spielt keine Rolle, daß das, worüber ich schreiben will, unsichtbar oder ungreifbar ist – unsere Begegnung ereignete sich im Element der Luft und seither teilen wir etwas Ungreifbares. Dieses Ungreifbare ist nicht verschwunden, es ist immer noch hier, in mir, und eben deshalb ist es unmöglich, Abstand zu gewinnen. Das gilt übrigens für die meisten Nachrufe – was geschrieben wird, betrifft meist den Nachrufenden, nicht den Verstorbenen. Und das finde ich beruhigend.
FRÜCHTE
Ungreifbar ist das Leben, und nur
in der Erinnerung enthüllt es seine Züge,
nur im Nichtsein. Ungreifbar sind
die Nachmittage, reif und laut, die Blätter
voller Saft, die bauchigen Früchte, die raschelnde
Seide der Frauen (…). Ungreifbar die Berge am Horizont.
Der Regenbogen unberührbar. Die großen Felsen der Wolken
ziehen langsam über den Himmel. Ungreifbar,
reich, der Nachmittag. Mein Leben,
wirbelnd und ungreifbar, frei.Übersetzung von Renate Schmidgall
2.
Adams Lyrik war anders als alles, was ich bis dahin gelesen hatte, zumal in der überwiegend düsteren und schweren Gegenwartslyrik mit ihrem trockenen, hölzernen Zungenschlag. Sie trug Raum und Atem in sich, sie war nicht eng, sondern barst schier von Licht. Sie war klar und leicht, sie war und ist – wie Adam selbst schreibt – »Suche nach Glanz«. Und sie war eine Lyrik der Freude – der Daseinsfreude, der Bewunderung für das Schöne und die Welt, der Freude darüber, ein Kind dieser Welt zu sein. Eine Freude wie die eines Bades im Mittelmeer. Er wußte und schrieb auch darüber, daß im selben Meer Flüchtlinge ertrinken, und er wußte und schrieb darüber, daß in Lemberg, das er so liebte, kurz vor seiner Geburt unzählige Menschen gestorben waren. »Das Gedicht wächst aus dem Widerspruch, aber es wächst diesen nicht zu«, schreibt er in »Ode an die Vielheit«. Er spricht die Welt nicht von Schuld frei, doch seine Gedichte tun, was Lyrik seit ihren Anfängen immer getan hat: Sie zelebrieren das menschliche Dasein, das menschliche Leben. Es ist schwer und manchmal nicht zu ertragen, doch die Welt verdient gepriesen zu werden, das Leben verdient, daß man dafür dankt, und das Gute ist stärker als das Böse. Czesław Miłosz bewunderte diese »Begeisterung für die Welt«. Adams Gedichte sind oft ekstatisch, orgasmisch, sie gehen vom Konkreten aus und steigern sich ins Hymnische, wie unter vielen anderen das Gedicht »Lava«, das eine Antwort auf Adornos berühmten Satz sein könnte, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Sie erzählen von Augenblicken des Glücks, in denen wir, wie Schopenhauer schreibt, »des schnöden Willensdranges entledigt (sind), wir feiern den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still«, und die Nietzsche als »ewige Wiederkunft« bezeichnete. Es ist eine leichte und zugleich durchdringende Lyrik, und wenn ich sie lese, kommt es mir vor, als sei der Kalender durcheinandergeraten und habe die Feiertage vergessen, von denen sie kündet.
(…)Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 5/2021, S. 636-647, hier: S. 636-639
- 6/2022 | Ein Transporter mit Aufschrift. Über die Gemeinsamkeiten zwischen dem Übersetzen von Gedichten und dem Aufnehmen von Flüchtlingen
- 2/2023 | Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine, S. 660 Leseprobe
Różycki, Tomasz
Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine
Ungenaue Karten, falsche Karten, verbrannte Karten. Karten, die so dicht mit Bedeutung gesättigt sind, daß sie unmöglich erklärt werden können und das Entwirren des Geflechts von Namen und Zeichen großen Schmerz bereitet. Ich tauche ein in das Dunkel und versuche, einige Winkel kurz zu erhellen. Ich beuge mich vor und sammle ein paar verkohlte Klumpen, Fetzen und Rußpartikel. Ich muß mich an die Erde schmiegen, mit dem Kopf ins hohe Gras des Bahndamms eintauchen. Ungerecht, wie überaus ungerecht sind diese Teile, diese Bruchstückchen. Nie wird man sie zu einem Ganzen fügen können, zu einem vollständigen, gerechten und objektiven Bild. Immer ist es bloß ein Bruchstück, das man retten und entziffern konnte, der Rest – wo ist der Rest? Ich weiß es nicht, noch immer hat diese Geschichte für mich mehr Unbekanntes als Bekanntes. Die schwarzen, verkohlten Fragmente könnten vieles erklären. Ich weiß nur, was ich gesehen habe und was mir erzählt wurde. Und man erzählte mir nur so viel, wie man erzählen wollte. In jeder Geschichte gibt es mehr Verschwiegenes als Erzähltes, jede Geschichte hat ihre schwarzen, verbrannten, verkohlten, nicht zu entziffernden Stellen. Deshalb weiß ich, daß es keine gute Version gibt – es wird immer etwas geben, das ich übergehe, etwas Mißachtetes, das nach Stimme verlangt, ein unentdecktes Unrecht. Ein unausgesprochenes Glück, das der Wind mit sich davontrug. Mögen mir also alle verzeihen, deren Namen ich aufrufe. Die verbrannte, verkohlte Geschichte des Bösen und des Guten, die ungerechte, mehrdeutige, grausame Geschichte der polnischen Kolonisierung der Ukraine, das alles ist längst vergangen. Für die einen ein schönes, für die anderen ein schwarzes Kapitel. Es blieben die in der Luft schwebenden Fetzen und Rußpartikel, Menschen wie ich.
2004 reiste ich – zum zweiten Mal in meinem Leben – in die Ukraine. Anlaß war das Literaturfestival in Lemberg, zu dem mich der unvergessene Nasar Hontschar eingeladen hatte, der in einem späteren Sommer während eines anderen Dichtertreffens ertrank – die Nachricht von diesem Unglück kursierte unter Freunden und Bekannten lange als Scherz, weil niemand die Banalität dieses Unglücks wahrhaben wollte; alle hielten es für einen neuen Bluff, eine neue Performance Nasars, der zu den mannigfaltigsten Verwandlungen fähig war. Auf dem Lemberger Festival kündigte er meinen Auftritt als echter Jesushipster an – mit langen Haaren und langem, vollen Patriarchenbart. Auf dem Kopf trug er einen Anglerhut, wie er zur Grundausstattung von Tausenden unserer Landsleute gehörte, die in den neunziger Jahren ihre ersten Reisen nach Europa unternahmen. Als ich meine Gedichte las, verschwand Nasar kurz, um am Ende der Lesung komplett umgestylt wieder aufzutauchen, mit kahlgeschorenem Kopf, Tschub und langem gezwirbeltem Schnurrbart. Er sah aus wie ein echter Kosake. Auf der anschließenden Party in einer Wohnung unweit des Mickiewicz-Denkmals schlief er im lautesten Gesang auf einem Sessel ein und verharrte so bis zum Morgen, als ich ihn wie den Geist eines Taras Bulba oder Samuel Zborowski erblickte, mit der obligatorischen Pfeife und einem Rhabarbarstengel statt eines Säbels. So wird er mir im Gedächtnis bleiben.
Damals in Lemberg besuchte ich, während Nasar noch döste, einige Orte mit Bezug zur Geschichte meiner Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg kraft der Übereinkunft zwischen den Siegern Stalin, Churchill und Roosevelt aus dieser Gegend zwangsausgesiedelt worden war. Die Grenzen Polens wurden nach Westen verschoben und die in den an die Sowjetunion verlorenen Gebieten lebenden Polen in Güterwaggons nach Pommern und Schlesien gebracht, wo ich bis heute lebe. Millionen Menschen mußten ihre Wohnungen aufgeben, ihre Nachbarn, Traditionen, Erinnerungen und weiß Gott was noch – etwas, das sich seit Jahrhunderten in dieser Region abspielte. Der Zweite Weltkrieg traf besonders die dort lebenden Menschen: Polen, Juden, Ukrainer, Armenier, Karäer, Roma – alle, die dort seit Jahrhunderten ein einzigartiges Mosaik von Kulturen und Sprachen bildeten. Sie erlitten den Terror der sowjetischen Besatzung: Massenhinrichtungen und millionenfache Deportation in den Gulag, die Arbeitslager im russischen Hinterland. Später kam der NS-Terror hinzu, als sich die Deutschen zur Schaffung von »Lebensraum« an die systematische Auslöschung der einheimischen Bevölkerung machten, angefangen mit der planmäßigen Vernichtung der Juden, der Anstiftung zu Morden und Pogromen. Durch die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten wurde auch die in den Jahren der polnischen Repressionen gegen die Ukrainer angestaute böse Energie freigesetzt, was zu einem unvorstellbar grausamen Bürgerkrieg zwischen Polen und Ukrainern führte, einer Art antipolnischem Aufstand, ethnische Säuberung und Massaker in einem. Es war ein Krieg, in dem Nachbarn Nachbarn mordeten, und die Zahl der Opfer und die Monstrosität der Taten erinnern an die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien, die Jacques Derrida von einer Krise Europas sprechen ließen. Meine Familie gehörte zu denen, die alle Varianten des Terrors erlitten und viele Opfer zu beklagen hatten. Die Absurdität des Ganzen wurde noch dadurch vertieft, daß sich als Folge von jahrhundertelangem Zusammenleben und Mischehen in meiner Familie Urgroßmutter Ernestyna (die im »Adreßbuch für Polen« von 1929 als Besitzerin eines Fleischladens in der Ulica Traugutta 1a in Lemberg figurierte) und Urgroßvater Józef (der seine tatarische Abstammung betonte) begegneten, die polnischsprachige Paczkowska und der ukrainische Sawran, die ukrainischen Michaliszyns und die ungarischen Majors und Pics (Pitz). So wenig wir sagen können, wie diese Namen ursprünglich klangen und was sie bedeuteten, so wenig wissen wir, was jene – excusez le mot – »Identitäten« bedeuteten und aus welchen früheren Vermischungen, Mißverständnissen oder Simplifizierungen sie hervorgingen. Ganz zu schweigen von den komplizierten Religionszugehörigkeiten. Sprache, Ethnie und Religion einer einzelnen Person waren oft – nach nationalistischen Kriterien – absolut »unidentisch«. Töchter mit polnischen Vornamen, Söhne mit ukrainischen oder umgekehrt – das war eher die Norm. Die entlang der ethnischen Schnittstellen gezogenen Grenzen verliefen quer durch die Familien. Die Brüder meiner Großmutter Różycki, die Sawranows, waren im ukrainischen Untergrund aktiv, sie wurden vom NKWD verhaftet und unter freiem Himmel in einem provisorischen Gefangenenlager am Bahnhof von Lemberg gefangengehalten, bevor man sie in den Gulag deportierte. Meine Großmutter brachte ihnen Wasser. Ihr Ehemann, mein Großvater Różycki, war – was er lange nicht zugeben wollte – im polnischen Untergrund. Von den Tätowierungen, die dieser Lemberger Batiar seit seinem Dienst in der polnischen Handelsmarine auf dem Arm trug, sind mir besonders die Erkennungszeichen der Lemberger Patrioten – Löwen und der Schriftzug »Semper Fidelis« – sowie die nackte Meerjungfrau in Erinnerung geblieben. Die Traditionen durchdrangen einander wie die Sprachen, wie der sogenannte Bałak, ein regionaler Jargon, in dem sich Ukrainisch, Polnisch, Jiddisch und Deutsch mischten. Die Feiertage vieler Religionen wurden gemeinsam begangen, die Speisen vieler Küchen standen dabei auf dem Tisch. Das gemeinsame Spiel der Kinder im Hof, die gegenseitige Hilfe bei der Arbeit, das gemeinsame Singen bei allen möglichen Gelegenheiten, schlüpfrige Gedichte sowie Witze und Redewendungen – die Jahrhunderte des Zusammenlebens, der kleinen Gesten der Freundschaft und der Toleranz bewirkten in den wechselseitigen Beziehungen mehr Gutes als Schlechtes. Doch das Böse hat leider eine entsetzliche Kraft und vermag in einer Sekunde zu zerstören, was in Jahrhunderten aufgebaut wurde, und den Reichtum des Multikulturellen in einen blutigen, zerschnittenen und zerfetzten Knoten zu verwandeln.
