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Leseprobe aus Heft 4/2010

Schöttker, Detlev

Dolf Sternberger und Walter Benjamin
Ein Photographie-Aufsatz und seine Folgen


Für Rolf H. Krauss

1938, vier Jahre, nachdem er in die Redaktion der »Frankfurter Zeitung« eingetreten war, veröffentlichte Dolf Sternberger sein Buch »Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert«. Walter Benjamin verfaßte eine aggressive Rezension, die er in der »Zeitschrift für Sozialforschung« veröffentlichen wollte. Doch wurde sie hier nicht gedruckt, sondern erschien erst 1972 aus dem Nachlaß im dritten Band der »Gesammelten Schriften«. Die Lektüre machte Sternberger betroffen, wie das Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe seines Buches von 1974 zeigt. Dennoch hielt er auch hier an seinem ursprünglichen, fast vierzig Jahre zurückliegenden Bekenntnis fest: Benjamin sei sein Vorbild.

Das Motiv für die Attacke suchte Sternberger in Benjamins Buchprojekt über die Vorgeschichte der Moderne im 19. Jahrhundert, das unter der Bezeichnung »Passagen-Werk« bekannt geworden ist. Die Konkurrenzhaltung – Benjamin sprach von einem Plagiat – war allerdings nicht der einzige Grund für seinen Angriff. Vielmehr zeigen die hier erstmals abgedruckten Briefe von Peter Suhrkamp, Dolf Sternberger, Rudolf Geck und Ernst Bloch, daß es weitere und vermutlich sogar wichtigere Motive gab. Es handelt sich zum einen um Sternbergers Photographie-Aufsatz, der im Herbst 1934 erschien, zum anderen um eine Absage der »Frankfurter Zeitung« an Benjamin vom Sommer 1935, in die Sternberger als Redaktionsmitglied einbezogen war.

I

Als Sternberger Benjamin am 22.August 1934 nach Paris schrieb, berichtete er von einem Buch zum Phänomen der Sozialversicherung, das er noch im selben Jahr veröffentlichen wollte. Obwohl das Manuskript weitgehend abgeschlossen war, ist das Buch nicht erschienen. Über die Gründe wurde nichts bekannt. Daß er zugleich an einem umfangreichen Aufsatz über Photographie arbeitete, der knapp zwei Monate später in der »Neuen Rundschau« gedruckt wurde, erwähnte Sternberger dagegen nicht. Benjamin hörte davon eher zufällig durch Peter Suhrkamp. Anlaß war Benjamins Bitte an den S.Fischer Verlag, ihm die gerade erschienene Ausgabe von Hofmannsthals »Gesammelten Werken« für eine Rezension in der »Frankfurter Zeitung« zu übersenden. Dieser Brief ist zwar nicht erhalten, doch geht der Inhalt aus Suhrkamps Antwort und einem weiteren Brief Benjamins an Gershom Scholem vom 15. September 1934 hervor. Suhrkamps Schreiben erklärt sich aus seiner Stellung im S. Fischer Verlag: 1932 wurde er Redakteur der hauseigenen »Neuen Rundschau«, ein Jahr später auch Vorstandsmitglied. Benjamin war darüber möglicherweise durch Brecht informiert, der seit Anfang der zwanziger Jahre mit Suhrkamp befreundet war. Es ist deshalb kein Zufall, daß Benjamin seine Anfrage aus Skovbostrand bei Svendborg schickte, wo er seit Sommer 1934 in der Nähe Brechts lebte, nachdem er im März 1933 von Berlin über Ibiza nach Paris geflohen war. In der »Frankfurter Zeitung« konnte er bis März 1935 noch Rezensionen und literarische Texte anonym oder unter Pseudonym veröffentlichen; die »Literarische Welt«, in der er früher auch über Hofmannsthal geschrieben hatte, war dagegen 1933 eingestellt worden.

Sternberger kannte Suhrkamps Brief an Benjamin. Ob dies schon zum Zeitpunkt seiner Abfassung der Fall war, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Fünfzig Jahre später aber erhielt er eine Kopie von Siegfried Unseld, der 1975 über seinen Vorgänger die »Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern« veröffentlicht hatte, so daß er über viele Details informiert war. Dennoch äußerte er sich in einem Begleitbrief vom 21. Februar 1984 verwundert über das Schreiben, das ihm möglicherweise erst bei der Vorbereitung zur Neuauflage der Biographie in die Hände gefallen war (sie erschien 1991). Unseld schreibt: »Lieber Dolf, als Anlage schicke ich Ihnen die Kopie eines Briefes von Peter Suhrkamp an Walter Benjamin. Ein Kuriosum; niemand wußte, daß Suhrkamp und Benjamin in Verbindung standen. Er hat mir das selber nie erzählt. Und das zweite Kuriosum: der Photographie-Aufsatz, ›den wir noch miteinander anfingen‹, ist zwar im Oktober 1934 veröffentlicht worden, aber der Autor heißt nicht Walter Benjamin, sondern Dolf Sternberger. Ich nehme an, Suhrkamp hat einmal mit Benjamin ein solches Projekt besprochen, ausgeführt aber haben Sie es. Ich freue mich, mit Ihnen darüber zu sprechen.«

