Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
Für die Suche nach Co-Autoren, Verfassern von Vorbemerkungen und Gesprächspartnern nutzen Sie bitte die Stichwortsuche (Suchfeld im Menü rechts oben).
T., Germain
- 2/1981 | Chan
- 4/1981 | Auf des Messers Schneide. Aus einer unkorrigierten Tonbandaufnahme mit Lyta Meilusch vom Jahre 1949
Tabidse, Galaktion
- 6/1970 | Die Stadt unter dem Wasser
Tabucchi, Antonio
- 5/2013 | Meine Straßenbahnfahrt durch das 20. Jahrhundert
Tagore, Rabindranath
- 2/1961 | Dichtungen
Tailleur, Jean
- 6/1976 | Pariser Gespräch mit Claude Prévost, Jean Guégan, Jaqueline Verger, Gilbert Badia, Claude Seibisch, André Gisselbrecht, Michèle Tailleur und Jean-Paul Barbe über die Prosa der DDR
Tailleur, Michèle
- 6/1976 | Pariser Gespräch mit Claude Prévost, Jean Tailleur, Jean Guégan, Jaqueline Verger, André Gisselbrecht, Gilbert Badia, Claude Seibisch und Jean-Paul Barbe über die Prosa der DDR
Taimur, Mahmud
- 2/1967 | Linie 2
Takács, Zsuzsa
- 4/2021 | Die Fremde. Gedichte
Talamea, Jorge
- 2/1956 | Aus: Der große Burundún-Burundá ist tot
Taleff, Dimiter
- 6/1957 | Hochzeit
Tammen, Johann P.
- 5/2022 | Kanalwiesengras. Gedichte
Tanase, Stelian
- 6/2010 | Cioran im Visier der Securitate
Taner, Haldur
- 3/1971 | Gespräch mit Max Walter Schulz
Tardy-Marcus, Julia
Tarlé, Eugen W.
- 5-6/1959 | Einzug in Paris
Tarostschin, S.
- 4/1985 | Gespräch mit Valentin Katajew
Tatár, Sándor
- 1/2008 | Gedichte
- 2/2020 | Horizont des Ebenbildes. Gedichte
- 3/2023 | Gottes rätselhaftes Schweigen. Gedichte
Täubert, Klaus
- 3/2010 | Zwillingsbrüder. Herbert Schlüter und Klaus Mann, S. 359 Leseprobe
Täubert, Klaus
Zwillingsbrüder. Herbert Schlüter und Klaus Mann
Die Briefpartner lernten sich im März 1926 kennen: Klaus Mann war der Einladung zu einer Matinee seines Theaterstücks »Anja und Esther« im Berliner Lessing-Theater gefolgt und traf dort den gleichaltrigen Herbert Schlüter, der ihm, dem Autor und Darsteller eigener Befindlichkeiten – Herbert Ihering nannte sein Stück einen »szenischen Marlittroman der Homosexualität« –, bereits mit »Gedichten von den ersten Menschen« aufgefallen war. Der kurzen Begegnung nach der Aufführung, einem Sich-"Erkennen«, folgte die Einladung zu einem privaten Treffen.
An einem Märznachmittag bald danach begab sich Schlüter vom Prenzlauer Berg in die Charlottenburger Uhlandstraße. Seine ersten Prosaversuche erfuhren dort eine »geschwinde literarische Ortung« durch Klaus Mann, der in ihm eine Art Zwilling erkannt haben mochte. Das lag am Spielerischen und Preziösen einer Prosa, die von Proust und Herman Bang herkam, von Baudelaire wußte, und deren lyrische Pendants bei Rilke, dem frühen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal zu finden waren, bei allem, »was zart war, fein, klug und ein wenig ohne Substanz«. Beide empfanden das Analoge ihrer Lebensläufe: Der Fabrikantensohn Schlüter verlor 1914 den Vater und sah das in Kriegsanleihen angelegte Vermögen dahinschwinden. Auch Klaus’ Vater, der »Großschreiber« Thomas Mann, hatte den Erlös der Tölzer Villa in Kriegsanleihen angelegt und verloren. Beiden fehlte der Schulabschluß, und natürlich hatten sie noch nicht viel von der Welt gesehen. Mann schrieb Aufsätze für Siegfried Jacobsohns Weltbühne, Schlüter veröffentlichte nach seiner Banklehre erste Gedichte in der Zeitschrift Romantik.
Klaus Mann, der 1925 mit dem Novellenband »Vor dem Leben« debütierte, war eine polarisierende Figur und erfreute sich, so Schlüter, einer »gewissen, leicht skandalösen Berühmtheit«. Schlüter merkte ironisch an, daß man es »etwas taktlos« fand, »in so jungen Jahren ein Talent zu zeigen, das befremdliche Züge formaler Virtuosität trug«. Zum Freundeskreis Manns, in den er aufgenommen wurde, gehörten W. E. Süskind und »Ricki« Hallgarten, die Kinder des Dirigenten Bruno Walter, Gretel und Lotte, Frank Wedekinds Tochter Pamela, das »Schweizerkind« Annemarie Schwarzenbach und die exzentrische »Mopsa« Sternheim.
Klaus Mann ermutigte ihn, und er protegierte ihn wohl auch. Daß sein Novellenband »Das späte Fest« 1927 bei S. Fischer erscheinen konnte, scheint ohne das Zutun Thomas und Klaus Manns kaum denkbar. Aufsätze im 8-Uhr-Abendblatt, in der Berliner und der Vossischen Zeitung belegen seine tatkräftige Unterstützung. Mit einem knapp bemessenen Vorschuß konnte Schlüter für drei Monate nach Paris reisen und erlag dem Zauber der Seine-Metropole, statt, wie der ehrwürdige Samuel Fischer ihm aufgetragen hatte, seinerseits die Stadt zu verzaubern. Berauscht von den Bals-Musette in der Rue de Lappe, den nicht endenwollenden Dancings und Diskussionen, saß er im »Jockey«, »lang, schmal, gesammelt und verschlossen«, und ließ sich in Gesellschaft von Ernst Bloch und Fränze Herzfeld von dem »merkwürdigen Buch« erzählen, das hier die Runde machte, »Der schwierige Tod« von René Crevel. Am Monatsende mußte er, oft ohne einen Sou in der Tasche, seine Armbanduhr beim Crédit Municipal hinterlegen. Rückblickend gestand er, daß er damals »für das Leben schlecht gerüstet« war.
Bei der Vorstellung einer »Anthologie jüngster Lyrik« (1927) in Herwarth Waldens Kunstsalon Der Sturm in der Potsdamer Straße begegneten sich Schlüter und Mann erneut. Das Buch, von Willi Fehse und Klaus Mann herausgegeben, enthält Arbeiten von neunzehn Autoren, darunter Schlüter, ein Geleitwort von Stefan Zweig und ein Nachwort von Klaus Mann. Der machte Schlüter mit Wolfgang Hellmert bekannt. Der als Adolf Kohn geborene Mime spielte eine zentrale Rolle in beider Leben. Er gehörte zunächst zum Ensemble der Max-Reinhardt-Bühnen und trat in den Berliner Kammerspielen mit Erika Mann auf. Klaus bewunderte den »gelernten« Bühnendarsteller und verteidigte auch nach Hellmerts frühem Tod seine eklektischen Gedichte. Beide konnten aus »profaner Genußsucht« nicht von bestimmten Pharmaka lassen und gingen in deren künstlichen Paradiesen zugrunde. Begonnen hatte das in der Berliner Kantstraße, oben in Mopsa Sternheims Apartment, wo die Besucher mit Kosten und Probieren »verführt« wurden. Schlüter, der bewußtseinserweiternde Mittel mied, nahm Hellmerts Medikamentenabhängigkeit später zum Anlaß, die Freundschaft zu beenden. Doch als sein Buch Ende 1927 herauskam, war es diesem gewidmet. Ihre erotische Beziehung erreichte im Frühsommer ihren Höhepunkt, bei einem von Klaus Mann eingefädelten Besuch im Münchner Heim seines Vaters. Hellmerts Klaus Mann gewidmete Novelle »Fall Vehme Holzdorf« war gerade erschienen, für Schlüters Erstling warb der Verlag damit, es sei das Buch eines der »heute etwa Zwanzigjährigen, dessen geistiges Werden ganz der Nachkriegszeit angehört. Was vor dem Kriege lag, entzieht sich ihrer Erfahrung, und darum gehen sie, trotz ihres manchmal erstaunlich früh entfalteten Talentes, mit zögernderer Hoffnung in die Zukunft als die Älteren«. Die drei Erzählungen wurden von zwei dem »Kreis« zugehörigen Rezensenten negativ rezensiert, von Erich Ebermayer ("Schlüter steht am Anfang seines Schaffens da, wo ein Marcel Proust am Ende«) und W. E. Süskind, der eine »unleugbare Kunst an stoffliche Nichtigkeiten verschwendet« sah. Es blieb einer späteren Generation überlassen, Schlüters »Spiel mit den Lebensaltern, den schwebenden Übergängen« und dem »Rollentausch von früher Jugend und hohem Alter« (so Albert von Schirnding zu seinem 90. Geburtstag in der Süddeutschen Zeitung) zu entdecken und zu würdigen.
1928 reiste er nach Italien, lebte einige Zeit mit dem Musikwissenschaftler und Pianisten Herbert Fleischer auf Capri, besuchte Neapel, Rom und Florenz. Er schrieb nach eigener Auskunft »eine Art ›Erziehungsroman‹ ein wenig als ›Falschmünzer‹ von Andre Gide. Ein polnischer Freund, der Schriftsteller und Übersetzer Stefan Napierski, war von dem Buch so angetan, daß er es mit einem langen Brief an Thomas Mann sandte. Und Thomas Mann antwortete positiv, fand es unrecht, (…) das Buch nicht zu bringen und erbot sich, es mit einer Empfehlung dem Transmare-Verlag zu schicken, der gerade ein Buch von Klaus Mann (…) gebracht hatte und der eher auf seine Stimme hören würde als einer der großen Verlage. Er tat es und die Folge war, daß der Transmare-Verlag sogleich ein Buch von mir brachte, – nicht das in Rede stehende, das ihm thematisch zu riskant schien, ohne es glattwegs abzulehnen«, sondern »die inzwischen fertig gewordene »Rückkehr der verlorenen Tochter"«. Das ursprünglich vorgeschlagene Manuskript sei »verlorengegangen« (Brief an Klaus Täubert vom 7.9.1976).
Thematisch zu riskant? Zu politisch? Schlüter, nichts weniger als ein homo politicus, war politischen Zwisten stets ausgewichen, revolutionären Elan durfte man von ihm nicht erwarten. Bestenfalls verstand er sich, wie er 1928 in der Neuen Rundschau über sich in der dritten Person schrieb, als literarischer Pionier »eines neuen Zeitalters damit beschäftigt, ›Brücken‹ über den ›Abgrund nach drüben zu schlagen‹, und was, horchte er seiner Frage nach, sollten ihm da ›noch Revolutionen, diese Kriege nach rückwärts?'"
In Klaus Manns »Kindernovelle«, die er 1927 besprach und ein Buch von »symptomatischer Bedeutung« nannte, erkannte er sich wieder. Allzu vertraut war ihm die »wirre Lage« einer eher unpolitischen Jugend, zu der er sich mit der Aussage bekennt, er sei »etwas sonderlich im bürgerlichen Sinne« und auch »voll großer Weltfrömmigkeit und schaudernder Ehrfurcht«. Übrigens erwähnte Schlüter diese Besprechung nicht einmal, als er mehr als ein halbes Jahrhundert später erneut, und weit ausführlicher, über die »Kindernovelle« schrieb.
In der Anthologie »Junge Deutsche Dichtung« (1930) steht seine später in »Ein Gartenfest« umbenannte Erzählung »Das Wiedersehen« neben einem Auszug aus Klaus Manns Alexander-Roman. 1932 erschien der Roman »Rückkehr der verlorenen Tochter«, den die Germania in einer Besprechung »glanzlos« nennt, während Friedrich Walter dem Verfasser im Berliner Börsen-Courier einen hohen »Grad von Selbständigkeit« bescheinigt. Hermann Hesse schreibt im Zwiebelfisch: »Wundervoll erlöst und schwerelos schweben manche Seiten dieser Dichtung«. In Velhagen und Klasings Monatsheften wird Schlüter gelobt, weil er »die Frage nach der Ursprünglichkeit seiner Arbeit nicht der Erzählung an sich« überläßt, sondern »seinen Stoff vom Stil her zu beantworten sucht«. Das Sterben der »seltsamverlorenen Tochter« sei »eine dichterische Vision von großen Gnaden« und werde »unnachahmlich von dem Dichter Schlüter geschildert«. Der Rezensent ist Hanns Johst, später Präsident der nationalsozialistischen Reichsschrifttumskammer.
Nach dem »Anschluß« des Freistaates Bayern an Hitlers »Reich« verläßt Klaus Mann am 13. März 1933 Deutschland. Einen Monat später geht auch Schlüter: »Konnte man freiwillig noch in Deutschland bleiben, wenn man sah was geschah"? (Brief an Klaus Täubert vom 28.10.1963) Was er sein erstes Exil nennt, ist lediglich ein Versuch, er sieht sich als Tourist, dem der Rückweg offen bleibt. Klaus Mann erwähnt ihn am 2. Mai 1933 zum ersten Mal in seinen Tagebüchern, dann wieder im Oktober. »Post: Schlüter«. Woraus hervorgeht, daß Teile der Korrespondenz verlorengegangen sind. Das belegt auch Schlüters Brief vom 17. Juli, mit dem das hier vorgelegte Konvolut von 29 Briefen einsetzt. zwanzig davon haben sich im Nachlaß Klaus Manns erhalten, aber nur neun bei Schlüter, alle aus der Nachkriegszeit. Einiges fiel den Berliner Bombennächten zum Opfer, die Briefe aus dem Exil und auch seine Manuskripte vernichtete er aus Sicherheitsgründen selbst. Nur zwei dünne Hefte mit Aufzeichnungen sind erhalten, von denen das chronologisch zweite die Aufschrift Italienisches Tagebuch trägt (die des ersten wurde ausradiert). Sie enthalten neben dem hier abgedruckten Text Skizzen zu einem Roman oder einer Erzählung – vieles davon durchgestrichen –, eine tabellarische Aufstellung wichtiger Daten des Kriegsverlaufs von 1939-41 sowie englische Vokabeln und Umrechnungstabellen für inches und pounds, offenbar aus Schlüters Zeit im Internierungslager. Nicht mit aufgenommen wurden einige zum Teil schwer zu entziffernde Seiten über die Reise von Brindisi nach Neapel, unmittelbar vor seiner Ankunft in Ischia.
Im einzigen erhaltenen Brief von 1933 beklagt Schlüter sein Unvermögen, über die Emigration zu schreiben, wiewohl er die Vorstellung einer »anti-hitlerischen Novelle« habe. Erst im Februar 1937 kommt er, mittlerweile ein gebeutelter Exilant, darauf zurück, will »die artistische Möglichkeit« gefunden haben, seine »stimmungshafte Überzeugung« zu formulieren. Der für ihn ganz neuartige Stoff liege auch ein bißchen auf Klaus und Heinrich Manns Linie, vor allem aber sei er »politisch ganz eindeutig, ein Bekenntnis zur Linken, zur Volksfront als den heute eigentlich bewahrenden Kräften der europäischen Civilisation«. Kaum einmal sonst hat sich Schlüter politisch so konkret geäußert.
[…]
SINN UND FORM 3/2010, S. 359-369
Tawada, Yoko
- 3/1994 | Die leere Tafel
- 4/1998 | Diagonal
- 3/1999 | Leda
- 3/2023 | Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang, S. 563 Leseprobe
Tawada, Yoko
Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang
1
Die Zeit verwandelte ein Gebäude in ein organisches Wesen. Die Zeit, die als Regen, Wind und Sonne spürbar wird, verändert die Oberfläche jedes Bauwerks. Eine Außenwand aus Beton gewinnt langsam den Charakter von altem Ziegelstein, aus der Nähe betrachtet sieht sie aus wie verstaubtes Leder oder die Haut eines Nashorns; aus den Rissen im Beton wachsen zarte strohige Pflanzen; die mit Moos bedeckten schattigen Flecken treffen genau den graugrünen Ton der Stadtnatur. Das Gebäude bekommt dadurch den Anschein, ein Teil der Gegenwart zu sein, die auf natürliche Weise gewachsen ist. Die Vernunft hat ein solches Gebäude schon längst als eine bösartige Zelle der Geschichte diagnostiziert. Lassen wir es weiter stehen, vermehren sich möglicherweise unbemerkt seine Zellen. Sie können aber nicht herausgeschnitten werden, ohne daß es blutet. Sie sind nicht von außen gekommen wie Viren oder Bakterien, sondern aus den Gehirnzellen der Menschen gewachsen. Moos, Schimmel, Unkraut und Rost versuchen, uns zu überzeugen, daß selbst der Beton in die Natur zurückkehren und damit seine Unschuld bezeugen kann. Ist aber eine Blume unschuldig? Ich halte an und denke an die zwei Zeilen aus »Schneepart« von Paul Celan: »Ich höre, die Axt hat geblüht / Ich höre, der Ort ist nicht nennbar«.Nicht jedes Gebäude kann abgerissen werden, weil der Abriß keinen Profit bringt. Es sei denn, die Demolierung macht den Platz frei für ein neues, profitables Projekt, zum Beispiel ein Bürohaus. Oder der Bau wird von seinem ursprünglichen Zweck gereinigt und zum Mahnmal umfunktioniert.