Damit das Böse mit solcher Macht ausbrechen kann, muß es auf fruchtbaren Boden treffen. Die Geschichte des Unrechts in dieser Region ist ebenso lang wie die Geschichte des geradezu legendären Sinns für Humor ihrer Bewohner, und ich denke, daß die polnische Seite darin zu den Hauptschuldigen gehört – nur daß sie sich, wie immer in solchen Fällen, um keinen Preis zu ihrer Schuld bekennen will. Die Geschichte dieses Teils der Welt ist keine besondere, sie unterscheidet sich nicht von der anderer Regionen von Asien über den Balkan bis Afrika. Es ist immer eine Geschichte des Leids und des Gefühls von erlittenem Unrecht, das die Gegenwart und das zukünftige Leben vergiftet, eine Geschichte des Nichtverstehens und der Nichtverständigung, über die man eine Brücke schlagen muß, damit sich die Menschen begegnen können.
Ich fuhr damals in den Ort, in dem vor dem Krieg das Haus meiner inzwischen neunzigjährigen Großmutter stand. Sie selbst hatte gewünscht, daß ich – wenn ich so viele Jahre nach dem Alptraum des Krieges zum ersten Mal dorthin käme – nachschaue, ob von ihrem Haus etwas übriggeblieben sei, wenngleich sie sich diesbezüglich kaum Illusionen machte. Sie hatte die leise Hoffnung, daß noch die gemauerte Muttergotteskapelle im Hof existierte, das Wahrzeichen nicht nur des Hauses, sondern ihres ganzen Lebens dort vor dem Krieg. Meine Großmutter glaubte, die Muttergottes habe ihr und ihren Kindern in jener Zeit vielfach das Leben gerettet.
Alles, was ich wußte, wußte ich aus Familiengeschichten. Und wir wissen ja, wie solche Geschichten sind. Stark emotional aufgeladen, bisweilen allzu stark. Sehr wahr, weil sehr subjektiv und mit sehr subjektiven Emotionen aufgeladen. Und deswegen auch immer falsch. Deshalb hört man in strittigen Fällen am besten beide Seiten an. Oder zumindest mehrere Zeugen. Leider ist das nicht immer möglich, weil es manchmal keine Zeugen mehr gibt. Als meine Großmutter 1945 ihr Haus verlassen mußte, gab sie die Schlüssel einer obdachlosen Frau mit Kleinkind, die damals im Ort auftauchte und einige Zeit heimlich in einer Scheune oder auch auf freiem Feld übernachtete. Sie wurde anscheinend Kowalicha genannt. Ich muß nicht hinzufügen, daß sie Ukrainerin war. Großmutter war nicht vermögend, aber sie besaß ein Haus (ein Holzhaus mit gemauertem Sockel). Die Armen und Obdachlosen in dieser Gegend waren meist Ukrainer. Die Polen bildeten – von offensichtlichen Ausnahmen abgesehen – in der kolonialen Wirklichkeit eine privilegierte Klasse. Meine Großmutter war vor dem Krieg als Frau eines polnischen Eisenbahners im Staatsdienst in einer weitaus besseren Lage als ihre jüdischen oder ukrainischen Nachbarn. Während des Kriegs fürchtete sie dennoch oft um ihr Leben, ihr Haus stand an einer gut sichtbaren Stelle unweit der Bahnstation. Als 1943 die Deutschen und die ukrainische Polizei in Hlynjany und Solotschiw Juden ermordeten, sah sie, was geschah. Vor ihrem Haus standen jüdische Frauen mit Kindern, die wie durch ein Wunder entkommen waren und die ein Nachbar nach dem anderen fortjagte. Großmutter, selbst mit einem Kind auf dem Arm, konnte ihnen keine Zuflucht gewähren – sie sah am Horizont das brennende Ghetto, sie wußte, die Nachbarn schauten genau hin, und jederzeit konnte einer sie denunzieren, was für sie und ihre Kinder das Todesurteil bedeutet hätte. Sie konnte den Jüdinnen nur Brot anbieten und zusehen, wie sie weiterzogen, vermutlich in den Tod, der schon im nahen Wald, auf der Straße oder am Bahnhof lauern konnte. Vielleicht empfand sie eine unausgesprochene Schuld an dem, was sie mit ansah, und vielleicht gab sie deshalb, als die Sowjets einen Zug hinstellten, der die Polen ein für allemal fortbringen sollte, der obdachlosen jungen Frau mit dem Kind die Schlüssel zu ihrem Haus.
So erzählte sie es mir: Lieber so als das Haus leer zurückzulassen. Es war eine Geste der Barmherzigkeit, aber vielleicht hoffte sie auch insgeheim, mit der Übergabe der Schlüssel an eine Bedürftige wäre das Haus sicher bis zu ihrer – sofern ein solches Wunder geschehen würde – glücklichen Rückkehr. Von den im Ort zurückbleibenden Nachbarn konnte diese Geste außerdem als Ausdruck der Feindseligkeit oder zumindest des Mißtrauens verstanden werden. Eine Polin, ihre Bekannte und langjährige Nachbarin, mit der sie die Mühen und Nöte des Lebens und des Krieges geteilt hatten, legte die Schlüssel und die Obhut über ihr Haus – sicher nicht das ärmste in der Gegend – in die Hände nicht ihrer nächsten Nachbarn und Bekannten, sondern einer Fremden, einer Landstreicherin, die niemand kannte und die vermutlich ihr Leben nicht im Griff hatte. Das sagt wohl einiges über die Verhältnisse in diesem Ort. Als der Zug abfuhr, weinten die polnischen Passagiere, und mit ihnen ihre ukrainischen Nachbarn. Eine Epoche ging unwiderruflich zu Ende. Natürlich weinten nicht alle, denn viele hatten auch heimlich oder offen das Verschwinden der Polen herbeigesehnt, weil für sie damit nämlich die Epoche des offenen und verborgenen Kolonialismus und der Geringschätzung endete. Und auch manche Polen waren erleichtert – sie wollten dieses verfluchte Land womöglich für immer verlassen. Denn dieses Land, das im Laufe der Jahrhunderte von vielen Volksgruppen bewohnt wurde, aber im Grunde ukrainisch war, war von Polen gleich nach dem Ersten Weltkrieg als Resultat eines kurzen Kriegs gegen die Ukrainer besetzt worden. Seit dieser Zeit lebte ein großer Teil der Bevölkerung dieses Landes unter polnischer Besatzung, und man darf nicht vergessen, daß die Polen hier – seit Jahrhunderten – nicht bloß herrschten, sondern Besatzer waren. Und das sollte nun enden, sie wurden in die nach dem Zweiten Weltkrieg dem polnischen Staat zugesprochenen Gebiete an Oder und Ostsee ausgesiedelt. Die Gegend war unsicher, und im Dorf kam es zu Überfällen und Morden. Im Nachbardorf Scheniw, so erzählte Großmutter, ermordete jemand Tante Leonka – mutmaßlich unter dem Vorwand, er wolle sie zur Bahnstation bringen. Die Leiche fand man am nächsten Tag unter Stroh am Wegrand. Ihre Habe war geraubt worden, das Haus geplündert, die Täter hatten nach Gold und Wertgegenständen gesucht. Später hämmerten nachts »Jungen aus dem Wald« ans Fenster des Hauses von Großmutters geliebtem achtzigjährigen Großvater (diese Geschichte erzählte sie mir oft) und sagten, auf Befehl der UPA habe er bis zum Morgen Zeit, sich auf den Weg nach Polen zu machen. Mein Ururgroßvater kannte die Jungen, sie kamen aus den Nachbardörfern. Er ging zu ihnen hinaus und sagte auf Ukrainisch, sie kennten ihn doch, er sei hier geboren wie sie, sie seien ein Blut und er, Michaliszyn, sei zu alt, um woanders hinzugehen. Wenn sie wollten, sollten sie ihn an Ort und Stelle umbringen. Sie brachten ihn nicht um, aber sie schlugen ihn zusammen und ließen ihn vor der Tür liegen, dann zündeten sie das Haus an. Er starb einige Tage später. Als meine Großmutter mit ihren zwei kleinen Kindern abreiste, machte sie sich keine großen Illusionen, ob sie irgendwann an diesen Ort zurückkehren dürfe und wolle, an dem so viel Böses geschehen war. Auf diesen Boden, auf dem einst die Polen ihre ukrainischen Nachbarn unterdrückten und peinigten, auf dem die Sowjets eine Lektion ihres unmenschlichen Systems gaben, indem sie nachts Tausende Menschen zum Sterben abholten, und auf dem die Deutschen zeigten, daß man Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma und allen slawischen Untermenschen das Menschsein absprechen und sie ungestraft ermorden konnte. Auf diesen Boden, wo ein Bruder den anderen ermordet hatte und von dem so viele Nachbarn verschwunden waren – wie hätte man da in Frieden leben können?
