Kleinschmidt, Sebastian
geb. 1948 in Schwerin, 1991–2013 Chefredakteur von Sinn und Form, lebt bei Berlin. 2019 erschienen »Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Gesprächs «, 2021 »Verse verstehen. Zehn Versuche«. (Stand 1/2022)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/1980 | Ästhetik der Erinnerung
- 2/1984 | Diskussion der Kultur - Kultur der Diskussion
- 3/1985 | Georg Lukács und die Wertabstufungen in der Kunst
- 2/1989 | Gespräch mit Ingo Arnold und Reiner Bredemeyer
- 4/1989 | Kulturzeitschrift als Idee
- 3/1991 | Gespräch mit Hans-Georg Gadamer
- 1/1999 | Gespräch mit Basil Kerski
- 1/1999 | Gespräch mit Basil Kerski
- 6/1999 | Pathosallergie und Ironiekonjunktur
- 6/2001 | Weil die meisten Menschen etwas Merkwürdiges haben
- 2/2002 | Gewißheit der Ungewißheit. Hartmut Langes Poetik der Irritation
- 2/2003 | Innere Sprache, inneres Kind. Laudatio zum Anna- Seghers-Preis auf Lutz Seiler
- 2/2004 | Briefwechsel Erhart Kästner und Gerhard Nebel. Vorbemerkung Sebastian Kleinschmidt
- 6/2006 | Gespräch mit Daniel Kehlmann
- 2/2010 | Sechzig Jahre Sinn und Form
- 2/2011 | Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz
- 3/2011 | Bleistift - Brücke nach Hause. Ingo Arnolds Graphitzeichnungen
- 4/2011 | Ubi amor, ibi oculus. Der heimliche Dritte in der Prosa von Angela Krauß
- 4/2013 | Logbuch. Letzter Eintrag
- 4/2013 | Ins Offene. Musikalität und Sakralität in den Gedichten Christian Lehnerts
- 4/2013 | Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Basil Kerski und Adam Zagajewski
- 2/2014 | Der Pfeil des Lebens und der Pfeil der Werke. Laudatio zum Günter-Eich-Preis auf Jürgen Becker
- 6/2014 | Im Osten der Länder. Laudatio auf Lutz Seiler zum Uwe-Johnson-Preis
- 5/2015 | Der Zirkelschlag des Gedichts. Laudatio auf Adam Zagajewski zum Heinrich-Mann-Preis
- 4/2017 | Atem und Aura des nächtlichen Himmels. Laudatio auf Jochen Winter
- 1/2018 | Vom Unheil des Erkennens. Hartmut Langes erster Novellenband
- 6/2019 | Gänse im Traum
- 1/2022 | Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit
Basil Kerski: Das Begriffspaar »Sinn und Form« annonciert keineswegs kulturelle Unentschiedenheit oder ästhetische Wertneutralität. Welche (...)
LeseprobeKerski, Basil
Gespräch mit Sebastian Kleinschmidt
Basil Kerski: Das Begriffspaar »Sinn und Form« annonciert keineswegs kulturelle Unentschiedenheit oder ästhetische Wertneutralität. Welche programmatischen Vorstellungen liegen dem Titel Ihrer Zeitschrift zugrunde?
Sebastian Kleinschmidt: Titel sind Namen, und Namen sind nichts Zufälliges. Recht besehen sind sie schöpferische Formeln eigenen Wollens, des bewußten wie des unbewußten. Sie zeigen die Drehachse der Intention. Vor fünfzig Jahren hätten viele einer Programmformel mit Namen Sinn und Form kulturell zugestimmt. Heute sähe das schon anders aus, es gibt wieder starke Zweifel an so etwas wie Sinn schlechthin. Der Nihilismus ist neuerlich im Vormarsch - unvermeidliche Folge jeder säkularisierten und damit transzendenzlosen Kultur. Manche Leute halten es schon für hochgradigen Idealismus oder schlicht für Realitätsverkennung, überhaupt auf philosophischen Postulaten wie Sinn zu beharren. Das Resultat: Es gibt heutzutage weit weniger Einvernehmen über Dinge, die vermutlich sinnvoll, als über solche, die im Grunde sinnlos sind. Es herrscht Konsens in negativen Überzeugungen, nicht in positiven. Die Menschheit scheint mehr geeint in ihren Befürchtungen als in ihren Hoffnungen. Daß wir gänzlich erwartungslos wären, läßt sich nicht sagen, nur erwarten wir inzwischen wohl eher Verschlechterungen als Verbesserungen unserer Lage.
Keine sehr erfreuliche Tendenz, wie man zugeben wird. Es empfiehlt sich nicht, das geistig einfach mitzumachen. Aber Gott bewahre uns auch vorm Gegenteil, der Blauäugigkeit derer, die stets guten Mutes sind. Freilich wird man umgekehrt die heraufziehende Bewußtseinskrise, symptomatisch erkennbar am Verfall der Inhalte und der um sich greifenden Banalisierung, nicht dadurch überwinden, daß man, philosophisch oder ästhetisch, ad infinitum das Spiel der Verneinungen fortsetzt. Die Potentiale reiner Negativität sind erschöpft, die Dürftigkeiten ausschließlicher Destruktion offensichtlich. Auf diese Weise trägt man nur zur Verdüsterung des Horizonts und zur Ausweitung der Langenweile bei. Als denkende Wesen sind wir doch noch auf anderes aus, als in allgemeiner Desavouierung des Sinns zu enden. Vielleicht ist hier der geistige Grund einer Zeitschrift wie dieser. Jedermann steht unter dem Gebot, seinem Namen nachzuleben, auch wir. Wenn eine Zeitschrift Sinn und Form heißt, darf man von ihr erwarten, daß sie das Sinnproblem ernst nimmt und hier keine Blasphemie betreibt.
Kerski: Wie äußert sich diese Denkweise in der Zeitschrift? Können Sie Namen nennen, die für eine solche Geisteshaltung stehen?
Kleinschmidt: Ein wichtiger Autor in diesem Zusammenhang ist George Steiner, aber auch Hans-Georg Gadamer. Beide zählen zu denen, die philosophisch die Berechtigung der Sinnfrage klug und entschlossen verteidigen. Natürlich ist man inzwischen vorsichtiger in den Antworten, und weniger direkt. Entscheidend bleibt jedoch, die kulturelle Produktivität der Frage offenzuhalten. In der Gadamerschen Perspektive ist Sinn so etwas wie der Bezugs- und Richtungssinn unseres Verstehens - keineswegs eine teleologische Gedankenbewegung, die auf Ziele, die wir kennen, gerichtet ist und sich von ihnen her definiert. Ziel und Zukunft, in letzter Allgemeinheit, können wir nicht wissen, weder in puncto Geschichtsverlauf noch hinsichtlich unserer Lebensbahn. Das Morgen läßt sich nicht vorhersehen, sowenig wie der Traum der kommenden Nacht. Dieser Mangel an Evidenz ist für das Bewußtseinstier Mensch eine permanente Irritation, und sie treibt ihn an, grundsätzlich sprich philosophisch nach dem Sinn dessen zu fragen, was geschieht. Denn das, was wir mit diesem rätselvollen Wort Sinn nennen, liegt nicht offen zutage. Es verlangt schöpferische Interpretation.
Ursprünglich sollte die Zeitschrift übrigens »Maß und Wert« heißen, wie die von Thomas Mann gegründete, aber nicht lange bestehende Exilzeitschrift. Becher hat jedoch von Thomas Mann den Titel nicht freibekommen. Gott sei Dank, wird man aus heutigem Empfinden sagen - zu klassizistisch die Geste, zu normativ. Wir sind allergisch gegen alles, was nach Regel und Maßgabe klingt. Andererseits verdient es die normative Ästhetik nicht, einfach verdammt zu werden, denn die permissive, die derzeit in Kunstfragen offenbar das letztes Wort hat, ist längst auch zum Fluch geworden. Sie zerstört die ästhetische Urteilskraft von der Seite der Theorie her.
Kerski: Sinn und Form war und ist primär eine literarische Zeitschrift. Dennoch haben Sie das Gattungsspektrum erweitert, neben politischen und historischen sind auch philosophische und theologische Texte zu finden.
Kleinschmidt: Es gibt im westlichen Denken eine Art Bewußtseinsverengung aufs Diskursiv-Rationale. Das hat mit der Dominanz des analytisch ausgerichteten, auf Erkenntnisgewißheit zielenden cartesianischen Wissenschaftsideals zu tun. In diesem Reich überschreitet man nicht die Schattenlinie zur Metaphysik, und der Verstand gestattet weder Grundlosigkeit noch Transzendenz. Sinn und Form hat solchen Einschränkungen gegenüber sein schönes volles, sein klassisches Profil bewahren können, das sich von Prosa und Gedicht über das Gespräch bis eben hin zum philosophischen und theologischen Essay erstreckt. Wir versuchen der rationalistischen Austrocknung von Bewußtseinsdimensionen entgegenzuwirken. Je weniger Stockwerke das Bewußtseinshaus hat, aus dem heraus wir die Welt wahrnehmen, desto weniger Stockwerke hat die Welt, die uns vor Augen liegt. Man muß die Vertikale aktivieren, will man mehr sehen als bloß matters of fact und die Flächigkeit des Daseins. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo sagt: »Wir sind heutzutage alle mit der Tatsache vertraut, daß die Entzauberung der Welt auch zu einer radikalen Entzauberung der Idee der Entzauberung selbst geführt hat.« Das denkende Ich, mit Gottfried Benn zu sprechen, leidet nicht an Todesfällen, sondern am Bewußtsein. Dort, wo es die Dinge verstellt. Poetisches und religiöses Denken sind noch immer ein guter Weg ins Herz des Seienden.
Kerski: Die Geschichte Ihrer Zeitschrift spiegelt auch die Geschichte der DDR-Kulturpolitik wider. Von wem kam die Initiative zur Gründung von Sinn und Form, welche kulturpolitischen Ziele verbargen sich dahinter?
Kleinschmidt: Die Gründungsidee stammt von Johannes R. Becher, der kurz nach dem Krieg aus sowjetischem Exil nach Ostberlin zurückkehrte. Wie Sie wissen, stand er der Gruppe Ulbricht nahe, die alle wesentlichen Machtpositionen besetzte. Becher war derjenige, der die Hauptweichen für die Kulturpolitik in der sowjetisch besetzten Zone, der späteren DDR, stellen sollte. Das Konzept von Sinn und Form fußte auf der Idee einer repräsentativen, auf höchstem Niveau stehenden Literaturzeitschrift, die einerseits Verständigungsorgan der sozialistischen Intelligenzia nach innen, andererseits kulturelles Aushängeschild des neuen Staates nach außen, also auch mit Blick auf die westlichen Zonen, die spätere Bundesrepublik, sein wollte.
In den zwölf Jahren NS-Diktatur waren die Deutschen von vielen geistigen Strömungen abgeschnitten, und es gab nach dem Krieg enormen Nachholbedarf, der auch durch Zeitschriftengründungen wie Sinn und Form befriedigt werden sollte. Notwendig war vor allem, sich über Lüge und Verblendung, Fanatismus und Verbrechen klarzuwerden. Aufklärung war gefragt. Becher gewann als Chefredakteur den parteilosen Dichter Peter Huchel, einen Mann der inneren Emigration. Schließlich sollte Sinn und Form kein Parteiorgan sein. Nach Meinung Bechers war sozialistische Kulturpolitik zwar grundsätzlich ideologisch ausgerichtet, aber nicht in sektiererischer Weise. Becher war Lukácsianer und insofern Gegner jeder Art von Proletkult.
Kerski: In den Anfangsjahren wurden in Sinn und Form nicht nur marxistische Schriftsteller gedruckt. Exil beziehungsweise klare Distanz zum Nationalsozialismus war aber ein entscheidendes Kriterium bei der Auswahl der Autoren. Aus heutiger Sicht ist interessant, daß Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine Zeitschrift mit gesamtdeutschem Anspruch war.
Kleinschmidt: Die deutsche Frage wurde von Stalin aus außenpolitischen Gründen bewußt offengehalten. Was natürlich nicht heißt, daß es in der DDR eine freie Diskussion über die Zukunft der beiden deutschen Staaten gegeben hätte. Das Offenhalten der deutsche Frage durch Ulbricht war die sowjetkonforme Strategie einer zur damaligen Zeit keineswegs kommoden Diktatur, das darf man nicht vergessen. Solange Ulbricht für die Wiedervereinigung votierte, war Wiedervereinigung auch Befehl. Auf die literarische Kultur wirkte sich diese Deutschlandpolitik zum Teil günstig aus. In der Philosophie allerdings, der harten Spitze der ganzen Bewußtseinspyramide, gingen die Freiräume gegen Null.
Kerski: Wie wurde Sinn und Form im Westen aufgenommen? Ein Teil der Auflage wurde ja gratis in den Westen verschickt.
Kleinschmidt: Das Echo auf Sinn und Form war im Westen von Anfang an stärker und lebhafter als im Osten. Das ist bis heute so geblieben, wenn man zum Beispiel an Besprechungen in Zeitungen und im Rundfunk denkt.
Kerski: Enzensberger behauptet, daß angesichts der kulturellen Monotonie und Verschlafenheit der frühen Wirtschaftswunderjahre unter Adenauer für ihn als jungen westdeutschen Schriftsteller Sinn und Form in den fünfziger Jahren eine wichtige Rolle spielte.
Kleinschmidt: Gewiß doch, Sinn und Form in den fünfziger Jahren, das hieß Brecht, Eisler, Bloch, Lukács, Hans Mayer, Werner Krauss, Paul Rilla, Wolfgang Harich, Ernst Fischer, Georg Maurer, Feuchtwanger, Zweig, Hermlin, Bobrowski. Was Westdeutschland betrifft, würde ich diese Zeit allerdings nicht so abschätzig beurteilen. Denken Sie nur daran, daß an den Universitäten und in der Öffentlichkeit damals Gelehrte wie Jaspers, Adorno, Heidegger, Gadamer, Löwith, Georg Picht, Hellmuth Plessner, Arnold Gehlen, Ernst Robert Curtius oder Dolf Sternberger wirkten, daß Autoren wie Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch, Ernst Jünger, Gottfried Benn, Arno Schmidt oder Heinrich Böll, daß Kritiker wie Günter Blöcker oder Friedrich Sieburg publizierten.
Kerski: Drei Persönlichkeiten prägten in den Gründungsjahren Sinn und Form: Becher, Huchel und Brecht. Eine interessante, widersprüchliche Gestalt ist Johannes R. Becher. Aus großbürgerlichem Hause stammend, hat er sich schon in jungen Jahren zunächst als Sozialist, dann als Kommunist politisch engagiert. Seit dem Moskauer Exil war er eng mit Ulbricht verbunden. Obwohl Becher sich und sein Werk gänzlich in den Dienst der kommunistischen Ideologie stellte, finden seine frühen expressionistischen Gedichte weiterhin die Anerkennung von nichtmarxistischen Kritikern.
Kleinschmidt: Becher hat in den dreißiger Jahren mit dem Expressionismus gebrochen und den Übergang zum Neoklassizismus vollzogen. Mag er aus Sicht der Literaturkritik als expressionistischer Dichter bedeutend sein oder nicht, mir stehen hier Georg Heym, Else Lasker-Schüler und Georg Trakl näher. Becher ist, bei aller Kunstfertigkeit, zu sehr Rhetoriker im Gedicht, zu sehr Pathetiker, nicht selten zu sehr Politiker. Dennoch hat er einige tiefe, liedhaft einfache und unvergeßliche Verse geschrieben, wie zum Beispiel »Deutschland, meine Trauer«. Hanns Eisler hat sie vertont, und Ernst Busch hat sie gesungen.