2
Mich hat schon immer die Präposition »unter« im Ausdruck »unter Denkmalschutz stehen« stutzig gemacht. Warum »unter«? Hat der Denkmalschutz die Form eines Regenschirms? Wovor schützt uns der Schirm? Vor dem kontaminierten, schwarzen Regen oder vor dem industriellen, sauren Regen? Er hat im weitesten Sinne die Form eines Pilzes. Um die Bezeichnung »Schwerbelastungskörper« zu vermeiden, nenne ich ihn zuerst Pilz. Wie jene Atompilze, die nach den Bombenexplosionen in den Himmel wuchsen. Vor einigen Jahren kurz vor Mitternacht hat ein Berliner Taxifahrer mich mit einer Frage überrascht: »Wußten Sie, daß es keine Atombomben gibt?« – »Wie meinen Sie das?« – »Ich meine es genau so, wie ich es Ihnen sage. Die Atombomben existieren nicht. Niemand hat es bis jetzt geschafft, solche Waffen zu bauen.« – »Wie kommen Sie darauf?« – »Wundern Sie sich nicht, daß die sogenannte Explosionswolke in Hiroshima auf jedem Foto anders aussieht? Das kommt, weil die Fotos nicht echt sind. Sie sind Fake, wissen Sie, die Leute, die uns politisch manipulieren wollen, haben den Mythos und Fakefotos verbreitet. Allerdings nicht sehr geschickt, denn jeder von ihnen hat seine eigene Phantasiewolke genommen. Es gibt viele wissenschaftliche Belege und Webseiten, die diese Lüge aufdecken. Sie müssen einfach die Suchbegriffe ›Atombombe‹ und ›Lüge‹ im Internet eingeben.« Damals dachte ich, der Taxifahrer würde seinen Mund halten, wenn eine Explosionswolke aus Beton bestehen würde. Manche Katastrophen haben keine bleibende Form. Die Radioaktivität war noch unsichtbarer als die Atomwolke. Sie war von Anfang an gar nicht zu sehen. Wäre sie sichtbar gewesen, wären nicht so viele Menschen kurz nach dem Abwurf der Bombe in die schwer kontaminierte Stadt gereist. Außerdem wäre die überdimensionale Gefahr der Atomkraft nicht
so schnell vergessen worden.
3
Das Wort Beton kam aus dem Französischen, in seiner Wurzel entdeckte ich zwei weitere Wörter: Erdharz und Bergteer. Das englische Wort concrete ist vielleicht mit dem Wort konkret verwandt. Was in einem Text dicht zusammenwächst, ist konkret. So wie das Bauwerk vor meinen Augen steht, ist es zuerst nicht konkret genug. Erst muß durchs Schreiben ein Prozeß der Verdichtung stattfinden.Übrigens habe ich damals nach der Höllenfahrt mit dem Taxi die empfohlenen Suchbegriffe »Atombombe« und »Lüge« im Internet eingegeben. Sofort erschienen einige entsprechende Beiträge, die aber drei Monate später wieder verschwunden waren. Die Informationen im Internet sind nicht aus Beton gemacht. Sie wachsen aus dem Nichts, beeinflussen das Klima und verschwinden wieder. Nach einem Regen sprießen sie wieder aus dem Boden wie Pilze im Herbst.
4
Ich muß keinen schweren Gegenstand auf dem Rücken tragen, um sein Gewicht spüren zu können. Ich fühle es ohne Berührung, wenn ich gebeugt unter dem Schirm des sogenannten Schwerbelastungskörpers gehe. An meinem Schreibtisch zu Hause bin ich in Gedanken schon zigmal unter diesem Pilzschirm gelaufen und spürte jedes Mal eine bedrückende Schwere. Dabei kamen mir die Erdbebenopfer aus den Nachrichten, die unter Trümmern lagen, in den Sinn. Es gab nicht genug Bagger und Kräne, um sie zu retten, oder die Gerätschaften standen hinter der Grenze, die sie nicht überschreiten durften.In Berlin bebt die Erde nie so stark, daß dieses Bauwerk stürzen würde. Große Beben in der Vergangenheit waren hier immer von Menschen verursacht. Eines der Beben war die Planung einer Stadt und nicht ihre Zerstörung. »Germania Tod in Berlin«: Der Titel eines Theaterstücks von Heiner Müller fiel mir ein. Weder ein Punkt noch ein Komma trennt »Germania« vom »Tod«. Ein schonungsloser Spaziergang durch die Geschichte. Wenn wir gezwungen werden, etwas Lächerliches als Heiliges zu behandeln, können wir mit groteskem Humor darauf antworten.
Der belastende Körper ist ein erdbebensicherer Bau. Das Gewicht des Zylinders wird durch eine massive Säule gerade nach unten geleitet. Der Durchmesser des Zylinders ist 21 Meter. Er steht vierzehn Meter hoch über der Säule, deren Durchmesser acht Meter kürzer ist als der des Zylinders. Die Säule wächst aber achtzehn Meter tief in die Erde, das ist beachtlich. Selbst der Fernsehturm hat nur eine Fundamenttiefe zwischen 2,70 und 5,80 Meter.
5
Manchmal steckt der Sinn eines Denkmals nicht im Objekt selbst, sondern in der Körperhaltung, zu der es uns zwingt. Zum Beispiel sind die Stolpersteine nicht nur zum Anschauen da, sondern zum Stolpern. Sei es auf dem Weg zu einem Termin, zur Arbeit oder bei einem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang, ich soll riskieren, von mir aus zu stolpern und anzuhalten.Zu welcher körperlichen Haltung zwang mich der Schwerbelastungskörper? Mich bücken, ducken, den Kopf einziehen: So würde ich mich verhalten, wenn der Krieg in den Alltag einbräche. So eine Körperhaltung nehme ich schon jetzt jedesmal ein, wenn ich Fotos von Kriegsgebieten sehe.
[…]SINN UND FORM 3/2023, S. 339-347, hier S. 339-341
Tawordschus, Germain
- 2/1981 | Chan
Teitelboim, Volodia
- 4/1974 | Die Stimme des ungebrochenen Volkes
- 6/1979 | Romane über den Diktator
- 2/1983 | Gespräch mit Hildegund Ruge
- 6/1984 | Ein Dichter, der auf Erden wohnt
Tekotew, Gleb
- 4/1979 | Agafons Absonderlichkeiten
Teller, Jürgen
Tellier, Jacques
- 5/1971 | Ohne Umschweife. Gespräch mit Bernard Clavel über Westdeutschland
Tellkamp, Uwe
- 4/2009 | Gespräch mit Michael Braun, S. 505 Leseprobe
Braun, Michael
Gespräch mit Uwe Tellkamp
MICHAEL BRAUN: Herr Tellkamp, deutschsprachige Romane mit fast tausend Seiten sind heutzutage etwas Seltenes. Was hat Sie dazu gebracht, den Stoff in diesem Umfang zu bearbeiten? Stand das von Anfang an fest?
UWE TELLKAMP: Ich hatte beim »Turm« zwei Arbeitsphasen. In der ersten entstanden etwa siebzig Seiten. Da habe ich gemerkt, daß der Duktus, die Sprachbewegung so langsam sind, daß es keine kürzere Geschichte werden kann, und habe das Schreiben wegen anderer Projekte unterbrochen. Erst später habe ich weitergearbeitet. Denn daß es umfangreicher werden würde, war mir nach diesen ersten Kapiteln klar. Es vergehen 250 Seiten und noch immer ist der erste Tag nicht verstrichen. Aber das sind Äußerlichkeiten, das Buch versucht schließlich auch, einige Aspekte der damaligen Gesellschaft zu schildern – ich verwende das Wort DDR nicht so gerne, auch im Buch wird es eher vermieden. Es heißt nicht von ungefähr »Der Turm«, und es erhebt auch nicht den Anspruch, der Wenderoman oder der Roman über die DDR zu sein. Dafür enthält es wohl zu wenig, es gab eben auch Aspekte in dieser Gesellschaft, die weniger unterhaltend sind. Das müßte man fortsetzen oder andere Werke zu Rate ziehen. Die im Buch beschriebenen Gesellschaftsschichten habe ich aber versucht so gut wie möglich darzustellen. Ich wollte dem Stoff gerecht werden. Natürlich gibt es auch karikierende Elemente und manchmal auch welche mit einem gröberen Witz. Aber selbst dieser Eschschloraque, ein bekennender Stalinist, hat andere Seiten, hat seine Erfahrungen und Abgründe und wird mit Fairneß behandelt. Ich habe versucht, Plattheiten oder Klischees zu vermeiden, und das braucht einfach Raum. Wenn man es schafft, so etwas einigermaßen lebendig zu gestalten, dann kommt ein richtiges Buch raus. Für mich ist es noch viel zu dünn für diesen Stoff.
BRAUN: Haben Sie beim Schreiben je mit dieser Zahl von Lesern gerechnet?
TELLKAMP: Nein, das habe ich nicht. Als das Manuskript abgabefertig war, das war im September 2007, hatte ich erhebliche und sicher auch berechtigte Zweifel, ob das Buch überhaupt erscheint. Das hing mit äußerlichen Dingen zusammen, aber auch mit inneren – wer soll das denn lesen? Wen interessiert das? Der Roman enthält vieles, was sehr dresdenspezifisch ist, vieles, was man, glaube ich, nur ganz versteht, wenn man eine Ostsozialisation hat. Gleichzeitig habe ich mich bemüht, alles so darzustellen, daß es sich auch ohne diese Vorkenntnisse nachvollziehen läßt. Der Erfolg des Romans hängt sicherlich auch mit zwanzig Jahren Mauerfall und den Preisen zusammen, die das Buch bekommen hat, aber nicht nur. Im Verlag hat man mir gesagt, die Bestellungen und die Resonanz waren schon vorher da.
BRAUN: Kommen wir noch einmal zurück zur Entstehung dieses Romans, die Arbeit daran hat sich ja über mehrere Jahre hingezogen. Man braucht, um ein so großes Projekt bewältigen zu können, immer eine Art Bauplan, gewissermaßen ein Gerüst. Wenn das Werk fertig ist, kann man es getrost wieder abbauen. Wie sah Ihr Bauplan aus? Zeigt das auf dem Innendeckel des Buches abgebildete Stadtbild von Dresden Reste dieses Bauplans?
TELLKAMP: Das ist tatsächlich ein Teil des Bauplans. Die Hauptzeit des Schreibens habe ich in Karlsruhe verbracht, in einer sogenannten Volkswohnung, die ziemlich genau dem entspricht, was man sich darunter vorstellt. Es waren also beengte Wohnverhältnisse, außerdem war unser Kind gerade geboren worden. Die einzige Möglichkeit, einen größeren Bauplan anzubringen, war der Flur. Also habe ich DIN-A0-Bögen aneinandergeklebt und mir die grobe Architektur aufgezeichnet, die großen Bögen der Geschichte und die Subplots, die kleinen, geschlossenen Erzählstränge, habe mir die Figuren, die ganze Entourage des Buches überlegt. Vieles ist auch wieder rausgefallen. Und ich habe beim Schreiben den Grundriß auch immer wieder angepaßt, es war kein starres Verfolgen des einmal gefaßten Plans. So etwas würde vermutlich schiefgehen, denn die Figuren entwickeln ein Eigenleben, sie wollen manche Dinge anders, als der Autor sie intendiert hat, und so ändern sich auch die Kapitel, bekommen andere Schlüsse und auch die erhofften Anschlüsse stimmen nicht mehr. Dann muß man, was nicht mehr paßt, über Bord werfen und weitermachen.
BRAUN: Wie sind Sie zum Titel des Buches gekommen, oder kam er zu Ihnen?
TELLKAMP: Der Titel ist relativ alt. Ich habe das Viertel, in dem ich aufgewachsen bin, immer den Turm genannt, weil ich schon mit fünfzehn oder sechzehn das Gefühl hatte, daß die Gegend eine gewisse Besonderheit hat. Das relativ abgeschlossene Wohnen da oben, scheinbar unberührt von allem Alltäglichen, dem ständigen Schlangestehen und all diesem Klein-Klein. Es war ein Villenviertel, schöne Häuser mit Stuck und Ornamenten, aber sie waren verfallen, an denen war vierzig, fünfzig Jahre nichts gemacht worden. Das beliebteste Verfahren, Sie haben vorhin das Wort Gerüst gebraucht, bestand darin, von außen die Wände mit Gerüsten abzustützen, ohne irgend etwas auszubessern. Die früheren Bewohner waren weg, die jetzigen versuchten mit ihrer Hausmusik, mit ihren Gesprächen und ihrer Literatur gegen die Kälte anzukommen. Wie besonders, wie untypisch das war, wurde mir spätestens klar, als ich rausmußte, also in die Schule und später zur Armee und zu den Einsätzen in der Volkswirtschaft.
BRAUN: Es gibt das Turmviertel, die Turmgesellschaft auch bei Goethe. Und wie steht es mit dem babylonischen Turm, auch eine Anspielung? Johannes R. Becher hat Ende der vierziger Jahre das Gedicht »Turm von Babel« geschrieben.
TELLKAMP: Das wird im Buch ja auch zitiert, eine ganze Strophe.
BRAUN: Bei Becher heißt es: »Das Wort wird zur Vokabel, / Um sinnlos zu verhallen. / Es wird der Turm zu Babel / Im Sturz zu nichts zerfallen.« Genauso zerfällt in Ihrem Buch am Ende die DDR.
TELLKAMP: Dieses Motiv hat sehr wohl eine Rolle gespielt, wenngleich seine Ausgestaltung in einem Erzählstrang stattfindet, der später rausgefallen ist. Der ist als Text vorhanden und wird später mal gesondert erscheinen oder in anderen Büchern auftauchen. Es geht dabei um eine Unterweltfahrt, die das Bild der babylonischen Sprachverwirrung aufnimmt. Es gibt eine Version von Brueghels »Turm von Babel« in der Dresdener Gemäldegalerie. Ich habe mir als Autor schon Gedanken darüber gemacht, welche Parallelen es gibt, welches Grundsymbol man für ein solches Buch wählt. Inwieweit das ausinstrumentiert ist, ist eine andere, tiefergehende Frage, aber man erschafft sich ja immer Modelle. Eigentlich ist es auch unzulässig, so ein Buch abzuschließen, zwischen zwei Deckeln, schließlich leben wir gänzlich unabgeschlossen, in einem fließenden Prozeß. Jedenfalls habe ich versucht, dieses Turmsymbol oder Turmmodell in seinen Konnotationen ernst zu nehmen, weil es einfach sehr passend war. Die Gesellschaft in diesem Viertel ist eine ähnliche Turmgesellschaft wie bei Goethe, wenngleich dort die Erziehung anderweitig oder vielleicht gerade nicht stattfindet. Und wie in der Geschichte vom Turm zu Babel geht es in dem Roman immer wieder um das Miteinanderreden. Immer wieder kommen Telefone vor, die mal funktionieren und mal nicht, immer wieder werden Briefe geschrieben, immer wieder kommt es zu Unterhaltungen, reden Leute miteinander oder aneinander vorbei. Zum Schluß geht das alles in einer Art Mahlstrom unter. Die Sprache wird zum Steinbruch, zum zusammenbrechenden Turm. Außerdem spielt auch das Motiv des Elfenbeinturms eine Rolle. [...]