Sie verließen ihre Häuser in einem Klima der Angst. Die Sowjets, die die Aussiedlung organisierten, waren alles andere als vertrauenswürdig. Noch drei Jahre zuvor hatten sie bei Frost Menschen in dieselben Waggons gepfercht und in den fernen Norden deportiert, in die sibirischen Lager und nach Kasachstan. Schon 1940 und 1941 waren viele Nachbarn und Familienangehörige deportiert worden, darunter Großmutters Bruder Staszek, der erst Jahre später, gegen Kriegsende, zurückkehrte. Er lief eine ungeheure Strecke zu Fuß, bis er in einem etwa zehn Kilometer entfernten Ort Unterschlupf fand. Großmutter erfuhr es, als eines Abends ihre Schwester zu Besuch kam und ohne ein Wort eine Metallschüssel auf den Tisch stellte, den einzigen Gegenstand, den der Bruder in der Nacht seiner Deportation hatte mitnehmen dürfen. Die beiden Frauen weinten vor Glück, erzählten aber niemandem davon. Der Bruder blieb in seinem Versteck, bis eines Tages wieder Deportationen angekündigt wurden, diesmal nach Westen. Tante Malwinka, die erst 1956 aus Rußland zurückkehrte, verlor dort ihren Mann und ein Kind, das zweite wurde ihr weggenommen und in ein weit entferntes Pionierlager gesteckt. Erst nach dem Krieg fanden sie sich durch einen glücklichen Zufall wieder und gingen nach Polen – nicht in die Heimat, sondern in die Westgebiete an der Oder. Andere, entferntere Cousins kehrten nie aus der Verbannung zurück. Manchen gelang die Flucht. Der Bruder meines Großvaters, Stefek, kam dank des Sikorski-Maiski-Abkommens aus dem Lager frei und schaffte es trotz extremer Entkräftung, Sowjetrußland mit der Anders-Armee zu verlassen. Das Glück blieb ihm auch auf dem Kaspischen Meer und in Persien hold, wo er schwer erkrankte. Als er im Frühjahr 1944 nach langer Rekonvaleszenz wieder auf die Beine kam, wurde das 2. Polnische Korps, in dem er als Pionier diente, nach Italien verlegt, nach Monte Cassino, wo seit vielen Monaten blutige Kämpfe zwischen den Alliierten und der Wehrmacht tobten. Eigentlich hatte das für Anders’ Soldaten wenig Sinn, in Jalta war entschieden worden, daß sie nicht in ihre Heimat würden zurückkehren können. Sie kämpften trotzdem. Und wieder hatte er Glück: Die Schlacht wurde gewonnen, Monte Cassino erobert, die Deutschen zogen sich zurück. Er kam zehn Tage später ums Leben, beim Entminen eines Gebäudes im schönen Städtchen Piedimonte. Sein Grab befindet sich auf dem polnischen Friedhof in Monte Cassino.
Als mich einmal ein kanadischer Schriftsteller bat, ihm diese Geschichte zu erzählen und zu erklären, konnte ich es nicht. Vielleicht schreibe ich sie deshalb jetzt auf, im Bewußtsein, daß sie ein Sumpf ist, in dem ich mit jedem Wort tiefer einsinke, denn kein Wort ist unschuldig in solchen Geschichten. Jedes ist ungerecht und verletzend.
Als ich meiner Großmutter erzählte, daß ich nach so vielen Jahren diese Gegend besuchen wollte, war sie erst entsetzt und riet mir ab. Sie fürchtete, mir werde dort ein Unglück geschehen. Jahrelang hatte man nicht hinfahren können, der Ort lag in der Ukrainischen Sowjetrepublik, er war Teil der UdSSR. Die Grenzen waren mit Wachposten und Stacheldraht gesichert. Die Kontakte dorthin waren abgerissen oder wurden zensiert und überwacht. In dieser Zeit wuchsen im traumatisierten Gedächtnis der Menschen Widerstand und Furcht. Man erzählte sich, oft hinter vorgehaltener Hand, Geschichten über Massaker, Verbrechen und Ungerechtigkeiten, die nie gesühnt oder dokumentiert worden waren. Mit den Jahren wuchs das Gefühl von Unrecht, Verrat und Trauer, man kultivierte es wie ein religiöses Ritual zur Feier des unschuldigen Leidens, bis es schließlich zur Phobie wurde. Auf die Nachricht, daß ich in die Ukraine fahre, reagierten die meisten Großmütter in der Nachbarschaft empört. Sie alle hatten die schlechteste Meinung von den Ukrainern, obwohl fast alle selbst ukrainische Vorfahren hatten und manche sogar ukrainische Namen trugen. Sie sangen immer noch ukrainische Lieder, aßen an Feiertagen traditionelle ukrainische Gerichte. Das waren unsere Nachbarn, sagten sie, aber nicht jedem konnte man trauen. Doch je länger wir uns unterhielten, desto offensichtlicher lebten nach und nach die guten Erinnerungen auf. Ich bin sicher, hätte es nicht die Vertreibung und die räumliche Trennung gegeben, hätten die Menschen sich wenigstens einmal mit ihren früheren Nachbarn treffen und austauschen können, dann wäre das Verhältnis ein anderes gewesen. Doch irgendwem war sehr daran gelegen, daß es dazu nicht kam. »Ich mache mir keine Illusionen, was das Haus angeht«, sagte Großmutter. »Es steht sicher nicht mehr, aber vielleicht ist die Kapelle am Weg noch da. Du findest die Stelle, nicht weit vom Bahnhof, mitten im Dorf. Da stand das Haus meiner besten Freundin, Alina, vielleicht lebt sie immer noch dort. Wir haben im Hof gespielt und die Feiertage zusammen verbracht, die katholischen bei mir und die unierten bei ihr. Wir waren wie Schwestern.«
Und so fuhr ich. (…)Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2023, S. 188-201, hier S. 188-195 - 6/2023 | Wir haben uns schuldig gemacht. Gedichte
Ruben, Peter
- 3/1992 | Der Herbst ´89 und die Perspektiven der Sozialismustheorie
Ruben, Walter
- 4/1969 | Die Bedeutung der indischen Literatur für unser Volk
Rubinstein, Annette T.
- 5/1968 | Amerikanische Negerschriftsteller heute
Rubinstein, Hilde
- 4/1981 | Meine kubanische Reise
- 5/1982 | Tellurische Nachrichten
- 4/1983 | Zettels Traum (-Deutung)
- 2/1984 | Vergoldete Karyatiden... Notizen zu Kafka
- 1/1985 | Annotationen zu Picasso
- 5/1986 | Gute Sangria Hamburger... Eine Portugal-Reise
- 4/1988 | Bilder aus unserer dritten Welt - Pfauenrad und Lumpen
Rübner, Tobias
- 3/1952 | Gedichte
Rubzow, Nikolai
- 3/1972 | Gedichte
Rücker, Günther
- 5/1970 | Siebzig Jahre. Nach den Erzählungen des Genossen Werner E.
- 6/1971 | Wie ich zur Literatur kam
- 5/1974 | Dieser Maler aus Leutzsch
- 5/1975 | Ein kostbarer und sehr edler Tag - Zu »Lektüre« von Stephan Hermlin
- 6/1975 | Im Hafersteig - Gespräch mit Gustav von Wangenheim
- 4/1981 | Aquarelle eines Bildhauers
- 6/1981 | Über einen Urgroßvater Anton Popper und die Seinen
- 3/1982 | Paul Wiens zum Gedenken
- 5/1982 | Konrad Wolf zum Gedenken
- 5/1982 | Das Mädchen
- 2/1983 | Die beiden Fräulein Schöffler
- 2/1983 | Der Tod des Père Noble
- 2/1985 | Die Trauung
- 4/1985 | Gruss an Hans Marquardt
- 2/1986 | Augenblicke
- 4/1987 | Die Liebe des Herrn Alfred Purgmayer
- 6/1987 | Otto Blomow
- 2/1989 | Prometheus 1937
- 5/1990 | Hans Bunge zum Gedenken
Rudolf, Fritz
- 6/1976 | Von der Praxis des Poetischen
Rudolph, Andre
Rudolph, Johanna
- 3/1969 | Musikalisches Arkadien
Ruge, Eugen
- 3/1979 | Bemerkungen zur Nachdichtung Jessenins
- 3/2018 | Versuch über eine aussterbende Sprache. Dresdner Rede
Ruge, Hildegund
- 2/1983 | Gespräch mit Volodia Teitelboim
Ruge, Wolfgang
- 4/1980 | Anmerkung des Historikers
Ruhe, Ernstpeter
- 1/2017 | Die Vitalität der Poésie noire. Aimé Césaires Wirkung in den deutschsprachigen Ländern, S. 64 Leseprobe
Ruhe, Ernstpeter
Die Vitalität der Poésie noire. Aimé Césaires Wirkung in den deutschsprachigen Ländern
Es brauchte erst einen Weltkrieg, damit die weltweite Wirkung Aimé Césaires beginnen konnte, und einen objektiven Zufall, wie ihn die Surrealisten so schätzten. André Breton, bei seinem Ausweichen nach New York 1941 auf Zwischenstation in Martinique, entdeckte in einem Kurzwarenladen in Fort-de-France ein lokales Zeitschriftenheft mit Gedichten, die ihn zum Dichter selbst und zu dessen »Aufzeichnungen von einer Rückkehr ins Land der Geburt« führten, dem für Breton »größten Monument der Lyrik unserer Zeit«. Die Begeisterung über einen Schwarzen, der dem in der Alten Welt darnieder liegenden Geist neue Inspiration geben und ihn ins Unerforschte führen würde, barg die Gefahr seiner Vereinnahmung im Zeichen des Surrealismus. Lange wurde verkannt, was mittlerweile unabweisbar ist. Der Einfluß war nicht nur wechselseitig, sondern auch dort besonders intensiv, wo es aus eurozentrischer Perspektive undenkbar schien: Césaire experimentierte vorübergehend mit surrealistischen Verfahren, Breton dagegen wurde nachhaltig durch die Begegnung mit der kämpferischen Lyrik Césaires geprägt und ließ fortan ein Thema in Gedichten zu. Seine »Ode an Charles Fourier« macht den Konzeptionswandel schon im Titel offensichtlich.
»Paßt Ihr Euch an mich an. Ich passe mich nicht an Euch an.« Diese Zeile aus »Aufzeichnungen von einer Rückkehr ins Land der Geburt« resümiert die selbstbewußte Haltung, die Césaire zu einem der Väter der Négritude-Bewegung und zu einer der führenden Figuren in der Dekolonisierungsdebatte werden ließ. Zur Lyrik kamen Essays und vor allem öffentliche Reden hinzu. Dem Abgeordneten aus Martinique bot die französische Nationalversammlung von 1945 bis 1993 die ideale Tribüne für sein rhetorisches Talent. Die am nachhaltigsten wirkende Rede mit dem Titel »Über den Kolonialismus« (1955, dt. 1968) wurde allerdings nie gehalten. Als kleine rote Broschüre entfaltete die mit Verve vorgetragene Abrechnung mit der europäischen Kultur, welcher der mit ihren Bildungsgütern bestens vertraute Eliteschüler unerbittlich den Spiegel vorhält, ein weltweites Echo unter den politisch Engagierten.