In der Stalinzeit war Becher sowohl als Dichter wie auch als Kulturpolitiker sehr gefragt. Ich glaube, zumindest nach dem, was ich gelesen und gehört habe, daß er alles andere als ein unerschrockener Mensch war. Sinn und Form hat 1990 ein Gespräch mit Lukács über Becher veröffentlicht, das 1967 in Budapest geführt wurde. Dort spricht Lukács von der Lord-Jim-Panik Bechers. Joseph Conrads »Lord Jim« ist die Geschichte des wiederholt in Extremsituationen auf Ehre und Furchtlosigkeit geprüften jungen englischen Schiffsoffiziers Jim, eines Träumers, der in einer imaginären Welt heroischer Taten lebt und im Augenblick der Bewährung versagt, einmal aus Panik, in die ihn seine an Künstlerschaft grenzende Gabe blitzschneller, vorwegnehmender Phantasie stürzte, einmal durch Zaudern. Becher war gleichfalls ein im Guten wie im Bösen höchst phantasiebegabter Mensch, der sich unausweichlich vor die Eigendynamik seiner Vorstellungskräfte gestellt sah, die je nach Situation entweder zur Euphorie oder zur Panik eskalierten. In beiden Fällen wird der Spielraum des Handelns falsch vermessen, im ersten wird er illusorisch überschritten, im zweiten angstvoll unterschritten. Becher geriet nun bei jederart Konflikt oder Gefahr auf der Stelle in so heillose Angst - nicht aus einfacher Feigheit, nicht aus demütigender, die Niederlage antizipierender Furchtsamkeit, sondern weil seine Phantasie ihm die möglichen Konsequenzen in den grellsten Farben zeigte -, daß er keinerlei Risiko einzugehen bereit war.
Nun muß man wissen, der psychische Grundstoff, aus dem Diktaturen gemacht sind, ist Angst, tiefsitzende Angst, und zu deren Wesen gehört, daß man sie sich und anderen nicht eingesteht. Und so wirkt ihr Gift um so stärker, nicht nur unter den Beherrschten, sondern auch unter den Herrschenden. Das hat Becher in der Hochphase des Stalinismus im Moskauer Exil überdeutlich erfahren. Nach Meinung von Lukács hat Becher nicht einmal die spärlichsten Freiräume zu durchschreiten gewagt, weil er stets vermied, mit dem Kopf gegen die Wand zu stoßen. Wer das aber nicht riskiert, weiß gar nicht, wo die Wand steht, und wird auch nie wissen, wie weit man gehen kann. Stets wird er zu früh haltmachen.
Kerski: Gibt es Zeugnisse, daß Becher seine Situation reflektiert hat?
Kleinschmidt: Ja, die gibt es. Wir haben 1988 in Sinn und Form einen für DDR-Verhältnisse äußerst kritischen und auch selbstkritischen Text Bechers über den Stalinismus aus dem Jahre 1956 veröffentlicht, was akademieintern zu einer scharfen Diskussion und zu Angriffen der Kulturabteilung des ZK führte. Becher beschreibt hier den Sozialismus als weltgeschichtliche Tragödie großen Stils, an tragischem Gehalt der antiken überlegen. Er spricht von den Verbrechen, der Heuchelei, von seiner Mitschuld, seinem Schweigen, seiner Lebenslüge. »Ich kann mich nicht darauf hinausreden, daß ich davon nichts gewußt hätte. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich davon nichts wissen wollte. Ich ahnte nicht nur, oh, ich wußte!« Er hat den Text 1957 aber nicht zum Druck freigegeben. So schlummerte er dreißig Jahre im Archiv. Ich habe einmal mit Gadamer über Becher gesprochen. Gadamer hatte 1946/47 während seiner Leipziger Rektoratsjahre mehrfach Gelegenheit, mit ihm unter vier Augen zu sprechen. Er sah, wie verzweifelt der Mann war, wie wenig Illusionen er sich letztlich über die barbarischen Züge des russischen Kommunismus machte. Doch er war ein schwacher Charakter. An Intelligenz hat es ihm nicht gefehlt, also auch nicht an der Fähigkeit zum Selbstbetrug.
Kerski: Der erste Chefredakteur der Zeitschrift war der Dichter Peter Huchel. Könnten Sie ihn kurz charakterisieren?
Kleinschmidt: Peter Huchel war ein Segen für Sinn und Form. Als Dichter ist er eine der großen Gestalten der deutschen Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen Versen, sehr einsamen und melancholischen Chiffren der Natur - einer Art Existenzerhellung vor dunklem Grund -, der Melodik seiner Sprache, in seiner Poetologie der Metapher und des Klangs, dem dichterischen Selbstgespräch mit sich und seiner Zeit, dem poetischen Befragen der Geschichte, ist er von eindrucksvoller Präsenz. Den Test des Wiederlesens besteht er glänzend, jedenfalls mit seinen besten Sachen. Er war kein Essayist, hat aber neben dem literarischen auch den philosophischen Essay in Sinn und Form gepflegt, was in der deutschen Kulturtradition, im Gegensatz zur französischen, für Literaturzeitschriften nicht ganz selbstverständlich ist. Huchels erzwungener Rücktritt als Chefredakteur fällt politisch gesehen zusammen mit dem Mauerbau von 1961 und dem sich daran anschließenden Versuch einer Neudefinition der DDR als sozialistischer Nationalstaat. Damit war es in kultureller Hinsicht mit der gesamtdeutschen Perspektive zu Ende. Huchel lebte seit Herbst 1962 fast zehn Jahre lang gänzlich isoliert und unter Stasi-Observierung in Wilhelmshorst bei Berlin. 1971 durfte er die DDR verlassen und zog nach Süddeutschland. Er starb 1981.
Nebenbei bemerkt hat die Zeitschrift in Heft 5/1992 in einem achtzigseitigen Konvolut von Reden, Briefen, Protokollen, Vorlagen und Aktenvermerken der Jahre 1960 bis 1963, die wir im Archiv der Ostberliner Akademie der Künste und im Zentralen Parteiarchiv der SED fanden, den Fall Peter Huchel ausführlich dokumentiert. Die Quellen bezeugen Punkt für Punkt, wie man einem integren Mann auf schäbige Weise eine Arbeit aus den Händen schlug, an der sein Herz hing und für die er die ideale Begabung besaß. Wir haben uns, angeregt durch die Literaturabteilung der Akademie und aus Anlaß des 50. Jahrestages von Sinn und Form, übrigens dazu entschlossen, Peter Huchel als Gründungschefredakteur künftig im Impressum auszuweisen. Die Zeitschrift ist es sich schuldig. Huchel hat sie wie kein zweiter geprägt. Er hat den Stil begründet, das Erlesene, Distanzierte, in gewissem Sinne Unpolitische, die Balance zwischen Gedicht und Gedanken, den Ernst.
Kerski: Huchel konnte als Chef der Akademiezeitschrift nur dank des Schutzes von Bertolt Brecht überleben. Besonders nach 1953 erkennt man in Brechts Engagement für Sinn und Form dessen recht ambivalentes Verhältnis zum realsozialistischen Staatswesen.
Kleinschmidt: Brecht ist ein Autor, der der DDR gegenüber loyal war. Mancher behauptet, daß er am Lebensende innerlich den Bruch mit dem ostdeutschen Staat vollzogen hätte. Davon kann keine Rede sein. Brecht hat, bei aller Kritik an den Zuständen, aus quasi geschichtsphilosophischer Überzeugung für die DDR optiert. Er war ein origineller marxistischer Denker, ein sozialistischer Schriftsteller aus echtem Selbstdenken heraus, und das war immerhin selten. Brecht kannte die Schriften der Häretiker, und er kannte eine Menge Leute, die von der Partei verstoßen waren. In schwierigen kulturpolitischen Diskussionen hat er sich mehrfach, oft listenreich, an die Seite derer gestellt, die energisch für eine Ausweitung der Freiräume eintraten. Das war schon viel, und das stärkte auch Huchel und Sinn und Form den Rücken. Wiederholt setzte er sich, als Huchel in höchster Bedrängnis war und von niemandem mehr verteidigt wurde, wirkungsvoll für ihn ein. Brecht verstand sich bei alldem als strikter Marxist, als Lehrer des Kommunismus. Obwohl er die Machthaber als Gleichgesinnte ansah, hat er doch die Fehler im bürokratisch organisierten Sozialismus einigermaßen deutlich erkannt. Er ist ganz bewußt nicht ins sowjetische Exil gegangen, und auch eine Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei kam für ihn nicht in Frage. Ausschlaggebend für seine Entscheidung, in die DDR zu gehen, waren wohl die Anfeindungen im Westen und natürlich die hervorragenden Arbeitsbedingungen in Ostberlin. Schließlich bot man ihm ein eigenes großes Theater.
Kerski: Auch nach der Absetzung Peter Huchels geriet Sinn und Form immer wieder in die Schußlinie der Parteiideologen.
Kleinschmidt: Es hat des öfteren Krach gegeben, mehr oder weniger schweren. Das hing mit bestimmten Texten zusammen. So haben wir zum Beispiel häufiger Arbeiten junger DDR-Autoren gedruckt, die von Verlagen abgelehnt worden waren. Wir versuchten immer wieder Texte zu veröffentlichen, von denen wir wußten, daß sie Grenzen überschritten. Wir haben Konflikte riskiert, weil wir die Erfahrung gemacht hatten, daß entscheidende Leute in der Akademie der Künste, die ja Sinn und Form herausgab, zu uns standen. Das ideologische Klima in der Akademie war in den siebziger und achtziger Jahren weniger frostig als in anderen zentralen Institutionen, was vielleicht damit zusammenhing, daß für die Obrigkeit Kunst und Literatur nicht länger als unmittelbar zur sozialistischen Machtausübung gehörende Bereiche angesehen wurden. Im Rahmen der DDR-Verhältnisse war die Akademie möglicherweise einer der freiesten Orte. Die Zeitschrift hatte das Privileg, für das, was sie druckte, kein Plazet einholen zu müssen. Sie brauchte, theoretisch betrachtet, niemanden fragen. Die Redaktion konnte in gewissem Sinne frei entscheiden. Es gab also für uns keine Zensur oder Vorzensur, allerdings, und das regelmäßig, eine nachträgliche Bewertung. Einschätzung nannte man das, sie wurde übrigens vorgenommen von der Abteilung Kultur im Zentralkomitee der SED, drei bis vier Seiten, Nummer für Nummer, und gelangte, wie wir nach der Wende erfuhren, direkt auf den Tisch des für Ideologie und Kultur zuständigen Politbüromitglieds Kurt Hager. Nach heiklen Beiträgen kam es dann mitunter zu Konflikten, nicht selten mußte sich der Chefredakteur vor dem Sekretariat des ZK verantworten. Den Redakteuren, sofern sie Mitglieder der SED waren, wurden gelegentlich Parteiverfahren angedroht. Mitte 1988, in der Gorbatschow-Zeit, nach Veröffentlichung des erwähnten stalinismuskritischen Becher-Textes, wurde sogar laut über das Verbot der Zeitschrift nachgedacht.
Im Vergleich zur DDR war Polen, ich sage das, weil Sie Pole sind, in seinen inneren Verhältnissen sicherlich freier. Mit der katholischen Kirche gab es immerhin eine große institutionalisierte alternative Ideologie im Lande. Auch in Ungarn war das geistige Leben freier, jedenfalls seit den siebziger Jahren. Andererseits muß man feststellen, daß es in den fünfziger Jahren in der DDR weniger stalinistisch hart zuging als in den osteuropäischen Nachbarstaaten, was mit der schon erwähnten offenen deutschen Frage zusammenhing. Die DDR war schon damals unter ständiger direkter Beobachtung des Westens. Man konnte sich also nicht jede Dummheit und auch nicht jede Härte leisten.
Kerski: Angesichts der Bewegungslosigkeit in der DDR wird oft vergessen, daß der erste große Arbeiterprotest des Sowjetblocks 1953 in der DDR stattfand.
Kleinschmidt: Die Ereignisse von 1953 waren für alle Beteiligten ein traumatisches Erlebnis, das einerseits der Bevölkerung, andererseits der Partei zeigte, wo die Grenzen der Freiheit lagen. Bei jedweder parteiinternen Diskussion über Liberalisierung tauchte fortan der 17. Juni 1953 als Menetekel auf. Das erklärt vielleicht auch die anhaltende Lähmung und geistige Bewegungslosigkeit der DDR bis hin zu ihrem schließlich für alle überraschenden Ende.
Kerski: In welcher Beziehung steht Sinn und Form heute zu Ostdeutschland? Wir sprachen bereits vom weiträumigen Blick Ihrer Zeitschrift auf Kunst und Literatur, über das Überschreiten von Grenzen. Mir fällt noch auf, daß im Gegensatz zu westdeutschen Zeitschriften Sinn und Form bei der Auswahl der Autoren nicht westfixiert ist, daß Stimmen aus Mittel- und Osteuropa stark präsent sind. Adam Krzemin´ski, ein genauer Beobachter der deutschen Öffentlichkeit, schrieb kürzlich: »Ich muß gestehen, daß ich die Beharrlichkeit und Skrupulosität bewundere, mit der Sinn und Form den Deutschen die geistigen Räume unseres europäischen Kontinents erschließt. Bei uns tut dies auf diese Art und Weise leider niemand. Wir haben keinen blassen Schimmer, wie die Tschechen, die Ungarn oder die Rumänen denken.« Ist Sinn und Form der intellektuelle Beitrag der untergegangenen DDR zur neuen gesamtdeutschen Kultur?
Kleinschmidt: Die Zeitschrift war zu DDR-Zeiten eine Insel und ist es in gewisser Weise auch heute wieder, freilich Insel in sehr unterschiedlichen Meeren. Nach der Wiedervereinigung haben wir viele Leser gerade im Osten verloren, leider. Das immer mehr verblassende DDR-Milieu ist in seiner geistigen und kulturellen Spezifik natürlich ohne die vielen offenen und verdeckten Bezüge auf linke ideologische Schablonen nicht zu denken. Davon hat sich Sinn und Form nach der Wende freizumachen gesucht. Außerdem haben wir uns mit den dunklen Seiten der DDR-Vergangenheit, einschließlich der der Geschichte der Akademie, auseinandergesetzt. Zugleich hat sich Sinn und Form philosophisch und natürlich auch politisch (soweit man das von einer im Grunde genommen unpolitischen Zeitschrift sagen kann) radikal geöffnet und druckt keineswegs ausschließlich linke Autoren, wie es früher Prinzip war. Das hat manche irritiert. Dabei geht es doch darum, die naive, ideologisch selbstgefällige Wahrheitsgewißheit in der Welt- und Geschichtsbetrachtung aufzugeben, um die Probleme unbefangen und so perspektivreich wie möglich zu sehen. Insofern kann man sagen, daß Sinn und Form keine Richtungszeitschrift ist. Es treffen hier also Standpunkte aufeinander, die sich sonst nicht ohne weiteres begegnen. Mit der alten DDR hat die Zeitschrift aus naheliegenden Gründen heute immer weniger zu tun, und sie unterscheidet sich wohl auch deutlich von dem, was im Westen das Landläufige ist.
Kerski: Mich hat die Intensität des intellektuellen Lebens in der DDR während der kurzen Zeit zwischen Mauerfall und Vereinigung, die sich ja auch in vielen Zeitschriften- und Verlagsgründungen manifestierte, sehr beeindruckt. Mittlerweile beobachte ich im Osten Deutschlands eine gewisse geistige Immobilität, einen Mangel an Offenheit.
Kleinschmidt: Ich habe die Jahre der Wende als eine Ekstase des Lernens erlebt. Solche Umbrüche sind wie Gewitterblitze, die jäh die nächtliche Landschaft erhellen. Man sieht in großer Klarheit, was man nie zuvor gesehen hat. Inzwischen hat sich das Leben wieder eingetrübt. Das Hochgefühl von Transparenz und Vitalität, der Schwung des großen Aufbruchs, mental wie politisch, ist vorbei, erlegen dem Siegeszug der neuen Interessen und neuen Sorgen. Wir leben nun in der offenen Gesellschaft, doch nicht unbedingt in einer Gesellschaft der Offenheit. Naivität und Charme der Wendejahre sind verflogen. Das ist schade, doch in gewissem Sinne unvermeidlich. Umbruchszeiten sind ihrer Natur nach von kurzer Dauer. Auf Staat und Gesellschaft bezogen heißt dies, daß die Zeit, da Institutionen unmittelbar formbar waren, hinter uns liegt. Festigkeit tritt wieder an die Stelle von Formbarkeit. Das muß nicht Erstarrung bedeuten. So ist das mit den Rhythmen der Geschichte. Man kann nichts gegen sie machen. Man muß sie hinnehmen. Was ja nicht besagt, auf das Handeln zu verzichten.
Was das Erreichen des sechzigsten Jahres im Leben eines Menschen bedeutet, kann man in etwa sagen. Auch ich könnte es, bin ich doch aller (...)
