Müller-Waldeck, Gunnar
geb. 1942 in Bernburg an der Saale, bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Greifswald, wo er auch lebt. 2018 erschien »Die Torte in der Landschaft. Unterhaltsame kulturgeschichtliche Streifzüge um Dichter, literarische Orte und Landschaften in Mecklenburg und Vorpommern«, 2023 »Wolfgang Koeppen – ein Zielloser auf dem Wege«. (Stand 3/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 3/2004 | Der Annaburger Zögling. Eine Anmerkung zu Wolfgang Koeppens »Jugend«
- 3/2005 | Schiller bei Koeppen
- 6/2005 | Zwischen Hamlet und don Quijote. Erinnerung an Adolf Dresen
- 5/2006 | Baltzar von Platen, ein deutscher Besucher von 1804 und eine Götakanalreise
- 3/2007 | Ehrendoktor Selma Lagerlöf
- 4/2007 | »Mühsam domestizierte Menschenfresser«. Judentum und Antisemitismus -Kritik bei Wolfgang Koeppen
- 1/2008 | Woyzeck in Umea
- 2/2008 | Wolfgang Borcherts »Draussen vor der Tür« im Westen und im Osten
- 2/2008 | Gespräch mit Erwin Strittmatter
- 4/2010 | Felix Hausdorff oder Paul Mongré - Mathematiker und / oder Schriftsteller
- 3/2011 | Wolfgang Koeppen an Hans Werner Richter: »Wir hätten uns treffen sollen«. Zweimal Jugend in Pommern
- 5/2012 | »Die Fata Morgana ist unser Wanderstab«. Gespräch mit Peter Wawerzinek
- 3/2015 | Ein expressionistischer Dichter namens Wolfgang Koeppen
- 3/2018 | Von Lappländern und Hebräern. Zur Schwedenreise Ernst Moritz Arndts
- 6/2022 | Vom Heidberghaus nach Sansibar. Ernst Barlachs Leben und Werk als literarisches Sujet
- 3/2024 | Von Fridolin und anderem Getier. Hans Falladas letztes Kinderbuch
Reisen erweitert den Horizont, ist aber teuer und daher mehr etwas für Wohlhabende. Goethe in Italien, Humboldt in Südamerika, Schliemann in (...)
LeseprobeMüller-Waldeck, Gunnar
Woyzeck in Umeå
Reisen erweitert den Horizont, ist aber teuer und daher mehr etwas für Wohlhabende. Goethe in Italien, Humboldt in Südamerika, Schliemann in Kleinasien, Griechenland, Ägypten. Die Finanzierung ihrer Unternehmungen bereitete diesen Reisenden kaum Kopfzerbrechen. Nicht jeder konnte sich das leisten. Doch auch viele Plebejer brachten es auf beachtliche Kilometerzahlen. Ihr Herumreisen in der Welt war freilich nicht Bildungsidealen und geistigen Interessen geschuldet, sondern allein ihrem Stand - sofern sie etwa Bedienstete oder Soldaten waren. Ein solch militärischer und damit eher unfreiwillig Reisender war Johann Christian Woyzeck, dessen Schicksal im 19. Jahrhundert nicht mehr als eine Marginalie war. Er war einer jener namenlosen kleinen Leute, die höchstens von der Statistik erfaßt werden. Allein der Zufall hat uns seinen Namen überliefert, und daß sich ein Dramatiker seines Geschicks annahm, bescherte ihm einen gewissen Ruhm, von dem er nichts mehr hatte, da er erst mit seinem Tode einsetzte. Er war nämlich der letzte, der in Deutschland öffentlich geköpft wurde: am 27.August 1824 vor dem Leipziger Rathaus wegen Mordes an seiner Geliebten.