Der Angriff wird von innen geführt. Texte werden aufgerufen, in denen der französische Kolonisator sein Selbstverständnis formulierte, große Namen wie Joseph de Maistre, Ernest Renan, Jules Romains ebenso wie zeitgenössische Figuren. Schonungslos wird entlarvt, worauf diese Ideologie gründet und welches Schicksal sie notwendig erwartet, denn »niemand kolonisiert unschuldig, und niemand kolonisiert ungestraft«. Die Schlußerwartung der »Révolution« mit Majuskel-R und der führenden Rolle des Proletariats steht noch ganz im Banne der kommunistischen Partei, deren Abgeordneter Césaire ist, ehe er im Jahr darauf unter dem Schock der Berichte über die Verbrechen Stalins öffentlichkeitswirksam mit ihr bricht. Der Brief an den Parteivorsitzenden Maurice Thorez ("Lettre à Maurice Thorez«, 1956) perfektioniert die Taktik des Angriffs von innen. Denn unter der Oberfläche der Argumentation, mit der Césaire die Unterordnung der Problematik des Kolonialismus unter den Klassenkampf zurückweist und für die Kolonisierten das Recht einfordert, »selbst jede Doktrin zu überdenken und an uns anzupassen«, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und jede Organisation abzulehnen, die Eigeninitiative einschränkt, stellt er zugleich etwas viel Grundlegenderes in Frage. Zug um Zug wird das »Kommunistische Manifest« dekonstruiert und aus der Perspektive der Kolonisierten umgeschrieben zum »Manifest der kolonisierten Völker schwarzer Hautfarbe«. Ob der Parteivorsitzende die eigentliche Botschaft des Demissionsschreibens erkannt hat? Seine betonköpfige Antwort bietet nur stereotype Floskeln. Bis zur Aufdeckung der subtilen Gegenlektüre Césaires brauchte es noch Jahrzehnte.
Von der Ablehnung der »fraternalistischen« Behandlung durch die Vordenker der kommunistischen Partei und dem Plädoyer für das Recht der Kolonisierten, selber zu denken, führt ein gerader Weg zu den Thesen, die Césaire wenige Jahr später an einem überraschenden Ort und in einem besonderen Kontext vorträgt: in München in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Die ehrenvolle Einladung des Dichters und Politikers aus der Karibik ausgerechnet nach Deutschland könnte verwunderlich erscheinen, als ein unwahrscheinliches, seltenes Ereignis, das denn auch die französischsprachige Welt nicht einmal wahrnahm. Aber sie war intensiv vorbereitet und betraf einen Autor, der im deutschsprachigen Raum bereits sehr gut bekannt war. Zu danken war das einem Mann, für den das erste Auftreten Léopold Sedar Senghors 1951 in Frankfurt zum Schlüsselerlebnis wurde: Dem Übersetzer Janheinz Jahn (1918 –1973) wurde die neoafrikanische Dichtung zum Lebensthema. Seine weltweite Suche nach Autoren brachte erstmals zusammen, was oft genug unbekannt und über die Kolonialsprachen verteilt ohne Kontakt untereinander geblieben war. Die Anthologie »Schwarzer Orpheus« (1954) erschloß dem deutschsprachigen Publikum den Reichtum dieser Poesie. Das Buch war ein Bestseller, wurde später wesentlich erweitert und noch lange nachgedruckt. An den Anfang stellte Jahn Senghor, mit dem alles begann, in die Mitte jedoch den Autor, der für ihn zum wichtigsten Dichter schwarzer Hautfarbe werden sollte: Aimé Césaire. Bereits ein Jahr später erschien eine zweisprachige Sammlung seiner Gedichte in Jahnscher Übersetzung ("Sonnendolche – Poignards du soleil«, 1956).
Die Komplexität dieser Lyrik und die schon von Breton bewunderte Sprache, »die kein Weißer heute so zu handhaben versteht«, führten zu einem intensiven Dialog zwischen Übersetzer und Autor, zu langen Fragelisten, die geduldig beantwortet wurden, und zu einem freundschaftlichen Arbeitsbesuch bei Jahn, den Césaire an seinen Selbstdeutungen teilhaben ließ. Aus der engen persönlichen Beziehung und der Arbeit an der Lyrik ergab sich schließlich auch die Entwicklung Césaires zum Dramaturgen. Der theatererfahrene Jahn legte ihm den Plan zur bühnengerechten Umarbeitung des langen dialogischen Gedichts »Und die Hunde schwiegen« (Et les chiens se taisaient) vor, wofür der Autor neue Szenen schrieb. Die Welturaufführung in Basel im September 1960 erfolgte in einer international aufgeheizten Situation. Neben Rassenunruhen in Südafrika waren es vor allem die Ereignisse im unter Lumumba gerade unabhängig gewordenen Kongo, die dem Stück eine außerordentlich breite und kontroverse Reaktion zuteil werden ließen.
Die Akademie der Schönen Künste hatte anderes im Sinn, als sie Césaire für den November des Jahres zu sich einlud. Sie veranstaltete das erste deutsch-afrikanische Dichtertreffen. Daß sich für dieses Thema gerade München engagierte, hatte für die geladenen Intellektuellen und Künstler des schwarzen Kontinents eine besondere Bedeutung, denn hier war von Leo Frobenius nach dem Ersten Weltkrieg das »Institut für Kulturmorphologie« gegründet worden, hier hatte der Mann gewirkt, dessen Werk für viele Afrikaner als »Zeugnis der Freundschaft mit dem afrikanischen Genius« prägend wurde. Was sie aber letztlich vor allem dazu bewogen hatte, die Einladung anzunehmen, so Alioune Diop, Herausgeber der führenden Zeitschrift »Présence Africaine«, in seiner Eröffnungsrede, sei der Umstand, daß sie zu einem Dichtertreffen eingeladen wurden. Denn was sei berührender für die so lange Zeit verkannten und zum Schweigen verurteilten afrikanischen Völker, als mit Freunden zusammenzutreffen, und dies nicht nur zum Dialog, sondern um ihre Gedichte vorzutragen. Welch schöneren Empfang könne man einem Volk bereiten, als ganz konzentriert zu sein auf das, was aus der Tiefe seiner Seele komme.
Damit ist der Grundton von Césaires Rede angestimmt. Mehr als ein halbes Jahrhundert später hat sie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. In einer Welt, die durch die gewaltige Expansion der europäischen Kultur immer mehr deren Werten unterworfen werde, immer mehr zur Uniformität und zu einer Passepartout-Sprache tendiere, bekomme alles ein Einheitsgesicht, oder besser eine Einheitsmaske, in der der Mensch gefangen sei. Dies werde von Afrikanern um so bedrückender empfunden, als diese aus fremdem Material gebildete Maske sie nicht nur zu Gefangenen einer fertigen, von anderen gestalteten Welt mache, sondern sie zugleich ihrer eigenen Welt beraube. Deshalb bestehe die Reaktion der afrikanischen Schriftsteller, der Menschen schwarzer Kultur auf die mechanische Uniformierung und den oberflächlichen Universalismus eben in der Wiedergewinnung ihrer Persönlichkeit, der Wiedereroberung ihrer Freiheit und Menschlichkeit. Damit gewänne die vor lauter Intellektualismus ausgetrocknete Welt zugleich Werte wie Sensibilität und Imagination zurück.
Die Idee der Ergänzung der Kulturen scheint auf, wie sie von Césaires Freund Senghor auf die Formel gebracht wurde, das Gefühl sei afrikanisch und die Vernunft griechisch ("L’émotion est nègre, comme la raison est hellène«). Vor allem aber wird sichtbar, wie die schon Thorez entgegengehaltene Rückeroberung des Eigenen gelingen kann: durch die Magie der Kunst, durch die Poesie. Zu entdecken seien so universelle Werte, die Europa vergessen oder heruntergewirtschaftet habe. »Denn das Wort des Negerdichters ist nichts anderes als das revitalisierte menschliche Wort, neu aufgeladen mit seinem ganzen Sinn und seiner ganzen Kraft.« Das Universelle und das Partikulare, die Besinnung auf das Partikulare, das zum wahren Universellen führt – die hegelianische Wurzel dieses Denkens ist unverkennbar. Césaire hatte die Entdeckung der 1940 ins Französische übersetzten »Grundlinien der Philosophie des Rechts« von Hegel als entscheidenden Moment seiner Entwicklung erlebt, als Befreiung von der okzidentalen Assimilationsmaxime, die ihm als Schüler und Student vermittelt worden war, daß man nämlich, um universell sein zu können, sein Negersein negieren müsse.
Daß »das wahre Universelle nicht eine Abstraktion ist, sondern der Mensch selbst in seiner Wahrheit und in seiner Aufrichtigkeit«, das belegten die im Anschluß an Césaires Rede von den Autoren vorgetragenen Gedichte, zu denen Jahn jeweils seine Übersetzung las. Senghor, seit zwei Monaten erster Präsident des unabhängigen Senegal und in Dakar unabkömmlich, ließ sich durch den Dramatiker Abdou Anta Ka vertreten; das Gedicht Edouard Glissants, der ebenfalls verhindert war, deklamierte Alioune Diop. Alexis Kagame aus Ruanda, mit der Trommel das Besondere der von ihm gewählten Versform erläuternd, und Tchicaya U Tam’si aus dem Kongo lasen selbst. Césaire setzte den Schlußpunkt mit vier Gedichten, die zusammen mit den anderen Texten anschaulich machten, was die Wiederentdeckung »unserer menschlichen Vitalität« für die Poesie bedeutet. Sie ermöglichte eben jene »Kommunion, fern von aller Art von Diskriminierungen, fern von allem, was uns gestern noch trennte«, die sich Alioune Diop von dem Zusammentreffen erhofft hatte.
Die erste Begegnung deutscher und afrikanischer Poeten hatte Folgen: Senghor und Césaire wurden 1961 als korrespondierende Mitglieder in die Bayerische Akademie der Schönen Künste aufgenommen. Beide hielten ihre Inaugurationsreden über das Thema Poesie, der eine noch im gleichen Jahr, der andere, Césaire, im Oktober 1962, jeder seinem Naturell entsprechend, Senghor unter dem allgemeinen Titel »Über die Dichtung«, Césaire mit dem Vortrag »Revolution und Tradition in der neoafrikanischen Dichtung«. Von diesem Text hat sich nur das im Publikum verteilte deutsche Resümee erhalten, Senghors Rede erschien dagegen in der Publikationsreihe der Akademie. Präsident oder Abgeordneter einer Karibikinsel – wog das Politische in der Akademie-Welt der Schönen Künste doch schwerer als das Poetische?