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Sechzig Jahre SINN UND FORM
Was das Erreichen des sechzigsten Jahres im Leben eines Menschen bedeutet, kann man in etwa sagen. Auch ich könnte es, bin ich doch aller Voraussicht nach der letzte Leiter von Sinn und Form, der älter als die Zeitschrift ist. Aber nehmen wir Brecht, den Schutzherrn ihres ersten Dezenniums. Er wurde zwar nicht sechzig, aber er hatte Ideen dafür. In dem letzten Gespräch, das Caspar Neher mit ihm führte und von dem er im zweiten Brecht-Sonderheft 1957 berichtet, sprach Brecht von seinen Plänen für das Alter: »Wenn wir sechzig sind, haben wir allerhand hinter uns, da wollen wir manches sein lassen, was wir jetzt noch zu tun haben. Dann wollen wir uns wieder, wie in unserer Jugend, an Gesprächen delektieren, zu denen man leider jetzt viel zu wenig kommt. Es wird an der Zeit sein, sich zurückzuziehen.«
Oder nehmen wir den römischen Kaiser Hadrian, wie ihn Marguerite Yourcenar in ihrem Roman »Ich zähmte die Wölfin« wieder zum Leben erweckt hat, jene Marguerite Yourcenar, mit deren Essay »Träume und Schicksale« das Jubiläumsheft zum 60. Jahrestag von Sinn und Form eröffnet. In diesem wunderbaren Roman, der aus einem dreihundert Seiten langen fiktiven Brief besteht, den Hadrian an seinen Adoptivenkel, den späteren Kaiser Marc Aurel, schreibt, ist gleich zu Beginn von einem Arztbesuch die Rede, von Herzwassersucht, geschwollenen Beinen und vom Ringen nach Luft. Hermogenes, der Arzt, glaubt Hadrian, seinen Patienten, »mit Redensarten trösten zu sollen, zu nichtssagend, als daß sie den Leichtgläubigsten täuschen könnten«. Obwohl Hadrian diese Art von Betrug verabscheut, verzeiht er dem ergebenen Diener den Versuch, ihm seinen baldigen Tod zu verheimlichen. Natürlich wissen beide: die gesetzte Grenze überschreitet niemand. Hadrian schreibt dem Enkel: »Ich bin ein Mann von sechzig Jahren.« Und dann folgen eindrucksvolle Reflexionen über das Näherrücken des Todes: »Es bedeutet nichts, wenn wir uns sagen, daß unsere Tage gezählt sind, denn so war es von je und so ist es noch heute für alles, was atmet. Je mehr aber die Krankheit fortschreitet, je mehr verringert sich die Ungewißheit über Ort, Zeit und Todesart, die uns das Ziel verbirgt, dem wir unablässig entgegengehn. … Wie der Reisende, der das Inselmeer durchschifft, die Uferlinie im Abenddunst aufleuchten sieht, sehe ich allmählich den Umriß meines Todes Gestalt annehmen. Schon gleichen manche Gebiete meines Lebens den ausgeräumten Sälen des zu großen Palastes, den der verarmte Besitzer nicht mehr ganz bewohnt.«
Hadrian führt seinem Enkel vor Augen, welchen Lieblingsbeschäftigungen er schon lange nicht mehr nachgeht, er jagt nicht mehr, er reitet nicht mehr, er schwimmt nicht mehr. Dann kommt er auf die Nächte zu sprechen: »Von den Freuden, die ich allmählich misse, ist der Schlaf eine der herrlichsten und dabei einfachsten. Ein Mann, der auf seinem weichen Kissen nur wenig und unruhig schläft, hat volle Muße, über diese Wohltat nachzusinnen.«
Womit wir beim Thema wären, dem zweifachen des heutigen Abends, dem sechzigsten Jahrestag von Sinn und Form und der Metaphysik der Schlaflosigkeit.
Nachdem wir hörten, was das Erreichen des sechzigsten Jahres für einen Menschen bedeutet oder bedeuten kann, haben wir nun zu fragen, was das Erreichen des sechzigsten Jahres für eine Zeitschrift bedeutet. Das ist schwer zu sagen, und zwar deshalb, weil man das Durchschnittsalter von Zeitschriften nicht kennt und ihre Lebensfristen nicht abschätzen kann. Vom Menschen sagt der Psalmist: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.« Vor dem Hintergrund dieser Fristen markieren wir die Lebensstufen des Menschen, nämlich Kindheit, Jugend, Reife, Alter und Uralter.
Aber wie alt ein literarisches Periodikum werden kann, wissen wir eben nicht, jedenfalls nicht, solange es erscheint. Natürlich gilt auch hier, was überall gilt: die Dinge kommen und gehen. Selbst viele der besten und berühmtesten Literaturzeitschriften sind nicht alt geworden. Nehmen wir Schillers »Horen«, zwei Jahre, Wielands »Teutscher Merkur«, sechzehn Jahre, Schlegels »Athenäum«, zwei Jahre, Kleists »Berliner Abendblätter«, zwei Jahre, Jaspers’
»Wandlung«, vier Jahre, Bubers »Kreatur«, vier Jahre, Thomas Manns »Maß und Wert«, vier Jahre, Alfred Anderschs »Texte und Zeichen«, drei Jahre, Enzensbergers »Transatlantik«, dreizehn Jahre. Aber einige Periodika sind alt geworden, ein paar sogar sehr alt. Bohrers und Scheels »Merkur « erscheint seit 1947, Michael Krügers »Akzente« seit 1954, »Die Neue Rundschau « des S. Fischer Verlags seit 1890. Und in den Niederlanden gibt es »De Gids«, zu deutsch der Leitfaden, der seit 1837 erscheint.
Die Gründe für diese extrem unterschiedliche Lebensdauer von Literaturzeitschriften sind vielfältig, Geldmangel, Redakteursmangel, Lesermangel, Ideenmangel, Lustlosigkeit. Zeitschriften sterben also entweder an finanzieller oder an personeller oder an geistiger Erschöpfung. Aber es gibt noch andere Ursachen. Zum Beispiel Währungsreformen und Generationswechsel. Nicht zu vergessen Revolutionen. Nichts ist für eine Zeitschrift so gefährlich wie ein plötzlicher geschichtlicher Umbruch. Ich weiß, wovon ich rede.
Auch Sinn und Form, die nun sechzig Jahre alt gewordene Zeitschrift der Akademie der Künste, hat einen Epochensturz erlebt. Die meisten Zeitschriften überleben ihn nicht, weil sie zusammen mit dem Ancien régime, der über Nacht schal gewordenen alten Welt, untergehen.
Wer sich heute der Revolution von vor zwanzig Jahren erinnert, einer Revolution, die nicht nur das Ende des kommunistischen Zeitalters bedeutete, sondern auch den Weg freimachte für die Wiedervereinigung des zweigeteilten Deutschland, der muß immer wieder darüber staunen, daß dies alles friedlich und ohne jene Schrecken vonstatten ging, die üblicherweise mit Revolutionen, mit der Leidenschaft ekstatischer Massen, ihrem Haß, ihrer kollektiven Gewalt, ihrer geistigen Bedenkenlosigkeit verbunden sind. Wo gab es je so einsichtsvolle, sanftmütige, disziplinierte und höfliche Revolutionäre? Und wo gab es je einen so demutsvollen und geräuschlosen Abgang von Staaten, ein so ergebenes Sich-Fügen ins geschichtliche Abtreten, ein derartiges In-sich-Zusammensinken von Macht? Und vergessen wir nicht, diese Macht war kein nur ins Agitieren, Propagieren und Dekretieren verliebter Orden gutgläubiger Parteisekretäre, das war ein waffenstarrendes Regime, das alle Kommandohöhen der Gesellschaft besetzt hielt und niemandem gestattete, es zur Rede zu stellen.
Besonders prekär war die Lage hinsichtlich der geistigen Produktion. Wer sagt, im Kommunismus herrschte die Lüge, sagt nicht die Unwahrheit. Aber wie abgedroschen klingt das. Wer aber liest, was Erwin Strittmatter in seinem Tagebuch unter dem Datum 8. April 1978 notierte, wird die ganze Heillosigkeit der Verhältnisse wieder vor sich sehen: »Der Roman (gemeint ist ›Wundertäter III‹ – S. K.) ist abgegeben, aber ich gehe umher wie ein Mörder, der bangt, daß man seine Tat bald entdecken wird. Kann es soweit kommen, daß ein Mensch fürchtet, zur Rechenschaft gezogen zu werden, wenn er aufschreibt, was er in seiner Umgebung und in seiner Gesellschaft, in der er lebt, durchschaute und erkannte? Das ist so, weil ich bereits in der zweiten Diktatur lebe und weil in beiden Diktaturen (auch in der zweiten, von der ich etwas erhoffte) nach dem Grundsatz gehandelt wird: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns, und wer uns kritisiert, ist ein Abgesandter des Feindes. Ob Rechts-, ob Links-Diktatur, in beiden wird der Geist vergewaltigt. In der einen wird der anderen vorgeworfen, dass sie den Menschengeist knechtet, und umgekehrt. Wie kann ein denkender Mensch das gutheißen? Er heißt es nicht gut, doch allmählich bildet sich in ihm das Gefühl heraus, ein Ketzer, ein Verbrecher zu sein. Er ist allein, und derer, die der Diktatur lobsingen, sind viele.«
Es versteht sich, daß ein solcher Eintrag in der DDR nirgendwo hätte erscheinen können, auch nicht in Sinn und Form, jedenfalls nicht vor dem Herbst 1989. Daß wir des gewaltlosen Endes dieses Staates ansichtig werden durften auf der Bühne der Geschichte, einer Bühne, auf der es normalerweise ohne Blut und Tränen nicht abzugehen pflegt, ist ein Glück. Und ein geistiges Glück zudem, gerade auch wenn man weiß, daß der Geist nicht nur in Diktaturen unter Druck geraten kann.
Hegel, unser größter Geschichtsdenker, hat gesagt, die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr. Wie wohltuend, daß er hier einmal irrte.
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SINN UND FORM 2/2010, S. 273-275
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der (...)
LeseprobeKleinschmidt, Sebastian
Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Matthias Weichelt
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der anthropologischen Medizin. Was haben wir uns darunter vorzustellen?
DIETER JANZ: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was medizinische Anthropologie bzw. anthropologische Medizin ist, aber versuchen wir es. Die drei Stücke, die Viktor von Weizsäcker 1927 für die »Kreatur« verfaßt hat, nämlich »Der Arzt und der Kranke«, »Die Schmerzen« und »Krankengeschichte«, nannte er Stücke einer medizinischen Anthropologie. Und dort sagt er, das Urphänomen der medizinischen Anthropologie und der Hauptgegenstand ihres Wissens sei der kranke Mensch, der eine Not hat, der der Hilfe bedarf und dafür den Arzt ruft. Und dieser Ursprungssituation sollte das Verhältnis von Krankheit und Medizin entsprechen. Die Medizin, wie sie gelehrt wird, ist eine Medizin, die sich mehr einem Etwas zuwendet als einem Jemand. Dieses Gewichtsverhältnis zu ändern, das heißt die Beziehung zwischen Arzt und Krankem menschlich ernst zu nehmen, ist die Absicht einer anthropologischen Medizin. Bis hierhin ist das alles sehr einfach. Der nächste Schritt, der nächste Gedanke ist, sich zu fragen, was unterscheidet den kranken Menschen der anthropologischen Medizin vom Patienten der Schulmedizin? Antwort: daß man ihn als Objekt begreift, das ein Subjekt enthält, und daß der Arzt dieses Subjekt anerkennt. Und nun beginnt ein Gespräch. Die Anamnese aus der Schulmedizin gilt natürlich auch in der anthropologischen Medizin. Aber hier wird sie zum Gespräch, in der Schulmedizin ist es eine Erhebung. Eine Erhebung von Tatsachen nach einem gewissen Schema, zuerst Familiengeschichte, also Auflistung der Krankheiten der Eltern und Geschwister, dann der Kinderkrankheiten, der Geschlechtskrankheiten und anderer Leiden, schließlich der Operationen, während in der anthropologischen Medizin der Arzt fragt: Wo fehlt es? Oder, was fehlt Ihnen? Und dann aufmerksam lauscht. Das Lauschen ist eine außerordentlich bedeutsame ärztliche Handlung, auch weil sie alle möglichen Nebentöne mithört. Und das, was der Kranke sagt, führt hin auf den Weg zur Heilung, denn er ist es doch, der gesund werden will. Hinzu kommt, daß der Patient mehr von der Krankheit weiß als der Arzt, Dinge weiß, die sich erst im Gespräch erschließen. Und so beginnt der Arzt mit den einfachen, im gewissen Sinne klassischen Fragen: wo, wann, was und warum? Also wo. Wo spüren Sie etwas? Das geht erst mal auf die Anatomie zu, wobei die objektive Anatomie eine andere ist als die subjektive, das muß man im Auge haben. Dann das Wann. Wann ist das passiert, wann haben Sie das zuerst wahrgenommen, wann spüren Sie das, wann tritt das auf? Dieses Wann meint mehr als nur die Zeitangabe, es zielt auf den Kontext der Situation, in der die Symptome sich zuerst und dann immer wieder zeigten. Dann geht es zum Was, zur Art der Beschwerde. Mechthilde Kütemeyer, eine befreundete Ärztin, hat mir mal erzählt, daß man aus der Heftigkeit, mit der der Kranke seine Schmerzen schildert, auf die Dramatik des Traumas schließen kann. Also auch Nuancen spielen eine Rolle. Und schließlich kommt die letzte Frage, die Frage nach dem Warum. Im schulmedizinischen Verständnis ist das eine Frage nach der Ursache, im anthropologischen aber eine nach dem Sinn. Und das ist ein entscheidender Unterschied. Empirisch gibt es darauf ganz bezeichnende Antworten. Zum Beispiel eine solche: Das müssen Sie doch wissen. Das ist oft ein Hinweis darauf, daß der Kranke nicht mitmacht bei der Ursachenfindung, er bietet das Symptom, und der Arzt soll damit umgehen. Aber so geht das in der anthropologischen Medizin eben nicht. Und nun fragt der Arzt: Was meinen Sie denn, wo das herkommt? Und es ist erstaunlich, was da so herauskommt. Zunächst die Spitzen: Daß man überhaupt so was gefragt wird. Dann die Scheu zu sagen, was man sich selber dabei gedacht hat. Das sind aber Abwehrversuche, die man überwinden muß als Frager. Damit darf man sich nicht zufriedengeben, sondern muß weiter insistieren, und zwar in einer Weise, die es dem anderen erlaubt, ungeniert auch dumme Sachen zu sagen. Und die dummen Sachen sind oft die, die helfen, einen Weg zu finden. Das gilt auch für organische Krankheiten. Es kommt vor, daß sich hier eine psychoneurotische Konstellation anschultert. Zum Beispiel bei Kranken mit einer Multiplen Sklerose oder mit Gelenkrheumatismus. Wenn man fragt, wo das ihrer Meinung nach herkommt, kann einem gleich ein ganzes Familiendrama erzählt werden. Wenn man die Biographik bei chronischen Krankheiten studiert, muß man die erste Schicht wegnehmen, um zu einer tieferen zu gelangen. Zuerst kommen etwa Aggressionen gegen einzelne Familienmitglieder zur Sprache, deren Berechtigung zweifelhaft ist. Und erst dann erscheint vielleicht etwas von Bedeutung, das man in Pathogenese und Therapie einbeziehen sollte. Also das ist die Frage nach dem Warum. So fein sind die Unterschiede zwischen Schulmedizin und anthropologischer Medizin. Das philosophische Gerüst – besser die ärztliche Einstellung – dahinter ist entscheidend. Das gilt besonders für die Sinnfrage. Die kann ja nur gestellt werden, wenn der Arzt eine Vorstellung hat, was der Sinn sein könnte, und wenn der Kranke bereit ist, mitzudenken. Man braucht ja vom Sinn nicht gleich eine umfassende Vorstellung zu haben. Es muß sich einem auch nicht alles sofort erschließen. Weizsäcker benutzt für den Begriff Sinn oft den der Bestimmung. Er fragt, welche Bestimmung hat eine Krankheit in einem Leben. Und man kann, ja, man muß unterscheiden zwischen einer vorletzten und einer letzten Bestimmung. Ich weiß gar nicht, wo diese Unterscheidung herkommt. Vielleicht wissen Sie es.
KLEINSCHMIDT: Nicht auf Anhieb, aber es leuchtet natürlich ein. Man muß ja nur auf die Sprache hören. Wir haben doch die Eschatologie, die Lehre von den letzten Dingen, und von da ist es nur ein Katzensprung zurück zu den vorletzten. Und so kommt man darauf. Und schon öffnet sich ein neuer Raum.
