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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-15-7

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Leseprobe aus Heft 1/2014

Woolf, Virginia

Im Flug über London


Fünfzig oder sechzig Aeroplane waren in der Flugzeughalle versammelt wie ein Schwarm Grashüpfer. Der Grashüpfer hat die gleichen riesigen Schenkel, denselben kleinen bootsförmigen Körper, der zwischen seinen Schenkeln ruht, und wenn er mit einem Grashalm berührt wird, hüpft auch er hoch in die Luft. Die Mechaniker schoben das Aeroplan hinaus auf die Grasnarbe; Flieger-Leutnant Hopgood, auf dessen Einladung wir gekommen waren, um unseren ersten Flug zu unternehmen, beugte sich herunter und ließ den Motor aufheulen. Tausend Federhalter haben die Empfindung beim Verlassen der Erde beschrieben; »Die Erde fällt von einem ab«, sagen sie; man sitzt still und die Welt ist gefallen. Es ist richtig, daß die Erde fiel, aber merkwürdiger war das Herunterfallen des Himmels. Man war im Augenblick des Abhebens nicht darauf gefaßt, in ihn eingetaucht zu sein, allein mit ihm, mitten in seiner Dichte darin zu sein. Die Gewohnheit hat die Erde unverrückbar im Zentrum der Einbildungskraft festgemacht wie einen harten Ball; alles ist im Maß von Häusern und Straßen gemacht. Und wenn man aufsteigt in den Himmel, wenn der Himmel sich über einem ausschüttet, löst sich dieser kleine harte körnige Knopf mit seinen Schnitzereien und Verzierungen auf, zerkrümelt, verliert seine Kuppeln, seine Zinnen, seine Kamine, seine Gewohnheiten, und man wird sich bewußt, ein kleines heißblütiges, hartknochiges Säugetier mit einem Gerinnsel von rotem Blut in seinem Körper zu sein, das hier oben in einer linden Luft wildert; ihr widerwärtig, unsauber, unsympathisch. Wirbelsäule, Rippen, Eingeweide und rotes Blut gehören der Erde zu; der Welt des Rosenkohls und der Schafe, die unbeholfen auf ihren vier spitzen Beinen gehen. Hier sind Winde, die abnehmen, die verschwinden, und das zeitlich nicht meßbare Wolkenmanöver, und nichts dauerhaft, sondern vergehend und zerschmelzend bei der Berührung miteinander ohne Zusammenstoß, und die Felder, die bei uns nach Yards ausgemessen werden und pünktlich Weizen und Gerste tragen, werden hier unaufhörlich neugemacht und wieder neugemacht von Regenstößen und Hagelschauern und Räumen so ruhig wie das tiefe Meer, und dann ist schlagartig alles Wandel, bewegte Brise. Doch obwohl wir durch Gebiete ohne abteilende Hecken und Zäune flogen, namenlose, besitzlose, ist doch das Bewußtsein so eingefleischt anthropozentrisch, daß instinktiv das Aeroplan zum Boot wird, und wir segeln einem Hafen zu und dort werden wir von Händen empfangen werden, die sich von wehenden Gewändern lösen und erheben; uns willkommen heißen, aufnehmen. Geistwesen (unsere Wünsche und Einbildungen) haben hier ihre Heimat; und trotz unserer Wirbelsäulen, Rippen, Eingeweide sind wir auch Dunst und Luft und werden vereint sein.
Hier drückte der Flieger-Kommandant Hopgood mit einem Hebelgriff die Nase der Moth abwärts. Man könnte sich nichts Phantastischeres vorstellen. Häuser, Straßen, Banken, öffentliche Gebäude, und Gewohnheiten und Hammel und Rosenkohl waren zu langen Spiralen und Kurven von Rosa und Purpurrot hingestrichen, wie es ein nasser Pinsel macht, wenn er Berge von Farbe zusammenstreicht. Man konnte durch die Bank von England hindurchsehen; alle Geschäftshäuser waren durchsichtig; der Themse-Fluß war, wie ihn die Römer sahen, wie der Mensch der Altsteinzeit ihn sah, zur Morgenfrühe von einem Hügel mit zottigem Wald aus, wo das Rhinozeros sein Horn in die Wurzeln von Rhododendren stößt. So unsterblich frisch und jungfräulich sah London aus, und England war Erde nur, nur die Welt. Flieger-Leutnant Hopgood hatte seinen Finger immer noch auf dem Hebel, der das Aeroplan abwärts lenkt. Ein Schimmer blinkte auf einem Gewächshaus. Dort stieg eine Kuppel auf, ein Kirchturm, ein Fabrikschornstein, ein Gasometer. Kurzum, die Zivilisation tauchte auf; Hände und Hirne arbeiteten wieder; und die Jahrhunderte verschwanden und das wilde Rhinozeros war für immer aus der Sicht verjagt.