1780 in Leipzig geboren und früh verwaist, kann er seine Lehre in der Kunst des Frisierens und Perückenmachens nur mit Mühe abschließen. Danach geht er auf die Walz, kommt nach Wurzen, Töplitz, Wittenberg, hat allerdings nicht viel Glück, denn Gesellen waren teurer als Lehrlinge und wurden ungern eingestellt. So fristet er sein Dasein als Diener von Adligen, ehe er schließlich 1806 mit den Preußen gegen Napoleon zieht. Ob freiwillig oder nicht, für die nächsten zwölf Jahre war sein Schicksal jedenfalls besiegelt. Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt wurde er von den Franzosen im mecklenburgischen Grabow gestellt, in eine holländische Uniform gesteckt und in einem Hilfsregiment nach Norden geführt. Vor Stralsund ging es am 7. April 1807 gegen die Schweden - und nach der Niederlage auch nach Schweden: in Internierung und Gefangenschaft - und bald auch in eine andere Armee (Gefangene durchzufüttern war seinerzeit nicht üblich). Der Zwangs-Schwede wurde nach Stockholm verlegt und bald darauf in den nächsten Krieg verwickelt: Woyzeck schoß in Finnland auf die Russen und mußte froh sein, daß er die Rückzugsaktionen General von Klingspors und die Fehldispositionen des Generalstabschefs Karl von Adlercreutz bei Oravais in Nordfinnland überlebte. Hier kam es am 14.September zu einer der blutigsten Schlachten des Krieges, in der die Russen die Oberhand behielten. Die Gefangenschaft blieb dem Leipziger diesmal erspart und damit auch die Einkleidung in wieder eine andere Uniform. Sonst hätte der Friseurgeselle womöglich in russischen Diensten gegen die Türken gekämpft oder gegen die napoleonischen Truppen, bei denen einst sein Elend begonnen hatte. Nein, Woyzeck gelangte wieder nach Schweden, weil die Kommandeure, von den Russen getrieben, wenigstens den Rückzug auf dem Landweg um den nördlichen Bottnischen Meerbusen herum schafften. Aber um welchen Preis, berichtet Wolrad Eigenbrodt: »Im Dezember mußten die Reste des finnländischen Heeres, das Vaterland in den Händen des Feindes lassend, in jammervollem Zustande die Grenze überschreiten. Auf schwedischem Boden in und um Torneå verbrachten sie einen furchtbaren Winter. In zerrissenen Kleidern und ohne Bedeckung auf dem Boden liegend, gingen Hunderte an Kälte und Krankheit zugrunde. Gleichwohl wurde im Frühjahr 1809 mit ungebrochenem Mut gegen die nachrückenden Russen weitergekämpft. Aber der sonst so tapfere General Gripenberg mußte, völlig verzweifelt angesichts der Übermacht, trotz heftigen Widerspruchs seiner Offiziere und Mannschaften, am 25.März bei Kalix kapitulieren.«(Kommentar zu Johann Ludvig Runeberg, »Fähnrich Stahl«, Helsingfors 1907)
Die Rückzugsgefechte dauerten noch bis zum Sommer und erstreckten sich bis kurz vor Umeå, wo im Dorf Sävar die Kapitulation erfolgte. Finnland fiel an die Russen. In Umeå steht jetzt ein Denkmal auf dem Platz, wo Woyzeck von seinem letzten Feldherrn, General Georg Carl von Döbeln, verabschiedet wurde. Natürlich nicht per Handschlag und schon gar nicht allein. Im heutigen Döbeln-Park zelebrierte der General am 8. Oktober 1809 den Abschiedsappell vor den »geretteten« Verbänden. Der kleine Sachse dürfte von der feierlichen Rede nicht viel verstanden haben, vielleicht nur die auch für deutsche Ohren vertraut klingende Anrede »Soldater! Kamerater! Broeder!« (die Rede liegt gedruckt vor), aber er wußte, worum es ging, oder, besser, wohin es ging: nämlich durch ganz Schweden ins über tausend Kilometer entfernte Stralsund, wo er Glück und Ruhe zu finden hoffte. Aber die Stadt wurde gerade von den Franzosen belagert. Der hoffnungsfrohe Heimkehrer geriet abermals in Gefangenschaft, erhielt wieder eine andere Uniform, diesmal die mecklenburgische, und wurde, ungefragt, unter der Fahne einer Rheinbundmacht, Verbündeter des großen Korsen, der Zurüstungen für den Rußlandfeldzug traf. Überliefert ist der Name einer jungen Frau, der Wienbergerin, mit der er ein Kind zeugte, die ihm aber nicht treu gewesen sein soll. Kurz bevor der Franzosenkaiser gegen Rußland zog, desertierte Woyzeck - eine der wenigen eigenständigen Handlungen des völlig fremdbestimmten Soldaten - zu den Schweden, die ihm nach seinen wechselvollen Erfahrungen die kulantesten Herren zu sein schienen.
