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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 2/2008

Apollinaire, Guillaume

Die Quais und die Bibliotheken


Ich gehe möglichst selten in große Bibliotheken. Lieber spaziere ich über die Quais, diese herrliche öffentliche Bibliothek. Aber manchmal besuche ich die Nationalbibliothek oder die Mazarine, und im Musée social in der Rue Las-Cases traf ich einen seltsamen Leser, einen Bibliotheksliebhaber. »Vom Herumlaufen in fremden Städten wurde ich oft furchtbar müde«, sagte er, »und um mich zu auszuruhen, um mich zu Hause zu fühlen, ging ich eine Bibliothek.«
"Daher kennen Sie wohl so viele.«
"Sie bilden den größten Teil meiner Reiseerinnerungen. Ich will nicht von den Pariser Bibliotheken reden, wo ich viel Zeit verbracht habe: nicht von der herrlichen Nationalbibliothek mit ihren noch unbekannten Schätzen und den mit den Initialen E.F. (für Empire français) versehenen Tintenfässern; nicht von der Mazarine, in der ich zauberhafte Gelehrte kennenlernte: Léon Cahun, den Verfasser erstrangiger Romane, die viel zu wenig gelesen werden, André Walckenaer und Albert Delacour - erstere sind schon tot, letzterer hat mit dem Schreiben wohl auch die Bibliotheksbesuche aufgegeben; und ich will nicht von der abgelegenen Bibliothèque de l'Arsenal reden, die eine der wertvollsten Gedichtsammlungen der Welt besitzt, und auch nicht von der bei Skandinaviern so beliebten Bibliothèque Sainte-Geneviève.
Wegen ihrer Helligkeit ist die Bibliothek von Lyon wohl eine der angenehmsten. Sie hat mehr Tageslicht als alle Pariser Bibliotheken. In der kleinen Bibliothek von Nizza habe ich Nostradamus‹ »Geschichte der Provence« verschlungen und mich ins Sarazenenlager Fraxinet begeben, derweil draußen der Karneval im Gange war mit Musik und Konfettiregen.
Die Bibliothek von Quimper hat eine Muschelsammlung. Als ich einmal dort war, kam ein gutgekleideter Mann herein und schaute sie sich an. ›Haben Sie diesen Kinderkram bemalt?‹ fragte er den Konservator mit lauter Stimme. ›Nein, mein Herr‹, antwortete der ruhig, ›die Natur selbst hat diese Muscheln mit den feinsten Farben geschmückt.‹ - ›Wir werden uns nie verstehen‹, erwiderte der elegante Besucher, ›ich räume das Feld.‹ Und ging.
Eine Oxforder Bibliothek (ich weiß nicht mehr welche) hat alle ihre Werke über Sexualität verbrannt, darunter »Die Physik der Liebe« von Remy de Gourmont und »Kraft und Stoff« von Ludwig Büchner.
In Berlin sah ich kürzlich in der Bibliothek allerhand Pedanten, doch ich machte mich mit einem Leser bekannt, dessen Gesicht mir sympathisch war. Er erläuterte mir die literarischen Vorlieben der jungen Deutschen, und ich übergebe ihm das Wort: ›Die beliebtesten französischen Autoren‹, sagte er, ›sind André Gide, Verhaeren, Maeterlinck und Paul Claudel. Was die deutsche Literatur betrifft, brauche ich über Dehmel oder Mombert nichts zu sagen, da sie in Frankreich sehr bekannt sind. Von den älteren Schriftstellern schätzen wir einige, die man in Paris kaum kennt. Der kranke Peter Altenberg lebt seit zwei Jahren in einem Sanatorium bei Wien. Peter Hille, ein Bohemien, hat zu Lebzeiten kein einziges Buch herausgebracht. Seit seinem Tod tauchen immer wieder Manuskripte auf, die er mit anderen Habseligkeiten bei seinen Wirtinnen zurücklassen mußte; es sind schon vier Bücher veröffentlicht. Paul Scheerbart, inzwischen fünfzig, schreibt kosmische, planetarische Novellen. Karl Kraus ist ein exzellenter Prosaist, der vielbeachtete