Immer noch sanken wir abwärts. Hier war ein Garten; hier ein Fußballplatz. Aber noch war kein menschliches Wesen zu sehen; England sah aus wie ein Schiff, das unbemannt dahinsegelt. Vielleicht war die Menschenrasse tot, und wir würden an Bord der Erde gehen wie jene Schiffsgesellschaft, die das Schiff, alle Segel gesetzt, dahinschwimmen fand, und den Kessel auf dem Feuer, aber ohne eine Menschenseele an Bord. Doch ein Fleck dort unten, etwas Gedrungenes und Winziges, mochte ein Pferd sein – oder ein Mensch … Aber Hopgood berührte einen anderen Hebel und wir stiegen wieder auf wie ein Geist, der die Beschmutzung von seinen Flügeln abschüttelt und Gasometer und Fabriken und Fußballplätze von seinen Füßen abstreift.
Es war ein Augenblick der Abkehr. Wir wollen lieber das andere, schienen wir zu sagen. Geistwesen und Sanddünen und Nebel; Einbildungskraft; dies ziehen wir dem Hammel und den Eingeweiden vor. Es war der Gedanke an den Tod, der sich jetzt einstellte; nicht empfangen und willkommen geheißen zu werden; nicht Unsterblichkeit, sondern Erlöschen. Denn die Wolken oben waren schwarz. Quer vor ihnen flog in einer einzigen Kette ein Möwenschwarm dahin, fahlweiß gegen den bleiernen Hintergrund, seinen Weg einhaltend mit der Befugnis von Eigentümern, die Rechte haben und uns unbekannte Verständigungsmittel, eine fremde, eine privilegierte Rasse. Aber wo nur Möwen sind, ist kein Leben. Das Leben endet; das Leben erlischt in jener Wolke, wie Lampen mit einem nassen Schwamm gelöscht werden. Dieses Erlöschen ist jetzt das Gewünschte geworden. Denn es war sonderbar, auf dieser Reise zu merken, wie blind die Wellen der Seelengezeiten und ihre Wünsche bald hierhin, bald dorthin rollten, und dabei das Bewußtsein wie eine Feder auf ihrem Kamm trugen, die Richtung markierend, aber nicht bestimmend. Und so schwebten wir nun weiter aufwärts in den Tod.
Hopgoods Kopf, in Leder gefaßt mit einem Pelzrand ums Gesicht, hatte Ähnlichkeit mit einem geflügelten Steuermann, mit Charons Haupt, der seine Reisenden gnadenlos zu dem nassen Schwamm brachte, der auslöscht. Denn das Bewußtsein (man kann diese Dinge nur wiederholen, ohne für sie Sinn oder Wahrheit zu beanspruchen – lediglich, daß sie so waren) ist in seiner eigenen Geschwindigkeit, in seiner Einsamkeit, vom Erlöschenmüssen überzeugt, und, mehr noch, stolz darauf, als ob es das Erlöschen verdiene, das Erlöschen ihm mehr nütze und erwünschter sei als ein Fortbestehen unter anderen Bedingungen durch den Willen anderer. Charon, so betete das Bewußtsein hin zum Rücken von Flieger-Leutnant Hopgood, trage mich weiter; schleudere mich tief, tief hinab; bis in mir jedes Fünkchen von Licht, von Wärme des Wissens, selbst das Prickeln, das ich in meinen Zehen fühle, betäubt ist; nach all diesem Leben, all diesem Jucken und Prickeln der Sinne, wird auch dies – Dunkel, Dumpfheit, das schwarze Naß – eine Sinnesempfindung sein. Und so groß ist die unheilbare Eitelkeit des menschlichen Geistes, daß die Wolke, der nasse Schwamm, der auslöschen sollte, jetzt, da man an einen Kontakt mit dem eigenen Bewußtsein dachte, ein glühender Schmelzofen wurde, in dem wir aufwärts loderten; und unser Tod war ein Feuer; entfacht auf dem Gipfel des Lebens, vielzüngig, blutrot, sichtbar über Land und Meer. Auslöschung! Das Wort ist Erfüllung.
Jetzt waren wir in den Rändern der Wolke, und auf die Tragflächen des Aeroplans prasselte der Hagel; Hagel blitzte in silbernen Streifen vorbei wie das Blinken stählerner Eisenbahnschienen. Zahllose Pfeile kamen auf uns zugeschossen, heraus aus der erhabenen Schneise unseres Anflugs.