Ob Unseld mit Sternberger über den Vorgang gesprochen hat, läßt sich ihrem Briefwechsel nicht entnehmen. Die drei involvierten Autoren aber kannten sich seit Beginn der dreißiger Jahre gut. Während Suhrkamp mit Sternberger seit 1932 über dessen Beiträge für die »Neue Rundschau« korrespondierte, lernte er Benjamin Anfang 1930 durch Brecht kennen. Suhrkamps Name taucht in einer Liste möglicher Mitarbeiter der Zeitschrift »Krise und Kritik« auf, die Benjamin und Brecht im Rowohlt Verlag herausgeben wollten (vgl.Erdmut Wizisla, Benjamin und Brecht, 2004, S. 298). In einem Radioessay zum Band »Deutsche Berufskunde«, der im Dezember 1930 im Südwestdeutschen Rundfunk gesendet wurde, wies Benjamin zuvor nachdrücklich auf Suhrkamps Beitrag über Journalismus hin. Die nähere Bekanntschaft aber bezeugt nur der hier abgedruckte Brief vom September 1934. Benjamin und Sternberger wiederum hatten sich 1932 in Frankfurt bei Ernst Schoen, dem künstlerischen Programmleiter des Südwestdeutschen Rundfunks, kennengelernt. Nachdem Sternberger 1934 seine gerade erschienene Dissertation »Der verstandene Tod. Eine Untersuchung zu Martin Heideggers Existenzial-Ontologie« an Benjamin nach Paris geschickt hatte, korrespondierten beide miteinander. Am 10. Januar 1934 bedankte sich Benjamin für das Buch. Seine Äußerung »Später einmal hören Sie Ausführlicheres« hat Sternberger offenbar als Ankündigung einer Rezension aufgefaßt und mehrfach nachgefragt. Am 22. August 1934 teilte er Benjamin seine Anstellung bei der »Frankfurter Zeitung« mit und erwähnte zwei Beiträge: den Artikel »Stefan Georges Ruhm« sowie den Aufsatz »Jugendstil. Begriff und Physiognomik«, der im September-Heft der »Neuen Rundschau« erscheinen werde und Benjamin »in vielem sehr verpflichtet« sei.

Benjamin antwortete am 4. September 1934, daß er Sternbergers Arbeiten »gern« lese. Der Photographie-Aufsatz allerdings wird von beiden auch in weiteren Briefen mit keinem Wort erwähnt. In einem Schreiben vom 29. Juli 1935, also über zehn Monate später, vertröstete Benjamin seinen Korrespondenzpartner schließlich wegen der Rezension des Heidegger-Buchs und erbat eine Zusammenfassung sowie die Nennung der wichtigsten Abschnitte. Zwar bekam er die gewünschten Angaben in einem Brief vom 12. August 1935, machte die Besprechung in einem weiteren Schreiben vom 1. September aber von der Publikation des Textes in der »Frankfurter Zeitung« mit entsprechender Honorierung abhängig. Er bat Sternberger deshalb, mit Rudolf Geck, dem Leiter der Feuilleton-Redaktion, zu sprechen, der ihm zuvor am 2.August mitgeteilt hatte, daß die Zeitung Beiträge aus dem Ausland nicht mehr in allen Fällen bezahlen könne. Den Brief legte Benjamin seinem Schreiben an Sternberger bei, so daß er sich als Original in dessen Nachlaß befindet.

Die Mitteilung Gecks hat Benjamin aus zwei Gründen getroffen: zum einen gefährdete sie ein Buchprojekt mit kurzen Prosatexten in der Nachfolge der 1928 erschienenen »Einbahnstraße«, von dem bereits einige Stücke in der »Frankfurter Zeitung« publiziert worden waren; zum anderen ging ihm dadurch eine weitere Publikationsmöglichkeit und Einkommensquelle verloren, so daß sich die ohnehin prekäre Lage im Pariser Exil weiter zu verschärfen drohte. Zwar hat Sternberger nach eigener Aussage mit Geck über die Honorierungsfrage gesprochen, wie er Benjamin am 5. September 1935 mitteilte, zugleich aber deutlich gemacht, daß es sich bei der Besprechung um eine Ausnahme handele. »Selbstverständlich«, so Sternberger, »würde ich es völlig verstehen, wenn Sie unter diesen Umständen die Sache lieber wieder zurückgeben würden.«

[…]

SINN UND FORM 4/2010, S. 437-444