JANZ: Und wenn man einen Sinn dafür hat, daß es das Vorletzte und Letzte gibt, ist man viel freier, auch danach zu fragen. Das ist doch das Merkwürdige, daß die letzten Dinge auf die vorletzten abfärben. Philosophisch gesehen ein interessantes Phänomen. Deswegen ist die anthropologische Medizin für den nachdenklichen Arzt so anziehend.
KLEINSCHMIDT: Genaugenommen sprechen Sie ja jetzt über Formen der kooperativen Diagnostik zwischen Arzt und Patient. Und da sollte man die Hermeneutik ins Spiel bringen, und zwar in ihrer Gadamerschen Form. Hans Georg Gadamer hat sein langes Gelehrtenleben lang immer wieder neue Auslegungen dessen gegeben, was Hermeneutik ist. Und eine davon lautet, daß der hermeneutische Zugang zu einem Text – im Falle der Krankheit müßte man sagen zum Text der Erkrankung – darin besteht, ihn als Antwort zu verstehen, und zwar als Antwort auf eine Frage, die man noch nicht kennt. Das Gespräch bestünde dann darin, vom Antwortcharakter des Textes zur Rückgewinnung der verborgenen Frage zu gelangen.
JANZ: Ja, das ist ganz richtig. Das muß auch hier der Zugang sein, nämlich auszugehen von der festen, auf Erfahrung gegründeten Zuversicht, daß hinter der Krankheit ein verborgener Sinn liegt, den der Kranke nicht unmittelbar weiß und den auch der Arzt nicht weiß, und in diesem gemeinsamen Erforschen, in diesem gemeinsamen Erkennen sich am Ende einig zu werden, worin dieser Sinn besteht. Das ist übrigens etwas, was man auch in der Psychotherapie erfährt, daß nämlich nur die Deutung wirkt, die dem Patienten einleuchtet.
KLEINSCHMIDT: Man müßte nicht einmal sagen, daß die Deutung stimmt, es genügte festzustellen, daß sie wirkt.
JANZ: Das ist der Schlüssel in der Medizin. Das Wirksame ist das Wahre. Entscheidend ist zu verstehen, daß Krankheit immer in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist und daß die ihr zugrundeliegenden Konflikte und Spannungen verborgen sind. Will man sie ans Licht bringen, muß man in die Biographie des Kranken einsteigen. Aus der biographischen Einbettung der Krankheit ergibt sich, daß der Mensch ein zeitgebundenes Wesen hat. Auch Krankheit hat daran teil. Zeitgebundenheit der Krankheit bedeutet, daß durch die Behandlung keine Restitution des vor der Krankheit herrschenden Zustandes erfolgt, daß Heilung nicht heißt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit.
KLEINSCHMIDT: Im Gegensatz zum Fußball, wo die Trainer immer sagen: nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Natürlich, der Vergleich hinkt ein wenig …
JANZ: Ja, ja. Und es ist ungeheuer wichtig, das ernst zu nehmen, daß der Mensch nach der Krankheit nicht der Mensch vor der Krankheit ist, nicht sein kann. Auch wenn er selber meint, es zu sein.
KLEINSCHMIDT: Also keine Wiederherstellung. Es gibt zwar Gesundung, aber Heilung ist keine Rückkehr zum vorigen Zustand.
JANZ: Es gibt sie nicht, die Restitutio ad integrum. Gesundung ist keine Wiederherstellung.
KLEINSCHMIDT: Da der laienhafte Patient ja mitsprechen darf in der anthropologischen Medizin, würde ich sagen, daß in der Gesundung doch ein Moment der Wiederherstellung steckt. Da muß man gar nicht das Bild der Reparatur bemühen. Jede Erkrankung wirft den Menschen aus der Bahn, und jede Genesung führt ihn in die Bahn zurück. Das ist eine Art Wiederherstellung. Aber natürlich nur eine auf Zeit. Als ich vorhin bei Ihrer Formel »nach der Krankheit ist nicht vor der Krankheit« zum Kontrast auf die Fußball-Formel »nach dem Spiel ist vor dem Spiel« verwies, merkte ich erst hinterher, daß dies, übertragen auf unser Gebiet, in einem anderen Sinne doch stimmt. Denn niemand kann nach einer Heilung sicher sein, daß er fortan nicht wieder krank wird. Insofern gilt: nach der Krankheit ist vor der Krankheit. Die nächste Herausforderung wartet schon auf uns.
JANZ: Aber doch mit einer Erfahrung hinter uns.
MATTHIAS WEICHELT: Vielleicht muß man den Gedanken der Wiederherstellung ein bißchen genauer fassen. Natürlich geht es darum, daß der Mensch wieder mit sich ins reine kommt, daß er nicht mehr sagt, mir fehlt etwas. Nur muß man die Entwicklung dabei mitdenken. Der Mensch, der eine Krankheit durchgemacht hat und von ihr genesen ist, ist nicht mehr derselbe, der er ohne diese physische und geistige Erfahrung war. Er ist ein anderer geworden, und trotzdem wieder bei sich.
JANZ: Ja, so ist es. Und noch mehr. Man erlebt sich wieder neu. Diese Krankheit hatte man ja vorher nicht gehabt. Um es noch von einem anderen Punkt aus zu zeigen: Der Umgang mit einer Krankheit sollte darauf gerichtet sein, dahinterzukommen, was jemanden krank gemacht hat. Das bedeutet für Arzt wie Patient, die Wahrheit der Krankheit zu finden. Weizsäcker sagt: Jede Krankheit ist eine Krise der Wahrheit und eine Anerbietung von Wahrheit. Wird man wieder gesund, hat man sich also mit dieser neu errungenen Wahrheit restituiert. Und noch ein Gedanke. Nämlich die Frage, was wird dieser Mensch? Und zwar sowohl in der Krankheit wie in der Gesundheit. Der Mensch ist immer auf dem Weg. Auf dem Weg zu seiner Bestimmung.
KLEINSCHMIDT: Das berühmte »Werde, der du bist«. Ein Paradox, deswegen ist es ja so schön.
JANZ: Ich hatte jetzt mehr an die Beziehung von Krankheit und Gesundheit gedacht. Ich würde sagen, der Mensch ist immer auf dem Weg hin zur Gesundheit oder weg von der Gesundheit. Er ist immer auf dem Weg hin zu seiner Bestimmung oder weg von seiner Bestimmung. Das meint Weizsäcker.
KLEINSCHMIDT: Ja, das gibt zu denken.
JANZ: Das führt zur Frage des Gesundheitsbegriffs. Für Freud ist die Genußfähigkeit das Leitbild von Gesundheit. Für die Schulmedizin ist es die Leistungsfähigkeit, für die Sozialmedizin die Arbeitsfähigkeit. Das sind alles mehr oder weniger Fremdbestimmungen. Weizsäcker versucht davon wegzukommen, er sagt einmal, Krankheit sei genauso eine Art von Menschlichkeit wie Gesundheit. Gemeint ist, sich menschlich in der Zeit verändern, wachsen, reifen, sterben können.
WEICHELT: Das ist doch eine sehr positive Grundsicht von Krankheit.
JANZ: Ja, ich finde es auch positiv, und zwar im Sinne eines ernsten Zurüstens auf Leben, Lebendigkeit, Entwicklung, und am Ende auf den Tod.
WEICHELT: Das ist das Gegenteil dessen, was heutzutage als erstrebenswert gilt, nämlich das Leben verlängern, immer älter werden, vor allen Dingen den Tod hinausschieben.
KLEINSCHMIDT: Sie haben von der Wahrheit gesprochen, Herr Janz. Und Sie haben gesagt: Wahr ist, was wirksam ist. Man könnte auch sagen: wirksam ist nur die Deutung, über die sich Arzt und Patient im Laufe der Gespräche einig werden. Aber sind denn Wahrheit und Deutung immer heilungsfördernd? Es kann doch auch eine Wahrheit festgestellt werden, die keine Aussicht auf Gesundung eröffnet.
JANZ: Ja, es gibt Krankheiten, die nicht heilen. Franz Rosenzweigs Krankheit, das war so eine. Er litt an einer amyotrophen Lateralsklerose, einer unaufhaltsam fortschreitenden Erkrankung des motorischen Nervensystems. Und daran ist er auch zugrunde gegangen.
KLEINSCHMIDT: Nein, nein, das meinte ich nicht. Sie haben einmal vom Wahrheitsexhibitionismus in der heutigen Ärzteschaft gesprochen, während früher das Gegenteilige galt, nämlich extreme Wahrheitsscheu. Die Scheu bezog sich aufs Mitteilen, nichts aufs Erkennen. Der Arzt wußte mehr und hat es dem Patienten nicht gesagt. Wie steht es mit der Offenheit des Arztes, wenn die Wahrheit bitter und nichts als bitter für den Kranken ist?
JANZ: Wahrheit ist doch eine bipersonale Beziehung. Der Arzt muß zwischen sich und dem Kranken immer wieder neu die Situation von Frage und Antwort herstellen, von Weiterfragen und Weiterantworten. Und dann zeigt sich, daß sich beide um die Krankheit bemühen, aber das können sie nur, indem sie an das Verborgene herankommen. Und das, was verborgen ist, ist die Wahrheit über diese Krankheit. Natürlich ist das eine absolut ideale Vorstellung, die wir uns jetzt machen, denn wir haben noch nicht vom Widerstand gesprochen, der in jedem Patienten steckt und der schon in dem Satz erscheint: Ich komme zu Ihnen, weil ich gesund werden will. Der Arzt, der weiß, was auf ihn zukommt, müßte das Gespräch eigentlich so beginnen: Wissen Sie, was Sie damit sagen? Wissen Sie, was das bedeutet? Wissen Sie, was gesund ist? Aber so geht das natürlich nicht. Es kommt darauf an, das Angemessene zu tun, und zwar in jeder Situation. Und das Gespräch ist nicht immer das Angemessene. Nehmen wir einen Mann mit Bandscheibenvorfall, der über die Notaufnahme in die Klinik kommt. Er ist vollkommen krumm und steif und hat wahnsinnige Schmerzen. Hier ist unmittelbare Hilfe gefordert. In diesem Zustand beginnt man kein Arzt-Patienten-Gespräch.
WEICHELT: Wie kamen Sie eigentlich zu dem Entschluß, Medizin zu studieren?
JANZ: Ich hatte einen Mitschüler, der zu Hause ein kleines Laboratorium besaß und chemische Experimente machte. Das hat mich beeindruckt. Und der war entschlossen, Medizin zu studieren. Außerdem hatte ich mit siebzehn gehört, daß man sich melden könne, wenn man auf der Pépinière in Berlin Medizin studieren wolle. Die Pépinière war eine Pflanzstätte für Militärärzte, dort konnte man umsonst studieren. Man wäre, wenn man genommen worden wäre, Fähnrich geworden und hätte sich festlegen müssen, auf zehn oder zwanzig Jahre beim Militär zu bleiben. Mein damaliger Pfadfinderführer, er war vier oder fünf Jahre älter als ich, war Medizinstudent beim Militär. Der ist noch im Krieg Militärarzt geworden. Und der hat mir in gewisser Hinsicht Eindruck gemacht. Mir gefiel er in Uniform. Ich wußte nicht, ob ich je eine so eindrucksvolle Gestalt würde abgeben können. Ich habe mich nicht so gutaussehend, nicht so kerzengerade gewachsen gesehen. Im übrigen fragt man sich, was kommt denn überhaupt in Frage. Es kam eigentlich nur in Frage: entweder Lehrer oder Richter oder Pfarrer oder eben Arzt. Was gab es denn sonst?
WEICHELT: Journalist?
JANZ: Nein, das kam nicht in Frage. Mein Vater war Pfarrer, er hat es ungern gesehen, wenn ich Zeitung las. Er fand das Deutsch, das in der Zeitung geschrieben wurde, nicht besonders förderlich für den Stil. Er hat gesagt, wenn du in der Schule einen Aufsatz zu schreiben hast, lies einige Tage vorher keine Zeitung. Mit der Vorstellung, Pfarrer zu werden, hatte ich auch gespielt. Vor der Aufgabe zu stehen, jeden Sonntag für eine halbe oder dreiviertel Stunde etwas Wesentliches, Bedeutsames und Lebenswichtiges zu sagen – und das schien mir immer das Wesen des Pfarrerberufs zu sein –, hatte etwas absolut Herausforderndes. Ich erinnere mich, daß ich mit siebzehn einmal gesagt habe: Eigentlich müßte man entweder Pfarrer oder Sturzkampfflieger werden. Ich meinte, die Berufswahl sei eigentlich eine Mutprobe. Und Pfarrer zu werden in dieser Zeit, Mitte der dreißiger Jahre, das erforderte ja Mut. Man mußte das Christentum verteidigen. Feigheit war da nicht gefragt. Als ich sagte, ich weiß nicht, ob Medizin oder Theologie, fragte mein Vetter, er war Theologe, was stellst du dir denn vor unter Theologie? Darauf ich: Unter Theologie stelle ich mir etwas sehr Abenteuerliches vor. Darauf er: Na, dann studier mal lieber Medizin.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre beruflichen Anfänge?
JANZ: Meine erste Stelle nach dem Krieg war in Heidelberg. Ich hatte mich bei dem Neurologen Paul Vogel vorgestellt. Ihn hatte Alexander Mitscherlich mir empfohlen als den einzigen klinisch wirksamen Schüler Viktor von Weizsäckers. Drei Tage nach Weihnachten habe ich Professor Vogel, da er nicht in der Klinik war, zu Hause besucht. Das war eine unmögliche Sache. Ich habe geklingelt, er öffnete mir. Ich sagte: Entschuldigen Sie, darf ich mich Ihnen vorstellen? Herr Mitscherlich hat mir gesagt, ich solle mich an Sie wenden. Ich möchte gerne bei Ihnen arbeiten. – Da kommen Sie jetzt zu mir nach Hause? sagte Vogel und drückte die Tür zu. Und da, so hat er es später erzählt bei der kleinen Rede, die er anläßlich meiner Habilitation gehalten hat, hätte ich meinen Fuß in die Tür gestellt und gesagt: Herr Professor, geben Sie mir wenigstens die Gelegenheit, daß ich mich schriftlich vorstelle. – Na, das können Sie ja machen. Ich habe ihm also geschrieben. Bald darauf kriegte ich eine Postkarte: Sie können am 1. Februar bei mir eintreten. Das war natürlich eine unbezahlte Stelle. So wurde ich also Volontär bei Paul Vogel. Das war schon was.
WEICHELT: Hatte man da schon eine gewisse Verantwortung?
JANZ: Der Stationsarzt, den ich damals hatte, war ein Ukrainer, der schon im Krieg bei Vogel war, ein kluger und auch guter Arzt. Bei dem machte man zunächst einmal die Visiten mit. Man guckte zu, wie der andere untersuchte, und schrieb die Krankengeschichte auf. Kamen neue Patienten, schrieb man die nächste Krankengeschichte. Dann untersuchte man selbst, und so kam man hinein und war sehr bald ein Helfer des Stationsarztes. So ein Stationsarzt hatte vielleicht noch zwei solche Volontäre, so war man zu dritt. Und hatte eine Station von 24 Betten. Das war die Struktur. Das Haus hatte vier solcher Stationen. Diese 24 Betten standen alle in je einem Saal. Und so hatte ich jahrelang die Möglichkeit zu sehen, wie die Patienten miteinander umgehen, wie die Schwestern mit den Patienten umgehen, wie die Ärzte mit den Patienten umgehen. Das sieht man ja bei 24 Betten – wenn man seinen Tisch in der Mitte dieses langen Bettentraktes hat –, und man kann seine Beobachtungen machen. Alle passen auf. Dennoch ist es enorm diskret. Als wären unsichtbare Vorhänge zwischen den Betten. Aber es passiert natürlich viel. Der eine bekommt Besuch, der andere nicht. Der eine weint, der andere lacht, alle diese Dinge. Man bekam viel mehr Lebensäußerungen mit als heute in den Krankenzimmern. Heute hat ein Krankenzimmer zwei oder drei Betten. Dann ist man da diese fünf oder zehn oder fünfzehn Minuten in einer im Grunde künstlichen Atmosphäre, denn alle wissen, jetzt ist der Arzt da. Aber seien Sie mal mit 24 Menschen zusammen und das über mehrere Stunden.