SINN UND FORM 4/2009, S. 505-507
- 4/2009 | Reise zur blauen Stadt
Tendrjakow, Wladimir
Tengour, Habib
- 4/2019 | Übers Meer. Ein Gespräch mit Marie-Luise Bott über Abschiede und Ankünfte
Terray, Emmanuel
- 1/1994 | Gleichheit der Alten, Gleichheit der Modernen
- 2/1997 | Die Vergangenheit einer Illusion und die Zukunft einer Hoffnung. Francois Furets Buch über die kommunistische Idee im 20. Jahrhundert
Teschke, Holger
- 3/1989 | Gedichte
Teusch, Ulrich
- 6/2004 | Beschleunigung - Verdichtung - Komplexität. Über das Verhältnis von Globalisierung und Zeit
Thadden, Rudolf von
- 4/2006 | Deutsche und Polen - Erinnerung im Dialog
Thalheim, Matthias
- 6/1996 | Theater nach Brecht. Gespräch mit Heiner Müller, Ernst Schumacher, Lothar Sachs, Wolfgang Rindfleisch und Marianne Streisand
Thanh, Nguyen Trung
- 1/1967 | Im Wald
Theodorakis, Mikis
- 3/1983 | Startum und Snobismus - Tod der Musik
Theunissen, Michael
- 2/2001 | Pindar, Hölderlin und die Aktualität der frühen Griechen. Gespräch mit Adelbert Reif
Thiele, Markus
- 5/1998 | Gedichte
Thieme, Saskia
- 3/2019 | Ein Heimkehrender ist ein Träumender. Arnold Zweigs Heimatutopie in der DDR
Thiep, Nguyen Huy
- 5/1994 | Flammendes Gold
Thier, Susanne
- 3/2018 | Revolution des Inhalts und der Form. Hundert Jahre Malik-Verlag
Thierse, Wolfgang
- 6/2006 | »Im Abseits, in das ich gehörte«. Laudatio auf Günter de Bruyn
Thill, Hans
- 5/2000 | Gedichte
- 2/2003 | Gedichte
- 5/2010 | Ortsveränderung: Die Dörfer
- 3/2013 | Gedichte
- 1/2018 | Schafwinter. Gedichte
- 5/2021 | Nützliches Wissen
Thimm, Günter
- 2/2016 | Frische Pflaumen. Enzensberger und Detering übersetzen William Carlos Williams
- 6/2018 | Gestisches Übersetzen
- 1/2020 | Stehst bald nicht mehr da, o Fichte
- 1/2022 | Nicht immer Kiefer am Waldrand
Tho, Le Duc
- 4/1973 | Zelle des Hasses
Thomas, Edith
- 1/1949 | Gedichte aus der Résistance
Thomas, Karin
- 1/1992 | Jenseits des Klischees
Thomas, R. Hinton
- 4/1952 | Friedrich Wolfs Entwicklung als Dramatiker
Thordarson, Thorbergur
- 1/1963 | Der große Tag am Strom
Thorndike, Annelie
- 5/1969 | ...wie alles anfing mit uns Beiden
Thumanjan, Howhannes
- 5/1975 | Die Fliege und das Kamel
Thun-Hohenstein, Franziska
- 4/2008 | Gespräch mit Daniil Granin und Friedrich Schorlemmer, S. 482 Leseprobe
Thun-Hohenstein, Franziska
Gespräch mit Daniil Granin und Friedrich Schorlemmer
(…)
DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben anfing, habe ich mich kaum mit dem Krieg befaßt, das war noch zu schwer für mich. Aber dieses Rätsel ließ mir keine Ruhe. Ich suchte eine Antwort in der Kriegsliteratur, aber es gab keine. Doch jetzt, nach über sechzig Jahren, gibt es doch Antworten von Historikern. General von Leeb befehligte die deutschen Truppen vor Leningrad. Ich habe mich mit seinem Sohn getroffen, der die Tagebücher seines Vaters veröffentlicht hat, und ich habe die Tagebücher anderer Heerführer gelesen. Danach beschloß das Oberkommando Ende August, Leningrad nicht einzunehmen. Die Generäle sahen nicht ein, warum sie diese Stadt überhaupt erobern sollten. Denn was sollten sie damit anfangen? Und da entschied man, sie soll verhungern. Wir in den Schützengräben waren entschlossen, Leningrad zu verteidigen. Und die deutschen Soldaten glaubten lange, die Einnahme der Stadt sei bloß eine Frage der Zeit. Aber dann wurde die deutsche Panzereinheit in Richtung Moskau umgelenkt. Und auch in bezug auf Moskau fragte man sich: Und was machen wir, wenn Moskau erobert ist? Napoleon stand 1812 vor derselben Frage. Rußland ergab sich nicht, und Kutusows Armee war einfach abgezogen. In solchen Momenten zeigt sich die Absurdität des Krieges, die Absurdität des Ziels. Es hat sich der Mythos herausgebildet, Leningrad sei durch die heldenhafte Verteidigung gerettet worden. Die Heldenhaftigkeit, das Heldentum bestanden vermutlich in etwas ganz anderem, nämlich darin, daß Rußland, die Sowjetunion, nicht kapituliert hat. Selbst dann nicht, als die Deutschen vor Moskau standen. Als Schriftsteller interessiert mich gerade diese, die psychologische Dimension.Was war im Oberkommando oder bei Hitler eigentlich los? Der Plan Barbarossa sah doch vor, daß nach dem schnellen Vormarsch der Wehrmacht die Kapitulation erfolgte. Ja, die Deutschen hatten schwere Verluste, und es stimmt, daß der Oberkommandierende davon träumte, Leningrad einzunehmen, und daß die Panzertruppe von Manstein und auch General von Leebs eine Woche wartete, ehe sie die Panzerarmee nach Moskau umleitete. Es gibt die Vermutung, er habe darauf gewartet, daß einer der Generäle aus eigener Initiative versuchen würde, die Stadt zu besetzen, aber das ist die Mentalität der deutschen Militärs, daß sie nicht eigenmächtig handeln, sondern Befehle befolgen. Unsere wären natürlich durchgebrochen. Vor solch einer Stadt stehen und sie nicht einnehmen, das geht nicht. Aber solche Eigenmächtigkeiten gab es bei den Deutschen nicht. Unsere Historiker wundern sich über das, was bei der Blockade passierte. Vielleicht muß man die Geschichte umschreiben, das ist nicht weiter schlimm, das muß man ja eigentlich immer. Wir, die wir die Stadt verteidigten, wußten nicht, was dahintersteckte. Daß das grausame Vorhaben, die Stadt auszuhungern, zum Konzept der deutschen Heeresführung gehörte, wußten wir natürlich nicht. Der Krieg wurde begonnen, aber er war nur bis zur Hälfte geplant. Noch heute gibt es viele weiße Flecken, viel Unverständliches. Und das ist das Brot des Schriftstellers. Wo die Dokumente enden, fängt die Literatur an.
(…)
SINN UND FORM 4/2008, S. 482-490, hier S. 483-484
Thun, Nyota
- 2/1969 | Turgenjew und Probleme der Romantheorie
- 1/1972 | Gespräch mit Konstantin Simonow
- 5/1972 | Neue Tendenzen der sowjetischen Literaturwissenschaft
- 2/1975 | Auf der Waage der Kritik
- 6/1978 | Konstantin Simonows Arbeit beim Dokument
- 1/1980 | Dialog mit Rasputin
- 4/1981 | Juri Tynjanows Puschkin-Bild
- 4/1983 | Michail Bulgakows Puschkinstück
- 4/1989 | Majakowski bei Picasso - Vorgeschichte und Folgen einer Begegnung
Thurzó, Gábor
- 1/1969 | Der Ball
Tichonow, Nikolai
Tielke, Martin
- 4/2012 | Habent sua fata libelli et balli. Über das falsche Zitat und die treffende Widmung, S. 484 Leseprobe
Tielke, Martin
HABENT SUA FATA LIBELLI ET BALLI Über das falsche Zitat und die treffende Widmung
Kugeln und Bücher haben ihr Schicksal – dazu gehört,
daß sie zur rechten Zeit treffen und eintreffen.
Ernst Jünger
Der frühe Ruhm des Schriftstellers Ernst Jünger beruht bekanntlich auf den Taten des hochdekorierten Stoßtruppführers im Ersten Weltkrieg, die er in seinem Buch »In Stahlgewittern« beschrieb. Im Verlauf dieses Krieges wurde Jünger vierzehn Mal verwundet und trug, wie er später resümierte, mit Ein- und Ausschüssen zwanzig Narben an seinem Körper davon. Einen der Treffer erhielt er während der Somme-Schlacht. In den »Stahlgewittern« schildert er, wie er im August 1916 zum Einsatz kam und vor einem Haus bei dem Dorf Guillemont von einer Schrapnellkugel ins Bein getroffen wurde. »Mit dem uralten Kriegerruf: ›Ich habe einen weg!‹ sprang ich, meine Shagpfeife im Munde, die Kellertreppe hinab.« Die Kugel war im Unterschenkel steckengeblieben, und da sie glücklicherweise keine Knochen verletzt hatte, war die Sache relativ harmlos. Die Kameraden legten Jünger einen provisorischen Verband an und trugen ihn über die beschossene Straße, wo eine weitere Schrapnellkugel über seine Trage hinwegpfiff, zum vorgeschobenen Verbandsplatz in die Katakomben. Hier kam der Verwundete gleich auf den Operationstisch:
»Während mir der herbeigeeilte Leutnant Wetje den Kopf hielt, schnitt mir unser Oberstabsarzt mit Messer und Schere die Schrapnellkugel heraus, wobei er mich beglückwünschte, denn das Blei war scharf zwischen Schien- und Wadenbein hindurchgefahren, ohne einen Knochen zu verletzen. Habent sua fata libelli et balli, meinte der alte Korpsstudent, indem er mich einem Sanitäter zum Verbinden überließ.«
In älteren Fassungen der »Stahlgewitter« ist der Wortlaut dieser Stelle etwas abweichend, insofern der alte Korpsstudent seinen Ausspruch »schmunzelnd« machte. Dazu hatte er auch allen Anlaß, denn er zitiert mit Habent sua fata libelli zwar ein seit der Antike geläufiges Sprichwort des lateinischen Grammatikers und Dichters Terentianus Maurus, doch die Ergänzung et balli geht nicht auf den lateinischen Philologen zurück und kann überhaupt nicht ernsthaft Anspruch auf korrektes Latein erheben. Weder ist es klassisches noch mittelalterliches Latein, auch kein Kirchen- oder Küchenlatein, sondern eher wohl Korpsstudenten-und Kriegerlatein, das hier aus einem launigen Einfall heraus gebildet wurde. Das Lateinische nämlich kennt das Wort ballum oder ballus nicht, und es scheint sich um einen Neologismus zu handeln, der in Assoziation zu dem jedem Soldaten vertrauten Begriff Ballistik (von dem griechischen βαλλω = mit Geschossen werfen, treffen) gebildet wurde, vielleicht auch – man war schließlich in Frankreich – in Anlehnung an das französische Wort balle (Kugel).
Genauer besehen kann aber von einem Neologismus nicht die Rede sein, setzt dieser doch voraus, daß die Wortbildung Schule gemacht und sich in den Sprachgebrauch eingebürgert hat. Das aber ist bei balli nicht der Fall. Außer im Werk Jüngers tauchen diese Neubildung und ihre Verknüpfung mit dem geflügelten Wort des Terentianus Maurus nirgends auf. Sie geht offensichtlich als eine zufällige Gelegenheitsbildung auf das Konto des Feldarztes. Wie es scheint, hat er den lateinischen Satz nicht nur erfunden, sondern ihn auch in dem Bewußtsein philologischer Inkorrektheit zitiert. Anders ließe sich sein Schmunzeln kaum interpretieren. Jünger jedenfalls war der Ausspruch hochwillkommen, und er gibt ihn um so lieber wieder, als er sich durch die Worte des alten Korpsstudenten in seiner Doppelexistenz als Hommes de lettres und Krieger gespiegelt sieht. Er möchte auch als Soldat im Krieg unter diesem doppelten Aspekt gesehen werden. Ob der Gewährsmann nun richtiges oder falsches Latein sprach, ist ihm dabei egal.
In der Tat war schon der ganz frühe, literarisch noch nicht hervorgetretene Ernst Jünger ein Buchmensch. Am Anfang seiner reichen literarischen Erfahrungen – er war gerade des Lesens mächtig – stand um 1900 das Buch »Robert der Schiffsjunge« von Sophie Wörishöffer, eine Erzählung von Weltreisen auf einem Segelschiff: »Da habe ich angefangen zu lesen und nie wieder aufgehört«, sagte er zu Björn Cederberg. Und der alte Jünger gestand in »Siebzig verweht«: »ich lebe stärker in den Büchern als in unsrer erbärmlichen Wirklichkeit«. Der Bücherkonsum des jugendlichen Jünger war ganz wahllos und so besessen, daß er nachts, da es die Eltern verboten hatten, Licht zu machen, im Stehen das Buch aus dem Fenster hielt, um im Schein der Straßenlaterne lesen zu können. Zwar findet sich in seinem Soldbuch der Fremdenlegion, wohin der achtzehnjährige Gymnasiast ausgerissen war, das Urteil: »Ne sait ni lire, ni écrire«, doch lag dieses Zeugnis vollkommen neben der Realität. Jünger nutzte während seiner Zeit bei der Fremdenlegion jede freie Minute zum Lesen, und als er nach einem mißglückten Fluchtversuch in den Kerker geworfen wurde, suchte er auch in solcher Lage noch lesen zu können, indem er sich eine Lampe konstruierte, »wie ich es aus Casanovas Memoiren gelernt hatte«. Die antike Lampe in seinem Exlibris mag darauf anspielen.
Dieses Gefesseltsein durch Bücher, die ständige Buchlektüre auch in einer dafür denkbar ungünstigen Situation, galt selbst unter den extremen Bedingungen der Frontkämpfe des Ersten Weltkrieges. Angeblich sind die deutschen Soldaten mit Rilke und George im Tornister in diesen Krieg gezogen, was natürlich eine fromme nationale Legende ist. Nicht jedoch im Fall des Leutnants Ernst Jünger. In seinem Marschgepäck befand sich tatsächlich Literatur. Wenn ihm sein Bursche den Tornister packte, stellte der nur »die einzige Frage: ›Welche Bücher sollen diesmal mit?'« Jünger blieb sogar an der Front und während des Kampfes ein Lesender, wann immer sich die Gelegenheit dazu bot: »Ich las auch im Dobschützwald, 1917, während der Pausen, die die Engländer beim Angriff einlegten. Allerdings hatte ich Posten aufgestellt.« Er las im Feld etliche Werke der großen Literatur, wie etwa »Orlando furioso« von Ariost oder Kubins Roman »Die andere Seite«. Unter der ungeheuer massierten Beschießung im »Wäldchen 125« ließ er sich faszinieren von Fontanes »Irrungen, Wirrungen«; während der Schlacht von Bapaume verschlang er Sternes »Tristram Shandy«, und als er hier verwundet wurde, konnte ihn das nur kurzzeitig von der Lektüre abhalten; er setzte sie, kaum aus der Narkose erwacht, im Lazarett fort.
Somit möchte man die Prägung Habent sua fata libelli et balli verstehen als ein Kompliment des Feldarztes an seinen Patienten, der über das Kriegshandwerk hinaus auch noch von anderen, geistigen Dingen wußte und der gleichermaßen in der Welt der Bücher zu Hause war, wie im Umgang mit Gewehr und Handgranate geübt. So verhält es sich jedoch nicht. Die Fassung letzter Hand der »Stahlgewitter«, wie sie in den Sämtlichen Werken vorliegt, wie auch die früheren Fassungen, die den alten Korpsstudenten seinen Spruch mit einem relativierenden Schmunzeln sagen lassen, sind Fiktion. Diese Stelle ist ein Beispiel dafür, wie Ernst Jünger literarisiert. Seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg sind in den »Stahlgewittern« nicht exakt wiedergegeben; das Buch ist kein Protokoll, das die Wirklichkeit eins zu eins schildert, sondern eben Literatur, mit allen Freiheiten der Gattung. Zieht man das noch nicht literarisch bearbeitete originale Kriegstagebuch Jüngers heran, so liest sich das Ereignis überraschend anders:
»Wetje hielt mir den Kopf, während der Oberstabsarzt gleich mit Messer und Scheere an meinen armen Balg ging und mir die Kugel herausschnitt. Dann murmelte er etwas von Fata belli et balli und ich wurde in die tiefsten Schlünde der Katakomben getragen …"
Indem hier die kleine Silbe li wegfällt und aus dem Nominativ Plural libelli der Genitiv Singular belli wird, fällt eine ganze Dimension, nämlich die Beschwörung des Schicksals der Bücher und ihre Verknüpfung mit den Geschossen, weg. Ebenso ist der Bezug auf das geflügelte Wort des Terentianus Maurus nicht mehr erkennbar. Der Feldarzt spricht lediglich von Kriegsschicksal und Kugeln; von Büchern und geistigen Dingen, gar von einer Berufung auf eine antike Autorität, ist bei ihm nicht die Rede. Die Formulierung belli et balli mag ihm vielleicht wegen der phonetischen und semantischen Assoziation eingefallen sein, sie deutet jedenfalls nicht darauf, daß er seinen Patienten vor dem Hintergrund eines Bildungskanons sieht. Der Arzt könnte wohl auch schwerlich eine Anspielung auf die Buchleidenschaft Jüngers gemacht haben, da er davon kaum etwas gewußt haben dürfte. Schon gar nicht konnte er etwas von dem Autor Jünger wissen, der ja erst nach dem Krieg als solcher in Erscheinung trat und dessen Erstlingswerk »In Stahlgewittern« 1920, also vier Jahre später erschien. Die Verbindung von Büchern und Kugeln, die mit der Zitierung des geflügelten Wortes eines antiken Autors unterstrichene Anspielung auf Literatur und Dichtung ist also die eigene Erfindung und spätere Zutat des Schriftstellers Ernst Jünger. Durch Hinzufügung einer kleinen Silbe öffnet er einen neuen semantischen Horizont. Er legt dem Feldarzt nachträglich in den Mund, was er über sich selbst gesagt haben will. Die Worte des Feldarztes sind Selbstbespiegelung des Autors der »Stahlgewitter«.
