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Leseprobe aus Heft 1/2011

Mosebach, Martin

Wer einen Roman schreibt – sollte der wissen, was ein Roman ist?


Ich war dreißig Jahre alt und hatte soeben meine juristischen Studien mehr schlecht als recht abgeschlossen und noch keine der kleinen Erzählungen und Stilexperimente aus meiner Referendarzeit veröffentlicht, als mich die Lektorin eines Verlages, die die Manuskripte gelesen hatte, fragte, ob ich nicht auch einen Roman schreiben könne. Ich hatte bisher noch keinen Gedanken auf einen eigenen Roman verwandt und zögerte dennoch keinen Augenblick, ja zu sagen, wie ich mehr oder weniger zu allen Zumutungen oder Versuchungen in meinem Leben ja gesagt habe. Ich hatte trotz meiner Neigung zur Literatur Jura studiert, weil ich einen ausgeprägten Widerwillen gegen jede Art von literarischer Theorie verspürte, und das ohne sie näher zu kennen als alles, was sonst so an einen herangespült wird. Es war meine grundsätzliche Überzeugung, es sei besser, ein Gegenstand der Philosophie zu sein, als selbst zu philosophieren. So begann ich denn recht bedenkenlos drauflos zu erzählen, mit großer Handschrift, wie d'Annunzio Berge von Papier verbrauchend, bis ich nach etwa einem Jahr ins Stocken geriet; die Planlosigkeit rächte sich, alles war möglich, und diese Unbeschränktheit erzeugte unüberwindliche Blockaden. Damals lernte ich eine Wienerin kennen, die Förster-Streffleur hieß; ich schrieb ihr einen Brief und betrachtete auf dem Umschlag eine Weile unverwandt ihren Namen, bis ich plötzlich feststellte, daß der zweite Teil dieses Namens beinah ein Anagramm des ersten Teils war – nur das L war überzählig. So kam ich zur Lösung meines Problems: ich würde den zweiten Teil meines Romans einfach mit denselben Figuren wie im ersten erzählen, nur in anderer Anordnung, unter Hinzufügung von ein oder zwei neuen Elementen. Ich kann nicht behaupten, daß dieser Roman mit dem Titel »Das Bett« mir aus den Händen gerissen worden wäre, aber ich blicke immer noch freundlich auf ihn.

Der zweite Roman wurde durch eine Goethe-Maxime inspiriert: »Wir sind naturforschend Pantheisten, episch Polytheisten, moralisch Monotheisten.« Ich nahm mir Tschechows Kirschgarten-Stoff und stellte mir vor, seine Protagonisten seien bürgerlich-modern kostümierte griechische Götter. Götter haben die Eigenschaft, in ihren Ressorts einander feindselig gegenüberzustehen, zugleich aber allesamt recht zu haben und in ihren Kämpfen und Göttermählern ewig zu leben. Die Verkleidung meiner Götter ist mir offenbar allzu gut gelungen; die wenigen Leser von »Ruppertshain« glaubten, es sei ein Roman über Immobilienspekulation, und fanden, daß ich mit diesem ernsten Thema zu leichtfertig umgegangen sei. Danach begann ich den Roman »Westend«, drohte nach munterem Anfang bald schon in ihm zu versinken und stellte nach drei oder vier Jahren fest, daß es nun an der Zeit sei, mich zu entscheiden, ob ich wirklich Schriftsteller werden wolle.