[...]
SINN UND FORM 1/2008, S. 136-138
Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und lautete: "Gab’s damals in Augsburg nicht". (Daß es diesen Einfluß gleichwohl gab, steht auf einem anderen Blatt!) Sein acht Jahre jüngerer Bewunderer Wolfgang Koeppen hätte nicht so lakonisch über sich und seine Geburtsstadt sprechen können. Zum einen war der literarische Expressionismus für ihn die Eintrittspforte in die Literatur, zum andern gab es ihn in Greifswald durchaus. Genauer: Es hatte ihn gegeben, wenn auch nicht im Sinne einer Gruppe oder Schule. (...)
Müller-Waldeck, Gunnar
EIN EXPRESSIONISTISCHER DICHTER NAMENS WOLFGANG KOEPPEN
Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und lautete: »Gab’s damals in Augsburg nicht«. (Daß es diesen Einfluß gleichwohl gab, steht auf einem anderen Blatt!) Sein acht Jahre jüngerer Bewunderer Wolfgang Koeppen hätte nicht so lakonisch über sich und seine Geburtsstadt sprechen können. Zum einen war der literarische Expressionismus für ihn die Eintrittspforte in die Literatur, zum andern gab es ihn in Greifswald durchaus. Genauer: Es hatte ihn gegeben, wenn auch nicht im Sinne einer Gruppe oder Schule.
Der Jurist und elegante Kabarettdichter Walter Serner erwarb hier den Doktortitel, Oskar Kanehl, der Linksexpressionist, erregte 1913 als Germanistik-Doktorand mit seiner Zeitschrift »Der Wiecker Bote« Anstoß. Richard Huelsenbeck, der Dadaist, studierte an der pommerschen Universität Medizin, Werner Schendell Philosophie; Gustav Sack, der dem Expressionismus nahestehende Skandalautor, und auch Paul Meyer, der Dichter und spätere Rowohlt-Lektor, hatten als Greifswalder Studenten begonnen. Das alles geschah freilich in Koeppens frühen Kinderjahren. Zudem ging es den meisten angehenden Autoren mehr um die Erlangung eines Brotberufs als um den Ausritt ihres Pegasus. Mit Ausnahme der Kanehlschen Zeitschrift dürften in Koeppens Jugendzeit kaum noch Spuren all der schriftstellerischen Ambitionen vorhanden gewesen sein. Aber als er »Mädchen für alles« am Greifswalder Theater wurde, war zumindest noch ein Nachhall spürbar. Der enthusiastische Expressionismusjünger mußte an der städtischen Bühne jedoch bald ernüchternde Erfahrungen machen: Er hatte dem Intendanten Emanuel Voß vorgeschlagen, »Gas« von Georg Kaiser zu inszenieren. Der konservative Theatermann und Wagner-Sänger konterte die kühnen Pläne des schüchternen Vorpommern mit dem Gegenangebot einer Art Hilfsassistenz. Ausschlagen konnte dieser die Stelle nicht: Wer Geld braucht, greift nach jedem Strohhalm. Aber natürlich wurde der jugendliche Träumer nicht um visionäre Menschheitsentwürfe gebeten, sondern gefragt: »Wo stand der Tisch bei der letzten Probe?«
Der geborene Leser Wolfgang Koeppen hatte sich früh dem Expressionismus angenähert, angeregt vielleicht durch seinen Ortelsburger »Onkel« Theodor Wille (zur Eheschließung mit Koeppens Tante Olga war es nicht gekommen, Wille hatte die Schwestern Maria und Olga als Baumeister der Greifswalder Klinik kennengelernt) oder zumindest durch dessen umfangreiche Bibliothek. Hinzu kam das, was Koeppen später sein »Leben gegen die Norm nannte«. Er, der als Neunjähriger zu Kaisers Geburtstag auf der Schulfeier patriotische Verse rezitieren mußte, rächte sich später durch die Lektüre einer für kaisertreu Empfindende völlig unbrauchbaren Lyrik, eben der expressionistischen. Das frühe Faible für diese Dichtung war freilich noch Spiel, betrieben von einem wohlversorgten Bürgersohn. Koeppens Biographie glich der vieler expressionistischer Dichter: Aus besserem Hause stammend (der Nenn-Onkel war Leiter des königlich-preußischen Hochbauamtes, und den Makel von Koeppens unehelicher Geburt dürfte die Anstellung der Mutter beim Fast-Schwager weitgehend vergessen gemacht haben), versehen mit einer soliden Gymnasialbildung. »Das fing alles so gut und anständig an«, sagte er später nicht ohne Ironie über sich und seine Dichterkollegen.