[...]
SINN UND FORM 4/2012, S. 454-469
- 4/2013 | Dunkelmann und Lichtgestalt. Carl Schmitt, Johannes Popitz und der Widerstand
Tietze, Inge
- 4/1984 | Leserbrief
Tighe, Carl
- 5/1995 | Die polnischen Schriftsteller und der Übergang von der sozialistischen »Unwirklichkeit« zur kapitalistischen »Wirklichkeit« : 1980-1992
Tilliette, Xavier
- 6/2001 | Gespräch mit Steffen Dietzsch
- 6/2001 | Ein Kitesch der Seele. Die Ethik von Vladimir Jankélévitch
Timpanaro, Sebastiano
- 3/2008 | Freuds Rom-Phobie
Tišma, Aleksandar
- 1/2024 | Nachruf auf eine kosmopolitische Stadt. Ein Gespräch mit Achim Engelberg über Novi Sad und das Schreiben als Obsession
Tismaneanu, Vladimir
- 1/1996 | Rumäniens mystische Revolutionäre
Tittmann, Frank
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Titze, Marion
- 4/1989 | Geschütztes Haus
- 2/1991 | Frau mit Schirm. Von der Gunst des Gedichts. Eine Begegnung mit Hilde Domin
- 5/1993 | Die Stirnen schattenhaft vergittert. Mutmaßungen über Melancholie
- 4/2005 | Legale Verleitung zum Irrtum
- 4/2015 | Der Geschmack der Liebe. Für Christoph Meckel
Tjiän Yung
- 2/2008 | Die fünf Arten des Glücks
Tjutjunnyk, Hryhir
- 2/1977 | Drei Seufzer für Stepan
Tkaczyk, Wilhelm
- 1/1977 | Gedichte
Tkaczyszyn-Dycki, Eugeniusz
- 3/2022 | Lieder und Ziegel. Gedichte
To-Hüu
- 4/1959 | Lied aus Bac-Giang
Tóibín, Colm
- 6/2007 | Exoten wider Willen. Schreiben in einer fremden Sprache
Tokarczuk, Olga
- 4/2017 | Die Grenze
- 4/2017 | »Ich gehöre zu den modernen Nomaden.«
Ein Gespräch mit Bernhard Hartmann über Literatur als Welterfahrung, S. 437 Leseprobe
Tokarczuk, Olga
»Ich gehöre zu den modernen Nomaden«. Ein Gespräch mit Bernhard Hartmann über Literatur als Welterfahrung
BERNHARD HARTMANN: Vor siebenundzwanzig Jahren, am 12. November 1989, fand im niederschlesischen Kreisau die deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt, bei der es zur berühmt gewordenen Umarmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Ministerpräsidenten der ersten frei gewählten polnischen Regierung, Tadeusz Mazowiecki, kam. Ein wichtiger Moment für die deutsch-polnischen Beziehungen, der zugleich für die Hoffnung und die Euphorie steht, die in der Zeit nach dem Mauerfall aufkamen. Man träumte – zumindest im Westen – vom »Ende der Geschichte« und hoffte, die Gespenster der Vergangenheit endgültig zu bannen und in eine Zukunft ohne große Konflikte zu gehen. Wie erinnerst du dich an diese Zeit?
OLGA TOKARCZUK: Ich habe 1989 angefangen, meinen ersten Roman zu schreiben, und hätte mir keinen besseren Zeitpunkt dafür vorstellen können. Es schien, als heitere Europa sich auf, als wüchse es zusammen und schüttele endlich die Alpträume der Geschichte ab. Ich dachte, auch in Polen würde man sich nun dem zuwenden können, was Literatur eigentlich ausmacht. Meine Generation – darunter inzwischen bekannte Autoren wie Andrzej Stasiuk, Paweł Huelle oder Natasza Goerke – entdeckte damals das Private neu für die Literatur. Dieses Gefühl der Befreiung von gesellschaftlichen und politischen Pflichten war für uns unglaublich belebend. Wir konnten uns beispielsweise mit Feminismus und Ökologie befassen, unseren Ort in der Welt und unsere Körperlichkeit erkunden. Jetzt, wo die Zeiten unruhiger werden, geraten diese Themen erneut an den Rand. Ich hätte nie gedacht, daß die Literatur sich keine drei Jahrzehnte später wieder mit Politik befassen muß, die Schriftsteller wieder politisch werden, alles wieder politisch wird, jede Erzählung, jeder Roman, jedes Thema.
HARTMANN: Der politische Wandel in Polen ist symptomatisch für den Stimmungswandel, der in ganz Europa zu beobachten ist. Die Idee der europäischen Einigung überzeugt nur noch wenige, in immer mehr Ländern wächst der Wunsch, sich ins nationale Schneckenhaus zurückzuziehen. Sind wir überfordert damit, europäisch zu denken? War es zu viel Europa in zu kurzer Zeit – zumal für die einstigen Ostblockländer, die ihre hart erkämpfte Souveränität nicht gleich wieder an eine oft als technokratisch empfundene Institution abgeben möchten?
TOKARCZUK: Für mich ist der Beitritt Polens zur EU einer der glücklichsten Momente der polnischen Geschichte. Ich kann mir Polens Zukunft auch nur innerhalb dieser großen Gemeinschaft vorstellen, deren östlichen Rand wir derzeit bilden. Doch momentan weiß niemand, was kommen wird. Auch ich kann und will keine Diagnosen stellen oder Prognosen abgeben, das ist nicht mein Metier, ich bin Schriftstellerin. Aber ich glaube, es sind vor allem zwei Gründe, die diese Verunsicherung und Angst hervorrufen. Das eine ist die Flut von Informationen, die heute jeder einzelne von uns verarbeiten muß. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Mensch nicht mehr in der Lage, alles mit seinen Sinnen und seinem Verstand zu verarbeiten. Zugleich haben die großen Wertsysteme und Erzählungen, die früher klare Weltbilder vermittelten, an Bedeutung verloren, und die Medien bringen keine Ordnung ins Chaos, sondern vergrößern es noch. Das andere ist der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus, der einerseits Enklaven des Friedens und Wohlstands schafft, andererseits aber auch Ghettos, in denen die ungeheure Zahl der Ausgeschlossenen lebt. Die Mechanismen dieser Ausgrenzung sind schwer zu durchschauen und zu kontrollieren. Wir begreifen nicht, wie neoliberale Wirtschaft und Politik funktionieren, und das führt zu einer Erosion der Demokratie. Die Folge ist das Aufkommen populistischer Strömungen, das wir derzeit überall in der Welt beobachten.
HARTMANN: Nun arbeitest du in deinen Romanen auch mit dem Mittel der Fragmentarisierung, der Leser muß sich aus unzähligen Mosaikstücken und Mini-Erzählungen selbst ein Gesamtbild schaffen. In deinem letzten Roman, »Ksie˛ gi Jakubowe« (Die Bücher Jakob), spielen Grenzüberschreitungen verschiedenster Art eine Rolle, schon der Untertitel deutet darauf hin: »Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei Religionen, die kleinen nicht mitgezählt «. Am Beispiel der Sekte des Jakob Frank und ihrer Reise durch das Polen und Europa des 18. Jahrhunderts zeigst du, wie individuelle und kulturelle Identitäten sich auflösen und wandeln. Und du entwirfst ein Bild Polens in dieser Zeit, das der – nicht zuletzt durch Autoren wie Henryk Sienkiewicz – verbreiteten Vorstellung von ethnischer und religiöser Homogenität diametral entgegensteht. Du zeigst einen Vielvölkerstaat, in dem neben christlichen auch jüdische und osmanische Einflüsse wirksam sind. Das ist natürlich eine Provokation für alle, die in nationalen oder ethnischen Kategorien denken. Hast du beim Schreiben bewußt versucht, ein Gegenmodell zu vereinheitlichenden, vereinfachenden Darstellungen nationaler Identität zu schaffen?
TOKARCZUK: Als ich »Ksie˛ gi Jakubowe« zu schreiben begann, dachte ich, ich schriebe für eine nicht allzu große Gruppe literarisch versierter und historisch interessierter Leser, und rechnete mit einer Auflage von höchstens zwei- oder dreitausend Exemplaren. Inzwischen wurden 150 000 Exemplare verkauft, das Buch wurde breit diskutiert und es gab zahlreiche Besprechungen. In der Tat revidiert das Buch in gewisser Weise eine verbreitete naive Sicht auf die polnische Geschichte. Kurz gesagt, handelt »Ksie˛ gi Jakubowe« davon, wie die modernen Gesellschaften in Europa entstanden, in diesem Fall in Mitteleuropa, in Polen. Ein zentrales Moment in diesem Entstehungsprozeß war immer die Auseinandersetzung, das Verhandeln mit Fremden, die zur Mehrheitskultur hinzukommen und anders sind. Das führt natürlich unweigerlich zu Spannungen, die daher rühren, daß wir einerseits das Fremde fürchten, es andererseits aber auch eine gewisse Faszination ausübt.
HARTMANN: Ist es Zufall, daß dieses Fremde in »Ksie˛ gi Jakubowe« vor allem durch die jüdischen Sektierer um Jakob Frank verkörpert wird?
TOKARCZUK: Das Verhältnis zu den Juden steht in Europa sinnbildlich für das Verhältnis zum Fremden. Salopp könnte man sagen, die Juden sind die Fremden vom Dienst. Mal passen sie uns in den Kram, denn sie steigern das wirtschaftliche Niveau und ihre Kultur ist in vielerlei Hinsicht nützlich, und mal nicht, dann haßt man sie. In der europäischen Geschichte schwingt das Pendel hin und her. Mein Buch nimmt die Mechanismen des Umgangs mit dem Fremden unter die Lupe, vom Assimilationsdruck bis zu unterschiedlichen Autonomiekonzepten. In ihm sehen wir die Welt vor allem mit den Augen von Außenseitern, die sich einer Mehrheitsgesellschaft anschließen möchten und fragen: Was sind die Bedingungen, was läßt sich gemeinsam aushandeln? Die Ergebnisse solcher Prozesse können unterschiedlich, oft auch tragisch ausfallen, hier endet es damit, daß die Fremden aufgenommen werden, dafür aber alles aufgeben, was ihre Identität ausmacht.
HARTMANN: In der polnischen Rezeption steht dieser Aspekt im Hintergrund. Die Debatte kreist vor allem um die Darstellung der polnischen Wirklichkeit zur Zeit der Handlung.
TOKARCZUK: Weil ich eine Geschichte erzähle, die historisch bedeutsam ist, über die aber lange nicht gesprochen wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Rzeczpospolita, die polnisch-litauische Adelsrepublik, ein mächtiges Königreich, das aber schon erste Zerfallserscheinungen zeigt. Eine Gruppe armer jüdischer Kaufleute um Jakob Frank, deren Auslegung des jüdischen Glaubens sie zu Häretikern macht, möchte sich in die polnische Gesellschaft eingliedern und konvertiert zum Katholizismus, insgesamt etwa 15 000 Menschen. Die katholische Kirche nimmt sie auf, begegnet ihnen aber mit Mißtrauen. Ihr jüdisches Umfeld wendet sich von ihnen ab. Das Buch zeigt, wie die Frankisten in der polnischen Gesellschaft aufgehen – um den Preis der Aufgabe ihres alten Glaubens – und wie sie das im 19. und 20. Jahrhundert einflußreiche polnische Bürgertum mitbegründen und prägen. Bestimmte Glaubenselemente und Denkweisen der Frankisten sind in der polnischen Kultur und Literatur bis heute erkennbar. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle mehr, wer vor zweihundert Jahren einheimisch und wer fremd war.
HARTMANN: Hast du eine Idee, warum vor dir niemand dieses Thema aufgegriffen hat?
TOKARCZUK: Diese Geschichte paßt nicht ins nationale Selbstbild, darum wurde sie vergessen oder verdrängt. Aber nicht nur von den Polen. Die orthodoxen Juden haben sie verdrängt, weil die Frankisten in ihren Augen Abtrünnige und Verräter waren. Und auch die Frankisten selbst und ihre Nachkommen wollten nicht an ihre jüdischen Wurzeln erinnert werden, weil sie auf totale Assimilation setzten.
HARTMANN: Und die Debatten? Wolltest du eine Diskussion anstoßen oder warst du überrascht von manchen Reaktionen?
TOKARCZUK: Als ich das Buch schrieb, war ich politisch völlig unbefangen, ich bin herumgereist, habe in Bibliotheken recherchiert, Quellen studiert, mit Historikern gesprochen. Aber als das Buch vor gut zwei Jahren erschien, kam es in eine ganz andere Zeit. Wir haben inzwischen eine Regierung, die ihre Politik an einem Verständnis der polnischen Geschichte und Identität ausrichtet, in dem die Nation als homogenes Gebilde mit einer langen heroischen Vergangenheit erscheint und alles ausgeblendet wird, was ethnische Minderheiten und überhaupt die Heterogenität unserer Gesellschaft betrifft. Mein Buch dekonstruiert in gewisser Weise jenes nationale Bild. Ich erzähle von dieser Zeit aus Sicht der Provinz und der Peripherie. Weil das Buch aber inhaltlich wenig Angriffsfläche bietet, haben sich die Angriffe aus dem nationalkonservativen Lager großenteils auf meine Person gerichtet.
HARTMANN: Vor zwei Jahren ist in einer Anthologie mit Texten zur Flüchtlingsthematik deine Erzählung »Die Grenze« erschienen. Auch diese vor fast zwanzig Jahren entstandene Erzählung klingt heute merkwürdig aktuell. Weißt du noch, was dich seinerzeit dazu gebracht hat, diesen Text zu schreiben?
TOKARCZUK: Ich erinnere mich, daß ich »Die Grenze« in meinem Haus in Krajanów geschrieben und mich beim Schrei ben ziemlich amüsiert habe. Der Text greift einen im polnischen Denken fest verwurzelten Topos auf, dem zufolge wir die östliche Grenze der europäischen Zivilisation bilden und das christliche Europa gegen Angriffe verteidigen. Ich habe mir eine postapokalyptische Welt vorgestellt, in der alle zivilisatorischen Werte in Vergessenheit geraten sind und die Überlebenden versuchen, aus den Trümmern der Überlieferung eine neue Ordnung zu schaffen, während von jenseits der Grenze immer wieder die Barbaren andrängen und zurückgeschlagen werden müssen. Der Grenzfluß Pruth markierte einst tatsächlich eine Grenze des christlichen Europa, auf der anderen Seite lag das Osmanische Reich, lag der Islam. Damals habe ich die Erzählung als Groteske betrachtet, als literarischen Scherz. Ich hätte nicht gedacht, daß uns das Thema Jahre später unmittelbar betrifft. Als ich gefragt wurde, ob ich bei einem Buchprojekt zugunsten einer polnischen Flüchtlingshilfeorganisation mitmachen würde, wollte ich eigentlich einen neuen Text schreiben. Doch dann fand ich im Computer diese noch unveröffentlichte Erzählung, die plötzlich eine ganz neue Bedeutung gewann.
[…]Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 4/2017, S. 447-457, hier S. 447-451.
Tokarjewa, Viktorija
- 1/1982 | Nichts Besonderes
Tokunga, Sunao
- 2/1954 | Stille Berge
Tolstoi, Leo
Tolstoi, Lew
- 5-6/1960 | Dokumente zu Tolstois Tod
- 5/2010 | Gespräch mit Prow Stetschkin (1906). »Ich wundere mich über nichts mehr«
Toma, A.
- 4/1951 | Gesang von den Händen
Tomeu, Humberto Rodríguez
- 5/2019 | Gombrowicz, Piñera und ich
Toper, Pawel
- 2/1966 | Brief aus Moskau
Tophoven, Erika
- 3/2012 | »The Dom in Naumburg was stupendous«. Beckett 1937 in Mitteldeutschland, S. 348 Leseprobe
Tophoven, Erika
»THE DOM IN NAUMBURG WAS STUPENDOUS» Beckett 1937 in Mitteldeutschland
In meinen Kindertagen drang der Name Halle immer wieder an mein Ohr. Es war die Studienstadt meines Vaters und später meiner beiden älteren Schwestern. Ich selbst erinnere mich nur an den Bahnhof, wo ich als Zwölfjährige im Sommer 1943 einen Zug aus Hamburg vorbeifahren sah, vollgestopft mit Menschen, die dem Inferno des Großangriffs auf die Hansestadt entkommen waren.