Die deutschsprachige Rezeption verfuhr ausgewogener. Jahn war in beiden Fällen federführend, übersetzte die Lyrik Senghors und den ersten Band seiner Essays ("Tam-tam schwarz«, 1955; »Botschaft und Anruf, Sämtliche Gedichte«, 1963; »Négritude und Humanismus«, 1967), so wie er auch 1968 einer großen Auswahl aus Césaires Dichtung einen weiteren Band widmen konnte ("An Afrika«). Césaires mobiler Umgang mit seinem Werk, das er als kontinuierlichen Schaffensprozeß verstand, für Eingriffe offen (nicht immer zur Freude seines Übersetzers), regte auch Rezipienten zur Kreativität an, was der deutschsprachigen Wirkung eine weltweit einmalige Breite und Vielfalt bescherte. Für die erste Inszenierung von »Und die Hunde schwiegen« schuf der Orff-Schüler Herbert Fries eine kongeniale Komposition, die er selbst dirigierte und die von der Kritik mit dem Wortspiel »zugleich Schwarzer Orpheus und schwarzer Orff« charakterisiert wurde. Das Stück wurde zweimal zum Hörspiel umgearbeitet, die zweite Version nutzte die komplexe Musik von Fries. Auch die 1968 kurz nach der Erstaufführung gesendete Hörspielfassung des Lumumba-Stücks »Im Kongo« (Une saison au Congo) setzte stark auf musikalische Elemente. Schließlich nahm sich das Fernsehen der »Tragödie von König Christoph« an und bot dem Publikum die Aufzeichnung der französischen Originalfassung, die 1964 bei den Salzburger Festspielen ihre Uraufführung erlebt hatte. Daß diese Inszenierung so viel Aufsehen erregte, lag nicht zuletzt daran, daß sie von schwarzafrikanischen und karibischen Schauspielern getragen wurde und auf einer eigens geschaffenen Choreographie der haitianischen Voodoo-Priesterin Mathilda Beauvoir basierte, die die Tänze und Gesänge selbst anführte. Die jetzt wiedergefundene Verfilmung vermittelt einen Eindruck von der Intensität dieses besonderen Theaterereignisses, das seine Wirkung auf einer langen Tournee durch Westeuropa und in modifizierter Form bis nach Dakar und in die Karibik entfalten konnte.
Angesichts der schwer zugänglichen Lyrik Césaires kommt der Übersetzung nach wie vor besondere Bedeutung zu. Mit dem Mut des Pioniers hatte Janheinz Jahn sich auf diesem Gebiet Verdienste erworben. Nach seinem frühen Tod 1973 ergab sich in eben dem Teil des damals noch gespaltenen Landes, in dem der Partei austritt Césaire zur Unperson gemacht hatte, mit Klaus Laabs die Chance eines Neustarts. Von seinen Übersetzungen der Lyrik, die von »Zurück ins Land der Geburt« bis zur letzten Sammlung »Ich Braunalge« (Moi, laminaire …) reichten, hatte er bereits 1989, in der Endphase der DDR, eine erste Auswahl publizieren können ("Jede Insel ist Witwe«, Verlag Volk und Welt). Nach vielen Einzelpublikationen von Gedichten steht eine weit umfassendere, wiederum zweisprachige Edition kurz vor dem Erscheinen. Sie läßt hoffen, daß den deutschsprachigen Lesern eines Tages Césaires gesamte Lyrik zugänglich sein wird.
Sinn und Form 1/2017, S. 64-69
Rühmkorf, Peter
- 3/1989 | Mutterboden und Luftlinien
- 1/2005 | Tagebücher 1972
- 5/2010 | Im Pastorat am Himmelreich. Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis, S. 59 Leseprobe
Rühmkorf, Peter
Im Pastorat am Himmelreich. Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis
Als ich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts meinen 70.Geburtstag feierte, fand sich unter zahlreichen ausgesucht persönlichen Geschenken ein besonders merkwürdiges und beziehungsreiches. Es stammte von meiner Cousine Margret, die mir zum Anlaß Johann Heinrich Voß’ Idylle »Der siebzigste Geburtstag« aus einer alten Werkausgabe herauskopiert hatte und mit eigener Hand gebunden und mit teils stattlichen, teils komischen Greisenporträts versehen, und natürlich begann ich sofort darin zu lesen. Alles noch ohne Hinblick oder Bezug auf den mir hier verliehenen Preis, denn davon konnte noch niemand nichts wissen, aber wohl im erinnerungsseligen Rückblick auf gewisse Bildungstraditionen im Hause Rühmkorf, die sich nicht ganz von ungefähr mit der Stadt Otterndorf verbinden. Zwar stand hier nicht gerade mein Vaterhaus. Ein solches im eigentlichen Sinne gab es für mich nicht, aber im Pastorat am Himmelreich residierte doch immerhin mein Großvater, der Herr Supperndent, wie er im Volksmund hieß, eine patriarchalische Gestalt, die ich in Ermanglung einer greifbaren Vaterfigur bis zu meinem 9. oder 10. Lebensjahr Vati nannte.
Das erscheint mir heute noch seltsam und setzt bei Ihnen ein gewisses biografisches Vorwissen voraus, das ich freilich nicht jedem Feiertagsgast in Ihren Reihen abverlangen kann. Mein wirklicher, heißt mein leiblicher Vater war nämlich ein reisender Puppenspieler gewesen, an dem meine Mutter ein etwas aus der Art geschlagenes Gefallen gefunden hatte, immerhin ein derart konkretes, daß aus der flüchtigen Verbindung ein sogenannter natürlicher Sohn hervorging, was schon insofern nicht verschwiegen werden kann, als er heute – selbst bereits in großväterlichem Alter – vor Ihnen steht. Ich habe über meine ein wenig aus der bürgerlichen Tugendnorm weichende Herkunft schon öfter berichtet, zunächst in dem Memobuch »Die Jahre, die Ihr kennt« und gerade kürzlich noch in einem gereimten Capriccio, das folgendermaßen beginnt:
Als meiner Mutter mein Vater
zu gefallen begann,
fing bereits das Affentheater
meiner eigenen Fleischwerdung an.
Nun haben Gedichte allerdings so ihren eigenen schillernden Aussagewert – »Die Kunst ist immer ein Gemisch / aus teils authent-, teils trügerisch« –, daß ich Sie, der Verständlichkeit halber, lieber in unterrichtender Prosa mit dem Fall bekanntmachen möchte, der ja in Anbetracht der Verhältnisse auch als Sündenfall zu betrachten war, denn wo eine Pastorentochter und Religionslehrerin sich auf etwas so Zweifelhaftes wie einen (verheirateten) Poppenspeeler einläßt, ist mit häuslichen Glückwunschadressen zunächst nicht zu rechnen. In der Tat begann dann auch vor der unvermeidlichen Beichte zunächst ein etwas seltsames Vexierspiel, das nicht nur komische Züge verzeichnet. Da meine Mutter auch weiter ihr Vaterhaus besuchte, versuchte sie zunächst den Vorfall zu vertuschen, zu camouflieren, zu ummänteln, alles in der fürchterlichen Erwartung eines superintendentalen Mordsdonnerwetters mit anschließender Verstoßung aus dem Familienkreise. Bis die heilige Offenbarungsangst sie nach all den Kostümierungsversuchen schließlich auf spirituelle und insofern erbaulichere Mittel verfallen ließ, und die trage ich Ihnen nun richtig gerne vor. Als u. a. Religionslehrerin – ich sagte es schon – hatte sie sich schon seit längerem mit den Schriften Karl Barths bekanntgemacht, also insofern der allermodernsten, heißt der dialektischen Theologie, und als sie sich aus ihrer Sündennot keinen Ausweg mehr wußte, wandte sie sich in einer Anwandlung von sozusagen naturwüchsiger Dialektik an den berühmten Theologen, ihn um die Patenschaft für das Unglücksbündel zu bitten.Um es kurz zu machen, denn wir wollen hier ja nicht auf eine Betrachtung von Barths revolutionären Interpretationen des Römerbriefes hinaus, sondern auf die Voßschen Idyllen: diese schützende Patenhand vermochte es dann tatsächlich, die Schatten des libertinären Makels zu verscheuchen und meinen doch recht konservativ gesonnenen Großvater gnädig zu stimmen. Meine Großmutter Helene, eine geborene Hübbe, war ohnehin ein ständig fließender Brunnen der Mildsinnigkeit und Verzeihlichkeit, und so geschah es, daß aus dem befürchteten Familiendrama schließlich ein richtiges Idyll erwuchs, in dem mein Großvater selbst die Bezeichnung »Vati« als ein einschmeichelndes Zauberwort empfand. Immerhin war ich sein einziger Enkel und durch den unliebsamen Zufall sogar ein potentieller Fortsetzer des Geschlechtes und Bewahrer des guten Familiennamens. Zwei Söhne waren im Studentenalter im ersten Weltkrieg gefallen. Die jüngste Tochter Emmi an der Schwindsucht gestorben. Meine Tante Klara – ihr Leben lang nur Lala genannt – hatte ebenfalls mit tuberkulösen Beschwerden zu tun gehabt und sich bereits mit dem Schicksal einer ewigen Haustochter abgefunden, eine betrübliche Aussicht, die erst sehr viel später eine glückliche Wendung nahm. Praktisch also, was blieb ihm, als sich gottesfürchtig mit den Umständen abzufinden und die ihm verbliebenen ungleichen Fünfe gerade sein zu lassen.
Von Statur und Gesichtsschnitt her, ja selbst vom Haarschnitt, war mein Großvater eine in jeder Hinsicht stattliche Erscheinung, sozusagen ein schöner Mann und ein Patriarch in seinem kleinen Kreise, obwohl seine Töchter schon gelegentlich äußerten: »Wenn unser Vater doch so interessant predigen würde wie er aussieht.« Immerhin war er ein milder Regent, etwas unpraktisch vielleicht, was ihn dann auch wieder gängelbar machte und einer Familienharmonie Vorschub leistete, die einer vossischen Idylle schon ziemlich nahe kam. Nun war Johann Heinrich Voß allerdings kein unbekannter Name in meinem Großvaterhaus und seine Homerübersetzungen gehörten ebenso zum allgemeinen Bildungsbesitz wie seine genrehaften Familienutopien. »Luise Voß und Dorothee Goete / schön beide wie die Morgenröte«, das war ein geflügeltes Wort des neunzehnten Jahrhunderts gewesen, und die beiden Schwestern Klara und Elisabeth trugen es mir bereits in einem Alter zu, als ich noch gar nicht lesen konnte. Ich selbst fand die »Luise« später sterbenslangweilig und der »Siebzigste Geburtstag« schien mir eher ein unfreiwilliges Lachprodukt, eine Meinung, die ich heute nicht mehr so unbedingt teile, denn die liebevolle Ausmalung eines wohlgeordneten und überschaubaren Gesellschaftsausschnittes scheint mir doch einer wohlwollenden Betrachtung wert. Die Frage ist ja immer, was man wirklich will und was es sonst so auf der Welt gibt. Strindbergsche Ehe- und Familienkatastrophen mögen interessanter sein – auf das eigene Leben übertragen, legen sie dann doch gewisse Bedenklichkeiten nahe. Tschechows und Schnitzlers Dramen mögen uns näher liegen und uns tiefer an die Nerven gehen, von Beckett oder Hans Henny Jahnn ganz zu schweigen – aber als idealische Muster für ein glücklich absolviertes Curriculum sind sie doch kaum zu betrachten. Daß das fast schon spießerhafte, philiströse Gedanken sind, weiß ich selbst. Sie sind nichtsdestoweniger radikal und betreffen auch den Sinn von Literatur an einer besonders wunden Stelle: Soll sie nun wirklich ihre Leser, Zuschauer oder Hörer ausweglos der Verzweiflung überantworten oder ihnen nicht wenigstens einen erbaulichen Hoffnungsprospekt vor Augen malen, es muß ja nicht unbedingt eine im bloßen Restaurationsmief gefaßte Pfarrhausinnerlichkeit sein.