Das Bild selig-theorielosen Produzierens, das ich hier entworfen habe, entbehrt nicht einer gewissen Unwahrhaftigkeit, denn es war selbstverständlich keinen Augenblick so, als sei mir oder einem meiner Zeitgenossen ein voraussetzungsloses Erzählen auch nur im Traum möglich gewesen. So begeisternd für den jungen Autor die Vorstellung auch sein mag, er schreibe den ersten Roman – nicht den ersten eigenen wohlgemerkt, sondern den ersten überhaupt –, sie wird sich nur in den flüchtigen Augenblicken der Berauschtheit durchhalten lassen. Das Reich der Romane ist übervölkert; es wird von einem Riesengeschlecht toter Schriftsteller bewohnt, die mit der Zeit immer noch weiter wachsen, wie der Prophet Samuel, der in seinem Sarkophag zu Samarkand beständig größer wird und inzwischen schon über sechs Meter mißt. Aber auch die neueren, kleineren Autoren haben eindringliche Stimmen, die verführerisch dissonant klingen. Da hatte die Warnung meines Vaters viel für sich, es sei ein sinnloses Unterfangen, dem Romankosmos noch eigene Bücher hinzuzufügen, wenn meine Lebenszeit ohnehin nicht ausreiche, dem bereits Geleisteten auch nur annähernd gerecht zu werden. Schon nach oberflächlicher Würdigung auch nur einiger der großen Romane mußte mir klar sein, daß es Gesetze des Erzählens gab, die sich in Jahrhunderten herausgebildet hatten, ja, daß es einen großen, manchmal unhörbaren, aber immer gegenwärtigen Rhythmus gab, nach dem die europäischen Erzähler hüpften, tanzten oder würdig voranschritten, je nach Temperament, aber bei aller Verschiedenheit eben doch einer grundsätzlichen gemeinschaftlichen Ordnung verpflichtet. Diese gemeinsame Tradition und ihre allmähliche Verwandlung oder besser Entfaltung, so wie sich ein großer Organismus beim Altern und Reifen entwickelt, nehmen die Leser als unterirdische Strömung unter dem äußeren Gang der Handlung wahr. Auf die Frage, was ein Roman sei, gibt es unzählige Antworten, aber die Leser wissen es besser, auch ohne Definition; so ungreifbar, so proteushaft, wie die Legende tut, ist der Roman gar nicht. Seine kühnsten Formsprengungen und Gattungsüberwindungen waren von Beginn an in ihm angelegt. Als Horaz an der Ilias rühmte, daß Homer nicht pedantisch »ab ovo« erzähle, sondern den zehnjährigen Krieg in ein paar Wochen zusammendränge – ohne sich im übrigen das spektakuläre Ende, das er einfach unter den Tisch fallen ließ, als Schmankerl aufzusparen –, da war dies Werk schon sechs- oder achthundert Jahre alt; die gegenwärtige Forschung neigt wohl eher zur Spätdatierung. Und wenn dies Mittel der Zeitverdichtung heute angewandt wird, kann es immer noch so frisch wirken, als sei es eine originelle Erfindung, die alle überrascht. Also nichts da von Unschuld und Naivität des theorieunkundigen Neophyten: Wer Romane liest – und das habe ich, bevor ich welche zu schreiben begann, in reichlichem Maße getan –, in den ist genug Modellhaftes, Erzähltechnisches, Typologisches eingesickert, auch wenn er sich darüber noch keine Rechenschaft abgelegt hat. Und die Pseudo-Unschuld des sich mit seiner Theorielosigkeit brüstenden Autors, im besten Fall einer novellistischen demi-vierge, birgt auch Gefahren. Dalí's Wort, wer die Tradition nicht kenne, könne nur Plagiate hervorbringen, spricht von der Neigung des Originalgenies, bei sich für neuartig zu halten, was lange vor ihm schon meisterhaft bewältigt worden ist.