Ich hätte mit Samuel Beckett im Verlauf unserer zahlreichen Zusammenkünfte in Paris zwischen 1957 und 1987 darüber sprechen können, aber von seinem Aufenthalt in Halle oder in den zwanzig anderen Städten, die er während seiner Deutschlandreise 1936/37 besuchte, war nie die Rede. Seine »German Diaries« wurden erst nach seinem Tod 1989 entdeckt. 2003 konnte ich die englische Originalfassung seiner Hamburger Aufzeichnungen transkribieren. Sie erschien in einer kleinen Auflage, graphisch gestaltet von Roswitha Quadflieg in der Raamin-Presse. Die Berliner Auszüge waren die Grundlage für mein 2005 beim Nicolai Verlag erschienenes Buch »Becketts Berlin«. Für das Folgende bilden Becketts Notizen über seine Aufenthalte in Halle, Weimar, Erfurt und Naumburg den Ausgangspunkt.
Halle
Der 23. Januar 1937 begann für Samuel Beckett in Halle an der Saale und endete in Weimar an der Ilm. Heinz Porep aus Halle, der für eine Nacht in derselben kleinen Pension wie Beckett in Berlin in der Budapester Straße 45 logierte, wo er offenbar Stammkunde war, hatte ihm zu dieser Unterbrechung seiner Rundreise geraten. Die beiden waren am letzten Abend von Becketts Berlin-Aufenthalt ins Gespräch gekommen, und es hatte sich schnell herausgestellt, daß dieser Bühnenbildner eine beeindruckende Persönlichkeit war. Met a grand stage decorator in love with Mexico, Traven & Darius Milhaud, schreibt Beckett am 25. Januar 1937 auf einer Ansichtskarte »Residenzschloß Weimar« an seinen Freund Thomas McGreevy in London. Man wüßte gern mehr über diesen Mann, der eine große Anziehungskraft auf Beckett ausübte, aber das wenige, was man über ihn in Erfahrung bringen kann, ist schon interessant genug. In love with Mexico: Ja, Porep war nach seinem Kunststudium in München und Weimar zu einer Mexikoreise aufgebrochen, wo er zufällig den sagenumwobenen Schriftsteller Bruno Traven kennenlernte und eine Zeitlang auf dessen Farm lebte. Traven wurde in Deutschland polizeilich verfolgt, wegen angeblicher Verbindungen zur Münchner Räterepublik. Er war nach Mexiko geflohen und, wie Porep feststellte, inzwischen voll und ganz mexikanisiert. Auch diesem gefiel die dortige Lebensweise, er sehnte sich danach zurück und erhielt sogar einen Filmauftrag der mexikanischen Regierung, den er jedoch wegen wiederholter Thrombose im Bein – eine schauderhafte Sache – nicht realisieren konnte. Freunde hatten ihn 1935 zur Rückkehr nach Deutschland überredet, weil er sich als Händel-Experte einen Namen gemacht hatte. In jenem Jahr fanden in Halle die ersten Händelfestspiele statt. Georg Friedrich Händel, 1685 in Halle geboren, ein Weltbürger, in Italien wie in England verehrt, ab 1727 englischer Staatsbürger und seit 1784 alljährlich mit den englischen Händel-Festen gefeiert, kam anläßlich seines 250.Geburtstags auch in seiner Heimatstadt zu Ehren.
Poreps Bekanntschaft mit Darius Milhaud geht vermutlich auf seine Zeit als Bühnenbildner in Baden-Baden zurück. Dort fand am 17. Juli 1927 ein Festival deutscher Kammermusik statt. Auf dem Programm stand die Uraufführung von Paul Hindemiths Kurzoper »Hin und zurück«, Dirigent Ernst Mehlich, Regie Walther Brügemann, Bühnenbild Heinz Porep. Am selben Abend kamen drei weitere Kurzopern zur Uraufführung »Die Entführung der Europa« von Darius Milhaud, Kurt Weills »Mahagonny-Songspiel« (mit Texten von Bertolt Brecht) und »Die Prinzessin auf der Erbse« von Ernst Toch.
Der vielseitig talentierte und welterfahrene Porep war offenbar eine charismatische Erscheinung. Am I altogether mislead or is he not altogether charming? notiert Beckett im Tagebuch. Porep kannte Maler, mit denen Beckett in Hamburg zusammengetroffen war, hatte enge Kontakte zu den Hallenser Kunstsammlern Marie und Felix Weise und machte Beckett auf die Expressionismus-Sammlung in der Staatlichen Galerie Moritzburg aufmerksam, die der ehemalige Museumsdirektor Max Sauerlandt von 1908 bis 1918 zusammengetragen hatte. Namen über Namen, die auf den jungen Deutschlandreisenden geradezu elektrisierend gewirkt haben müssen, hatte er doch kurz zuvor in Hamburg noch Sauerlandts Witwe kennengelernt. Beckett schildert seine Besuche bei ihr am 21. und 26. November 1936 in seinem Hamburger Tagebuch. In ihrer Wohnung sah er mehrere Bilder von Nolde, some lovely watercolours & etchings und Porträts der jüngsten Tochter, die während seines Besuchs im Nebenzimmer Klavier spielte: admirable pianistics from daughter in next room, Bach & Beethoven. Er erwähnt ferner 4 excellent S.-Rottluff Aquarellen, a lovely Kirchner Aquarell & a Ballmer.
Mit Porep gab es so viele Gemeinsamkeiten, daß Beckett sich spontan entschloß, das Gespräch mit ihm, der schon am nächsten Morgen in aller Frühe abgereist war, in Halle fortzusetzen und sich die Sammlung in der Moritzburg anzusehen. Es war die letzte Gelegenheit, denn der von den Nazis im Februar 1935 kommissarisch eingesetzte Museumsleiter Schiebel hatte gleich nach seinem Amtsantritt die Werke der »Verfallskunst« aus den Ausstellungsräumen entfernt und in einem abgeschlossenen Raum im Dachgeschoß untergebracht. Die »Schreckenskammer« diente Nazi-Funktionären zu Schulungszwecken. Wissenschaftlich interessierte Besucher mußten sich in einem vorgelegten Buch eintragen. Außerdem hatten sie zum Eintrittsgeld von 20 Pfennigen zusätzlich 20 Pfennige für die Besichtigung der nur bei künstlichem Licht gezeigten Bilder zu entrichten.
[…]SINN UND FORM 3/2012, S. 348-364.
Tormey, Simon
Törne, Volker von
- 1/1982 | Memorial
Tournier, Michel
- 5/1984 | Ich bin wie die diebische Elster
- 2/1988 | Die beiden Freunde
- 2/1992 | Germaine Necker de Stael - Porträt einer Frau
- 4/1993 | Der Flug des Vampirs
- 4/1998 | Der Spiegel der Ideen (I)
- 1/1999 | Der Spiegel der Ideen (II)
- 1/1999 | Gespräch mit Joachim Meinert
- 3/2002 | Von Jahreszeiten und Heiligen
- 3/2003 | Journal extime
- 5/2004 | Kleine Essays und Tagebuchnotizen
- 3/2007 | Lektüre der frühen Jahre
- 2/2010 | Kleines Porträt von fünf Lehrern, S. 198 Leseprobe
Tournier, Michel
Kleines Porträt von fünf Lehrern
Claude Lévi-Strauss
Es war 1950. Das befreite Frankreich suchte seine zweite Luft. Von der Höhe seiner Panoramawohnung herrschte noch immer Paul Rivet über »sein« Musée de l’Homme, mit einer Eifersucht, die nur von zwei reizenden weißhaarigen Fräulein einen Stock tiefer, seinen Schwestern, gemäßigt wurde. Um sie scharten sich Gruppen von Forschern, die aus zwanzig Disziplinen kamen, aber vereint durch das Losungswort Reise, den seltsamen und verlockenden Begriff Ethnologie mit Sinn zu erfüllen suchten. Darunter waren ein paar weltfremde, ironische, rätselhafte Menschen, die ihre andersartige Herkunft mit aller Kraft vergessen machen wollten. Für die Kandidaten der philosophischen Staatsprüfung, die man hierher geschickt hatte, damit sie wenigstens einmal mit dem Wirklichen und Konkreten in Berührung kamen, war die Metaphysik, selbst nach Meinung ihrer Lehrer an der Sorbonne, etwas Verschwommenes und Nebulöses.
So lernten wir also, daß man einen prähistorischen Schädel erkennt, indem man mit der Zunge darüber fährt: das Gefühl, an dem porösen Knochen hängenzubleiben, erklärt sich durch das Verschwinden der Knochenhaut, ein unstrittig prähistorisches Merkmal. Und daß sich leicht erkennen läßt, ob ein Beckenknochen von einer Frau, die schon geboren hat, stammt, da die zarte Symphyse, welche die Schambeinfuge verbindet, beim Geburtsvorgang reißt. Daß der Eskimoschädel einen verstärkten Scheitelgrat hat – wie die Stahlhelme im ersten Weltkrieg –, den er seltsamerweise mit den Schlittenhunden gemein hat. Daß der Bumerang, der »zurückkehrt«, nur die sportlich-künstlerische, also unseriöse Abwandlung eines schweren zweckmäßigen Jagd- und Kriegsgeräts ist, das nicht an Rückkehr denkt. Daß Eisberge, obwohl im Meer treibend, aus Süßwasser bestehen. Und tausend andere Wunderdinge im Stile eines Jean Giraudoux, die geeignet waren, unseren Geist eher mit den Flügeln der Poesie als mit den bleiernen Sohlen der Wissenschaft auszustatten.
Aber alles änderte sich dienstags, wenn Claude Lévi-Strauss seine Ethnologievorlesung hielt. Als eine Art Losungswort hatten wir das herrlich surrealistische Motto gewählt, das »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« eröffnet: »Ein Schwiegerverwandter ist ein Elefantenschenkel«. Vornehm wie ein in Oxford erzogener assyrischer Prinz, unterschied er sich deutlich vom Auftreten seiner Kollegen, die sich gern als »auf allen Gebieten zu Hause« präsentierten. Bei ihm hieß es zuerst einmal, sich eine neue Sprache anzueignen. Eine Verwechslung etwa von Kreuzkusinen und Parallelkusinen, patrilinearer und patrilokaler Abstammung, bilateraler Heirat und dualer Organisation, disharmonischen Systemen und verallgemeinertem Austausch durfte keinesfalls passieren. Wenn er über einen zentralbrasilianischen Indianerstamm sprach, bedeckte sich die Wandtafel sogleich mit algebraähnlichen Zeichen, die dessen soziale Organisation darstellten. So wie alle Körper eine chemische Formel haben, galt auch für jede Gesellschaft eine unverwechselbare Formel. Doch das war nicht alles. Wir erfuhren, daß Lévi-Strauss mit ebenjenen Indianern fünfzehn Jahre zuvor herumgewandert war und bei ihnen gelebt hatte. Daß der Stamm bereits damals wenig mehr als hundert Menschen zählte und inzwischen bestimmt ausgestorben war. Dort hörte ich zum erstenmal das Wort Völkermord. Wir erlebten also das Paradoxon, daß die Ethnologie just in dem Augenblick, als sie eine exakte Wissenschaft wurde, ihren Gegenstand verlor und etwas Tragisches bekam.
Freud hatte das bedrückende, brutale Idol des Inzesttabus aus dem Unbewußten hervorgeholt, das nun unser System von Tabus und Verboten beherrschte. Wie aber stand es um seine Lehren in abgelegenen Gesellschaften, die keinen Kontakt mit der jüdisch-christlichen Sphäre hatten und in ein anderes geistiges Klima getaucht waren? Lévi-Strauss zeigte uns, daß diese Frage ebenso viele Antworten enthielt, wie es Gesellschaften gibt, und daß sie wie eine chemische Formel für jede einzelne entwickelt, variiert, verfeinert werden muß. Denn Freuds kompakte, grobe Darstellung muß durch ein System ersetzt werden, das so fein wie ein Webteppich ist, in dem sich die Motive nach exakten Regeln verbinden. Es handelt sich nicht mehr um ein bloßes durch Frevel und Züchtigung bestimmtes Tabu – das Drama des Ödipus –, sondern um eine Organisation aller Heiraten in der Gruppe, die zur größten Ausgeglichenheit führt. Das westliche Denken geht davon aus, daß junge Menschen einander allein infolge des heftigen und regellosen Ansturms der »Leidenschaft« »erwählen«. So können wir uns kaum vorstellen, wie eine Gesellschaft alle Verbindungen so kodifiziert, daß jedem der passende Platz in der Gemeinschaft sicher ist. Dies jedoch gilt für viele der von Lévi-Strauss untersuchten Gesellschaften. Diese »sogenannten primitiven Gesellschaften«, wie er sie bezeichnete, können sich mit unserer technisch vermutlich nicht messen, ja sie sind womöglich sogar derart anfällig, daß schon ein einziger Kontakt mit dem ungeheuren, ungeheuerlichen Abendland tödlich für sie sein kann, und doch hatten sie Erfolg in einem wesentlichen Bereich, wo unser System jedes Jahr mehr versagt: bei der Integration des Individuums in die Gruppe.
Zu Anfang des Studienjahrs wies Lévi-Strauss jedem eine »sogenannte primitive « Population zu, über die wir bis zu den Ferien Bescheid wissen sollten. Wenn ich in den Spiegel schaue, frage ich mich bisweilen noch heute, weshalb ich die Selknam erhielt, einen Stamm aus Feuerland, der vor über hundert Jahren ausstarb, weil er sich den Segnungen der Zivilisation und des Christentums absolut verweigerte. Gleichviel. Die folgenden sechs Monate verbrachte ich in meiner Phantasie zwischen Kap Hoorn und der Magellan-Straße, auf jener von unablässigem Sturm gepeitschten Insel, bei Menschen, um deren weiß bemalte Körper weite schwarze Umhänge flatterten. Ich habe noch andere Phantasie-Expeditionen unternommen, die ebenso gründlich und bereichernd wie die »allererste« waren, doch alle leiten sich von ihr her.
Eines Tages ging ich mit einem Rundfunktechniker zu Lévi-Strauss. Ich machte eine Umfrage zu den Funktionen der Sprache. Meine erste Frage weiß ich noch genau: »Angenommen, wir hätten von einer untergegangenen Gesellschaft nur ein Wörterbuch und eine Grammatik, was wüßten wir über sie?« Er antwortete sofort mit einem einzigen Wort: alles. Nach seiner Auffassung war aus Wörterbuch und Grammatik alles ableitbar: Religion, politische Organisation, Techniken, Heiratsbeziehungen usw. Und es war höchst vergnüglich, seine Beispiele zu hören, wie englische und französische »Ausdrucksweisen« Denk- und Empfindungsweisen auf eine nicht mehr zurückführbare Art wiedergeben. Damit wurde das Unsagbare, nicht Ausdrückbare, Unaussprechliche auf den bescheidensten Teil reduziert, ein für Lévi-Strauss typischer Zug von Rationalismus.
Ich brauchte mindestens fünfzehn Jahre, um die Lehre der »sogenannten primitiven« Gesellschaften und der guten Wilden, aus denen sie bestehen, auf meine Art umzusetzen. Doch als ich »Freitag oder Im Schoß des Pazifik« veröffentlicht hatte, zögerte ich, meinem ehemaligen Lehrer diesen kleinen lyrischen Roman zu schicken. Aber die Herkunft war nicht zu verheimlichen. Ein amerikanischer Kritiker bemerkte sogleich: »Ein ›Robinson Crusoe‹, neu geschrieben von Freud, Walt Disney und Claude Lévi-Strauss.«
[...]