Den unterschiedlichsten Bewertungen sind die Voßschen Idyllen schon immer unterworfen gewesen. Einerseits sah man sehr wohl, daß neuerwachter Bürgerstolz und bürgerliches Tugendbewußtsein sich als eigene Ideale gegenüber unberechenbarer Fürstenwillkür zu behaupten suchten. Andererseits, na ja, hielten sich diese harmoniebetonten Genrebilder doch auch wieder recht selbstgenügsam im Rahmen und versuchten gar nicht erst, an den feudal verfügten Festen der Welt zu rütteln. Eine Bescheidungsideologie. Aus eingeborenem Harmoniebedürfnis und als gelernter Meliorist möchte ich allerdings meinen, daß wohl beides seine Richtigkeit hat. Vor allem aber, daß eine in wirkliche Lebenspraxis übersetzte Utopie nicht unbedingt zu verachten ist, und wer solche idealischen Zustände einmal mit eigenen Augen gesehen, mit eigenen Sinnen erlebt hat, denkt über ausgeglichene Weltverhältnisse im Kleinen nicht mehr ganz so kritisch.[...]
SINN UND FORM 5/2010, S. 623-634
- 3/2020 | »Traditionen von Gemütsinhalten«. Ein Gespräch mit Helmut Heißenbüttel (1975)
- 3/2020 | Die Widersprüche singen lassen. Aufgezeichnet von Gabriele Helen Killert, S. 59 Leseprobe
Rühmkorf, Peter
Die Widersprüche singen lassen. Aufgezeichnet von Gabriele Helen Killert
Empfangsbereit
Es ist ein eigenartiges Phänomen: Je tiefer man in sich hineinschaut, um so mehr Menschen können sich darin erkennen. Man muß es so subjektiv wie möglich halten, damit dieser Funke bei den Klienten zündet. Ich habe mich immer als Versuchsperson betrachtet, habe geschrieben, hinter mir ging sozusagen eine Gestalt, die mitschreibt. Ich habe überall Papier und Stift dabei, man kann nicht alles am Schreibtisch erledigen. Wenn man sich selbst so’n bißchen als Welt- und Zeitmitschreiber versteht, dann kommen aus dem Moment heraus wunderbare Formulierungen, kleine Quanten, so sprunghafte Wesen, auch im geselligen Gespräch.
Ich wage da gar nicht von Arbeit zu sprechen. Es geht morgens unter der Dusche schon los oder beim Rasieren, immer Blöckchen und Stift dabei, auf einmal kommt hier ein Einfall, der zieht den nächsten an, das entwickelt dann ein eigenes Magnetfeld, auf einmal beginnt es zu prasseln, ich sage: schnell raus aus der Dusche, die Sachen sofort notiert, es sind unberechenbare Kinder der Natur, solche Einfälle. Eigentlich ist mein Kopf den ganzen Tag zugange, sich irgend etwas auszudenken, ohne daß es mit Willensanstrengung verbunden ist. Wobei es manche Einfälle gibt, die schon eine gewisse Prädisposition haben, zum Beispiel wenn ich so’ne Phase habe, wo ich Gedichte schreibe, dann zieht dieser Vorgang Einfälle an, die bereits rhythmisch oder metrisch vorgekerbt oder -gewellt sind und die sich dann schon nach Vergesellschaftung im Gedicht sehnen und auch bereits diese Modulation haben. Wenn ein Gedicht im Werden ist, haben wir so eine Trägerschwingung, die ist einfach da und der passen sich die Einfälle an. Es ist auch viel Schutt dabei, der wird dann herausgesiebt.
Sehr leicht fallen einem Anfänge, auf den Schluß hin muß man etwas komponieren, aber es darf nicht »gemacht« sein, sondern ein Gedicht spitzt sich irgendwie zu, innerhalb des Gedichts sind so kleine Dramen. Mit dem Anfang ist ein Grundpunkt gesetzt, dann entwickeln sie sich weiter, weshalb das Wort Längsschnitt für mich so’ne große Rolle spielt. Ich weiß am Anfang noch nicht, wie ein Gedicht ausgeht. Meistens stellen sich Teile zu ersten Strophen ein, dann assoziiert sich eine zweite hinzu, dann viel, viel Material, das noch verteilt werden muß, und dann wartet das Gedicht am Schluß auf den erlösenden Punkt, auf sein Ausrufezeichen! Ich habe ja viele Ausrufezeichen in die Welt gesetzt. Komm raus! oder: Bleib erschütterbar und widersteh! oder: Laß leuchten! Es gibt keinen Autor, der so viele Ausrufezeichen in die Welt gesetzt hat wie ich. Zunächst hatte sich das Gedicht in seinen eigenen Fragezeichen verfangen, eins ans andere geheftet – alles ist fraglich –, bis am Schluß dann doch noch so etwas wie ein dezisionistischer Ruck durch das Gedicht geht und auf einen Leuchtpunkt zuführt.
Auflichtungsdramaturgie oder: Komik als Lastenaufhebungsprogramm
Die meisten Einfälle hat man bei Durchhängern, wenn es einem nicht so gutgeht, wenn die Fledermausschatten um einen herum bedrohlich erscheinen, diese Stimmungen ziehen viele Gedanken, Friedhofsgedanken an. Aber in mir ist eine Instanz, die will noch nicht auf den Friedhof, die will wieder raus aus der Grube, die will ans Licht, und das kann man fast in allen Gedichten nachvollziehen. Selten findet ein Gedicht seine Form im elegischen Rondo, auch das gibt es, daß es nicht aus sich herauskommt und in einem gewissen melancholischen Zirkel sich schließt. Was auch eine gewisse Art von Bewältigung ist, insofern als Kummer, Leid, Zorn doch irgendwie zum Lied finden. Aber: Ich habe immer gern positive Schlüsse konstruiert, weil ich nicht nur für den Schreibtisch und das aufgeschlossene Buch schreibe, sondern mein Leben lang öffentlich aufgetreten bin. Und wenn Gedichte am Schluß nur die schwarze Wand zeigen, gegen die der blutige Kopf rennt – glauben Sie, daß Sie einen Klatscher damit erzeugen? Nichts. Das Publikum schweigt betroffen, weiß nicht, was es machen soll. Soll es mit dem Autor in die Grube hineinstarren und das auch noch beklatschen? Das geht doch gar nicht.
Ich fühle mich bei Gedichten eigentlich immer im Zwiegespräch mit Lesern. Ich bin ein kämpferischer Agnostiker, und damit ist die Schwierigkeit größer, den Menschen am Schluß einen Leuchtpunkt mitzugeben – größer als früher, wo es hieß, Herr, laß uns ruhig schlafen und unseren lieben Nachbarn auch. In dieser Heilsgewißheit kann ich mich nicht wiederfinden. Ich sehe das Trostmodell, aber für mich ist es eher ästhetischer Natur. Das Gedicht möchte auch in seinen kummervollen Momenten nicht bei sich bleiben, sondern sich besprechen. Es sucht Leidensgenossen, die an den gleichen Widersprüchen leiden wie ich, der Kopf wird ja immer vom Widerspruch zerrissen.
Einer Gesellschaft, von der man meint, daß sie falsche Wege geht, möchte man wenigstens einen kleinen Club, eine Gemeinschaft der Gleichgläubigen entgegensetzen. Das war in der Romantik so, in der Klopstockzeit, daß man sich besucht und ausgetauscht hat. Man sucht die Seinen, möchte sie um sich sammeln. Gedichte sind gewissermaßen Magneten oder Angelhaken, man sagt: Kommt, hier ist einer von euch, der singt sein Lied, ist es auch das eure? Und manchmal merkt man, daß es höhere Volkslieder sind.
Komik ist im Grunde ein Lastenaufhebungsprogramm. Soll ich den Schmerz auch noch als Schmerz darstellen, soll ich losschreien, blutige Male vorweisen – oder soll ich mich über den Ernst der Lage lustig machen? Es ist eine uralte Bewältigungsform, das, was einen niederzieht, durch den Witz wieder in die Höhe zu kriegen. Kann man Komik nennen, Humor, Satire, Scherz und tiefere Bedeutung.
Es ist ein literarisches Programm, das über die Literatur hinausgeht und sagen möchte, die Lasten sind erträglich, Freunde, über diesen Schmerz kann man sich lustig machen. Da bist du mal abgerutscht, das ist einen Witz wert. Dazu gehört vielleicht die Hochseilmetapher. Man nennt mich einen Artisten, ich hab’ diesen Ausdruck ja oft genug im Bild zu fassen versucht, als Seiltänzer oder Bühnenmatador, auch als Narr, als Kasperl. Mein Vater war ja reisender Puppenspieler und meine Mutter war Lehrerin, Pastorentöchterlein. Wie das so ist, entspann sich ein Liebesverhältnis, und letzten Endes ging ich daraus hervor.
Seelenverwandte Vorgänger
Die Komik ist eine eigene Spezies, und ich hab’ mir da meine Verwandtschaften gesucht. Klopstock war kein komischer Autor, auch Whitman, den ich sehr verehre, war kein komischer Autor. Bei Majakowski sind wir schon auf der Grenze, wenn er sagt, jetzt will ich meine Wirbelsäule als Flöte benutzen. Selbst Kafka ist ja ein komischer Autor, ein tiefer Humorist.
Heine gehört in diesen Kreis. Ich habe ihn vergleichsweise spät entdeckt, nach dem Expressionismus. Und dann Benn: »Ich erlebe vor allem Flaschen und abends etwas Funk, / es sind die lauen, die laschen / Stunden der Dämmerung.« Das ist von einer diabolischen Komik, gerade in unseren Geselligkeitskreisen zitieren wir diese angeschnittenen Sachen von Benn besonders gern.