Auch ich habe aber schließlich, nachdem ich die mir wichtigsten Bücher schon geschrieben hatte, einen Romantheoretiker gefunden, den ich dankbar als meinen Romantheoretiker annehmen konnte, der beim Namen nannte, was ich nur geahnt hatte, und den ich mit der Liebe gelesen habe, die nur ein Buch in uns wecken kann, das uns in unseren Anschauungen bestätigt – dieser Satz gilt natürlich nicht für Wissenschaftler, die sich bekanntlich gern und vorbehaltlos in ihren vorgefaßten Meinungen erschüttern und revidieren lassen. Erich Auerbachs Werk »Mimesis« ist nun über sechzig Jahre alt, und ich bedaure unendlich, daß ich nicht zu Füßen dieses großen Lehrers sitzen konnte, dessen Lebenszeit sich mit der meinen um wenige Jahre überschneidet. Er hat die Gründungssätze des nachantiken, des europäischen und damit auch des modernen Romans benannt; jeder kennt sie, sie stehen im zweiten Kapitel des Lukas-Evangeliums: »Es begab sich aber zu jener Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzet würde, ein jeglicher in seiner Stadt; da machte sich auch auf Joseph aus Galilea aus der Stadt Nazareth nach der Stadt Davids, die da heißet Bethlehem in dem jüdischen Land, daß er sich schätzen ließe mit Maria seinem angetrauten Weibe, die war schwanger.« Mit diesen Zeilen eröffnet sich die Möglichkeit eines neuen Blicks auf die Welt: die große Geschichte, die Weltpolitik, der Gründer des römischen Kaisertums, dessen Wirken bis in die Gegenwart reicht, werden darin mit einer armen Handwerkerfamilie aus einer vernachlässigten Kolonie des Römerreichs zusammengespannt, und so etwas ist bis dahin undenkbar gewesen. Von nun an können Werke entstehen, die die Gattungsbegriffe der Antike aufheben. Bis zu diesem historischen Moment waren in der Literatur das Erhabene und das Alltägliche, die Sphären der Heroen und der kleinen Leute, die großen Zeremonien und die formlose Banalität streng voneinander geschieden. Aber nun verschmolzen sermo sublimis und sermo humilis zu einer Prosa, die die Sprache des europäischen Romans werden sollte. Auerbach hat sein Werk während des Kriegs in Istanbul geschrieben; der Istanbuler Universität müssen die Deutschen ewig dankbar sein, daß sie den Flüchtling auf einen Lehrstuhl berief, doch eine dieser Arbeit genügende Bibliothek gab es am Bosporus damals nicht. So hat Auerbach die »Mimesis«, wie er berichtet, weitgehend ohne Bücher geschrieben – er bekennt sogar, daß sein Buch anders wahrscheinlich nie entstanden wäre. Liegt in dieser Entstehungsweise auch der Grund, warum ich es mit solcher Freude gelesen habe?

Wenn ich nun beginne, einige Gedanken über den Roman auszusprechen, geschieht dies gleichsam im Gespräch mit Erich Auerbach, durch ihn angeregt, ihn gelegentlich weiterspinnend und mit Eigenem vermischend. Die Frage, was diese Überlegungen für meine Romane bedeuten könnten, stelle ich mir nicht, aber da mein Denken und mein Tun nicht mehr als üblich auseinanderklaffen, wird sich ein gewisser Zusammenhang nicht leugnen lassen.

 

Ist Realismus etwas Wirkliches?

Es war ein alter Verfassungsrechtler, der mich mit seinem Mißvergnügen und seinen Bedenken gegen die literarische Form des Romans in Verlegenheit brachte: »Ich verstehe nicht, weshalb man Romane liest«, sagte er. »Da heißt es dann: ‚Der Baron stand auf den Zinnen seiner Burg und blickte über die Felder, die in der Abendsonne lagen‹ – wenn er das in Wahrheit doch gar nicht getan hat, ja, wenn es diesen Baron doch überhaupt nicht gab.« Man sieht, welchen Typus Roman der Jurist im Auge hatte, aber er hätte seine Bedenken auch äußern dürfen, wenn der Roman mit den Worten begonnen hätte: »Der Junkie Kevin öffnete den Eisschrank und blickte auf eine angebohrte, verschimmelte Velveta-Ecke.« Wann das Interesse der Menschheit an fiktionalen Erzählungen erwacht ist und welche Gründe es dafür gegeben haben mag, wann aus Mythen, die keinesfalls Fiktionen sein wollten, wann aus Epen, die sich als Geschichtswerke begriffen, Mythologien wurden, deren sich die individuelle künstlerische Phantasie bemächtigte, wann Märchen, die in ihrem Kern historische Ereignisse aufbewahrten, sich in Unterhaltungsstoff verwandelten, der zur literarischen Disposition der Erzähler stand – das soll hier nicht weiter erörtert werden. Und zwar nicht aus Geringschätzung für die Vielzahl der dazu angehäuften Erklärungen, sondern weil es für den Romancier unfruchtbar ist, sich die Welt ohne Romane vorzustellen, so wenig wie ein Pianist beim Einstudieren einer Haydn-Sonate von dem Gedanken profitieren kann, die Erfindung des Pianoforte sei im Grunde eine Absurdität. Es gibt ihn halt, den Roman, er erzählt, was sich niemals oder nicht in dieser Form ereignet hat, oder schlimmer: er exzediert im heillosen Verdrehen, Verknüpfen und Durcheinanderwerfen von Erfundenem und Tatsächlichem auf moralisch bedenklichste Weise – das Durcheinanderwerfen ist bekanntlich das Metier des Diabolos. Und das wahrhaft Unbegreifliche, meinen würdigen Juristen Verstimmende liegt dabei doch in der Übung, den größten Teil der in den letzten Jahrhunderten geschriebenen Romane ganz selbstverständlich einem »Realismus« zuzuordnen – was mag das wohl für ein Verhältnis zur Realität sein, das eine solche Verbindung des Unvereinbaren immer wieder erlaubt?