Da wandte Charon den Kopf mit seinem Pelzrand und lachte uns an. Es war ein häßliches Gesicht, mit hohen Backenknochen und kleinen tiefliegenden Augen, und die eine Wange ganz hinunter war eine Falte, wo er versehrt und zusammengenäht worden war. Vielleicht wog er an die zwei Zentner; er war eichengliedrig und eckig. Aber bei alledem blieb jetzt von Flieger-Leutnant Hopgood nichts übrig als eine Flamme, wie man sie dünn und verstohlen in der Lampe an einer Straßenecke flackern sieht; eine Flamme, die trotz all ihrer Beweglichkeit kaum dem Tod entrinnen kann. Eine solche war der Flieger-Leutnant geworden; und auch wir, so daß die umklammernden Hände, die Umarmungen, die Gemeinschaft der dem Sterben Nahen dahin war; es gab nichts Fleischliches mehr. Doch gerade so, wie wenn man ans Ende einer Allee von Bäumen kommt und einen Teich mit Enten darauf findet, und nichts als bleifarbenes Wasser, so kamen wir durch die Schneise von Hagel hindurch und hinaus in einen Bereich so still, so ruhig, mit Dunst darüber und Wolken darunter, so daß wir zu treiben schienen wie eine Ente auf einem Teich treibt. Aber der Dunst über uns war dichtes Weiß. So wie Farbe ans Ende eines Malpinsels läuft, so war das Blau des Himmels in einen Klecks darunter zusammengelaufen. Es war weiß über uns. Und jetzt fingen die Rippen und Eingeweide des pflanzenfressenden Säugetiers an zu gefrieren, zu zerfallen, zu gefrieren zur Leichte und Weiße dieses geisterhaften Universums, und zum Nichts. Denn keine Wolken reisten oder lagerten dort oben; mit Licht, das sie gestreichelt hätte, und Haufen, die von ihren Hängen abgebrochen wären oder sich wieder türmten und anschwollen. Hier war keine Feder, keine Falte, die die steile Wand durchbrochen hätte, die dort für immer aufstieg, für immer und ewig.
Und diese gelblichen Lichter, Hopgood und man selbst, wurden wirkungsvoll überblendet, so wie die Sonne die Flamme auf einer Kohle bleicht. Kein Schwamm löschte uns aus, mit seiner feuchten Schnauze. Das Nichts wurde auf uns herabgegossen wie ein Haufen weißen Sandes. Dann, als ob irgendein Teil von uns seine Schwere beibehielte, fielen wir hinunter in Vliesähnliches, Gegenständliches, und Farbe; alle Farben zerstampfter Pflaumen und Delphine und Tücher und Meere und Regenwolken prallten zusammen, fleckten – purpurn, schwarz, stählern, all diese ganze sanfte Reife siedete um uns, und das Auge fühlte, wie ein Fisch fühlt, wenn er vom Felsen in die Tiefen des Meeres gleitet.
Eine Zeitlang waren wir in die Wolken eingewickelt. Dann erschien die Märchen-Erde, die weit, weit unten lag, eine bloße Scheibe oder Messerklinge von fließender Farbe. Sie stieg mit rasender Geschwindigkeit zu uns auf, sich verbreiternd und verlängernd; Wälder erschienen auf ihr und Seen; und dann wieder ein ungewisser dunkler Fleck, der bald mit Spitztürmen punktiert und zu Blasen und Kuppeln aufgebläht zu werden begann. Näher und näher kamen wir aufeinander zu und hatten wieder das Ganze der Zivilisation unter uns ausgebreitet, still, leer, wie eine zu unserer Belehrung veranstaltete Demonstration; der Fluß mit den Dampfern, die Kohle und Eisen bringen; die Kirchen, die Fabriken, die Eisenbahnen. Nichts bewegte sich; niemand bediente die Maschine, bis man auf einem Feld in der Umgebung von London ein Pünktchen sich tatsächlich und wahrhaftig bewegen sah. Obwohl der Punkt von der Größe einer Schmeißfliege war und seine Bewegung winzig, beharrte der Verstand darauf, daß es ein Pferd wäre und daß es galoppierte, aber alle Geschwindigkeit und Größe waren so vermindert, daß die Schnelligkeit des Pferdes sehr sehr langsam erschien und seine Größe minimal. Jetzt aber waren da oft Bewegungen in den Straßen, wie von Dahingleiten und Anhalten; und dann begannen allmählich die weiten Falten von Stoff da unten sich zu bewegen, und man sah in den Falten Millionen sich bewegender Insekten. In der nächsten Sekunde wurden sie Menschen, Geschäftsleute, im Herzen der weißen Gebäude der City.
