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Leseprobe aus Heft 1/2011

Zagajewski, Adam

Unser Europa


Vor nicht allzu langer Zeit waren viele Europäer bereit, für ihr Land, für Frankreich, Deutschland oder auch Polen, zu sterben. Für Europa möchte heute wohl niemand sein Leben geben. Ist Europa also nur eine Fiktion? Wenn ja, dann eine verlockende. Nicht so real wie Gott, der Tod, das Schöne, wie Italien und Rom, das Christentum, Gut und Böse, Liebe und Sehnsucht, aber realer als der Sozialismus, als Vollbeschäftigung, klassenlose Gesellschaft und internationale Solidarität, realer auch als visionäre Politiker oder altruistische Künstler.
Hugo von Hofmannsthal, der österreichische Rimbaud, der lieber ein österreichischer Goethe gewesen wäre, schrieb nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie an Carl Jakob Burckhardt: »Meine Heimat habe ich behalten, aber Vaterland habe ich keins mehr, als Europa.« Der Ungar Sándor Márai hingegen schrieb in seinem Tagebuch, er lebe in den USA, weil er nur hier die Hoffnung habe, ein ungarischer Schriftsteller bleiben zu können. Czesław Miłosz gab einem seiner Bücher den bezeichnenden Titel »Rodzinna Europa« (Heimatliches Europa); doch im englischen ("Native Realm«), französischen ("L'autre Europe«) und deutschen Titel ("West- und östliches Gelände«) fehlt der Hinweis auf Europa als Heimat. Und Zbigniew Herberts Essayband »Ein Barbar in einem Garten« ist eine Hymne auf Europa, eine Liebeserklärung an die europäische Kunst, die er in den Städten Italiens, in der Höhle von Lascaux, in gotischen Kathedralen und in den Meisterwerken der Malerei bewunderte. Was bedeutete ihnen allen Europa?
Hofmannsthal war wohl der letzte europäische Autor, der in seiner Jugend den Anspruch hatte, die Fülle des Lebens mit den traditionellen Mitteln zu erfassen. Später zitierte er Novalis: »Nach verlorenen Kriegen soll man Lustspiele schreiben!« Er verklärte die Donaumonarchie zu einem Hort des Liberalismus, wo die Traditionen des spanischen Hofes mit seinen Malern und Dichtern – Velázquez und Goya, Calderon und Cervantes – auf starke germanische Strömungen trafen und durch italienisches Genie und slawische »tiefe Halbtöne« bereichert wurden. Daß aus dem majestätischen Kaiserreich ein nationalistischer Kleinstaat wurde, war für Hofmannsthal eine Katastrophe. Seine einzige Hoffnung war der Gedanke an ein übernationales Europa.
Heute würde er sicher wohlwollend und ein wenig neidisch auf uns Europäer blicken, aber vielleicht wäre er auch enttäuscht. Jetzt haben wir diesen übernationalen Raum, wo die Nationalismen weitgehend gezügelt sind, und diskutieren allenfalls, wie er besser zu nutzen sei. Haben sich damit die hochfliegenden Träume unserer Vorfahren erfüllt? Haben wir Kraft und Glanz der europäischen Tradition bewahrt? Was hielte Hofmannsthal von den Wortgefechten in Brüssel und Straßburg? Würde er seine Vision von Europa wiedererkennen? Wäre er zu Recht enttäuscht? Und was könnten wir ihm sagen? Daß dies eben die Kluft zwischen Utopie und Wirklichkeit ist? Müßten wir ihn in die traurigen oder goldenen zwanziger Jahre, in seine Bibliothek zurückschicken? Oder müßten wir zugeben, ja, so ist es, wir müssen Europa immer wieder neu denken und schaffen, damit es nicht bloß eine Freihandelszone ist.
Als Zbigniew Herbert Ende der fünfziger Jahre aus dem Schmutz und dem Grau seines von den Nazis zerstörten und von stalinistischen Architekten hastig wiederaufgebauten Landes herauskam, freute er sich, daß es Siena noch gab und die Gemälde Piero della Francescas Bilderstürmerei und Kriegsbrände überstanden hatten. Zu dem wenigen Guten, das sich über den sowjetischen Kommunismus sagen läßt, gehört, daß er durch seine Mittelmäßigkeit und Brutalität große Sehnsucht nach den Schätzen der europäischen Kultur weckte. Herbert schreibt aber auch über die grausame Verfolgung der Albigenser. Die Freude über die Schönheit Europas macht ihn nicht blind für die europäischen Dämonen.
Doch zurück zu Márai, dem Emigranten, Schriftsteller und Reisenden. Seine Aussage, nur in Amerika ein ungarischer Autor bleiben zu können, ist ein paradoxes Kompliment für Europa: Sie bezeugt seine Kraft und seine unerschütterliche Identität, die mit der gewissermaßen ungefestigten amerikanischen Kultur nicht zu vergleichen sind. Offenbar konnte er in Amerika die Erinnerung an seine Kindheit in Kaschau (heute Košice in der Slowakei) und an die ungarische Lyrik besser bewahren als in Frankreich, Italien oder England, und sich in Kalifornien oder New Jersey dem Reiz kleiner Provinzstädte leichter entziehen. Das lag womöglich am provisorischen Charakter der amerikanischen Städte, deren Holzhäuser man jederzeit per Lastwagen umsiedeln kann (sie ziehen dann wie traurige Schoner über die Autobahnen). Wäre Márai Dozent an einem College gewesen, hätte ihm die dort im Vergleich zu Europa viel größere Offenheit und Gastfreundlichkeit ebenfalls geholfen, ein ungarischer Autor zu bleiben.