Essays geschrieben hat. Seine Hauptwerke sind »Die chinesische Mauer« und »Sprüche und Widersprüche«. Vor kurzem hat er eine Schrift gegen Heine verfaßt. Ich gehöre zur Gruppe des »Sturm«, den Herwarth Walden leitet, ein temperamentvoller, kämpferischer Mann, der sich mutig für junge Künstler einsetzt. Zu diesen zählt Albert Ehrenstein, dessen Begabung zu großen Hoffnungen berechtigt. Er versteht nichts von Musik und ist ein erbitterter Gegner des Berliner Tageblatts. Peter Baum ist ein hochempfindsamer lyrischer Erzähler. Auch er hält sich was darauf zugute, von Musik keine Ahnung zu haben. Der Dichter Paul Zech war früher Bergmann in Holland und Westfalen. Alfred Döblin ist Nervenarzt und schreibt Erzählungen. Er war einer der glühendsten Anhänger des Futurismus. All diese Autoren wohnen in Berlin und versammeln sich im Café Josty um Herwarth Walden. Es gibt noch andere, wie Franz Kafka in Prag und Thaddäus Kittner aus Wien.‹ Aber lassen wir Berlin und die Literatur und kommen wir wieder zu den Büchereien.
In der Jenaer Universitätsbibliothek wurden Heines Werke auf Beschluß des Senats aus dem Lesesaal entfernt und sind nur noch im Magazin mit Sondererlaubnis einzusehen.
In Kassel hoffte ich immer dem Geist des Marquis de Luchet zu begegnen, der die Bibliothek Ende des 18. Jahrhunderts leitete und im Handumdrehen durcheinanderbrachte, indem er Wicquefort zu den Kirchenvätern stellte und Barbarismen wie »exeuropeana« auf die Zierleisten schrieb, was nicht nur die Latinisten in Kassel, sondern auch die in Göttingen und Gotha empörte. Letztere machten einen solchen Skandal, daß Luchet abtreten mußte.
Die Bibliothek von Neuchâtel in der Schweiz liegt am schönsten von allen, die ich kenne. Sämtliche Fenster gehen auf den See. Ein bezaubernder Ort! Der Lesesaal ist herrlich. Er ist mit den Porträts berühmter Bürger der Stadt geschmückt. Obendrein kann man in Ruhe lesen, denn man trifft kaum jemanden. Der Leiter - traditionell ein Theologe - schläft auf seinem Pult. Es gibt eine reiche Sammlung französischer Bücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Wer Titel haben will, die schwer zu finden sind, darf sie selber suchen. Die Bibliothek rühmt sich ihrer Rousseau-Handschriften, die in einem großen gelben Umschlag Aufbewahrt werden. Nur sie bekommt man ohne weiteres, so stolz ist man darauf.
In der Bibliothek von Sankt Petersburg erhielt man den Mercure de France nicht im Lesesaal. Die Privilegierten lasen ihn im Dienstzimmer. Ich habe dort wundervolle kyrillische Schriften auf Birkenrinde gesehen. Die Bibliothek hatte von neun Uhr morgens bis zehn Uhr abends geöffnet. Viele arme Studenten kamen hierher, um sich aufzuwärmen. Der Lesesaal war geradezu ein Hort revolutionärer Gesinnung. Andauernd störten Razzien die Studierstimmung und alle mußten ihren Ausweis zeigen. Zwölfjährige Mädchen lasen dort Schopenhauer. Später kamen unter dem Eindruck von Arzybaschews »Sanin« auch elegante Damen, um die neuesten französischen Symbolisten zu lesen.
Die Lektüre des »Sanin« zeitigte groteske Folgen. Gymnasiasten und Gymnasiastinnen zwischen vierzehn und siebzehn gründeten Sanin-Clubs. Jeder brachte einen Kerzenstummel mit. Es wurde gesungen und getrunken, und wenn die letzte Kerze ausging, begann die Orgie. Kurz vorm Krieg gab es in dieser Altersgruppe eine bedauerliche Selbstmordepidemie.
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Aus dem Französischen von Gernot Krämer


SINN UND FORM 2/2008, S. 212-214