WEICHELT: Das ist schon eine Art Gemeinschaft, die sich auch irgendwie organisieren und disziplinieren muß.
JANZ: Nun sind zwar nicht alle bettlägerig, aber viele. Es ist ein gemeinsamer Raum und ein wechselseitiges Aufeinander-Rücksicht-Nehmen. Oder eben nicht Rücksicht nehmen. Beides hat Folgen für die Diagnose, für die Behandlung, für den Umgang. Ich sage dieses Weizsäckersche Wort Umgang, weil es alles einbezieht, Diagnose, Therapie, Gespräch, Verhalten usw. Nach sechs Wochen hat Paul Vogel zu mir gesagt, er möchte, daß ich mich für das Sommersemester auf ein Referat über eine Vorlesung von Weizsäcker »Über die ärztliche Grundhaltung« vorbereite. Sechs Wochen hatte ich Zeit. Und habe dieses Referat gehalten, das war 1946. Ich besitze den Text noch. Er wurde vor einer Weile abgedruckt, zusammen mit der Vorlesung von Weizsäcker. Und dann, nach diesem Referat, mit dem Vogel offenbar zufrieden war, sagte er: Gut, machen Sie so weiter. Versuchen Sie sich einzulesen und einzuarbeiten. Ich möchte zwei Jahre nichts Schriftliches von Ihnen sehen.
WEICHELT: Das war keine Empfehlung, sondern eine Anweisung.
JANZ: Eine Anweisung, ja. Das heißt, zwei Jahre haben Sie Zeit.
WEICHELT: Aber Sie sollten nicht untätig sein.
JANZ: Nein, nein. Mit nichts Schriftliches war gemeint: keine wissenschaftliche Arbeit. Gemeint war: Machen Sie so weiter. Lernen Sie Neurologie. Untersuchen Sie. Benutzen Sie die Bibliothek. Wir hatten eine ganz gute Bibliothek in der Klinik, den ganzen Freud. Der war auch über die Nazijahre da, die große blaue Ausgabe. Da habe ich vieles – ich will nicht sagen alles – gelesen. Das war neben dem Handbuch für Neurologie eine Grundnahrung für mich, das kann ich schon sagen. Aber die Sache mit den zwei Jahren nichts Schriftliches von Ihnen hören, das ging ja nach zwei Seiten.
WEICHELT: Man wird freigestellt, aber auf ein Ziel hin.
JANZ: So ist es. Und so habe ich es auch empfunden. Ich habe es als Glücksfall angesehen, zwei Jahre lang nur studieren zu können.
WEICHELT: Ohne das sofort verwerten zu müssen.
JANZ: Ja, genau. Ohne es unmittelbar auswerten zu müssen. Das gehört für mich zu den beeindruckenden pädagogischen Leistungen von Paul Vogel. Ich erinnere mich noch an etwas, das dazu paßt. Als Weizsäcker elf Jahre später starb, hat Vogel mich morgens in sein Dienstzimmerchen gerufen und gesagt: Nehmen Sie Platz. Herr von Weizsäcker ist heute nacht gestorben. Das war die Mitteilung, die er mir gemacht hat. Ich habe dazu nichts sagen können außer: Ja, was wird denn nun aus seinem ganzen Werk? Da sagte er: Das muß erst mal alles in die Katakomben.
WEICHELT: Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.
JANZ: Ja, das hatte wieder etwas Kryptisches. Ich habe mir wirklich oft Gedanken darüber gemacht. Na gut, ich wußte, daß man jetzt nicht viel darüber redete, daß man zusah, ob das gärt, ob sich das von selbst bewegt. Aber woran merke ich das? Wo muß ich hinschauen? Wo muß ich hinhören? Nichts darüber. Katakomben – da weiß keiner, wie und wann das wieder rauskommt. Aber man weiß, daß es rauskommt. Das war auch wieder so ein Rat.
WEICHELT: Die normale Reaktion wäre zu sagen: Jetzt ist er gestorben. Wir müssen uns um das Werk kümmern. Wir müssen Editionen machen. Aber Vogel sagte das Gegenteil. Hat Ihnen das eingeleuchtet?
JANZ: Das hat mir sehr eingeleuchtet. Einerseits ist es entlastend, andererseits nimmt es einen in die Pflicht. Man bestimmt den Zeitpunkt mit, wann es hochgeholt wird – wie es dann auch geschah.
WEICHELT: Man muß eine Sache erst mal loslassen und sie sich dann wieder zu eigen machen, ganz im Goetheschen Sinne: Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Aus dem Bild der Katakombe spricht ja auch die Überzeugung vom hohen geistigen Wert des Weizsäckerschen Werks.
JANZ: Katakomben sind Orte zeremonieller Bewahrung. Was hier lagert, gewinnt spirituelle Existenz.
WEICHELT: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen als Arzt?
JANZ: Ich erzähle Ihnen eine symptomatische Begebenheit. Es ist Ausgang Winter. Zwei uns bekannte Männer im mittleren Lebensalter kamen verletzt aus dem Skiurlaub. Der eine hatte sich den Arm gebrochen, der andere hatte einen bandagierten Fuß. Und in beiden Fällen habe ich gefragt, wie das passiert ist. Ach, sagt der eine, ich bin zu schnell den Hang hinuntergefahren, plötzlich bin ich gestürzt. – Warum sind Sie denn so schnell gefahren? – Ja, es war schon Abend, und die anderen waren alle schon unten. – Wer waren denn die andern? – Mein Sohn und seine Freundin und noch ein paar andere. – Ach, Sie waren mit dem Sohn zusammen? Wie alt ist der denn? – Der ist jetzt fünfzehn. – Kann der gut Ski laufen? – Er kann jetzt besser Ski laufen als ich. Der war sofort unten. – Sind Sie zusammen losgefahren? – Ja, es war schon spät und da sind wir sofort los, und kaum hatte ich mich besonnen, war er schon unten. Ja, und dann bin ich halt gestürzt. – Wollten Sie ihm denn hinterher? – Na klar doch. So. Das ist die eine Geschichte. Die andere war ganz ähnlich. Gut. Das war jetzt die Anamnese. Aber was man braucht, ist die Souveränität, nichts für Zufall zu halten. Daß der geschiente Arm und das bandagierte Bein nicht von ungefähr kommen.
WEICHELT: Ist es eine Entscheidung, zu sagen, wir halten nichts für Zufall, oder ist es eine Überzeugung? Ist es eine philosophische oder eine therapeutische Frage? Oder ist es Erfahrung?
JANZ: Es ist eine aus der Überzeugung entwickelte Erfahrung und eine aus der Erfahrung entwickelte Überzeugung.
WEICHELT: Mir scheint, es geht hier nicht nur um interessante, sondern auch um rätselhafte Zusammenhänge, das hat ja fast schon etwas Künstlerisches.
JANZ: So ist es. Das ist genau der richtige Begriff. Es ist das Verhältnis zum Rätsel, was zu dieser Art von Fragen führt. Es gibt ja Rätsel, die man nicht lösen kann, und es gibt Rätsel, die man lösen kann. Die Lust ist ein künstlerisches Moment. Die Lust an der Enträtselung, die Lust am Finden von Zusammenhängen, da fängt es an, und das geht natürlich weit über den Verstand und die Empirie hinaus. Am Anfang steht immer die Frage: Warum ist dieser Mensch krank und warum wird er nicht wieder gesund? Darauf muß man neugierig sein. Und um zu Antworten zu kommen, braucht man eine Begabung zum Assoziativen. Eine Begabung des Verbindens. Das Befriedigende daran ist dieses Spiel von Neugier und Finden.
WEICHELT: Heißt dieses Finden nicht in gewissem Grade auch, daß die gefundene Wahrheit nicht mehr die einzige ist, sondern nur die Ihnen gemäße?
JANZ: Nein, nein, nur die Methode ist die mir gemäße. Die Wahrheit ist die dem Patienten gemäße. Ich habe es oft erlebt, daß Väter sich mit ihren Söhnen messen. Und zwar immer dann, wenn die Söhne an ihnen vorbeizogen, und die Väter, die noch jung sein wollten, ihre Söhne in die Schranken zu verweisen suchten. Und das geht irgendwann schief. Dann muß man diese Erfahrung zu einer Erkenntnis machen, und zwar verbunden mit dem entsprechenden Genuß, zu einer Erkenntnis gekommen zu sein. Und einen bestimmten Vorgang, zum Beispiel den erwähnten Skiunfall, zu einer Erkenntnis zu machen, das ist schon das Medizinische, das Therapeutische. Mit Paul Vogel war übrigens jede Visite reizvoll. Es gab viele neurologisch interessante Fälle. Zum Beispiel folgende Geschichte: Vogel unterhält sich mit einem Patienten, weil er mit der Symptomatik nicht ganz klarkommt. Er läßt ihn aufstehen, ein paar Schritte gehen, wieder zurückkommen, auf dem einen Bein stehen, auf dem anderen Bein stehen usw. Dann unterhält er sich einen Moment mit ihm. Dann läßt er ihn wieder ins Bett gehen. Vogel geht zum nächsten Patienten. Am Ende der Visite treffen wir uns draußen auf dem Gang, und da sagt er zum Stationsarzt: Sie, hören Sie mal, der da im dritten Bett hinten, den ich habe gehen lassen, das ist doch eine Geschichte. Erzählen Sie mir die mal bei der nächsten Visite. Da hat man genau gewußt, was er wollte, wenn man das hörte. So wurde man mit dem Auftrag entlassen, die Geschichte rauszukriegen. Das heißt also, Vogel wollte, daß man sich mit dem Patienten hinsetzt und ins Gespräch kommt. Um rauszukriegen, was für eine Geschichte hinter der Krankheit steckt. Vogel hat auch ein Seminar mit Medizinstudenten über Krankheiten als literarische Gattung gemacht, also Leidensformen, Krankheitsformen, Genesungsformen in Analogie zu literarischen Formen.
WEICHELT: Darf ich noch mal auf die Frage nach dem Zufall zu sprechen kommen? Es ist doch ein starker Hang in der Weizsäckerschen Medizin, allem Geschehen einen Sinn zuzuordnen, in allem, was passiert, einen Sinn zu entdecken. Das ist ja fast ein theologischer, religiöser, ja, künstlerischer Grundzug dieser Medizin. Sie sagten: Souveränität heißt, nichts für Zufall zu halten. Also alles in einen übergeordneten Rahmen zu stellen, in eine Lebensgeschichte einzubetten, und jeden Beinbruch, jede Angina, alles was einem passiert, zum Teil der Lebensgeschichte zu machen.
JANZ: Warum sagen Sie machen? Wenn es doch ein Teil ist?
WEICHELT: Machen sage ich, weil ich glaube, daß es vom Patienten her ein aktiver Vorgang ist. Was Kranksein für den einzelnen heißt, muß er selber herausfinden. Er muß selber verstehen, was dahintersteckt. Und deswegen ist es so – das meinte ich mit künstlerischem Grundzug –, daß jeder aufgerufen ist, seine eigene Lebensgeschichte, seine eigene Lebenserzählung zu entwerfen und alles, was ihm auf dem Lebensweg begegnet, zum Teil dieser Geschichte zu machen.
JANZ: Was Sie sagen, entspricht auch einer Grundvoraussetzung der anthropologischen Medizin, daß nämlich der Patient seine Krankheit nicht nur erfährt, sondern auch macht. Wenn es so ist, dann ist es doch sinnvoll, den Teil, den er dazu beiträgt, herauszubekommen, schon im Sinne der Prävention, daß sich das nicht wiederholt. Den Zufall können wir uns hierbei gar nicht leisten. Sie vielleicht können sich den Zufall leisten, weil Sie nicht wie ich von Berufs wegen mit der Frage befaßt sind, wo kommt das her. Sie können zu dem verunglückten Skifahrer sagen: das war Zufall. Wenn Sie aber Orthopäde sind oder Unfallchirurg, und der Mann kommt zu Ihnen und sagt: Verflixt noch mal, das hätte ich nicht tun sollen. Ich bin doch schon ein alter Knopp. Als Arzt muß ich doch sehen, daß dieser Mensch unruhig ist und wissen möchte, wo die Sache herkommt. Und so mache ich mich ans Erkennen, ans gemeinsame Erkennen im Gespräch, und ich werde es auch hinnehmen, wenn ich zu keinem Ergebnis komme. Denn es ist selbstverständlich so, daß man in einer großen Zahl von Fällen nicht weiterkommt. Und trotzdem hat man den Versuch gemacht, ein paar Schritte ist man gegangen auf diesem Weg, es war aber nichts zu finden. Und doch würde ich sagen, daß auch in einem solchen Fall nicht der Zufall regierte. Das ist ein methodisches Axiom. Davon muß ich ausgehen. Wenn ich es nicht tue, bevorzuge ich den einen Patienten und benachteilige den andern. Ich sehe auch gar keinen Grund, warum ich als Arzt dem Zufall soviel Gewicht geben sollte. Das würde mich nur dazu verleiten, die eigenen Denkdefizite und damit die des Patienten zu einer objektiv begründeten Erkenntnisschranke zu erklären, und das scheint mir philosophisch nicht richtig zu sein. Es gibt doch gute Beispiele, nehmen wir die Fettsucht. Es wird ja überall besprochen, daß die Männer zu dick oder die Frauen zu dick sind und daß das bedenklich ist. Wo fängt die Fettsucht an? Von wo an ist es eine Krankheit? Wir wissen, daß hier ein Fehlverhalten eine Rolle spielt. Anfänglich gehen diese Leute nicht zum Arzt, weil sie wissen, daß sie ihr Verhalten zwar ändern sollen, aber nicht ändern können. Nun ist ganz klar: wenn so jemand zum Arzt kommt, müßte der ihm nicht bloß eine Diät verordnen oder ihm sagen, iß nur die Hälfte, sondern er müßte an die Quellen seines Fehlverhaltens herankommen, die möglicherweise in einem Umfeld liegen, für das er nichts kann, das er auch nicht ändern kann, es sei denn, er geht da heraus. Es liegt auch zum Teil an einer Unterentwicklung des ästhetischen Bewußtseins. Man kann sich am Beispiel der Fettsucht gut klarmachen, was ein Arzt, wenn er tatsächlich gebeten wird zu helfen, eigentlich tun müßte. Er müßte als erstes sagen: Wollen Sie wirklich? Das müßte die Grundfrage sein. Und meistens kommen beim Patienten dann die Zweifel.
KLEINSCHMIDT: Er könnte auf die Frage doch antworten: Wenn ich hinterher so gut aussehe wie Sie, Herr Doktor, ja, dann will ich.
JANZ: Da würde ich sofort einsteigen. Auf eine solche Bemerkung würde ich sagen: Legen Sie Wert darauf, gut auszusehen? Wie ist denn das bei Ihnen zu Hause? Laufen Sie da nackt herum? Vor wem genieren Sie sich, vor wem nicht? Das Genieren würde ich ansprechen, ich würde ihn auch im Genieren bestärken. Das meinte ich mit dem Ästhetischen.
KLEINSCHMIDT: Sie sollten uns noch erzählen, wie Sie zu Ihrem Spezialgebiet, zur Epileptologie, gekommen sind.
JANZ: Nachdem die zwei Lehrjahre, in denen Vogel »nichts Schriftliches« von mir sehen wollte, herum waren, holte er mich 1948 zu einem intimen pädagogischen Gespräch in sein Zimmerchen und sagte: Ich meine, Sie könnten sich jetzt mal mit etwas Wissenschaftlichem beschäftigen. Ich möchte Ihnen vorschlagen, sich um Epilepsie zu kümmern. Es ist einfach so, daß das, was die Patienten von ihrer Krankheit wahrnehmen, nicht in den Lehrbüchern steht. Und was in den Lehrbüchern steht, sich nicht mit dem deckt, was die Patienten berichten. Wenn wir sie fragen, was sie von ihren Anfällen merken, vor allem was sie merken, wenn ein Anfall kommt, dann berichten sie oft erstaunliche Dinge. Vogel hat mich also auf die epileptische Aura verwiesen, auf die Sinneswahrnehmungen vor dem Anfall. Darum sollte ich mich kümmern, und zwar mit der Begründung, daß er die Aura für einen Schlüssel halte zum Verständnis sowohl der Patienten wie des Wesens von Epilepsie. Das war der Einstieg. In den Lehrbüchern steht, es gibt optische, es gibt akustische, es gibt vestibuläre, den Gleichgewichtssinn betreffende Auren. Und so hat man die Selbsterfahrung der Patienten wie die komplexe Natur ihrer Wahrnehmung immer in irgendeine vorgefertigte Schublade geschoben. Das hat Vogel nicht gemocht. Und ich fand das natürlich toll, daß es so einen Chef gibt, der sich freimacht von vorgefaßten Lehrbuchmeinungen. Ich meine, wenn das ein Philosoph gewesen wäre, von dem verlangt man so was geradezu. Aber ein Mediziner, ein Klinikchef – da habe ich die richtige Wahl getroffen. Der läßt einen selber marschieren. Und wenn was rauskommt, ist es gut. Und wenn nichts rauskommt, auch gut. Das hat man selbst zu verantworten.