Aus dem Französischen von Joachim Meinert
SINN UND FORM 2/2010, S. 152-155
- 3/2012 | Madame Bovary - eine erstickte Mystikerin
Tournier, Michel
- 5/1984 | Ich bin wie die diebische Elster
- 2/1988 | Die beiden Freunde
- 2/1992 | Germaine Necker de Stael - Porträt einer Frau
- 4/1993 | Der Flug des Vampirs
- 4/1998 | Der Spiegel der Ideen (I)
- 1/1999 | Der Spiegel der Ideen (II)
- 1/1999 | Gespräch mit Joachim Meinert
- 3/2002 | Von Jahreszeiten und Heiligen
- 3/2003 | Journal extime
- 5/2004 | Kleine Essays und Tagebuchnotizen
- 3/2007 | Lektüre der frühen Jahre
- 2/2010 | Kleines Porträt von fünf Lehrern, S. 137 Leseprobe
Tournier, Michel
Kleines Porträt von fünf Lehrern
Claude Lévi-Strauss
Es war 1950. Das befreite Frankreich suchte seine zweite Luft. Von der Höhe seiner Panoramawohnung herrschte noch immer Paul Rivet über »sein« Musée de l’Homme, mit einer Eifersucht, die nur von zwei reizenden weißhaarigen Fräulein einen Stock tiefer, seinen Schwestern, gemäßigt wurde. Um sie scharten sich Gruppen von Forschern, die aus zwanzig Disziplinen kamen, aber vereint durch das Losungswort Reise, den seltsamen und verlockenden Begriff Ethnologie mit Sinn zu erfüllen suchten. Darunter waren ein paar weltfremde, ironische, rätselhafte Menschen, die ihre andersartige Herkunft mit aller Kraft vergessen machen wollten. Für die Kandidaten der philosophischen Staatsprüfung, die man hierher geschickt hatte, damit sie wenigstens einmal mit dem Wirklichen und Konkreten in Berührung kamen, war die Metaphysik, selbst nach Meinung ihrer Lehrer an der Sorbonne, etwas Verschwommenes und Nebulöses.
So lernten wir also, daß man einen prähistorischen Schädel erkennt, indem man mit der Zunge darüber fährt: das Gefühl, an dem porösen Knochen hängenzubleiben, erklärt sich durch das Verschwinden der Knochenhaut, ein unstrittig prähistorisches Merkmal. Und daß sich leicht erkennen läßt, ob ein Beckenknochen von einer Frau, die schon geboren hat, stammt, da die zarte Symphyse, welche die Schambeinfuge verbindet, beim Geburtsvorgang reißt. Daß der Eskimoschädel einen verstärkten Scheitelgrat hat – wie die Stahlhelme im ersten Weltkrieg –, den er seltsamerweise mit den Schlittenhunden gemein hat. Daß der Bumerang, der »zurückkehrt«, nur die sportlich-künstlerische, also unseriöse Abwandlung eines schweren zweckmäßigen Jagd- und Kriegsgeräts ist, das nicht an Rückkehr denkt. Daß Eisberge, obwohl im Meer treibend, aus Süßwasser bestehen. Und tausend andere Wunderdinge im Stile eines Jean Giraudoux, die geeignet waren, unseren Geist eher mit den Flügeln der Poesie als mit den bleiernen Sohlen der Wissenschaft auszustatten.
Aber alles änderte sich dienstags, wenn Claude Lévi-Strauss seine Ethnologievorlesung hielt. Als eine Art Losungswort hatten wir das herrlich surrealistische Motto gewählt, das »Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft« eröffnet: »Ein Schwiegerverwandter ist ein Elefantenschenkel«. Vornehm wie ein in Oxford erzogener assyrischer Prinz, unterschied er sich deutlich vom Auftreten seiner Kollegen, die sich gern als »auf allen Gebieten zu Hause« präsentierten. Bei ihm hieß es zuerst einmal, sich eine neue Sprache anzueignen. Eine Verwechslung etwa von Kreuzkusinen und Parallelkusinen, patrilinearer und patrilokaler Abstammung, bilateraler Heirat und dualer Organisation, disharmonischen Systemen und verallgemeinertem Austausch durfte keinesfalls passieren. Wenn er über einen zentralbrasilianischen Indianerstamm sprach, bedeckte sich die Wandtafel sogleich mit algebraähnlichen Zeichen, die dessen soziale Organisation darstellten. So wie alle Körper eine chemische Formel haben, galt auch für jede Gesellschaft eine unverwechselbare Formel. Doch das war nicht alles. Wir erfuhren, daß Lévi-Strauss mit ebenjenen Indianern fünfzehn Jahre zuvor herumgewandert war und bei ihnen gelebt hatte. Daß der Stamm bereits damals wenig mehr als hundert Menschen zählte und inzwischen bestimmt ausgestorben war. Dort hörte ich zum erstenmal das Wort Völkermord. Wir erlebten also das Paradoxon, daß die Ethnologie just in dem Augenblick, als sie eine exakte Wissenschaft wurde, ihren Gegenstand verlor und etwas Tragisches bekam.
Freud hatte das bedrückende, brutale Idol des Inzesttabus aus dem Unbewußten hervorgeholt, das nun unser System von Tabus und Verboten beherrschte. Wie aber stand es um seine Lehren in abgelegenen Gesellschaften, die keinen Kontakt mit der jüdisch-christlichen Sphäre hatten und in ein anderes geistiges Klima getaucht waren? Lévi-Strauss zeigte uns, daß diese Frage ebenso viele Antworten enthielt, wie es Gesellschaften gibt, und daß sie wie eine chemische Formel für jede einzelne entwickelt, variiert, verfeinert werden muß. Denn Freuds kompakte, grobe Darstellung muß durch ein System ersetzt werden, das so fein wie ein Webteppich ist, in dem sich die Motive nach exakten Regeln verbinden. Es handelt sich nicht mehr um ein bloßes durch Frevel und Züchtigung bestimmtes Tabu – das Drama des Ödipus –, sondern um eine Organisation aller Heiraten in der Gruppe, die zur größten Ausgeglichenheit führt. Das westliche Denken geht davon aus, daß junge Menschen einander allein infolge des heftigen und regellosen Ansturms der »Leidenschaft« »erwählen«. So können wir uns kaum vorstellen, wie eine Gesellschaft alle Verbindungen so kodifiziert, daß jedem der passende Platz in der Gemeinschaft sicher ist. Dies jedoch gilt für viele der von Lévi-Strauss untersuchten Gesellschaften. Diese »sogenannten primitiven Gesellschaften«, wie er sie bezeichnete, können sich mit unserer technisch vermutlich nicht messen, ja sie sind womöglich sogar derart anfällig, daß schon ein einziger Kontakt mit dem ungeheuren, ungeheuerlichen Abendland tödlich für sie sein kann, und doch hatten sie Erfolg in einem wesentlichen Bereich, wo unser System jedes Jahr mehr versagt: bei der Integration des Individuums in die Gruppe.
Zu Anfang des Studienjahrs wies Lévi-Strauss jedem eine »sogenannte primitive « Population zu, über die wir bis zu den Ferien Bescheid wissen sollten. Wenn ich in den Spiegel schaue, frage ich mich bisweilen noch heute, weshalb ich die Selknam erhielt, einen Stamm aus Feuerland, der vor über hundert Jahren ausstarb, weil er sich den Segnungen der Zivilisation und des Christentums absolut verweigerte. Gleichviel. Die folgenden sechs Monate verbrachte ich in meiner Phantasie zwischen Kap Hoorn und der Magellan-Straße, auf jener von unablässigem Sturm gepeitschten Insel, bei Menschen, um deren weiß bemalte Körper weite schwarze Umhänge flatterten. Ich habe noch andere Phantasie-Expeditionen unternommen, die ebenso gründlich und bereichernd wie die »allererste« waren, doch alle leiten sich von ihr her.
Eines Tages ging ich mit einem Rundfunktechniker zu Lévi-Strauss. Ich machte eine Umfrage zu den Funktionen der Sprache. Meine erste Frage weiß ich noch genau: »Angenommen, wir hätten von einer untergegangenen Gesellschaft nur ein Wörterbuch und eine Grammatik, was wüßten wir über sie?« Er antwortete sofort mit einem einzigen Wort: alles. Nach seiner Auffassung war aus Wörterbuch und Grammatik alles ableitbar: Religion, politische Organisation, Techniken, Heiratsbeziehungen usw. Und es war höchst vergnüglich, seine Beispiele zu hören, wie englische und französische »Ausdrucksweisen« Denk- und Empfindungsweisen auf eine nicht mehr zurückführbare Art wiedergeben. Damit wurde das Unsagbare, nicht Ausdrückbare, Unaussprechliche auf den bescheidensten Teil reduziert, ein für Lévi-Strauss typischer Zug von Rationalismus.
Ich brauchte mindestens fünfzehn Jahre, um die Lehre der »sogenannten primitiven« Gesellschaften und der guten Wilden, aus denen sie bestehen, auf meine Art umzusetzen. Doch als ich »Freitag oder Im Schoß des Pazifik« veröffentlicht hatte, zögerte ich, meinem ehemaligen Lehrer diesen kleinen lyrischen Roman zu schicken. Aber die Herkunft war nicht zu verheimlichen. Ein amerikanischer Kritiker bemerkte sogleich: »Ein ›Robinson Crusoe‹, neu geschrieben von Freud, Walt Disney und Claude Lévi-Strauss.«
[...]
Aus dem Französischen von Joachim Meinert
SINN UND FORM 2/2010, S. 152-155
- 3/2012 | Madame Bovary - eine erstickte Mystikerin
Tragelehn, B. K.
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Tragelehn, B.K.
- 3/1992 | Nachträge zu NÖSPL
- 6/1993 | Die Niederlage
- 4/1995 | Gedichte
- 2/1997 | Räubertheater
- 5/1997 | Die Geschichte der Reise
- 3/2003 | Gespräch mit Renatus Deckert
- 4/2003 | Der fröhliche Sisyphos. Aus den Aufzeichnungen eines Übersetzers
Träger, Claus
- 4/1959 | Schiller als Theoretiker des Übergangs vom Ideal zur Wirklichkeit
- 4/1960 | Problematische Freiheit und Irrwege der Tragödie
- 4/1961 | Novalis und die ideologische Restauration
- 4/1962 | Georg Forster und die Verwirklichung der Philosophie
- 1/1979 | Revolution und Literatur bei Marx
Traven, B.
- 5/2005 | B. Traven. Briefe an Johannes Schönherr. Vorbemerkung Carsten Wurm
Tretjakow, Sergej
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Hanns Eisler
Trettondal-Ericson, Edvin
- 4/1951 | Aus: Spartacus
Trifonow, Juri
- 3/1976 | Unaufhörlicher Anfang
- 4/1978 | Aufzeichnungen eines Nachbarn
- 3/1979 | Der Alte
- 1/1982 | Drei Geschichten von sieben
- 3/1982 | Rätsel und Prophetie Dostojewskis
- 4/1985 | Der Kern der Wahrheit
Trilse-Finkelstein, Jochanan C.
- 4/1992 | Brieftauben des Holocaust - zwischen Auflösung und Versöhnung
Trilse, Jochanaan Christoph
- 4/1986 | Der Clown S.B. - oder: Spiele einer großen Absage
- 4/1988 | Natur im Gesellschaftsroman - Lisa Pirskawetz: « Der Stille Grund«
Trolle, Lothar
- 3/1987 | Bericht des Sergeanten G.
- 2/1988 | K. oder ein Leben auf dem Lande
- 2/1991 | Hermes in der Stadt (nach F.G. Jünger, W. Serner, B. Wagner u. a.)
- 2/2012 | »Wir gingen davon aus, daß aus uns nichts wird.« Gespräch mit Martina Hanf
Troller, Georg Stefan
- 1/2019 | Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Marion Neumann über Heimat, Emigration und Verwandlung, S. 136 Leseprobe
Troller, Georg Stefan
Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Marion Neumann über Heimat, Emigration und Verwandlung
MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von Ihrer Rückkehr nach Paris. Wie haben die Jahre des Exils Sie geprägt? Und hat sich diese Zeit auch auf Ihren Stil ausgewirkt?
GEORG STEFAN TROLLER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Jahrelang habe ich unter Zukunfts- und Lebensangst gelitten, auch unter der Minderwertigkeit, die mir so viele Jahre lang eingetrichtert wurde, und der eigenen Bedeutungslosigkeit: Es kommt nicht auf dich an. Ob du lebst oder stirbst ist der Welt vollkommen gleichgültig. Ein Soldat, der im Krieg fällt, hat irgendwie seine Pflicht getan oder war Teil eines Verbunds. Der Emigrant hingegen ist isoliert, bestenfalls mit seiner Familie unterwegs, aber sonst hat er niemanden. Er ist ein Einzelwesen, das sich sinnlos vorkommt. Diese Sinnlosigkeit des eigenen Lebens muß man und kann man, wenn man jung ist, überwinden. In meinem Fall waren es die journalistischen Arbeiten, meine Filme und Bücher, die mich mein Leben als halbwegs gerechtfertigt ansehen ließen. Daß die Emigration heutzutage Exil genannt wird, scheint mir die Veredelung einer Sache durch ein schönes Wort zu sein. Wir kannten das Wort gar nicht. Exil, das war Thomas Mann, vielleicht noch Brecht oder Anna Seghers – Leute, die zurückkommen und Deutschland umformen würden. Wir hatten ja keine Idee davon, wir waren überzeugt, daß wir in unseren Ländern, Amerika, Mexiko oder Shanghai, bleiben würden, weil es nichts Besseres gab und weil kein Ruf aus der Heimat kam: »Wir wollen euch zurück.« Die österreichische Sozialistische Partei etwa war zum Großteil von menschenfreundlichen Juden gegründet und geleitet worden. In der Emigration bekamen sie Briefe von den Daheimgebliebenen und neu erwachten Sozialisten, daß sie doch bitte bleiben sollten, wo sie waren, damit man nicht wieder als Judenpartei in Verruf käme. Und wer hätte mich denn gebraucht? Ich hatte mir eine Chance ausgerechnet, in Los Angeles, wo ich damals wohnte, Scriptwriter für Hollywood zu werden. Das hätte ich auch gekonnt, berühmt wäre ich wohl nicht geworden. Und ob ich glücklich geworden wäre, weiß ich auch nicht. Es gab so viele Emigranten, die in Hollywood unterkamen, ich kannte viele. Erich von Stroheim etwa traf ich nach seiner Rückkehr in Europa wieder. Denn auch ich kehrte 1949 aus Europasehnsucht zurück, obwohl alle Kollegen und Kameraden sagten, ich sei meschugge, in dieses zerdepperte deutsche Kulturgebiet zu gehen, wo nichts zu holen sei. Ich werde immer wieder gefragt, ob Frankreich oder Amerika meine Heimat ist: Eine Heimat kann man sich nicht wieder aufbauen, das funktioniert nicht. Man kann einen Wohnsitz und Freunde finden, man kann sich zurechtfinden und seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber Heimat ist da, wo man zum ersten Mal die Welt als etwas wahrgenommen hat, das außerhalb von einem selbst besteht. Heimat ist das Kennenlernen der Umwelt als kleines Kind. Wie uns die Psychologie lehrt, finden die entscheidenden Erfahrungen größtenteils vor dem achten oder zehnten Lebensjahr statt, und diese machst du nur in der Heimat als Zugehöriger. Und so ist dieses Österreich, das mich rausgeworfen hat, doch Heimat, ich kann es nicht ableugnen.
NEUMANN: Sie haben über 150 Reportagen und Filme gedreht, meistens Porträtfilme, die fast immer davon handeln, wie ein Mensch in schwierigen oder hoffnungslosen Situationen zurechtkommt. Wie hat Ihre Jugend, die Sie dann auch in Amerika verbrachten, Ihren Zugang zu diesen Themen geprägt?
TROLLER: Einen Film, der mir besonders am Herzen liegt – »Ron Kovic – Warum verschwindest du nicht?« –, habe ich 1977 mit einem amerikanischen Vietnam-Veteranen gedreht. Kovic war querschnittsgelähmt, seit seinem 23. Lebensjahr im Rollstuhl, und kämpfte nicht nur gegen den Vietnam-Krieg, sondern allgemein gegen Krieg. Dieser ungebildete Junge, der den Titel seiner Autobiographie »Geboren am 4. Juli« nicht richtig buchstabieren konnte, hatte begriffen, worum es geht: Jeder kann seine Schwächen überwinden. Das ist mir sehr nahegegangen, weil ich mich als Kind nicht mochte und mich als verzweifelten Fall ansah. In Amerika habe ich vor allem gelernt, daß man sich zu einem neuen Menschen ummodeln kann. Die Millers oder Smiths hießen alle ursprünglich Müller oder Schmidt und waren zuvor ganz andere Leute: arme Emigranten, arme Juden, arme Deutsche. Alle waren hoffnungslose Fälle, ohne professionelle Ausbildung. Sie änderten ihre Namen, wurden Amerikaner und schließlich zu anderen, vielleicht auch fähigeren Menschen. Als amerikanischer Student in Kalifornien habe ich mich Steve genannt – George habe ich immer gehaßt. Und Steve war ein anderer, ein interessanter Europäer von irgendwoher, ein Dichter und Frauenliebhaber – Steve kam an. Ich wußte, daß ich das nicht bin, und ging zurück, weil ich wieder ich sein wollte. Diese Möglichkeit der Selbstverwandlung gibt es. Mein verstorbener Bruder zum Beispiel, der in England lebte, hat sich zum Katholizismus bekehrt. Er wurde begeisterter Katholik, hat seine ganze Arbeitskraft und sein Geld der Kirche gewidmet und ist in Frieden mit seinem Gott gestorben. Das war nicht vorgesehen. Auf einmal war er Francis Trent, obwohl er in Wirklichkeit Herbert Troller hieß. Die Möglichkeit, jemand zu werden, der wir sein wollen, haben wir alle – ohne daß wir unbedingt unseren Namen ändern müßten. Mich interessierte in meinen Filmen immer: Wie ziehst du dich am eigenen Zopf aus der Misere? Denn nur du kannst es, andere können höchstens helfen. Und wie die Leute, mit denen ich diese Filme gedreht habe, es geschafft haben, fand ich lehrreich für mich und andere.