Es scheint da ein etwas fragwürdiges Spiel mit sehr feinen Kategorien zu geben: da treten eine »Wahrheit« und eine »Wirklichkeit« und eine »Wahrscheinlichkeit« gegeneinander an und versuchen zu beweisen, daß man ihren Ansprüchen auch genügen könne, wenn das im Roman Dargestellte nicht mit kriminalistischen Methoden zu sistieren sein sollte, wenn es sich vor den Schranken des Gerichts und unter Eid gar als schiere Lüge erwiese.

Ich greife zum Anekdotischen, um zu illustrieren, wie der Begriff des Realismus im Roman vielleicht am besten verstanden werden könnte. Ein inzwischen verstorbener Pianist erzählte mir von den Verhältnissen im Hause Rubinstein, die er kannte, weil er dort so lange zu Gast gewesen war, bis Madame Rubinstein ihn auf die Straße setzte. Er bewahrte der Dame deshalb kein gutes Andenken. »Sie war eine fürchterliche Frau«, sagte er, »stellen Sie sich vor: sie hatte auf dem Klo einen Goya hängen.« Ein Zuhörer protestierte: »Aber bitte – sie hatte doch keinen Goya auf dem Klo hängen!« Der Pianist revidierte sich etwas gereizt: »Natürlich hatte sie keinen Goya auf dem Klo hängen – aber so war sie!«