WEICHELT: Und kam dann was raus?
JANZ: Ich denke schon. Um auf die Frage einzugehen, mußte ich erst mal in Erfahrung bringen, was Epilepsie ist und was nicht. Nach zwanzig Jahren Befragung, Beobachtung und Behandlung kam dann ein Buch darüber heraus, das dreißig Jahre später unverändert wieder aufgelegt wurde. Aus dem Dickicht, wie es mir anfänglich aus der Fachliteratur entgegenkam, ist so mit Hilfe der Patienten allmählich eine überschaubare Landschaft geworden, mitteilbar gegliedert, lehrbar – mit dem Ergebnis: Die Epilepsie gibt es nicht, es gibt eine Vielfalt von Epilepsien, jede von eigener Art, unterschieden nach Selbsterfahrung und Symptomatik, diagnostischem Zugang und therapeutischem Umgang.
WEICHELT: Und sind Sie mit der epileptischen Aura weitergekommen?
JANZ: Nein, nicht ganz. Das Ordnungsgeschäft hat diese Frage in den Hintergrund gedrängt. Ich hatte jedoch in besagtem Buch auf das wortreich Unbeschreibliche in der Aura von Patienten mit temporaler (Schläfenlappen-)Epilepsie hingewiesen. Daraus hat sich ein interdisziplinäres Projekt entwickelt, das zu einem klinisch und hirnlokalisatorisch nützlichen Unterscheidungskriterium geführt hat, das sich mit technischen Methoden durchaus messen kann. Auf seine ursprüngliche Frage hat Paul Vogel sich dann selbst am Beispiel der Aura von Dostojewski eine großartige Antwort gegeben in seinem Aufsatz »Zur Selbstwahrnehmung von Epilepsie. Der Fall Dostojewski«.
KLEINSCHMIDT: War Ihnen Dostojewski ein guter geistiger Partner bei der Erforschung von Epilepsie?
JANZ: O ja, das kann man wohl sagen.
KLEINSCHMIDT: Erzählen Sie bitte.
GABRIELE JANZ: Darf ich anfangen? Interessant an Dostojewski ist, daß er mehrere Krankheiten hatte, Atembeschwerden, Kreislaufbeschwerden, auch ein Lungenemphysem. Wegen seiner epileptischen Anfälle ist ihm gesagt worden: Sie dürfen nicht mehr schreiben. Er stand vor der Entscheidung: Bleibe ich Dichter oder werde ich gesund. Das ist nicht nur bei Dostojewski ein interessantes Problem, auch bei Rilke. Lou Andreas-Salomé empfahl Rilke, zu Gebsattel zu gehen, dem berühmten Viktor Emil von Gebsattel, und das hat er nicht gemacht. Er hat gesagt, wenn ich dorthin gehe, werde ich psychoanalysiert. In einem Brief an Gebsattel schreibt er am 24. Januar 1912: »Vielleicht sind gewisse meiner neulich ausgesprochenen Bedenken sehr übertrieben; so viel, wie ich meine, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, – und – fühlen Sie – gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.« Und so war das auch bei Dostojewski. Er hat jedenfalls weitergeschrieben und weitergeschrieben. Seine Frau hat gemerkt, wenn etwas im Anzug war, er war dann besonders im Streß. Er litt ja eindeutig an Epilepsie.
DIETER JANZ: Dostojewskis Frau hat einen Anfallskalender geführt, mit Hunderten von Anfällen, alle mit Datum verzeichnet. Aber er hat sich nicht behandeln lassen. Als sie einmal in Genf waren, bekam er eines Abends eine furchtbare Atemnot und mußte unbedingt in Behandlung. Und so ist er nachts noch raus auf die Straße zu einem Arzt, der ihm irgendwas gegeben hat. Und der Arzt hat ihn natürlich befragt. Dostojewski sah sich gezwungen, ihm zu erzählen, daß er häufig epileptische Anfälle bekommt. Der Arzt sagte: Das können wir jetzt nicht besprechen, es ist viel zu spät, aber kommen Sie morgen bitte wieder. Keine Rede davon, daß Dostojewski noch einmal kam. Seine Atembeschwerden waren vorbei. Auch in Berlin ist er deswegen einmal zu Gespräch mit Dieter Janz 197 einem berühmten Internisten gegangen. Im Wartezimmer hat er noch ein paar Mitpatienten gefragt, was muß man denn bezahlen? Fünf Minuten war er bei ihm drin – diese Fünfminuten-Medizin gab es offenbar schon zu Dostojewskis Zeiten. Der Arzt klopft ihn ab und sagt: Sie müssen zur Kur nach Bad Ems. Ich habe da einen Kollegen, dem schreibe ich. Richten Sie ihm Grüße von mir aus. Er gab ihm die Adresse von dem Kollegen. Dostojewski ist nicht nur einmal, er ist dreimal nach Bad Ems gefahren. Alles nur Erdenkliche hat er dort gemacht, sogar Kaiser Wilhelm getroffen. Aber für seine Epilepsie hat er nichts gemacht. Nichts! Ich habe mal einen Vortrag darüber gehalten. Da beschreibe ich seine Epilepsie in Sibirien. Sie wissen ja, er war verbannt und wollte wieder nach Petersburg, wollte wieder schreiben. Er hatte ja Berufsverbot, er durfte aus politischen Gründen nicht schreiben. Und immer wieder fragt er sich, wie erreiche ich nur, daß ich hier wegkomme. Schließlich konsultiert er einen Arzt, und der sagt ihm, er habe eine genuine Epilepsie. Und da protestiert er. Genuine Epilepsie! Ihm kam es darauf an, daß ihm bescheinigt wird, seine Epilepsie sei durch die Qualen seiner Haft entstanden. Auf der Rückreise nach Petersburg konsultiert er erneut einen Arzt, weil er wieder Anfälle hat. Und der sagt ihm, er müsse aufhören zu schreiben, das wäre das einzig Richtige. Das muß man sich mal vorstellen: Ein aus der Verbannung entlassener junger Mann kommt wieder zurück in die Gesellschaft. Was er geschrieben hat, ist noch nicht bekannt. Und er geht zu einem Arzt und sagt, er hätte immer epileptische Anfälle unter diesen Bedingungen. Der Arzt fragt, was sind Sie denn von Beruf? – Ich bin Schriftsteller. – Wann schreiben Sie denn? – Immer nachts. – Dann hören Sie damit auf. Und seither hat Dostojewski keine Ärzte mehr deswegen konsultiert.
GABRIELE JANZ: Meine Frage an Sie beide ist: Was denken Sie, warum hat dieser Arzt ihm verboten zu schreiben?
WEICHELT: Spontan würde ich sagen, daß Schreiben eine Art Verausgabung ist, die zur Erschöpfung führt und einen so schwächt, daß man krank wird.
GABRIELE JANZ: Aber Verausgabung und Schwächung können in jedem Beruf passieren.
WEICHELT: Ja, gut, wenn Dostojewski 100-m-Läufer gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich immer wieder versucht, 100-m-Läufe zu machen.
GABRIELE JANZ: Würden Sie das auch so sehen?
KLEINSCHMIDT: Ich kann die Frage nicht beantworten, es wäre reine Hochstapelei, wenn ich es täte, denn ich weiß zu wenig über Epilepsie. Platonisch betrachtet könnte man vielleicht sagen: Im geistigen Universum war eine Stelle unbesetzt, nämlich die, daß einer die Epilepsie von innen schildert, und zwar ein Schriftsteller, ein Sprachmeister, ein Denker. Dostojewski ist gleichsam der Phänomenologe dieser Krankheit. So gesehen durfte er nicht aufhören zu schreiben. Diese Stelle im Kosmos durfte nicht unbesetzt bleiben. Und Dostojewski wollte sie um jeden Preis besetzen, selbst wenn er dabei draufgegangen wäre.
GABRIELE JANZ: Ich glaube, daß Dostojewski mit Herzblut geschrieben hat. Wenn man das ohne Hilfe und ohne psychotherapeutische Begleitung tut, setzt man sich unglaublich aus. Man ist äußerst verletzbar und vollkommen ungeschützt. Und das ist es, was bei Dichtern und Schriftstellern generell der Fall ist. Das haben die Ärzte nicht bedacht. Sie haben nur gedacht, daß es besser für Dostojewski sei, wenn er überhaupt nicht schriebe. Dann könnte er ein ruhiges Leben führen.
KLEINSCHMIDT: Dann wäre er an etwas anderem erkrankt. Alle künstlerische Produktion speist sich aus seelischen Spannungen, die im Leben nicht auflösbar sind. Schreiben ist eine Art ständiges Gespräch zwischen Ich und Welt, um die rumorenden Dinge zum Ausgleich zu bringen. Das muß man natürlich von Fall zu Fall betrachten. Fest steht nur eins: Wenn man einen genuinen Autor am Schreiben hindert, wird er ganz gewiß krank, davon bin ich überzeugt. Und leider wird er umgekehrt oft auch vom Schreiben krank, denn das Schreiben ist ein Opfergang. Schreiben verzehrt das Leben.
DIETER JANZ: Jetzt sagen Sie es. Das ist bei Dostojewski so gewesen. Und Dostojewski hat tatsächlich diesen Opfergang angetreten, er hat das Opfer auf sich genommen. Denn es kam ihm wirklich darauf an, das hat er oft ausgedrückt, sein Volk, seine Nation geistig zu re-novieren, mit einem religiösen Impetus zu befeuern und geradezu zu heiligen. Er war wie besessen davon. Das ist das, was sowohl Westler wie Kommunisten an ihm nicht verstanden haben. Es klang christlich, aber es war national.
WEICHELT: Von der Epilepsie gibt es auch im »Idioten« eindrucksvolle Schilderungen. Fürst Myschkin ist ja quasi eine Jesusfigur, die Epilepsie hat bei ihm Züge von heiliger Ekstase. Was haben Sie von Dostojewski über die Krankheit gelernt? JANZ: Das Epileptologische im engeren Sinne hat mich stark interessiert, weil es fabelhaft beschrieben ist, in einer Weise, wie man es kaum oder nie von einem Patienten beschrieben bekommt. Ich habe ja 1969 mein Opus magnum, »Die Epilepsien. Spezielle Pathologie und Therapie«, drei Lehrern gewidmet, meinem klinischen Lehrer, meinem wissenschaftlichen Lehrer und meinen Patienten.
WEICHELT: Also Vogel, Weizsäcker und …
JANZ: Dostojewski. Weil er wirklich als Patient unglaublich ausführlich, genau und überzeugend war, und weil seine Beschreibung der Epilepsiegestalten in seinem Werk zusammengenommen eine im Weizsäckerschen Sinne ideale Krankengeschichte ausmacht.
KLEINSCHMIDT: Herr Janz, Sie sind jetzt über neunzig Jahre alt. Ich bin so naiv zu glauben, daß das Alter auch Vorzüge hat. Zum Beispiel den Vorzug zunehmender Freiheit.
JANZ: Absolut, und zwar in großem Maße. Es erweitern sich die Räume in Richtungen, die man sich immer gewünscht hat. Natürlich treten auch Mängel ein. Für mich besonders der Mangel, daß keine Patienten mehr zu mir kommen. Die neuen Freiheiten sind nicht so sehr die des ausgiebigen Reisens und auch nicht des späten Aufstehens, denn längeres Schlafen ist im Grunde verlorene Zeit. Oft denke ich mir: Mein Gott, was habe ich für einen Reichtum an Möglichkeiten. Ich kann lesen, wonach mir der Sinn steht, habe Zeit, mit Menschen zu sprechen, Freunde zu besuchen und Freunde zu empfangen, habe Muße, mein Archiv zu ordnen, Editionen zu planen und zu realisieren, mich an unserem Garten zu erfreuen, einen guten Wein zu trinken, ich fahre dann und wann zu einer Tagung, halte hin und wieder einen Vortrag, gelegentlich ein Seminar mit Studenten hier in meinem Haus, und pflege im übrigen die behagliche Geselligkeit. Obgleich im Hintergrund stets der Gedanke steht, hätte ich nur die Freiheit der vielen Möglichkeiten und müßte nicht auch etwas Bestimmtes tun, weil es von irgendwoher von mir verlangt wird, bekäme ich ein schales Gefühl von diesem Reichtum. Wenn man aufhört, im Beruf zu stehen, und wenn man ein solches Alter erreicht hat wie ich, hat man zunehmend das Gefühl, man überlebt andere. Und es kommt vor, daß man sich fragt, wie man das rechtfertigen will. Und gerechtfertigt ist es ja nur, wenn man etwas Sinnvolles damit anstellt.
KLEINSCHMIDT: Nun gut, es gibt die Pflichten, auch die familiären Pflichten, die lassen wir jetzt mal beiseite, das ist ja selbstverständlich. Man tut sie übrigens gern. Sie sind der Grundstock des Sinnvollen, obwohl es, wie jeder weiß, auch sinnlose Pflichten gibt. Was wäre denn generell das Sinnvolle, sagen wir in der geistigen Beschäftigung? Daß man sich anregen läßt durch Bücher und Gespräche und auf diese Weise versucht eine produktive Existenz zu haben, daß man versucht, auch bei nachlassenden Kräften ein schöpferischer Mensch zu bleiben? Oder ist es mehr etwas Thematisches, nach dem Motto, vor zehn Jahren habe ich mich noch für dies und das interessiert, jetzt interessiert mich was ganz anderes. Was bedeuten würde, daß das Alter selbst neue, ihm gemäße Themen anbietet. Und daß sich je nach Lebensstufe neue Wahlverwandtschaften bilden, auch im Gespräch, das die Seele mit sich selbst führt.
JANZ: Produktiv bleiben ist ein guter Begriff, aber es muß nicht schriftstellerisch gemeint sein. Ich beneide im Augenblick meine Frau, die hier in der Kirchengemeinde in einem Kreis mitmacht, wo sie zu Geburtstagen ältere Leute besuchen und Gespräche mit ihnen führen. Und dann kommt sie zurück und erzählt mir davon. Wir haben Jahrzehnte in Nikolassee gewohnt, ohne irgendeine Notiz zu nehmen von den Menschen um uns herum, und das ändert sich jetzt, und ich werde auch mit einbezogen, und das ist schön. Und es bietet auch neue Möglichkeiten für mich, produktiv zu sein. Da sind ja Menschen, die krank werden, abbauen, man bekommt einerseits einen gewissen Spiegel vorgehalten, andererseits kann man aus seiner langen ärztlichen Erfahrung einiges freundschaftlich zum Gespräch beitragen.
KLEINSCHMIDT: Mir gefällt, was Sie sagen. Ich hatte im stillen gerade gedacht, daß Sie ein zur Freundschaft begabter Mensch sind. Und auch begabt zur Freundschaft mit sich selbst. Das merkt man ja. Das heißt ja nicht, daß Sie nicht gelegentlich auch Selbstzweifel haben, aber es heißt, daß Sie alles in allem mit sich auf gutem Fuße stehen.
JANZ: Ja, das ist richtig, auch was die Selbstzweifel betrifft. Ich vermittle diesen Eindruck, das weiß ich. Meine Mutter hat mich immer als Sonntagskind bezeichnet.
KLEINSCHMIDT: Und Sie sind eins?