Neben Benn und Brecht – sie sind ja fast Antipoden, der Sänger des Ich und der Sänger der Gemeinschaft – gibt es noch ganz andere Geister. Auch Ringelnatz habe ich schon als Student gelesen, aber seine wirkliche Tiefe habe ich erst später entdeckt. Als ich über ihn schreiben mußte, dachte ich: Kinder, Kinder, das ist doch wahnsinnig tief und es ist auch nicht nur humoristisch. »Kuddeldaddeldu«, die »Ansprache eines Fremden an eine Geschminkte vor dem Wilberforcemonument «: süß, ein herrlicher Ton, ein Aufhebungston. Gerade seine letzten Gedichte sind doch sehr eingedunkelt, aber trotzdem, wenn es dann heißt: »Der Tod geht stolz spazieren, / Doch Sterben ist nur Zeitverlust. / Dir hängt ein Herz in deiner Brust, / Das darfst du nie verlieren« – das geht mir selbst so tief zu Herzen, das hat so was Positives, da wird bei mir eine innere Glocke angeschlagen.
SINN UND FORM 3/2020, S. 361-368, hier S. 361-363
- 3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow, S. 59 Leseprobe
Rühmkorf, Peter
Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die unterschiedlichsten Charakteristiken in Gebrauch sind – vom letzten Minnesänger, finalen Hochseilartisten und alterslosen Springinsfeld bis zum rüden Schöngeist, rotzigen Romantiker und preziösen Gorilla. Mal galten seine Publikationen als sachlich-kritisch, witzig-frech und pfiffiggriffig, mal als zierlich-zynisch, sackgrob-kraß und unbändig-wütend.
Wußte der Mann mit den vielen Gesichtern überhaupt, wer er war? Daß er sich Decknamen wie Lyng, Lyngi, Lynkeus, Leslie Meyer, Wang Lun, Leo Doletzki, Johannes Fontara, John Frieder, Harry Flieder, Hans Hingst, Peter Torbog und Hans-Werner Weber zulegte, läßt sein diffuses Bild vollends verschwimmen. Die Verwirrung um seine Person erreichte ihren vorläufigen Höhepunkt, als er 1996 intime Tagebuch-Aufzeichnungen aus den Wendejahren 1989 und 1990 unter dem Titel »TABU I« veröffentlichte, die ihn als von seiner alleinerziehenden Mutter gegängelten, von Krankheiten zermürbten, vom Alter gebeugten und von Kritikern links liegengelassenen Schmerzensmann auswiesen. »Man mag sie nicht, diese deutsche Dichterkrankheit«, schrieb Mathias Greffrath im Spiegel über das Klagelied eines leidgeprüften Poète maudit, »aber in Rühmkorfs Selbstbeobachtung wird sie als die unvermeidliche Schlacke erkennbar, die als Rückstand im poetischen Verbrennungsprozeß anfällt: In ihm schmelzt er mit ›eiserner‹ Disziplin aus den Nöten der Magersucht die Eleganz des freien Fluges, mit dem er der lustfeindlichen, prügelnden Mutter entkommt. So steigt die provozierende Sinnlichkeit aus den tiefen Verliesen des verhemmten Selbst, so wächst die Lyrik vom aufrechten Gang aus der Unfähigkeit, sich vertrauensvoll fallen zu lassen.« Wird man dem »lyrischen Ich- Darsteller« mit Festlegungen dieser Art gerecht? Lassen sich seine schmissigen »Volksund Monomanenlieder« allein aus der prekären Seelenlage ihres Verfassers erklären? Bei einer Lesung in Düsseldorf hatte ich Rühmkorf 1988 von einer ganz anderen Seite erlebt. Statt eines Nervenbündels intonierte da ein versierter Vortragskünstler in betörendem Singsang sein ortsbezogenes »Heinrich-Heine-Gedenklied«. Wer wollte, konnte in dem klimpernden Auftakt »Ting-tang-Tellerlein« sogar ein verwehtes Echo der Rolling Stones heraushören: »I met a gin-soaked bar-room queen in Memphis / She tried to take me upstairs for a ride« – was den fahrenden Sänger freilich nicht daran hinderte, sich nach der Veranstaltung von älteren Damen im Publikum wie ein Kavalier der alten Schule zu verabschieden: »Schön, daß Sie da waren!«
Auf dem Weg zu Hans Henny Jahnns reetgedecktem Domizil im Hamburger Hirschpark sah ich Rühmkorf ein paar Jahre später auf einem Balkon unweit des Altonaer Fischmarkts wieder. Auch diese winddurchwehte Begegnung wollte nicht recht zu dem Unglücksraben aus »TABU 1« passen. Sie erinnerte eher an einen wärmebedürftigen Passagier auf dem Sonnendeck eines Ocean Liners. Hätte ich bei der Gelegenheit wie ein aufdringlicher Verehrer bei ihm klingeln sollen? Lieber nicht! Immerhin wußte ich jetzt, was es mit der Adresse Övelgönne 50 auf sich hatte: ein kleines Reihenhaus an der Elbe, ein schmutziger Strand, träge schwappende Wellen und statt Tropical Islands die rostigen Containerschiffe einer vielbefahrenen Handelsroute.
Richard Anders, Rühmkorfs kauziger Jugendfreund, der schon an seiner Zeitschrift »Zwischen den Kriegen« mitgewirkt hatte, machte mich schließlich mit »Rühmi« persönlich bekannt. Er lud mich 1992 zu einem privaten Treffen in der Berliner Hinterhofkneipe Café Clara ein. Als der dürre Dichter im schlotternden Trenchcoat mit einem Troß junger Männer verspätet eintraf, hatte er bereits einen in der Krone. Daß »Bier und Korn auf Kosten des Hauses« noch nicht für ihn auf dem Tisch standen, fand er empörend: »Wo sind wir denn hier?« Nach der ersten Runde ergriff er entschlossen das Wort und ließ es sich im Verlauf des Abends nicht mehr nehmen. Seinem brillanten Redefluß konnten auch weitere Gläser nichts anhaben; vielmehr befeuerten sie ihn zu immer gläserneren Sentenzen und giftigeren Sottisen, bis dem Akrobaten in der Zirkuskuppel kaum noch jemand folgen konnte. Natürlich drehte sich der Diskurs unweit des Reichstags um den gerade stattfindenden »Ausverkauf der DDR«. Gegen das bigotte »Restauratorium« der Ära Adenauer hatte Rühmkorf schließlich mit einem Ingrimm agitiert wie sonst vielleicht nur noch Arno Schmidt. Wie konnte er nach dieser Kampferfahrung goutieren, daß der »Kanzler der Einheit« gerade gesamtdeutsch hinbekam, was der »Kanzler der Alliierten« westdeutsch auf den Weg gebracht hatte? »Widersteht! Im Siegen Ungeübte / zwischen Scylla hier und dort Charybde / Schwankt der Wechselkurs der Odyssee. / Finsternis kommt reichlich nachgeflossen; / aber du mit – such sie dir! – Genossen …« So in etwa lautete der vaterländische Gesang des alkoholisch entfesselten Luftgeists im Café Clara.
Über das Verhältnis von Dichtkunst und Drogengenuß hat sich Rühmkorf einschlägig geäußert. Mit Gottfried Benn war er der Ansicht: »Potente Gehirne stärken sich nicht durch Milch«. Ob ihm neben hochprozentigen auch eher immaterielle, um nicht zu sagen: überirdische Impulsgeber zu Diensten waren, ist schwer zu sagen: »Keine Posaune zurhand, keine Verkündigungen, / der Himmel abgespeckt, / wenn der Abend mit siebenfarbener Zunge am Fenster leckt«, ist in einem Gedichtband Rühmkorfs mit dem auf die Gravitationskonstante bezogenen Titel »Irdisches Vergnügen in g« zu lesen. Die dritte Strophe des Gedichts »Himmel abgespeckt« dagegen wildert im ungewissen: »Träume ausgeklinkt – gutso – die gondeln im Blauen, / in den schwimmenden Äther getupft; / mein gepökeltes Herz, mein eingesalznes Vertrauen, / das die Stellung hält und die Schlagader zupft.«
Jede Nacht streifen wir auf diese Weise die Erdenschwere ab. Vier- bis fünfmal ist in unseren Köpfen für jeweils zwanzig Minuten Kino. Doch was da über die innere Leinwand flimmert, folgt keinem Drehbuch. Erst nachträglich und unter Mitwirkung des Verstands werden Geschichten daraus. Läßt sich der »Stoff, aus dem die Träume sind«, überhaupt im Medium der Sprache erfassen? Schließlich besteht er hauptsächlich aus Bildern, und Bilder haben ihre eigene Logik. Dennoch wird seit Menschengedenken die Lehrmeinung vertreten, Träume hätten eine Bedeutung. »Aber die Träume, natürlich, sie sind ja nicht, sie bedeuten nur«, lesen wir auch in Peter Rühmkorfs »TABU I« im Anschluß an einen eigenen Traum, in dem ein Fisch zerlegt und gekocht wird, der vielleicht gar kein Fisch ist, sondern eine Seejungfrau. Mit Vater Freud im Bunde fällt dem deutungsseligen Träumer beim Aufwachen gleich der mädchenhafte Leib seiner Mutter ein, die gerade gestorben ist.
Luigi Malerba hält von Mutterschlachtungen dieser Art wenig. Zwar sind Träume auch für den italienischen Romancier kein bloßer Aberwitz, sonst würde er ihnen in seinem »Tagebuch eines Träumers« nicht so viel Aufmerksamkeit schenken; aber in seinen Augen handelt es sich dabei um kreative Ausbrüche, die auf der »Entregelung der Sinne« beruhen. Selbst die nüchternsten Köpfe können auf diese Weise ihr blaues Wunder erleben. Pedanten werden zu Phantasten, Verklemmte zu Draufgängern, Stubenhocker zu Weltreisenden. Und solche Erfindungen sollten allesamt auf die Muster des kollektiven Gedächtnisses zurückgehen? Malerba weiß es besser: »Wir können ganz friedlich behaupten, daß eine im Traum auftauchende Zypresse eine Zypresse ist und kein phallisches Symbol.« Also hinsehen statt analysieren! Aufschreiben statt zerpflükken! Den Traum als Kunstwerk betrachten! »Der Dichter arbeitet«, schrieb schon der symbolistische Dichter Saint-Pol-Roux auf seine Schlafzimmertür. Und Franz Kafka überschritt durch systematischen Schlafentzug die Grenze des Erfahrbaren noch radikaler. Sein Schrei ben war zugleich ein Träumen und dürfte seine unvergleichliche Wirkung wohl vor allem dieser schlafwandlerischen Eigenschaft verdanken.