Mein Jurist ist mit solchen Mätzchen nicht zu trösten, aber ich muß ihn seinem Gram überlassen, denn auch »der kreative Umgang mit der Wahrheit« im Roman, um eine berüchtigte Formel zu gebrauchen, kann auf verschiedene Weise gehandhabt werden. Zwei Schulen sind es, die mich beschäftigt haben: der Naturalismus und der eigentliche Realismus. Das Bestreben, die Welt mit den Mitteln der Erfindung zu zeigen, wie sie ist, scheint dem Naturalismus und dem Realismus gemeinsam, aber der Naturalismus hat hier offenbar einen Vorsprung. Er sammelt bei seinen Recherchen unerschrocken alle Phänomene der Wirklichkeit, er blendet kein Wahrnehmungsorgan aus und weigert sich, den Ekel, die Scham, den Takt, die Rücksicht als Grenzen seines Tuns zu akzeptieren. Er befürchtet, daß all dies von dem Interesse geleitet sein könnte, die geschilderten Verhältnisse irgendwie zu beschönigen, und daß solche Beschönigungs-Absichten ein Zeugnis unwürdiger Ängste oder gar des handfesten Betrugs seien. Und diese Befürchtung trifft ja allzu oft ins Schwarze. Allzu oft werden unter dem Anschein realistischer Schilderung Verhältnisse idealisiert, harmonisiert, geschminkt und veredelt, und das nicht nur in der Absicht, eine angenehme Unterhaltung herzustellen, sondern auch, mit durchaus politischen Nebengedanken, um die Verfälschung in den Dienst einer Propaganda zu stellen. Aber ist das Objektiv des Naturalismus mit der angestrebten eisigen, gnadenlosen Apperzeption denn wirklich so unbeteiligt, so unparteiisch gegenüber den Phänomenen, die es registriert? Könnte es nicht sein, daß der schonungslose Blick auf das Häßliche, das Abstoßende, das Übelriechende und Verfaulte in Wahrheit Symptom einer Gequältheit ist? Verbirgt sich hinter der Kälte des Naturalismus nicht vielleicht eine große Bitterkeit, eine tiefe Enttäuschung darüber, »daß nicht alle Blütenträume reiften"? Wird das Grausame und Abscheuerregende am Ende gar nicht deshalb ausgebreitet, weil es eben da ist, sondern weil es, ginge es mit rechten Dingen zu, gerade nicht da sein sollte? Wenn er auf die Eingeweide des Menschen zu sprechen kommt, ist da nicht eine geheime Verletztheit spürbar, daß wir innerlich nicht aus einem Röhrensystem aus Straßburger Fayence bestehen? Bis heute bewahren die Hervorbringungen des Naturalismus ihre Herkunft aus der barocken Vanitas-Mentalität, wenn auch zersprungene Lauten und elfenbeinpolierte Totenköpfe sich dekorativer ausnehmen als das Erbrochene neben der halbleeren O-Saft-Tüte, aber das sind Fragen des Zeitgeschmacks. So würde ich es für mich definieren: der Naturalismus will, seinem tiefsten Antrieb entsprechend, darstellen, was nicht da sein sollte, empörenderweise aber dennoch da ist, um die Leser zum Aufstand gegen das existierende Böse zu ermutigen – und der Verdacht bleibt: alles Daseiende ist böse. In seiner Darstellung der faktischen Verhältnisse ist er nicht zu übertreffen, aber dieser Gefühls- und Gedankenhintergrund schiebt sich während der Lektüre immer mehr nach vorn, bis sich in den Blut- und Urinlachen das verwundete Herz des Autors spiegelt, der sich für eine schönere Welt geboren glaubte. Alles zu sagen, das ist freilich auch das Ziel des nicht- oder gar antinaturalistischen Realismus. Ein Ausweichen vor den tristen und schlimmen Aspekten der Welt will auch er sich nicht gestatten, obwohl er nicht davon überzeugt ist, daß gerade diese schlimmen Aspekte vor allem wahrheitsträchtig seien. Die Beschränkungen, die er sich auferlegt, entstammen aber nicht dem verhohlenen Wunsch, dem Unangenehmen ausweichen zu wollen, im Gegenteil. Aber zum Alles-Sagen des Realismus gehört oft genug auch das beredte Schweigen, ja, das Schweigen ist für ihn ein so bezeichnendes Mittel, daß seine Liebhaber einen Autor oft nicht nur dafür rühmen, was und wie er spricht, sondern auch dafür, was alles er nicht gesagt hat. Bemerkenswert ist da zunächst seine Art zu sehen, nicht mit dem Mikroskop auf die Details gerichtet, sondern wie das menschliche Auge sieht, das die zahllosen Einzelheiten eines Bildes verbindet und blitzschnell zu einer Komposition zusammenfaßt, in der Licht, Stimmung, Duft und Geräusch sich mit den Bildern unauflöslich vermählen. Realistisches Erzählen versucht unsere Erlebensweise nachzuahmen, die nicht analysiert, sondern das einzeln Wahrgenommene und unwillkürlich Ausgewählte mit einer Gesamtstimmung auflädt. In der Erinnerung kann diese Gesamtstimmung einer Situation durch die Evozierung eines einzelnen Details, in dem sie wie in einer verschlossenen Büchse gefangengehalten wurde, wieder frei werden – sie ist wortlos, aber an ein Wort gebunden, sie überschreitet dies Wort, hätte sich ohne das Wort aber verflüchtigt. Man denke nur an die Häuser in Dostojewski-Romanen, die der Leser durchwandert zu haben glaubt, obwohl er beim Nachlesen zu seinem Verwundern feststellen muß, daß sie eigentlich kaum beschrieben worden sind.

[…]

 

SINN UND FORM 1/2011, S. 46-64