JANZ: Ich glaube, ich bin eins. Mit der Freundschaft, da haben Sie ganz recht. Mein eigentlicher Urfreund ist vor acht Jahren gestorben. Wir hatten eine sehr enge Beziehung und gehörten über Jahrzehnte zu einem Kreis von Freunden. Einer davon war übrigens Wolfgang Frommel, der Stefan-George-Bewunderer und Gründer der Zeitschrift »Castrum Peregrini«. Dieser Kreis war maßstabsetzend, nicht nur in Sachen Freundschaft, auch was Gespräch und Geselligkeit betrifft. Ich habe mich immer daran zu halten versucht, auch Jüngeren gegenüber. Wenn ich auf meine alten Tage mit Studenten ein häusliches Seminar mache, fragen die mich hinterher, warum machen Sie das eigentlich? Die verstehen das zunächst gar nicht. Oder sie wundern sich. Und dann freuen sie sich. Und daran merke ich, daß es richtig ist, was ich tue. Ich bin erstaunt, daß es nicht mehr Ältere tun. Sich in Beziehung setzen zu Jüngeren und mit ihnen ins Gespräch kommen, ich weiß, daß ich das kann, und das würde ich auch gerne fortsetzen.
KLEINSCHMIDT: Das versteht man ja gut. Es ist auch nicht nur Selbstloses dabei. Ich bin nicht so alt wie Sie, aber weiß natürlich auch schon, daß das eigene Lebensgefühl austrocknet, wenn man nur mit Gleichaltrigen verkehrt. Man erlebt gar nicht mehr, zu welchen Sachen man eigentlich noch in der Lage ist. Aber wenn man mit Jüngeren in einem guten, offenen Verhältnis steht, dann entlocken sie einem Dinge, von denen man gar nicht ahnte, daß man die draufhat. Und so regen nicht nur die Jungen die Alten, sondern gelegentlich auch Gespräch mit Dieter Janz 201 die Alten die Jungen an, so daß auch sie Dinge sagen, die ihnen unter ihresgleichen nicht eingefallen wären. Die Existenz der Menschheit in Generationen, die Gleichzeitigkeit der Lebensalter, ist etwas sehr Schönes und Wertvolles, eine Konstruktion, die ihren Schöpfer ehrt. Leider kommen ihre produktiven Seiten unter dem allgemeinen Zeitdruck viel zu wenig zum Zuge.
WEICHELT: Als Sie von den Freiheiten des Alters sprachen, Herr Janz, habe ich als Gegenmodell an diejenigen denken müssen, die immer sagen, es gibt nichts Gutes am Alter. Alles, was man Gutes über das Alter sagt, ist Lüge. Das Alter – das sind Lasten, Trübsal und das Ende. Mich hat überrascht, daß Sie nicht von der Gesundheit gesprochen haben. Die ist doch bei vielen alten Menschen das Beherrschende.
JANZ: Das belastet mich etwas, daß Sie mich jetzt als Modell nehmen. Aber ich bin ja nicht allein, bei mir muß man meine Frau mit dazunehmen. Allgemein gesprochen: Dieses Lebensmodell, mit jemandem zusammen zu leben, auch wenn es privat öfters mal knirscht, aber eben zusammen zu sein und vor allem zusammen zu bleiben, also zu seiner Wahl zu stehen, das geht nur, wenn man, wie vorhin gesagt, mit sich selbst befreundet ist und bleiben will. Die Psychoanalyse sieht darin vielleicht ein Bezähmen der Angst des Scheiterns durch gewaltsame Positivität. Aber ich glaube nicht, daß es so ist. Man ist doch irgendwie geeicht auf ein gelingendes Leben. Man hat es schon als Kind erlebt, daß das Gelingen mehr Freude macht als das Mißlingen, und deshalb will man kein Scheitern. Aber es gibt so viele Fallen. Die Welt der Reize, erotische, sexuelle, jederzeit neu und lebendig, stets wirksam, von der Jugend bis ins hohe Alter, immer wieder wird man in die Lage versetzt, damit umzugehen und damit fertig zu werden. Das ist eine der Konstanten des Lebens. Und wenn es in den alten Kirchenliedern heißt, man soll Versuchungen widerstehen, dann weiß ich schon, wovon die Rede ist.
WEICHELT: Die ja auch ihren Sinn haben als belebendes Element.
JANZ: Ja, natürlich haben sie das. Aber je mehr einer erlebt, desto mehr wird er auch bedroht. Belebung und Bedrohung sind sich da sehr nah.
WEICHELT: Alles andere wäre ja reine Abschottung, Kasteiung und auch eine Form von Lebensschwäche.
KLEINSCHMIDT: Wir wollen nicht hoffen, daß Belebung und Bedrohung immer Hand in Hand gehen, sondern daß es auch Momente von Belebung gibt, die nicht bedrohlich sind. Oder? Ich habe im stillen gerade gedacht, aha, und wenn man dem Heiligen Geist begegnet? Das belebt doch, nicht wahr? Und ist das auch eine Bedrohung? Da könnten Sie natürlich antworten, allerdings, das wäre auch eine Bedrohung, und was für eine. So gesehen würde ich Ihnen zustimmen. Ich finde Ihre Formel sehr anregend. Es gibt einen Text von Botho Strauß, der heißt »Theorie der Drohung«. Da geht es um drohen, bedrohen, bedroht werden und bedroht sein. Das ist keine Theorie, sondern eine Erzählung. Und Sie haben uns jetzt eine »Theorie der Belebung« vorgeschlagen, der geradewegs eine »Theorie der Bedrohung« entspricht. Sie sind ein Freund dialektischer Pointen.
JANZ: Nun ja, einen ganz so ausschließlichen Charakter hat das vielleicht nicht, jedenfalls nicht in meiner Biographie. Und doch. Wenn es da ist, das Belebende, das Entflammende, geht es auch in Richtung des Bedrohlichen. Das ist so. Alles in Anspruch nehmen, sich von allem in Anspruch nehmen lassen, kann bedrohlich werden.
KLEINSCHMIDT: Es gibt das schöne Wort von Freud »die Seele altert nicht«. Würden Sie das auch so sehen?
JANZ: Ja, das ist sehr gut. Auch da gibt es viele schöne stellvertretende Erfahrungen, etwa wenn ich an meine Enkel denke. Das ist gegenseitig. Der eine, der verabschiedete sich heute morgen und sagte, also du weißt ja, wir brauchen uns.
KLEINSCHMIDT: Wie echte Schiffskameraden. Sie sind ja Marinesoldat gewesen.
JANZ: Ja, es hat dieses Flair des Umarmens. Die älteste Enkelin ist zwanzig. Sie ist ein sensibles und sympathisches Wesen, sehr sublimiert in ihrer ganzen Lebensart. Auf der anderen Seite sehr sportlich, sehr ehrgeizig. Für mich ist sie äußerst anziehend. Und mit ihr habe ich, wie soll ich sagen, so was wie eine poetische Beziehung. Ich sage ihr, sie solle mir doch mal Gedichte schicken, ein oder zwei von einem italienischen Dichter, den sie liebe. Und dann hat sie mir Gedichte geschickt, wunderschöne Sachen. Ich habe mühsam eine Übersetzung gemacht. Die habe ich ihr geschickt und dazu gesagt, nun schreib mir mal, wie du das übersetzen würdest. Sie ist zweisprachig. Da hat sie eine Übersetzung gemacht, die viel besser war als meine, sehr viel besser, das habe ich ihr auch gesagt. So was macht mich glücklich. Denn da ist keine Bedrohung dabei. Das sind eben, würde ich sagen, poetische Beziehungen.
KLEINSCHMIDT: Das ist eine sehr gute Konkretisierung. Die Kategorie des Belebenden hat jetzt eine erste Unterabteilung bekommen, die poetischen Belebungen, die sind nicht bedrohlich. Erotische sind bedrohlich. Auch philosophische können bedrohlich sein, oder? Ich weiß nicht, ob man mit neunzig noch mal seine Philosophie wechselt. Halten Sie so was für möglich?
JANZ: Ich glaube es nicht. Ich glaube nur, daß man seine Philosophie im Alter besser durchschaut.
KLEINSCHMIDT: Es gibt einen Satz von Ernst Jünger, der sinngemäß lautet: Keiner stirbt, bevor er nicht seine Aufgabe erfüllt hat. Ich könnte also auf die Frage, warum Sie so alt geworden und dabei so frohgemut und lebensverbunden geblieben sind, antworten: weil Sie weiterhin eine Aufgabe haben, die Sie gerne erfüllen, die Sie nicht als Last empfinden, die Sie nicht loslassen. Obwohl Sie inzwischen vieles losgelassen haben, Patienten, Assistenten, Studenten, Vorlesungen, Seminare, Vorträge – das Loslassenkönnen gehört ja zur Freiheit. Es gibt viele Menschen, die das nicht können und darüber unglücklich werden, denn loslassen müssen sie ja doch irgendwann. Das ist schon eine große Fähigkeit, nicht nur im Beruf, auch im Leben. In der Biographie eines jeden gibt es das Kapitel Trennungen, und Trennungen sind meist ein erzwungenes Loslassen, ein hartes, schmerzhaftes. Beim freiwilligen Loslassen kommt es auf den Zeitpunkt an, nicht zu früh, nicht zu spät. Man kann gewiß leichter loslassen, wenn man das Gefühl hat, daß die einem anvertraute Sache in gute Hände übergeht. Sein Verbundenheitsgefühl kann man ja nicht einfach abwerfen wie einen abgetragenen Mantel, wenn man sich Jahrzehnte engagiert hat. Und das wäre auch kein gutes Loslassen, wenn man sagt: Nach mir die Sintflut!
WEICHELT: Wenn man Jüngers Satz zum ersten Mal hört, erschrickt man ein wenig, weil er etwas von Schicksalsergebenheit hat. Aber vielleicht kann man ihn auch so verstehen, daß man die Aufgaben als selbstgestellte begreift, anders gesagt, daß man sich immer wieder selbst Aufgaben stellen muß. Und erst wenn das aufhört, ist es mit dem Leben vorbei.
JANZ: Jetzt haben wir die Frage, wie man die Unsterblichkeit erlangt, beantwortet. Es ist ganz einfach: Man muß sich selbst Aufgaben stellen. Schön wäre es ja. In Wahrheit ist es so, daß die Aufgaben auf einen zukommen. Und wann das endet, liegt nicht in unserem Beschluß.
SINN UND FORM 2/2011, S. 184-204
Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen (...)
LeseprobeKleinschmidt, Sebastian
LOGBUCH. LETZTER EINTRAG
Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen Schiffes, um im Auftrag eines ehrwürdigen Reeders, der Berliner Akademie der Künste, dafür zu wirken, daß nicht Stürme und nicht Flauten, nicht Untiefen und nicht Klippen dem schönen Segler die Fahrt nehmen, dann geht einem in dem Moment, wo man abmustert, weil es Zeit geworden ist, daß Jüngere das Ruder übernehmen, so manches durch den Kopf. Der Wechsel der Epochen, das Schiff und seine Kapitäne, ihr nautisches Geschick, die Besatzungen, aber auch das Personal der Werften und der Reederei. Nicht zu vergessen das Entscheidende, die Schriften der Autoren, das eigentliche Frachtgut, und die unbekannten Leser, für die es bestimmt ist und die es alle zwei Monate in Empfang nehmen. All denen, die mit Herz und Verstand dafür gearbeitet und gestritten haben, daß Sinn und Form seit fünfundsechzig Jahren seetüchtig ist, sei vielmals gedankt.
Das wichtigste, was Segelschiffe brauchen, ist Wind. Doch gerade der läßt sich nicht kommandieren. Man muß ihn aufspüren. Aufmerksamkeit und Umsicht, Ausdauer und Geduld sind gefragt, variable Routen, bewegliche Rahen, stabile Takelage. Und noch einiges mehr. Der Wind – Seeleute wissen das – weht, wo er will. Es ist wie mit dem Geist. In diesem Sinne sind alle Fahrensmänner Theologen.
Die Fahrten, die Fährnisse – das ist eine lange Erzählung. Zu lang für dieses kleine Wort des Abschieds. Doch eins noch will ich sagen: Es war ein großes Abenteuer, das Abenteuer meines Lebens.
SINN UND FORM 4/2013, S. 621
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden (...)
LeseprobeKleinschmidt, Sebastian
Der Essay als Raum freien Denkens.
Gespräch mit Basil Kerski und Adam Zagajewski
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann sind Sie Adam Zagajewski das erste Mal begegnet?
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Das muß Anfang der neunziger Jahre im Literarischen Colloquium am Wannsee gewesen sein.
KERSKI: Kannten Sie damals schon das Werk von Zagajewski?
KLEINSCHMIDT: Nein, leider nicht. Es war eine Zufallsbegegnung, aber sie mündete schon bald in eine fruchtbare Zusammenarbeit. 1994 erschienen Adams erste Gedichte in Sinn und Form und 1995, verteilt auf zwei Hefte, der umfangreiche Essay »Zwei Städte«, ein poetisch-philosophischer Versuch über die polnische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht immer weckt ja die Begegnung mit einem Autor die sofortige Neugier auf sein Werk. In meinem Elternhaus verkehrten viele Schriftsteller, ich habe sie schon als Kind kennengelernt, und in einigen Fällen führte das sogar dazu, daß ich ihre Bücher bis heute nicht gelesen habe. Meine Begegnung mit Adam hat sofort mein geistiges Interesse an seinen Sachen geweckt.
KERSKI: Haben Sie bei Ihrer ersten Begegnung gespürt, daß Sie einer Generation angehören? Hat das zu einem Gefühl der Nähe geführt?
KLEINSCHMIDT: Wir sind vom Alter her nur drei Jahre auseinander, das fällt nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch zunächst wurden mir eher die Unterschiede deutlich. Adam ist eben ein polnischer Intellektueller, und die polnischen Intellektuellen waren den DDR-Intellektuellen in mancher Hinsicht eine Epoche voraus. So gesehen schien mir Adam doch einer anderen Generation anzugehören.
KERSKI: Herr Zagajewski, wie haben Sie die erste Begegnung mit Sebastian Kleinschmidt erlebt? Sie, ein damals in Paris lebender, kosmopolitischer polnischer Dichter, und er, ein neugieriger Ostdeutscher, der gerade seine ersten Erfahrungen mit der freien Welt gesammelt hatte?
ADAM ZAGAJEWSKI: In Sebastian Kleinschmidt bin ich zum erstenmal jemandem aus der DDR begegnet, der gegenüber Phänomenen, die dort nicht präsent waren, eine besondere Neugier hatte. Diese edle Neugier spiegelt sich in Sinn und Form wider. Die Quelle unserer Freundschaft war nicht das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation. Das Gemeinsame war das Interesse an Religion und Theologie, das aber nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hatte. Beide hielten wir ein wenig Abstand zum Zeitgeist, beide waren wir ein wenig abseits der Mode.
KERSKI: Als mir Mitte der neunziger Jahre Sinn und Form in die Hände fiel, war ich angenehm überrascht vom starken mitteleuropäischen Profil der Zeitschrift: ein Periodikum auf der Suche nach verschütteten literarischen und philosophischen Traditionen in Europa, eine Redaktion, die in alle Himmelsrichtungen schaute, nicht nur zu den westlichen Kulturmetropolen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den östlichen Nachbarn war eine in der damaligen deutschen Kulturlandschaft eher selten anzutreffende Haltung. Herr Kleinschmidt, wie ist es nach 1989 – gegen den damaligen Trend in Ostdeutschland – zu dieser erstaunlichen Präsenz der mittel- und osteuropäischen Literatur in Sinn und Form gekommen?
KLEINSCHMIDT: Sinn und Form ist von 1949 bis 1989 philosophisch ganz auf den ja nicht nur unehrenhaften Pfaden der sozialistischen Idee und einer marxistisch verstandenen Kultur gewandelt, freilich mit größerer innerer Freiheit, mehr Phantasie, weniger Engstirnigkeit als vergleichbare Zeitschriften in der DDR. Zum offiziellen Vokabular wurde zwar Abstand gehalten, die geistige Zugehörigkeit zum kommunistischen Gedankenkreis aber nicht in Frage gestellt. Nach Jahren einer schleichenden Erosion erlebten wir dann 1989 quasi über Nacht und mit reißender Schnelle die institutionelle Implosion des ganzen staatssozialistischen Begriffsgebäudes. Das Besondere daran war: Hier begann eine Revolution einmal nicht mit der Illusion, sondern mit der Desillusion. Als die Illusion auf dem Tiefpunkt und die Desillusion auf dem Höhepunkt war, brach der Status quo in sich zusammen. Das Scheitern der Utopie, die Niederlage der Idee setzten eine gewaltige Erfahrung frei, übrigens eine Erfahrung, die uns einen gewissen Vorsprung vor den westdeutschen Generationsgenossen eintrug, denn die hatten das alles nicht am eigenen Leibe erlebt. Auf einmal stand die Erfahrungsfülle des Ostens gegen die Erfahrungsarmut des Westens. Das veränderte nicht nur unser Denken und unsere Sprache. Wir mußten uns gänzlich neu orientieren. Einen Mentor, der uns den rechten Weg gewiesen und das Ziel gesteckt hätte, gab es nicht. So gerieten wir in eine Art philosophische Unruhe, in eine schöpferische Verfassung. Und wer in schöpferischer Verfassung ist, hat ein untrügliches Gefühl dafür, wo der Geist weht und wo nicht. Also fingen wir an zu suchen, aber es war keineswegs so, daß wir wußten, wonach wir suchten. Erst als wir fündig geworden waren, wurde uns klar, was wir gesucht hatten. Das aber, was wir fanden, war nicht das, was im Westen gerade Erkenntniskonsens war.