Freud oder Malerba? Da ich gerade an einem Radiofeature mit dem Titel »Traumdenken. Über die Nachtseite des Verstandes« bastelte, hätte ich Rühmkorf gern vor diese Alternative gestellt. Am 3. Januar 1996 bat ich ihn daher brieflich um ein Interview. In einer ersten Antwort vom 23. Januar ging er zwar umständehalber nicht auf meinen Wunsch ein, kam aber schon eine Woche später überraschend bereitwillig auf mein Thema zurück, indem er mir ein eigenes Traumbeispiel nebst Kommentar übersandte. Zuschriften muß er, wie aus seiner inzwischen vom Deutschen Literaturarchiv in Marbach archivierten Korrespondenz hervorgeht, in unvorstellbarer Menge erhalten haben. Er hat sie offenkundig nicht nur allesamt aufbewahrt, sondern in den meisten Fällen wohl auch beantwortet. Diese überbordende Mitteilsamkeit ist bei Schriftstellern durchaus nicht die Regel, wie jeder Schreiber von Leserbriefen weiß. Da es allein schon wegen des schieren Umfangs des Rühmkorfschen Briefwechsels unwahrscheinlich sein dürfte, daß er jemals vollständig veröffentlicht wird, soll hier stichprobenhaft aufgezeigt werden, was den leicht entzündlichen Briefeschreiber zu seinen flüchtig getippten und sorgfältig korrigierten Antworten gebracht haben könnte.
Der spontan aufblühende Briefwechsel ließ nach meinem Gefühl auf ein tiefes Bedürfnis nach Zuspruch und Geselligkeit schließen. Da feilte offenbar einer in seiner Dachstube an poetischer Flaschenpost, die nur selten aufgefischt und noch seltener gewürdigt wurde. Unter diesem einsamen Geschäft muß Rühmkorf maßlos gelitten haben. Nie war er mit dem zufrieden, was er in fleißiger Heimarbeit zustande brachte. Ein Projekt mit dem Arbeitstitel »Zeitroman« blieb auf der Strecke. Nur zwei Bände (»TABU I«, 1995, und »TABU II«, 2004) geben auszugsweise Einblick in die »Memos«, in denen der besessene Diarist seinen Alltag bis in die trivialsten Einzelheiten festhielt. In der Gruppe 47 ist er nach Mäkeleien an seinen Gedichten 1961 nie wieder aufgetreten. Bei Lesungen in anheimelnden Buchhandlungen war das anders. Da sah er in freundlich zustimmende Gesichter. Vor großem Publikum und mit Jazzbegleitung auf dem Hamburger Rathausmarkt war er erst recht in seinem Element und konnte aufgekratzt wirken wie ein Klabautermann. Aufbauende Empfindungen lösten wohl auch Briefe aus, die ihn aus seiner »Eber-Einzelbucht« herausholten und die Friedhofsasseln aus seiner Brust vertrieben.
Am Schreibtisch aber mußten Bildungsballast und Sprachschutt erst in langwierigen Probeläufen abgeschüttelt werden, ehe er zum freien Flug ansetzen konnte. Seltsamerweise fiel ihm dies bei seinem »Kerngeschäft«, dem Gedichteschreiben, am allerschwersten. Daß es monomanisch um sein eigenes Ich kreiste, hat nur entfernt mit Egozentrik zu tun. Als eine Art Lilienthal der Poesie nahm er dort sprachliche Anläufe, die ihm wenigstens auf dem Papier die Schwerkraft von den Schultern nehmen sollten, was ihm mit zunehmendem Alter immer mehr Mühe bereitete. Sage und schreibe 730 Seiten brauchte der »schuftende Artist« für den Aufgalopp zu seinem Gedicht »Selbst III / 88. Aus der Fassung «, und es ist nicht einmal sicher, ob sich die Mühe in diesem Fall gelohnt hat. Im kleinen Format aber gelangen ihm seine Flugversuche immer wieder: »Figur in Gras und Garben, / ein Herz, das wie Zunder verglimmt, / wenn der Abend flamingofarben / über die Grenze schwimmt« oder »All mein Glück wie nie gewesen, / aller Scherz wie nicht von hier, und da möchtest du es schon mal lesen, / daß es jemandem so ging wie dir« oder »Die Rosen gerade noch eben, / schon ziemlich viel Rost mit im Rot – / Das eine ziert sich zu leben, / das andere sinnt sich zu Tod.« Vielleicht, sagte ich mir, sind ja auch diesem Entfesselungskünstler seine Gedichte bisweilen im Traum erschienen. In unserem fragmentarischen Briefwechsel (einige meiner Briefe gingen bei einem Zimmerbrand verloren) gibt er sich in dieser Frage merkwürdig bedeckt. Lieber kehrt er den orthodoxen Freudianer heraus, der er nicht war, als sich am Schreibtisch in die Karten blicken zu lassen. Hatte er sich in seiner Jugend nicht überdies einer langwierigen Psychoanalyse unterzogen und anschließend sogar Psychologie studiert? Den Traum poetisch zu verwerten oder auch nur poetologisch in Betracht zu ziehen, muß Rühmkorf jedenfalls schwergefallen sein. Mehrere Versuche, ihm dennoch das eine oder andere Schreibgeheimnis zu entlocken, schlugen mithin fehl. In meinem Radiotext, auf den er am 1. Juli 1996 Bezug nimmt, kam auch sein Jugendfreund Reimar Lenz mit einem Traumbeispiel zu Wort. Lenz war bis in die sechziger Jahre Mitherausgeber der Zeitschriften »Lyrische Blätter« und »alternative« gewesen, in denen neben Celan, Enzensberger und vielen anderen auch Rühmkorf mit eigenen Gedichten vertreten war. Sein Gedicht »Anode« etwa, eine furiose Abrechnung mit dem Wirtschaftswunder, war 1962 erstmals in der »alternative« zu lesen (»Auf der Höhe des Friedens, aus der Fülle des Fetts, / in den gähnenden Sechzigern dies hier bekundet: / zu singen wenig, aber zu handeln genug – / nun schick deinen Traum in die Mauser«). 1957 reiste er mit Lenz, dem zwei Jahre jüngeren Dichterkollegen, zu den Weltjugendfestspielen in Moskau. Doch in unserem Briefwechsel kommt er erst auf ihn zurück, als ihm die Kopie eines verschollenen Jugendfotos aus seinen Sturm-und-Drang-Jahren ins Haus flatterte. Lenz hatte es aus den Tagen ihrer lyrischen Waffenbruderschaft aufbewahrt und an mich weitergereicht. Nicht einmal mit dem hochverehrten Arno Schmidt ließ Rühmkorf sich ködern. Nur zu gern hätte ich die von ihm zitierte lingualogische Komödie Alfred Maurys mit ihm diskutiert, »wo Jener einmal im Traume auf einer Landstraße spazierte und die Kilometersteine ablas. Dann in einen Kaufladen trat, dessen Inhaber zwar mit Kilogrammgewichten hantierte; dem Träumer aber mitteilte, er sei jetzt nicht in ›gay Paree‹, sondern auf der Molukkeninsel Dschilolo; worauf M. sich bedankte und durch Lobelienbüsche davonschritt, zwischen denen General Lopez auf ihn zukam und zu einer Partie Lotto einlud.« Dem Autor von »Zettel’s Traum« diente diese »scheinbar läppische Bilderfolge« zur Untermalung seiner »Etym-Theorie«, wonach Träumer aus »Zünd-Worten« die buntesten Geschichten konstruieren.
Doch Spekulationen dieser Art waren Rühmkorfs Sache nicht. Berichten über Traumdiktate bei Schriftstellern traute der »Klarsicht-Witzbold« nicht über den Weg. Daß die Neurobiologie über Freuds »Traumdeutung« längst hinaus ist und den Traum inzwischen als kreatives Spiel mit alternativen Möglichkeiten interpretiert, nahm er nicht zur Kenntnis. Dabei waren ihre Einsichten über die nächtliche Gedankenarbeit vermutlich auch für sein eigenes Schaffen von Belang. Der spielerische Umgang mit »Tagesresten« entsprach auch seiner poetischen Praxis. Im Traum würden »neue Muster« gewebt, befand schon August Strindberg. Er sei eine kunstvolle Mischung aus Erinnerung und Erfindung, aus Unwahrscheinlichkeit und Improvisation. Für den »Anti-Ikarus« Rühmkorf dagegen war und blieb der Traum, was schon Freud in seiner »Traumdeutung« aus ihm herausgelesen hatte.
Daß unser Briefwechsel bald versandete und im November 1997 schließlich ganz abbrach, lag jedoch nicht primär an inhaltlichen Differenzen, sondern an der immer prekärer werdenden Gesundheit des Adressaten. Zwar hatte ich am Rande von Lesungen und Vorträgen noch mehrfach die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, aber mehr als ein paar freundliche Worte kamen bei diesen Begegnungen nicht heraus. Dennoch war es ihm zum Abschied offenbar noch wichtig, mich auf der richtigen Seite der Barrikade zu wissen. Als der rebellische Geist in Deutschland verebbte, besann der »rote Rühmkorf« sich antizyklisch seiner west-östlichen Lehrjahre und fing wieder an, Marx zu lesen. Seinem letzten Schrei ben vom 23. November 1997 fügte er zur politischen Unterweisung das handschriftliche Gedicht »Bleib erschütterbar und widersteh« bei. Ein paar Jahre später, bei unserer letzten Begegnung auf den Fluren der Akademie der Künste am Hanseatenweg, kam er mir bereits so hinfällig vor, daß ich nicht mehr wagte, ihn anzusprechen.Kurt Darsow
SINN UND FORM 3/2022, S. 372-390, hier S. 372-376
Rukaj, Sara
- 1/2024 | Man darf auch bei Winzigkeiten nicht dumm sein. Über Markus Werner
Rülicke-Weiler, Käthe
- 1/1988 | Die Lukullus-Diskussion 1951
Rülicke, Käthe
- 4/1955 | Junge Autoren über Theaterprobleme. Brecht und Obraszow. Eine Gegenüberstellung
- 1-2-3/1957 | Leben des Galilei. Bemerkungen zur Schlußszene
- 1-2-3/1957 | Dreizehn Bühnentechniker erzählen
- 4/1958 | Brecht-Inszenierungen als Filmdokumentation
- 3/1959 | Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Notizen zum Bau der Fabel
- 1/1988 | Die Lukullus-Diskussion 1951
Rundell, Katherine
Runge, Erika
- 1/1981 | Ein Schulaufsatz
Russell, Bertrand
- 1/1967 | An das amerikanische Volk!
Rustaweli, Schota
- 6/1970 | Der Mann im Pantherfell
Ruzicka, Rudolf
- 4/1979 | Meinungen zu Claus Träger, »Revolution und Literatur bei Marx«
Rychlo, Petro
- 6/2020 | »Jede Silbe wiegt schwer«. Ein Gespräch mit Renate Nimtz-Köster über das Übersetzen von Paul Celan
Ryklin, Michail
- 5/2009 | Das Bewußtsein als Raum der Freiheit. Merab Mamardaschwili als philosophischer Lehrer