Aus dieser sicheren Höhe stürzte der junge Mann hinab in die harte Greifswalder Realität: Hierhin ging die Mutter 1919 zurück, vermutlich wegen Spannungen in der »Kleinfamilie«. Das Gymnasium mußte aus Kostengründen gegen die ärmliche Bürgerschule eingetauscht werden, die gediegenen Ortelsburger Wohnverhältnisse gegen ein enges Dachstübchen, die Zugehörigkeit zu »besseren Schichten« gegen den Ruch der Unterprivilegierten. Koeppen kehrte in den Ferien wiederholt zurück, heuerte 1923 für kurze Zeit auf einem Finnlanddampfer an und setzte zwischendurch auch den Schulbesuch in Ortelsburg fort.
In diesem räumlichen Hin und Her entsteht in Greifswald 1924 an zwei Apriltagen die Szenenfolge »Gleichnis«, die Koeppen als eine Art Auftragswerk der Ortelsburger Freunde bezeichnet und offenbar im Sommer in diesem Kreis zur Aufführung bringt. Es handelt sich um ein Verkündigungsdrama über den standhaften Christus und den satanischen Verführer, der ihm die Macht über die Welt anbietet, und bezieht sich auf Matthäus 4/ 1–11: »Nochmals nahm ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg, zeigte ihm alle Königreiche der Welt samt ihrer Herrlichkeit und sagte zu ihm: ›Dies alles will ich Dir geben, wenn du dich niederwirfst und mich anbetest.‹ Da antwortete ihm Jesus ›Weg mit dir, Satan! Denn es steht geschrieben: Den Herren, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen‹«. Koeppens Teufel will Christus verführen, Macht über andere Menschen auszuüben, doch dieser bekennt sich, anders als der biblische Gottessohn, weniger zu seinem Vater als eben zu den Menschen, für die er den Opfertod auf sich nimmt. Der Einfluß von Franz Werfels religiösem Verkündigungspathos auf diese Verse liegt nahe. »Ich sah die Not der Menschen, sah ihre Angst, ihr suchend Irren – und fühlte und ahnte! – In die Einsamkeit ging ich und fand – Licht! In mir! Strahlend, brennendes Licht! Allerkenntnis – riesiger höchster Schatz mein! Die Erkenntnis trieb, unwiderstehlicher Ruf: Hilf – Gib – Zeige! Da ging ich lehren. Von Güte, sprach ich zu Menschen, von großer Liebe, von allem was rein und edel war …"
Der Duktus ist spröde, ein Gemisch aus feierlich-bildreicher Prosa und ebensolchen Versen, die Reime holpernd und scheinbar naiv, an großen Gefühlen, sprachlichen Kostbarkeiten und bedenklichen Bildern ("Rausch in Blut und Rosen«) herrscht kein Mangel. Das Vorbild der Mysterienspiele schimmert durch, wobei wohl einem sentimentalen Eindruck vorgebeugt werden sollte, der durch den im Nebentext verfügten Einsatz einer »entfernte(n) Geige – traurig und schwer« aufkommen konnte. Denn ein expressionistischer Gag taucht die Szenerie gleichzeitig in ein verfremdendes Licht: Taschenlampen und Fahrradlaternen, mit denen die Darsteller ihr Gesicht aus dem Halbdunkel herausmodellieren sollen, sind vorgeschrieben. Rasch wird deutlich, daß es nicht um eine religiöse Botschaft geht, sondern um einen Aufschrei gegen die alles beherrschende Macht des Geldes. Mögliche Alternativen gibt es allerdings nur im Sinne des Hasencleverschen »Christus"-Gedichts von 1913: »Sei, Mensch, zur Hilfe der Menschen bereit.«
Den ganzen Text durchzieht eine reiche expressionistische Farbsymbolik: Weiß ist die Farbe Christi, weiß sind die Hände der Maria, weiß die Rosen der Liebe, rot hingegen ist das Märtyrerblut, aber auch das Teufelsgesicht ("grell rot und sehr beweglich«). Schwarz steht offenbar für die Kirche, die der Autor als zweifelhafte Institution ins Bild setzt: Christus wirft schon zu Beginn das dunkle Übergewand ab und erstrahlt in weißem Licht, der Teufel »trägt einen schwarzen Talar und sieht wie ein Pfarrer aus«.