NEUMANN: Sie zitieren in Ihrem Erinnerungsbuch sehr eindrücklich Alfred Polgar, der 1938 im Prager Tagblatt über die Lage der österreichischen Flüchtlinge schrieb: »Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet.« Ihre Erlebnisse liegen über siebzig Jahre zurück. Hat sich heute in der Haltung der Leute auf beiden Seiten des Stroms etwas geändert?
TROLLER: Rund um Europa werden überall Mauern aufgerichtet, genau wie damals, und jedes einzelne Land denkt oder sagt offen: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet. Und dann schaue ich mir die Gesichter der Flüchtlinge an, der Frauen und Kinder, der jungen Männer. Sie sehen nicht anders aus als ich und haben dieselben Gefühle. Meistens hatten sie irgendwo ein Haus oder eine Wohnung. Zum Teil hatten sie Arbeit, zum Teil waren sie Intellektuelle. All das ist zerstört oder aufgegeben worden, und jetzt dürfen sie darum bitten, sich als Zimmermädchen oder Straßenarbeiter integrieren zu dürfen. Auch das wird abgelehnt, weil sie zu viele sind. Wie viele sind »zu viele"? In der Schweiz gab es den Spruch »Das Boot ist voll«. Er wurde zu einer Zeit verkündet, als es dort um die fünf Prozent Ausländer gab. Später sagte man, die Obergrenze liege bei 25 Prozent. Nun wird auch diese Zahl schon in manchen Ländern überschritten. Manche fühlen sich fremd in ihrem eigenen Land. Ich habe mal einen Film mit Abbé Pierre gemacht, einem katholischen Geistlichen, der als Apostel der Obdachlosen in Frankreich Tausende von Behelfswohnungen errichten half. Im Krieg war er im Widerstand und hat jüdische Kinder gerettet und über die Grenze gebracht. Er sagte mir: »Wenn die wohlhabende Welt nicht zehn Prozent ihres Einkommens, und das betrifft jeden einzelnen Bürger, abführt, so werden unweigerlich diese Ausgespuckten und Verhungerten der Dritten Welt millionenfach zu uns nach Europa kommen, und was willst du dann tun? Mit Maschinengewehren hineinfeuern?« Er hat vor dreißig Jahren vorhergesehen, was passieren würde.
NEUMANN: Was raten Sie jungen Menschen, was sie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun können?
TROLLER: Noch läuft alles gut. Die Jugend hat Zukunft. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Es kann sich glücklich schätzen, es gibt sehr viel Freiheit und auch Respekt vor der Jugend. Man hört ihr zu und tut etwas für sie. Ganz allgemein bin ich optimistisch. Aber ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringt: der Brexit in England, der zunehmende Nationalismus in Österreich, Polen, Ungarn etc. Irgendwie kommt da etwas auf uns zu, das einen fatal an die dreißiger Jahre erinnert. Das Volk wird nicht mehr vom Volk repräsentiert, sondern von Volksverführern, die behaupten, in seinem Namen zu sprechen, und ihre Ideen durchsetzen, die immer von Ausländerhaß getragen sind oder von Haß gegen andere Religionen, gegen Banker und Unternehmer, gegen die Reichen und Eliten ganz allgemein. Irgend jemand muß schuld sein, und diese Schuldigen werden auch gefunden. Was mich derzeit beunruhigt, ist diese wieder erwachte antidemokratische Tendenz zur radikalen Vereinfachung. Alles drin. Kinder, freut euch des Lebens, aber seid bereit, euch zu wehren und zu organisieren und zu kämpfen, denn es kommen harte Zeiten.
NEUMANN: Sie haben viele Reportagen gedreht, die in gewisser Weise subversiv waren, die Abseitiges gezeigt haben. Durch sie hat man immer viel über das jeweilige Land, Amerika zum Beispiel, gelernt. Ich habe das Gefühl, daß diese Art des Journalismus ausgestorben ist, daß die intensive, ruhige Auseinandersetzung mit einer Situation gar nicht mehr stattfindet, obwohl die Themen doch auf der Straße liegen.
TROLLER: Ja, was ist da passiert? Natürlich geht es um Geld, um Werbung, darum, wo sie am effektivsten ist. Daß die Fernsehanstalten sich dermaßen in diese Richtung verkauft haben, ist das Verblüffende und Erschütternde. Man sagte zu meiner Zeit immer, wenn eine Sendung wichtig ist, wird sie zu einer guten Sendezeit gebracht. Davon kann heutzutage keine Rede mehr sein, es wird nur noch nach potentiellen Einschaltquoten geschielt. Ich bin kein Philosoph, aber der steigende Materialismus und der absackende Idealismus auf der Welt sind evident. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, denn die verläuft wellenförmig. Wie bekannt, hat Ludwig XVI. an dem Tag, als die Bastille gestürmt wurde, »rien«, nichts, in sein Tagebuch geschrieben. Es erschien unwichtig, daß seine Pariser Hauptfestung erstürmt worden war. Eine umwälzende Veränderung war nicht vorstellbar. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist, der alles für verloren hält, es kommen immer wieder neue Strömungen und Möglichkeiten. Und jungen Menschen fällt es leicht, diese Strömungen zu lenken oder etwas in Bewegung zu setzen. Die Leute sind da und die Überzeugungen sind da. Nur wissen sie oft nicht, daß es allgemeine Überzeugungen sind. Jeder meint, nur er denke so und man könne nichts tun. Und auf einmal stellt sich heraus: Millionen glauben dasselbe. Ich denke, die Jugend hat ihre Chance und wird, vielleicht als letzte Generation, noch durchsetzen, was sie sich erträumt. Was danach kommt, weiß niemand. Vielleicht ja auch das Paradies auf Erden. Pessimismus ist gefährlich, denn was man erwartet, das passiert auch.
NEUMANN: Sie äußerten einmal, Ihre Vorstellung von Religion sei, daß in jedem Menschen ein göttliches Prinzip vorherrsche. Was für eine Bedeutung hat diese Vorstellung für Sie?
TROLLER: Wir wollen hier nicht von Religion reden. Aber ein göttlicher Funke ist in uns allen, ob wir es nun Gott nennen oder anders. Fast alle haben eine Ahnung davon, daß etwas Größeres als wir selbst existiert. Das scheint mir sehr wichtig, weil sonst alles an Eigennutz krepiert. Wenn man so vielen Leuten verhältnismäßig intim, wie es mir mein Beruf erlaubte, gegenübergetreten ist, weiß man doch häufig, wo die Grenzen sind. Manchmal erreicht man sie verhältnismäßig schnell, manchmal hat man das Gefühl, man erreicht sie gar nicht, und manchmal passieren völlig überraschende Dinge. Ein Mann wie Charles Bukowski war in Wirklichkeit ein Mystiker und sprach mir in die Kamera von seinem kommenden Tod und wie er ihn erleben will, während seine junge Freundin dabeisaß und mißbilligend den Kopf schüttelte. Da war ich vollkommen verblüfft. Diese Ansichten hatte er immer verheimlicht, weil sein Erfolgsrezept der Schweinkram war – dem ist er gefolgt, so wollten ihn die Leute sehen und so gab er sich. Und nun, als alter Mann, der den Tod kommen fühlte, wollte er darüber reden, was dieser für ihn bedeutet und daß er sich das Recht zuerkennt, in Frieden zu sterben, weil er sich so ausgelebt hat. Ich glaube, wir sind alle mit einem Funken geboren. Als Kind wissen wir noch Bescheid. Kinder leben mit Fragezeichen: Wer bist du, was ist die Welt, wieso bist du meine Mutter, wieso bin ich ich? Ein Kind stellt die richtigen Fragen, die nachher vergraben werden. Aber zu diesen Fragen kann man wieder durchstoßen und das Gefühl haben, man habe nicht umsonst gelebt. Irgendwann hört die Jugend auf, man meinte als junger Mensch, sie währe ewig. Aber dann kommen die Dinge auf einen zu und man fragt sich in schlaflosen Nächten, wofür man eigentlich gelebt hat, was man gemacht hat. Dann ist es gut, wenn man sich sagen kann: Mehr, als ich je gedacht habe, nichts so Ungeheures, aber mehr, als ich mir zugetraut hätte, ist daraus geworden. Das ist schon allerhand, damit kann man leben und vielleicht auch sterben.
SINN UND FORM 1/2019, S. 136-139
Trott zu Solz, Adam von
- 1/2024 | Ein böser Traum. Mit einer Nachbemerkung von Benigna von Krusenstjern , S. 5 Leseprobe
Trott zu Solz, Adam von
Ein böser Traum
(…)
Nachbemerkung
Adam von Trott zu Solz, der Autor dieses bisher unveröffentlichten Textes, ist, wenn überhaupt, als Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime bekannt. Ab 1939 engagierte er sich beharrlich und unter ständiger Lebensgefahr für dessen Sturz und wurde wenige Wochen nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 im Alter von fünfunddreißig Jahren hingerichtet.
Von Anfang an war Trott keinerlei Kompromisse mit dem neuen Regime eingegangen und hatte dafür persönliche Nachteile in Kauf genommen. Ein ideologisch-politischer Schulungsleiter in Kassel bescheinigte dem damaligen Rechtsreferendar »Schwäche und Unfähigkeit, bei den Ereignissen des neuen Aufbruchs anzukommen«. Obwohl »in mehrerlei Hinsicht begabt, mangele es ihm grundlegend an Eingliederung«. Der ständige Druck, dem der junge Mann ausgesetzt war, änderte nichts an seiner Entschlossenheit, selbstbestimmt zu leben und zu handeln. Als wacher Beobachter wußte Trott von Razzien, Verhaftungen und Konzentrationslagern. Er erlebte die Gefährdung und Verfolgung jüdischer und sozialistischer Freunde und Bekannte, denen er auf oft riskanten Wegen zu helfen bemüht war. Ihre Flucht und Emigration rissen bald große Lücken in seinem Freundeskreis. In Berlin knüpfte Trott Kontakte zu verschiedensten Regimegegnern. Er unterstützte auch sozialistische Untergrundkämpfer, ohne sich allerdings ihnen anzuschließen. Ihr Scheitern bestätigte seine Einschätzung, daß Widerstand keine Aussicht auf Erfolg hatte, solange sich das Militär nicht beteiligte.
Trotts Regimegegnerschaft kommt auf besondere Weise in einer Edition von Prosatexten Heinrich von Kleists zum Ausdruck. Da man eine solche Publikation nicht unbedingt von einem Rechtsreferendar erwartet, ist vorauszuschicken, daß Trott eine breite philosophische, politiktheoretische und literarische Bildung besaß. Mit knapp zweiundzwanzig Jahren hatte er nach seinem Jurastudium in Göttingen über »Hegels Staatsphilosophie und das Internationale Recht« promoviert und anschließend in Oxford Philosophie, Politik und Volkswirtschaft studiert. Daneben hat er sich seinen Interessengebieten im Selbststudium ebenso wie in Gesprächen und Diskussionen mit vorzugsweise Gleichgesinnten gewidmet. Lesen war von Jugend an sein Lebenselixier.
Nach Überwindung erheblicher Schwierigkeiten, denn die Verleger scheuten das Risiko, konnte Trott 1935 beim Potsdamer Alfred Protte Verlag Kleists »Politische und journalistische Schriften« herausgeben. Einige der ausgewählten Texte und vor allem Trotts doppelsinnige Einleitung sind nicht zuletzt als Appell an seine Zeitgenossen zu verstehen,»mitgängerische Anpassung« zu vermeiden und sich in »freimütiger Selbstverantwortlichkeit « aus der »unheimlichen Demoralisation der Despotie« zu befreien.
An einer Stelle heißt es bei Trott: »Die Freiheit ist nicht nur ein inneres, sondern ein politisches Postulat, insofern die äußere Macht und ihr Eingriff jenen allein Recht schaffenden Ursprung echter menschlicher Ordnung zu gefährden vermag. Je unsicherer es mit der Welt überhaupt bestellt ist, desto sicherer ist es notwendig, für dieses Recht zu kämpfen.« Kleist galt damals als »Klassiker des nationalsozialistischen Deutschlands«, und dies mag dazu beigetragen haben, daß die Zensurbehörden diesen Band ungehindert passieren ließen. Auf die Idee eines Gegenwartsbezugs sind sie erstaunlicherweise gar nicht gekommen.
Adam von Trotts literarischer Versuch »Ein böser Traum« ist im Dezember 1935 entstanden, und zwar, wie aus einem seiner im Bundesarchiv Koblenz liegenden Briefe hervorgeht, nach einem Traum, den er »fast genauso neulich hatte«.
Trott war zu jener Zeit sechsundzwanzig Jahre alt, was die deutlich jugendliche Prägung des Textes erklärt. Es war eine schwierige Zeit für ihn, wie ein Zitat aus einem Brief an seinen Vater verdeutlich: «Sehr werde ich von der Unmöglichkeit, eine berufliche Zukunft vor mir zu sehen, beunruhigt.« Wodurch diese Unmöglichkeit bedingt war, ist leicht zu erahnen. Es bedrückte ihn damals auch etwas ganz Aktuelles: Ihm stand in den ersten Monaten des Jahres 1936 die Einberufung ins Referendarlager bevor. Dies war ein notwendiger Teil der juristischen Referendarausbildung, den die Nazis eingeführt hatten: acht Wochen Kasernierung in der Nähe von Jüterbog, mit mehreren hundert Mann zur ideologisch-politischen Schulung und zu militärischem Drill. Mit Hinrichtungen hatte man in diesem Lager nichts zu tun. Desungeachtet fanden sie jedoch zunehmend statt.
Man muß kein Spezialist für Traumdeutung sein, um festzustellen, daß die Aversion gegen den Lageraufenthalt in den Traum eingegangen ist. Hier ist aber ohnehin vor allem Interpretation angebracht, denn Trott hat sein nächtliches Erlebnis mit literarischen Mitteln zu einer Erzählung gestaltet.
Der Traum als Darstellungsform hat in der Weltliteratur eine außerordentliche Bedeutung, bietet er doch unbegrenzte Möglichkeiten: Der realen Welt in keiner Weise verpflichtet, vermag er gerade diese besonders deutlich zum Ausdruck zu bringen, kann sie spiegeln oder umkehren, mit Irrealem auf vielfältige Weise verquicken oder auch in anderer Form Unsagbares andeuten, je nach künstlerischer Absicht. Diese Bedeutung des Traumes war Trott natürlich bestens bekannt. Viele seiner Lieblingsschriftsteller, seien es E. T. A. Hoffmann oder Jean Paul, Dostojewski oder Kafka, haben davon Gebrauch gemacht. Trott war weit davon entfernt, sich mit solchen Koryphäen messen zu wollen. Dennoch hat es ihn offensichtlich gereizt, die Möglichkeit des Traums einmal selbst literarisch zu nutzen.
Wenden wir uns Adam von Trotts Erzählung zu. Sie hat keine eigentliche Handlung, das Hauptaugenmerk ist vielmehr auf das Wo und Wie zu richten. Für Trott war eine elementare Beziehung zur Natur charakteristisch. Von allen Naturphänomenen, die er zu beobachten und auch zu beschreiben liebte, zogen ihn der Himmel und die Bäume am meisten an. Wann immer er Natur erwähnt, und sei es in einem einzigen Satz, bezieht er sich mit Sicherheit darauf, sogar in seinem unmittelbar vor der Hinrichtung geschriebenen Abschiedsbrief. Und auch in »Ein böser Traum« kommen Himmel und Bäume wieder vor, aber negativ besetzt wie selten bei ihm. Der Himmel wird auf einen hellen Streifen am Horizont reduziert, der gelb, fast feindselig zu glühen anfängt, und die Bäume sind kahl. Die ganze Atmosphäre ist bestimmt von einer Mischung aus visuellen und akustischen Elementen: eine schmutzige Straße, »schmutziggrüne« Uniformen und Stiefel, deren Nägel auf dem Schotter im Straßendreck schürfen, eine gellende Stimme, schadenfrohes Lachen, graue und naßkalte Äcker zwischen ausgeworfenen Gräben.