Für Leszek Kołakowski unterscheidet sich Europa nicht nur durch sein kulturelles Erbe von anderen Kontinenten, sondern auch durch seine Fähigkeit zu Kritik und Selbstkritik, zu der es Schriftsteller und Philosophen, Natur- und Geisteswissenschaftler geradezu anhält. Europa sei fähig, schlecht über sich zu reden (manchmal sogar zu schlecht), und könne deshalb seine Untaten und Verbrechen bis zu einem gewissen Grad durch geistige Offenheit ausgleichen. Dabei wisse es womöglich gar nicht, wie sehr es von den inneren Spannungen des Christentums profitiere, denn gerade das Bemühen, radikale theologische Positionen miteinander in Einklang zu bringen, sei ein wertvolles Modell für das Austarieren widerstreitender gesellschaftlicher Interessen.
Czesław Miłosz schrieb sein autobiographisches »West- und Östliches Gelände« in den fünfziger Jahren in Paris, wo er übrigens als Renegat und Verräter an der Sache des Proletariats galt. Wie Hofmannsthal brauchte er einen Raum ohne Chauvinismus und Staatsterror, und wie Johannes Paul II., wenngleich auf anderer Ebene, arbeitete er sein Leben lang darauf hin, daß Ost- oder Mittelosteuropa als integraler Bestandteil der europäischen Kultur wahrgenommen würde und nicht als wildes, von tristen Flüssen durchzogenes Ödland, ubi leones.
Für Márai war Schreiben mehr als das Erschaffen schöner Literatur, es bedeutete auch das Streben nach Wahrheit. In der Emigration, in Italien, Frankreich, der Schweiz und den USA, überall dachte er an einen aus der Mode gekommenen Begriff: Europa (wenn er in Mode war, galt er nicht für unseren Teil des Kontinents). In seinen »Tagebüchern« gibt es eine Eintragung aus der Kriegszeit, die wie eine Geschichte Europas in Kurzform anmutet: »Der Europäer pflegte über lange Zeit in ruhigem Vertrauen zu sagen: ›Mein Gott'. Später, in plötzlicher Aufwallung, sagte er ernst und drohend: ›Meine Religion'. Noch später begann er aufgeregt nachzuplappern: ›Mein Vaterland, meine Nation'. Inzwischen grölt er mit blutunterlaufenen Augen in wirrem Gestammel: ›Meine Rasse'. Damit hat er aufgehört, Europäer zu sein.« An anderer Stelle rühmt er Europas Größe und bedauert, daß es nicht existiere. Auch das ist Márai; aber denken wir manchmal nicht ebenso?
Es kostet nicht viel, den europäischen Geist zu beschwören, Europas Vergangenheit, seine alten Mauern und malerischen Ruinen zu besingen. Was für eine Freude ist etwa ein Besuch in Benedetto Croces Archiv in der Altstadt von Neapel. In den hellen Räumen voller Bücher schwebt noch die Aura eines großen europäischen Denkers.
Die moralische Bilanz unseres kleinen, intelligenten Kontinents ist nicht annähernd so positiv: Ursprungsort von Faschismus, Nazismus, Kommunismus, Kolonialismus, der Shoah. Der europäische Geist hat nicht nur Gutes hervorgebracht. Zu den Verbrechen und Verfehlungen gehört auch die oft verschwiegene Gleichgültigkeit des Westens gegenüber dem sowjetisch beherrschten Osteuropa. Daß die Westeuropäer nicht sehen wollten, was dort geschah, wäre noch zu verstehen, weil es ja menschlich ist. Viel schlimmer ist, daß trotz Orwell nicht wenige hochgelehrte Akademiker von ihren behaglichen Wohnungen in Paris oder London aus den Leuten in Budapest, Warschau und Prag erklärten, warum das sowjetische System trotz aller zeitweiligen Schwierigkeiten (aus unerfindlichen Gründen gab es ständig zeitweilige Schwierigkeiten) der westlichen Demokratie überlegen war. Während eines Besuchs in Warschau wollte Sartre seinen verbitterten Gesprächspartnern doch tatsächlich einreden, dass der Sowjetkommunismus eine bessere Zukunft verheiße. Als Stephen Spender bei einem Vortrag Ende der fünfziger Jahre in Warschau polnische Intellektuelle fragte: »Sind unter Ihnen Kommunisten?«, erwiderten diese nach kurzem Zögern: »Sie kommen zu spät, Sir.« Die Liste der westeuropäischen Intellektuellen und Künstler, die sich einer solchen Leichtgläubigkeit und Ignoranz schuldig machten, ist lang und bekannt; sogar der Theologe Karl Barth gehörte dazu (zur Politik hat Gott anscheinend nichts gesagt).

Und auch das jämmerliche Zögern und Nichteingreifen während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien ist nicht vergessen; in Sarajevo, Srebrenica und anderswo hat Europa sich nicht mit Ruhm bedeckt, obwohl die europäische Rhetorik blühte und es zahlreiche Europa-Konferenzen gab. Wie können wir sicher sein, daß sich diese Passivität bei ähnlichen Tragödien nicht wiederholt? Manchmal hat es den Anschein, als wären die Europäer eine Literatengemeinschaft: Sie lieben das Wort, aber wie steht es mit der Tat?
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Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann

SINN UND FORM 1/2011, S. 5-10