Durch ein Zeiss-Fernglas konnte man jetzt in der Tat die Spitzen von Köpfen einzelner Menschen sehen und konnte einen steifen Hut, eine Melone, von einer Arbeitermütze unterscheiden und konnte soziale Schichten so sicher ausmachen – wer ein Arbeitgeber war und wer ein Arbeiter. Und man mußte dauernd Luftwerte in Landwerte umwechseln. Da gab es in der City oft Verkehrsstockungen fast einen Fuß lang; diese mußte man übersetzen in elf oder zwölf Rolls-Royce-Wagen hintereinander mit wütend wartenden City-Magnaten; und man mußte die Wut der Magnaten zusammenzählen; und sagen – obgleich alles still und die Stockung nur wenige Zoll lang war, wie skandalös die Verkehrsregelung in der City von London ist.
Aber mit einer Drehung seines Handgelenks flog der Flieger-Leutnant Hopgood über die Armenviertel, und dort konnte man durch das Zeiss-Glas Leute sehen, die beim Geräusch des Aeroplans nach oben schauten, und konnte den Ausdruck auf ihren Gesichtern beurteilen. Es war keiner, wie man ihn normalerweise sieht. Er war komplex. »Und ich muß die Stufen schrubben«, schien er unwillig zu sagen. Trotz allem, sie winkten, sie schickten uns Grüße; sie waren in der Lage zu fliegen. Und schließlich wandte hier der Kopf sich wieder nach unten und der Scheuerbesen wurde fest umklammert, aufs Pflaster zu fallen wäre nicht hübsch. Und sie schüttelten die Köpfe; aber sie schauten wieder zu uns hoch. Doch weiterhin, es war vielleicht über der Oxford Street, nahm uns überhaupt niemand wahr, sondern einer stieß an den anderen an, gefangen in seiner wütenden Begier, einen Blick auf irgend etwas in einer Auslage zu erhaschen (es gab einen gelblichen Blitz, als wir darüber hinflogen). Weiterhin, vielleicht auf der Höhe von Bayswater, wo das Gedränge dünner war, fiel einem ein Gesicht, eine Gestalt, etwas Komisches am Hut oder der Trägerin plötzlich ins Auge. Und dann war es merkwürdig, wie man ärgerlich wurde über alle die Flaggen und Oberflächen und die unzähligen Fenster, die so symmetrisch wie Alleen waren, symmetrisch wie Waldschneisen, und wie man nach einer Öffnung verlangte, und die Tür ins Innere aufzustoßen und die Oberflächen los zu sein. Oben in Bayswater öffnete sich tatsächlich eine Tür, und sofort natürlich erschien ein Zimmer, unglaublich klein natürlich und lächerlich in seinem Versuch, separat und es selbst zu sein, und dann – war es das Gesicht einer Frau, jung, vielleicht, jedenfalls mit einem schwarzen Umhang und einem roten Hut, die das Mobiliar – hier eine Schale, dort eine Anrichte mit Äpfeln darauf – uninteressant machte, weil die treibende Kraft, die eine Matte kauft oder zwei Farben zusammenstellt, wahrnehmbar wurde, so wie man sagen kann, daß der Dunst über einem elektrischen Feuer wahrnehmbar wird. Alles hatte seine Werte von der Luft aus gesehen verändert. Die Persönlichkeit war außerhalb des Körpers, abstrakt. Und man wünschte, fähig zu sein, das Herz, die Beine, die Arme damit zu beseelen, wozu es nötig wäre, dort zu sein, um sich zu sammeln; um dieses anstrengende Spiel aufzugeben, beim Fliegen durch die Luft Dinge zusammenzutragen, die auf der Oberfläche liegen.

Und dann kurvte das Feld um uns und wir gerieten in einen Strudel von grünem Stoff und weißen rasenden Lattenzäunen, die wie Papierbänder um uns flogen, und berührten die Erde und rollten mit enormer Geschwindigkeit dahin, setzten auf, stießen auf eine steinige Fläche, harte Kurven nach den Federn aus Luft. Wir waren gelandet, und es war vorbei.
Tatsächlich hatte aber der Flug noch nicht begonnen; denn als Flieger-Leutnant Hopgood sich vorbeugte und den Motor aufheulen ließ, hatte er irgendeinen Defekt in der Maschine entdeckt, und den Kopf hebend hatte er nur sehr schafsköpfig gesagt, »Tut mir leid, heut wird’s nix«. So waren wir denn doch nicht geflogen.

Aus dem Englischen von Helmut Viebrock

SINN UND FORM 1/2014, S. 101-106