Der »unlustigen« Stimmung, wenn »man nicht gefrühstückt hat«, begegnen die jungen Männer mit Gesang: »Ein Lied müßten wir doch anstimmen«. Obwohl nur ein Traum wiedergegeben wird, ärgert man sich beim Lesen unwillkürlich darüber und ist fast erleichtert, daß der Erzähler genau diesen Punkt aufgreift: »Donnerwetter, sagte ich zu mir selbst, was mach ich hier für einen Unsinn mit, jetzt gehen wir alle zu einer Hinrichtung, und ich tue schön mit meiner Baßstimme!« Nebenbei wird hier ein biographisches Detail angesprochen, denn Trott war, wie vielfach belegt, ein guter und begeisterter Sänger. So hieß es häufig: »Adam, stimm’ an!«
In der Erzählung sind die Lieder aber kein Beiwerk, sondern haben eine Funktion. Beide nehmen, auf unterschiedliche Weise, das Thema der Hinrichtung auf. Das erste Lied »Es geht bei gedämpfter Trommel Klang« (nach einem Text von Adelbert von Chamisso) handelt von einer privaten Freundschaftstragödie, der Freund muß den Freund erschießen. Dieses Lied wird von allen gesungen. Das zweite Lied über die Hinrichtung eines politischen Freiheitskämpfers aber singen »die anderen nicht richtig mit«, und so singt der Erzähler auffälligerweise allein. Eine zentrale, demonstrative Bedeutung kommt der Verszeile zu: »Ganz Deutschland lag in Schmach und Schmerz«. Sie entstammt dem Gedicht »Andreas Hofer«, 1831 verfaßt von Julius Mosen. (Dort heißt es aber nicht »lag in Schmach und Schmerz«, sondern »Ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz.«) Der Tiroler Hofer wurde 1810 von einem französischen Militärgericht in Mantua verurteilt und hingerichtet und galt lange Zeit als Symbol des Freiheitskampfes schlechthin. Das vertonte Gedicht ist übrigens seit 1948 die offizielle Tiroler Landeshymne.
Der Erzähler hat es mit einem genialen Kunstgriff verstanden, die ganze Aufmerksamkeit auf diese Zeile zu lenken, indem er eine Nebensächlichkeit einfügt: »Ich machte auch, wie ich es von einem Gesangverein gehört hatte, nach ›Ganz Deutschland‹ und vor ›lag in Schmach und Schmerz‹ eine richtige Zäsur, nach der man etwas leiser weitersingt. « Ein weiterer Effekt: Durch die Betonung des leisen Weitersingens wird die Zeile erst richtig laut.
Die Verszeile läßt sich gleichsam als Leitspruch zum Erzählten verstehen: eine Welt, in der die Menschen, auch die Zivilisten, entweder Uniform oder Sträflingskleidung tragen, selbst der Henker. Eine Welt, die bestimmt wird von einer hohen, roten Mauer und unansehnlichen Baracken voller Sträflinge. Und dann sind da noch die blutschlürfenden und blutschmatzenden Henker. Sie sind ein ekelhaft eindrückliches Symbol für das Phänomen der Enthemmung, der Vorbereitung zu ungeahnter Brutalität.
Nicht nur die herausgehobene Verszeile, sondern den ganzen Text dieser Alptraum-Vision hat Adam von Trott auf seine Gegenwart bezogen. Er schickte ihn an seinen Bekannten Gustav Ecke, einen literarisch versierten Kunsthistoriker, in Peking. Ecke war jahrelang nicht mehr in Deutschland gewesen, und da Trott ihm keinen Tatsachenbericht über die veränderten politischen Zustände geben konnte, versuchte er es mit Literatur. Ganz unauffällig für die Zensur schrieb er dazu: »Mehr als dieses und jenes sagt Ihnen über uns vielleicht das kleine Blatt, das ich Ihnen beilege.«
In der geistigen Öde des Referendarlagers war Trott mit Georg Basner, einem der Schulungsleute, über Literatur ins Gespräch gekommen. Basner war Laienautor und schrieb an einem Drama über den schwedischen König Karl XII. Zu seiner Freude traf er in Trott einen Literaturkenner und suchte dessen Rat für sein Werk »Thron im Nebel«. Vielleicht weil er die Wirkung auf diesen Mann testen wollte, ging Trott das Risiko ein und schickte Basner den »Bösen Traum«. Dieser reagierte erschrocken, auch wenn er dies mit Humor zu überdecken bemüht war: »Ja, lieber Trott, haben Sie sich da einen tollen Spaß mit sich geleistet oder was? Nach diesen Visionen müßte man für den Schreiber fürchten (…) Was soll denn der Kleist oder der E. T. A. Hoffmann dazu sagen?« Nicht ohne den Schulungswart hervorzukehren, fügte er hinzu: »Ich schicke es Ihnen wieder, obgleich ich mir nicht einmal eine Abschrift machte, ich will es lieber lassen.«
Für uns heutige Leser bezieht »Der böse Traum« eine beklemmende Wirkung vor allem aus einer späteren Tatsache. Der Alptraum bricht ab, und der Erzähler kann »trotz Anstrengung seinen Fortgang nicht erfahren«. Anders als er wissen wir: Nicht im Traum, sondern in der Realität fand die Hinrichtung statt, die des Verfassers selbst am 26. August 1944 in Berlin-Plötzensee.
Benigna von Krusenstjern
SINN UND FORM 1/2024, S. 5-9, hier S. 6-9
Trotta, Margarethe von
- 1/1986 | Die heitere Geduld der Rosa L.
Trunschke, Olaf Carsten
- 6/1981 | Aphorismen
Trustschenko, Jewgeni
Trutmann, Albertine
- 1/2022 | Sanskrit-Lyrik auf deutsch? Von der Schwierigkeit, Murāris Gedichte zu übersetzen
Tschakowski, Alexander
- 3/1982 | Das Ultimatum
Tschakwtschawadse, Alexandre
- 6/1970 | Gogtscha
Tschandar, Krishan
- 2/1954 | Die Brücke von Mahalakshmi
Tschaprasow, Wassil
- 3/2017 | Alte Worte. Gedichte
Tscharenz, Jegisché
Tschawtschawadse, Ilia
- 6/1970 | An die Berge von Kwareli
Tschechow, Anton
- 5/1949 | Aus Sibirien 1890
- 6/1950 | Tschechow an Gorki
- 4/1958 | Reise nach Sachalin. Eine Brieffolge
- 2/1960 | Literarisches Notizheft, 1891-1904
- 3/1960 | Literarisches Notizheft, 1891-1904
- 5-6/1960 | Auf dem Wagen
- 2/1966 | Erzählung eines Unbekannten
- 5/2010 | Bauern (Fragment)
Tschichold, Jan
- 5/1969 | Glückwunsch
Tschiladse, Otar
- 1/1981 | Und jeder, der mir begegnet
Tsching, Ai
- 4/1951 | Die neue Straße
Tsching, Al
- 4/1984 | Das Kolosseum
Tschitschinadse, Konstantine
- 6/1970 | Warziche hebt das Glas
Tscholakowa, Ginka
- 6/1998 | Die Maske des Schweigens
Tschörtner, Heinz-Dieter
- 2/1989 | »Und damit genug von Peeperkorn« Gerhart Hauptmann an S. Fischer
Tse Tung, Mao
- 2/1949 | Gedanken bei einem Flug über die große Mauer
Tse-Tung, Mao
- 4/1951 | Aus der Rede vor den Schriftstellern und Künstlern in Yenan im Jahre 1942
- 3/1954 | Der lange Marsch
Tulli, Magdalena
- 6/2018 | Wie Blätter im Teeglas, S. 737 Leseprobe
Tulli, Magdalena
Wie Blätter im Teeglas
Ihre Krankheit war wie das Ende eines Imperiums. Die Armee zog sich zurück und verließ die in Zeiten vergangener Herrlichkeit besetzten Brückenköpfe, die Statuen bröselten, die Säulengänge wurden von Unkraut überwuchert. Die Beamten des Kaiserreichs dachten nicht mehr an die Macht, sondern nur noch ans Überleben, an das Irdische, das heißt an das, was dem Körper am nächsten war, und durch die verlassenen Grenzposten drangen Fremde – Viren, Bakterien – und übernahmen die Herrschaft. Gegen Ende gab ich ihr jeden Vormittag eine Spritze. »Und wer bezahlt Sie?« fragte sie interessiert. »Meine Familie?« Sie war noch so geistesgegenwärtig anzunehmen, daß jemand bezahlen müsse, und hatte genug Überblick, um zu wissen, daß sie es nicht war. Außer ihrer Familie hatte sie noch eine Tochter, aber die hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Ich nickte, ja, die Familie bezahlt. Ich wollte sie nicht mit Sensationen überraschen, die sie hätten beunruhigen können. Zum Beispiel damit, daß ich ihre Familie war. Außer mir kümmerten sich abwechselnd zwei Pflegerinnen um sie. Ich hatte möglichst zuverlässige Frauen ausgesucht, aber sie mochte sie nicht. Die ältere war ihres Erachtens zu apodiktisch, die jüngere machte immer ein Gesicht, als müßte sie sich beeilen. Von uns dreien mochte meine Mutter mich am liebsten. Aber für die Oberschwester hielt sie die Älteste. Als eine Tasse kaputtging, war sie besorgt, die Oberschwester könnte mich hinauswerfen. »Wir sagen ihr nichts«, entschied sie. So sah das Ende aus. Spritzen, Tabletten. Die Hoffnung nahm davon nicht mehr zu. Und der Anfang? Man könnte annehmen, daß am Anfang, bevor die Dinge kompliziert wurden – denn auf die eine oder andere Weise mußten sie kompliziert werden –, wenigstens für kurze Zeit eine ursprüngliche, unbefleckte Reinheit geherrscht habe, nach der man sich später das ganze Leben sehnen würde. Doch das Leben besteht aus lauter Fortsetzungen ohne jeglichen Anfang, aus alten, verknoteten Handlungsfäden, die wer weiß woher kommen und wer weiß wohin führen. Der Anfang ist dort, wo wir das Fähnchen hineinstecken – bis jemand es herausnimmt und anderswo hineinsteckt. Daß der Anfang eine Frage der Vereinbarung ist, kommt uns entgegen. Wir stecken das Fähnchen an den Ort, an den meine Mutter nach dem Krieg zurückgekehrt ist. Sie kehrte zurück ohne die geringste Idee, was sie mit dem plötzlich geretteten Leben anfangen sollte; erst später, nach Jahrzehnten, sollte sich herausstellen, daß das Leben nicht gerettet werden kann. Wir sprechen von einer Großstadt, weniger zerstört als andere, einer Stadt, die einst von morgens bis abends unermüdlich dem Geld hinterherjagte, das sie für atemberaubenden Flitter brauchte, für den Kauf von Wechseln, für Marmelade aufs Brot. Sagen wir – es sei Lodz. Viel weiß ich nicht von Lodz. Jedenfalls sollte nach dem Krieg die Vergangenheit – anders als die alten Mauern, die schwer zu bewegen sind – auch aus dieser Stadt entfernt werden. Nirgends in unserem Land sollte sie sich verstecken können, sie sollte verschwinden, ohne Fortsetzung. In jener Zeit wurde überall das alte, ausgebrannte Bühnenbild auseinandergenommen und eilig ein neues aufgestellt, das täuschende Ähnlichkeit mit Häusern, Brücken und Fabriken hatte. Die Illusion der Wirklichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Man lebte recht ruhig vor diesem Hintergrund, vor allem wenn man die Ruhe mit dem Chaos verglich, das vor kurzem erst zu Ende gegangen war. Aber dieses Bühnenbild hatte nicht das richtige spezifische Gewicht. Es wog so viel wie Pappe. Schon ein stärkerer Windstoß brachte seine Existenz in Gefahr. Die Tageszeitungen schreckten mit der Stoßwelle einer Atombombe, die fähig wäre, uns zusammen mit den frisch errichteten Konstruktionen innerhalb von Sekunden von der Erdoberfläche zu fegen. Während man bei uns Pläne von Häusern und Brücken zeichne, so meldeten sie, arbeiteten andere schon an den Plänen ihrer Zerstörung. Aber warum hätten sie das tun sollen, und wozu? Weil das Zerstören in ihrer Natur lag und weil sie das letzte Wort haben mußten. Angeblich wollten sie an der Zerstörung auch noch verdienen, wie an allem, was sie in Angriff nahmen. Dort, weit weg von uns, zählte nämlich nur das Geld. Die Rollen waren verteilt: auf der einen Seite Herz und Verstand, auf der anderen lediglich Gier. Die anderen hatten drei Viertel der Welt und halb Europa unterworfen. Unser Land, nicht nach seiner Meinung gefragt, fand sich in der zweiten Hälfte wieder, die Tür war zugefallen und es gab kein Entrinnen. Jeder, der zu hoffen wagte, daß sich noch etwas ändern könnte, wurde verfolgt. Hoffnung war – natürlich – zu empfehlen, aber nicht diese Hoffnung. Wir sollten hoffen, daß sich nichts mehr ändern, daß es nur immer mehr Häuser, Brücken und Fabriken geben werde, immer besser im Boden verankert. Sie sollten unser gemeinsamer Stolz sein, das, wofür wir zu gegebener Zeit unser Leben opfern würden. Vorläufig mußten wir uns vorsichtig bewegen, um nichts umzuwerfen. Zuviel durfte man nicht erwarten. Der keinen Widerspruch duldende Ausdruck »man muß« dominierte in der Schule, beim Militär und im Kreißsaal. Der Zwang war unpersönlich und kam sozusagen von oben, woher genau, wußte keiner: Die Grammatik legte nicht offen, von wem die Forderung kam. Meine Mutter hatte ihre eigenen Gründe, sich von der Vergangenheit fernzuhalten, und sei es nur, daß die Vergangenheit sie nachts weckte und nicht mehr schlafen ließ. Um so besser, daß es keinen Platz für die Vergangenheit gibt, dachte sie wohl. An der Straßenecke war ein Postamt. Mutter sah an der Tür ein Schild – Mitarbeiter gesucht. Das Postamt stellte Mutter in der Sortierstelle ein, wo jedes Paar Hände gebraucht wurde. Nach dem Krieg flutete eine hohe Woge von Briefen durch unser Land. Vom Hauptstrom zweigten kleinere Flüsse ab, die nicht existierende, tote Adressaten suchten. Sie fahndeten nach denjenigen, die ihren Aufenthaltsort geändert hatten, die – aus freiem Willen oder auch nicht – in andere Städte oder sogar in den fernen Osten, womöglich nach Sibirien gezogen waren; in solch extremen Fällen gab sich der Brief allerdings schnell geschlagen. Man hielt sich an eine vertrauliche Liste von verdächtigen Empfängern und Absendern und fischte die gefährlichsten heraus. Die mußte man zur Seite legen und einem Mann im Ledermantel übergeben. Außer dieser Namensliste existierte jedoch auch eine Regel höherer Ordnung, eine, die Mutter vor dem Krieg zu Hause gelernt hatte. Wie durch ein Wunder hatte diese Regel überlebt, offenbar war sie feuerbeständig. Zu ihr gehörte das strikte Verbot, fremde Briefe zu öffnen, was im Dienst die Vertraulichkeit privater Post bedeutete. Mutter kam durcheinander. Sie wollte arbeiten, aber die widersprüchlichen Regeln verwirrten sie. Im Herbst flüchtete sie von der Sortierstelle auf die Universität, wo die Regeln noch nicht geändert worden waren. Sie hatte kein Abitur, obwohl sie es sicher geschafft hätte, wenn dort, wo sie die vergangenen Jahre verbracht hatte, Prüfungen stattgefunden hätten. Sie hatte Glück. Das Feuer hatte die wichtigsten Dokumente verzehrt, und nach den weniger wichtigen fragte niemand. Man mußte nur einen entsprechenden Antrag im Dekanat stellen und sich dann eine Bibliothekskarte, ein Heft und Bleistifte besorgen. Man mußte zwei hübsche Kleider besitzen, ein Kostüm, einen Wintermantel und Schuhe. Die Blusen mußten frisch gewaschen und ordentlich gebügelt sein. Man mußte die Fasson wahren. Abgesehen von anderen Gründen – Vernachlässigung hätte zu viel enthüllt.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
SINN UND FORM 6/2018, S. 737-748, hier S. 737-739
Tun, Mao
- 1/1950 | Herbstliche Ernte
Tur, Pramudya Ananta
- 4/1982 | Kurantilstraße 28
Turtiainen, Arvo
- 4/1951 | Sie warfen mich ins Gefängnis
Tuwim, Julian
- 4/1949 | Neue polnische Lyrik
Twardowski, Alexander
- 2-3/1963 | Aus dem Poem: Fernen über Fernen
- 1/1966 | Alexander Twardowski über seine Arbeit
- 4/1975 | Gedichte
- 1/1989 | Das Recht auf Gedächtnis
Tzara, Tristan
- 2/1956 | Paull Eluard und die Bilder der Brüderlichkeit