Zum Schluß, als der stark an Goethes Mephisto erinnernde Teufel seine Niederlage eingestehen muß, wartet Koeppen mit einer gewitzten Pointe auf: Der Böse entwickelt umgehend eine neue Geschäftsidee: »Die Lehre muß in starre Form und Angst muß sein …«, sagt er abgehend und gewissermaßen die weltliche Macht der Kirche begründend, während Christus das Schlußwort hat, in welchem er dem fortdauernden Dualismus von Gut und Böse seine Botschaft der Liebe entgegenhält: »Ewig wird Böses sein und kreisen. Aber ich bin flammend Mal und Ziel. Aufruf – Gleichnis.« Keine Frage, daß aus dieser Christusgestalt auch der junge Autor selbst spricht. Das im trüben Greifswalder April entstandene Stück für seine Freunde ist auch eines des Heimwehs nach dem verlorenen Paradies Ortelsburg und der Auflehnung gegen den Materialismus der Welt. Aber immer noch handelt es sich um literarische Spiegelfechtereien, um bloßes Spiel, denn seine Verhältnisse sind zwar nicht glänzend, aber doch gesichert, und Christi Opfertod bleibt ein gesucht heroisches Bild – jenseits persönlicher
Erfahrungen.
Das ändert sich im November 1925. Ein Tumorleiden löscht das Leben der Mutter aus, und die Not greift nun unvermittelt nach dem neunzehnjährigen Osram-Hilfsarbeiter Wolfgang Koeppen, der inzwischen in Berlin lebt. Im Winter 1925/26 versucht er sich in der Hauptstadt durchzuhungern und die große Erschütterung zu verarbeiten. Die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse zu »Onkel« und Tante verbieten ihm Bettelbriefe. Er ist auf eigene Erfolge aus. So entstehen zwischen November 1925 und Frühjahr 1926, vermutlich in Berlin, eine Reihe expressionistischer Gedichte, in einer Mischung aus lateinischer Schrift und Sütterlin auf Schulheftpapier mit Rechenkästchen geschrieben und von Koeppen mit Faden geheftet, die er vergebens an verschiedene Adressen, an Zeitschriften und Verlage schickt. »Knospen Staubblüten Schrei« schreibt er auf das Titelblatt. Das Werdende, das Befruchtende, das Aufbegehrende: ein ganzes expressionistisches Programm in drei Worten, geschrieben in einer Zeit, in der der Expressionismus schon von der Tagesordnung verschwunden war. Der Debütant war ein zu spät Gekommener. Trotzdem darf die Ablehnung der Zeitungen und die Tatsache, daß Koeppen nie auf sein Frühwerk zurückkam, nicht das letzte Wort über diese Dichtungen sein, zumal sie – bzw. der Expressionismus – sein Schreiben lebenslang beeinflußten: »In jedem Werk der Literatur, der Kunst ist Expressionismus als Geburtshelfer zu finden«, schreibt der Siebzigjährige bekenntnishaft.
[…]
SINN UND FORM 3/2015, S. 300-308, hier S. 300-303