KERSKI: Ich frage nach Sinn und Form, um jenen Geist einzufangen, der meiner Ansicht nach auch für das essayistische Werk von Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt prägend ist. Was die Attraktivität der Zeitschrift nach 1989 ausmacht, ist ja nicht nur das sichere Gespür für herausragende Autoren und Denker, sondern auch die im Westen verschollene Neugier auf das Metaphysische und Theologische, also eine Haltung, die in den neunziger Jahren in der alten Bundesrepublik unter Intellektuellen eher verpönt war. Metaphysik, religiöse Fragen, das scheint mir eine wichtige Verbindungslinie zwischen Ihnen beiden zu sein.
KLEINSCHMIDT: Ich komme aus einem evangelischen Pfarrhaus und habe die religiöse Sphäre schon als Kind kennengelernt. Mein Vater war Domprediger in Schwerin, Linkslutheraner und bekennender Sozialist. Durch ihn konnte ich erfahren, wie bestimmte Dinge, die für die meisten getrennt waren, doch zusammengehörten. Wer von Berufs wegen mit Sinnfragen konfrontiert wird – und als Chefredakteur einer Zeitschrift, die Sinn und Form heißt, wird man damit konfrontiert –, der kann der Theologie nicht aus dem Weg gehen, denn ohne Theologie kommt man hier nicht voran, wie immer man auch zu ihr stehen mag. Man kann sogar in ein produktives Verhältnis zur Theologie gelangen, wenn man gänzlich unreligiös ist – was ich von mir gar nicht sagen würde.
ZAGAJEWSKI: Für mich sind Sinn und Form und Sebastian Kleinschmidt nicht so leicht voneinander zu trennen. Sinn und Form ist für mich ein Haus, in dem ich zwar nicht wohne, aber es ist eins der wenigen Häuser in der Welt, die ich kenne. Es gibt heute – vielleicht besonders in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland – falsche Trennungen. Auf der einen Seite hat man das sogenannte fortschrittliche Lager und die linksliberale Meinung, mit ihrer ironischen Literatur, die überhaupt kein metaphysisches Interesse hat; und auf der anderen Seite stehen die sogenannten Rechten. Man weiß nie, was ›diese Rechten‹ denken. Sind sie nun getarnte Faschisten oder nicht? Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber sie spiegelt doch die Klischees gut wider. Sinn und Form repräsentiert meiner Ansicht nach einen Denkstil, der diese falsche Trennung zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch ›verdächtigen‹ Denken auf der anderen Seite aufhebt. Sie repräsentiert quasi die Mitte. Das ist großartig. Ich sehe hier ein Denken, das auf der Suche ist, das den Geheimnissen der Welt nachgeht, das zu keiner festen Form geronnen ist, das gewillt ist, klischeehafte Vorstellungen von geistigen Haltungen, geistiger Reizbarkeit abzuschaffen.
KERSKI: Herr Kleinschmidt, eine wichtige Inspirationsquelle für Sie ist das Werk von Hans-Georg Gadamer. Eine der ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Sie 1990 zu Gadamer nach Heidelberg. Ihr Gespräch mit ihm erschien 1991 in Sinn und Form. Kann man dieses Gespräch als programmatisch für die Aufbruchszeit Ihrer Zeitschrift nach der deutschen Vereinigung betrachten?
KLEINSCHMIDT: Adam sprach von der Mitte, um den geistigen Standort von Sinn und Form zu lokalisieren. Gadamer verkörpert für mich den Denktypus der offenen Mitte und des unkonventionellen Mittlers. Er ist ein Beispiel dafür, daß die Dialektik der mesotes, wie Aristoteles das nannte, nicht nur politisch vernünftiger, sondern auch geistig interessanter ist als die Extreme links und rechts davon. Immer gilt das nicht, aber in Gadamers Fall gilt es. In der Begegnung mit diesem außerordentlichen Mann habe ich oft genug erlebt, daß die Mitte, will sie anregend, fruchtbar und ausgleichend sein, die Berührung mit abweichenden, gegensätzlichen, ja gefährlichen Gedanken nicht scheuen darf. Dazu braucht es Souveränität, Toleranz, innere Freiheit, Liberalität und, wie an ihm zu sehen, philosophische Gelassenheit. Wenn dann auch noch Humor dazukommt, kann eigentlich nichts passieren. Sobald ich Gadamer lese, erfahre ich das Paradox der Zentrierung: mein Denken kommt in Bewegung, und ich selbst komme zur Ruhe. Ich werde in meine eigene Mitte gestoßen oder, besser, gelockt.
KERSKI: Ihre Faszination für Gadamer haben Sie in ihrem Essay »Gegenüberglück « beschrieben. Unter diesem Titel ist 2008 auch eine Sammlung Ihrer Essays und Gespräche bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Den Gadamer-Beitrag kann man nicht nur als Annäherung an die hermeneutische Philosophie, sondern auch an die Gattung des Essays lesen. Sie charakterisieren Gadamers Verstehenslehre als eine Philosophie der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, der Neugier auf anderes, des wechselseitigen Lernens im Gespräch. Gadamers unvergleichliche Art, Gespräche zu führen, sein Verknüpfen von Erzählen, Reflektieren, Anspielen und Vertiefen, von Ernst und Ironie, beschreiben Sie voller Bewunderung. Alle diese Elemente könnte man auch als schöne und unerläßliche Bestandteile einer Kunst des Essays ansehen.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 508-518
Der polnische Dichter Adam Zagajewski hat vor vielen Jahren ein langes, wehmütiges Gedicht mit dem Titel »Elektrische Elegie« geschrieben. Es (...)
LeseprobeKleinschmidt, Sebastian
DER PFEIL DES LEBENS UND DER PFEIL DER WERKE
Laudatio zum Günter-Eich-Preis auf Jürgen Becker
Der polnische Dichter Adam Zagajewski hat vor vielen Jahren ein langes, wehmütiges Gedicht mit dem Titel »Elektrische Elegie« geschrieben. Es beginnt so:
___Leb wohl, deutsches Radio mit dem grünen Auge,
___du schwere Kiste, zusammengesetzt – fast –
___aus Körper und Seele (deine Lampen glühten
___lachsfarben, rosig, wie das tiefe Ich
___bei Bergson).
______Durch den dicken Stoffbezug über dem
___Lautsprecher (mein Ohr preßte sich an dich wie ans
___Gitter des Beichtstuhls) hatte einst Mussolini
______________________________geflüstert,
___Hitler geschrien, Stalin etwas ruhig erklärt,
___Bierut gezischt, Gomulka ohne Ende geredet.
___Dennoch wirft dir niemand Verrat vor, Radio,
___nein, deine einzige Sünde war der unbedingte
___Gehorsam, die zärtliche Treue zu den Megaherzen:
___Wer kam, wurde gehört, wer sendete –
___empfangen.
Zagajewskis Großvater war Germanist, er besaß einen Rundfunkapparat. Von diesem deutschen Erbstück erzählen die Verse.
Auch Jürgen Becker könnte vom Radiohören erzählen, ebenso elegisch, ebenso erinnerungstreu. Und er hat 2003 in »Schnee in den Ardennen« davon erzählt: »Jetzt sind es vier Jahrzehnte her, daß ich die beiden Kammern bezog, die früher der Heuboden waren. Manchmal drehte ich abends am Radio, ein kleiner cremefarbener Philips, eines der ersten Nachkriegsgeräte. Einmal blieb ich im Bereich der Langwelle, wo sonst keine Sender zu empfangen waren, an einer weiblichen Stimme hängen, die Zahlen aufsagte, in unregelmäßiger Reihenfolge, vorwärts und rückwärts, zwischen eins und zehn. Es war eine merkwürdig tonlose Stimme, die mechanisch, fast maschinenhaft in einem gleichbleibenden Rhythmus sprach. Auffallend war, daß sie die Zahl fünf mit einem eingefügten e artikulierte: fünnef. Irgendwann brach die Stimme ab, und man hörte nur noch das kaum merkliche Rauschen des Nichts, das am Ende der Skala beginnt. Mehrere Abende lang, in der Stunde vor Mitternacht, wartete ich auf die geheimnishafte Stimme, die sich nicht regelmäßig meldete; dann wohnte ich wieder woanders und dachte nicht mehr daran.«
Ist das nicht auch eine elektrische Elegie? Nur diesmal in erzählender Prosa, doch nicht weniger poetisch.
Der Rundfunk, gab Jürgen Becker einmal zu Protokoll, habe ihn seit Kindertagen begleitet, zuerst als Problem in der Ehe seiner Eltern. Seine Mutter war lebensfroh, hörte gern Musik und wünschte sich immer ein Radio. Sein Vater, ein unmusikalischer Mensch, konnte damit nicht viel anfangen. Er erzählte ihm eine Anekdote aus den zwanziger Jahren: Im Haus der Schwiegereltern, in dem seine Eltern wohnten, war es üblich, daß man abends zusammensaß und plauderte. Als der Schwiegervater sich ein Radiogerät zulegte, hörten die Gespräche auf. Plötzlich saß alles um den Apparat herum, die Sendungen waren damals noch schwer zu verstehen. Keiner durfte in der Kaffeetasse rühren, weil das Krach machte. Für seinen Vater sei diese Erfahrung ein Schock gewesen: das Ende der Gespräche.
Das hätte auch eine Urszene in Jürgen Beckers Biographie sein können. In seinem Buch »Im Radio das Meer« steht der Satz: »Seine Kindheit war eine Schule des Schweigens. Vielleicht, sagt er, ist das der Grund, warum er nie habe richtig erzählen können.« Aber könnte man nicht in der Schule des Schweigens auch eine Schule des Hörens sehen? Was wir aus Beckers Werk kennen, das Klangkino der Sprache, die akustische Landschaft, den Hall und Schall der Geschehnisse, Facetten aus der Geschichte der Geräusche, Stille und Sprechen, die Vielstimmigkeit, in uns und außer uns, Stimmen aus der Ferne, Stimmen, die sich widersprechen, den schönen Vers »die Richtung des Windes entscheidet, / welchen Geräuschfilm die Nacht durchs Zimmer zieht«, all das war, ehe es durch die Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre eine Bestätigung fand, bereits den Erlebnissen des Kindes inskribiert, es war, bevor es Einzug hielt in Jürgen Beckers Schreiben, zu einer sein Bewußtsein prägenden Selbsterfahrung geworden.
Und das nicht nur auf die Familie bezogen. Im Interview erzählte er, daß er als kleiner Junge intensiv das Kriegsgeschehen verfolgte. Es kamen ständig Sondermeldungen mit den Siegen der Wehrmacht. Das Radio lieferte ihm die Kriegsberichterstattung. Da gab es Berichte von der Front mit Kampfgeräuschen, heulenden Stukas, die er fasziniert hörte. Zugleich hatten sie den »Drahtfunk«, der über den Telefonanschluß lief. Der für Thüringen zuständige Sender informierte dort über die Luftlage; sie erfuhren also, wo ein feindlicher Bomberverband im Anflug war. Der Drahtfunk, erinnert er sich, »war geisterhaftes Radio. Man hörte erst ein merkwürdiges tickendes Geräusch und dann die monotone Stimme der Sprecherin. Natürlich habe ich auch die sogenannten Feindsender entdeckt. Als ich eines Abends am Radio spielte, fand ich sogar zwei dieser Sender: BBC London und Radio Luxemburg. Da bekam man Meldungen mit, die man im großdeutschen Rundfunk nicht hören konnte. Ich konnte diese Sender nur heimlich hören, mein Vater durfte es nicht erfahren. Mein Vater hörte aber auch heimlich, was ich wiederum nicht wissen durfte […] Mein Verhältnis zum Radio ist früh durch Geheimnisse und Verbotenes bestimmt worden.«
Die Welt des Hörspiels tat sich damals für den Heranwachsenden noch nicht auf. Das geschah erst nach dem Krieg, Anfang der fünfziger Jahre, als er wieder in Köln war. Jetzt kam es auch zur Begegnung mit den Hörspielen von Günter Eich. Zu einem Gedenkbuch für ihn hat Jürgen Becker 1973 ein Gedächtnisgedicht beigesteuert. Es vergegenwärtigt eine Frühstücksszene in der Westberliner Akademie der Künste. Zeilen aus Eichs Versen und Satzfragmente aus dem Gespräch mit ihm durchziehen den Text. Das Gedicht offenbart Respekt und Distanz und auch etwas von dem, was Sibylle Cramer später ein Gegenprogramm genannt hat.
Vom Hörspiel war in dem Gedicht nicht die Rede. An anderer Stelle aber hat sich Becker auch zum Radioautor Eich geäußert: »Wenn ich von Günter Eich gelernt habe, welche Kraft der Imagination dem Hörspiel eigen sein kann, dann habe ich zugleich gelernt, daß es nicht unbedingt nötig ist, dem Hörspiel eine Szene, eine unsichtbare Bühne einzurichten, sondern es allein im sprachlichen Vorgang entstehen zu lassen.« Auch hier Respekt und Distanz, auch hier ein Stück Gegenprogramm.
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SINN UND FORM 2/2014, S. 256-264, hier S. 256-258
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Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich (...)
Kleinschmidt, Sebastian
Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit
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Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich spreche von der heraufziehenden Klimakrise, vom drohenden Versiegen des Golfstroms, von starken Stürmen, langen Dürren, großen Überflutungen, vom Auftauen der Permafrostböden, vom Schmelzen des polaren Eises und dem alptraumhaften Ansteigen des Meeresspiegels. Hier gewinnen die Voraussagen – nicht von Sehern, sondern aus der Forschung (der Schriftsteller Ulrich Horstmann nennt sie »das verhängnisorientierte wissenschaftliche Hochrechnungswesen«) – inzwischen tatsächlich den Charakter apokalyptischer Prophezeiungen. Und werden an manchen Orten schon Wirklichkeit und Wahrheit. Ende Juni 2021 wurden in der Ortschaft Lytton in der westkanadischen Provinz British Columbia sage und schreibe 49,6 Grad Celsius im Schatten gemessen. Drei Tage später wurde das Dorf von einer Feuerwalze überrollt. Die Einwohner mußten fliehen, Hals über Kopf. So gut wie alles, was sie besaßen, wurde ein Raub der Flammen. Komplett verkohlte Häuserreihen und Straßenzüge, der Ort zu neunzig Prozent zerstört.
Und drei Wochen darauf das Gegenstück in Deutschland. Zwei Tage Starkregen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Wassermassen haben zwei kleine Flüsse, die Ahr und die Erft, in rasender Geschwindigkeit auf Rekordpegel ansteigen lassen, zum Überlaufen gebracht und zu gewaltigen Überschwemmungen und Erdrutschen geführt, die besonders die Orte Ahrweiler und Erftstadt schwer in Mitleidenschaft gezogen haben. Mehr als hundertachtzig Tote, verseuchter Schlamm, weithin ruinierte Häuser, Straßen, Bahngleise, Brücken, Strom- und Gasleitungen, Fabriken und Krankenhäuser sind die Folge. Nicht wenige, die in Kanada das Feuerinferno durchmachten, werden gedacht haben, daß das die Anfänge hyperletaler Hitzewellen sind. Und nicht wenige, die in Deutschland das Wasserinferno erlitten, werden gedacht haben, daß so moderne Sintfluten aussehen. Und daß das eine wie das andere ein Zeichen dafür ist, daß unser Aufenthalt auf Erden ein tragisches Ende nehmen könnte.
Apokalypse heißt Enthüllung, Offenbarung. Was offenbart sich hier? Der Dichter und Theologe Johann Gottfried Herder hat einmal in einem hochfliegenden Wort vom Menschen als dem ersten Freigelassenen der Schöpfung gesprochen. Heute erst zeigt der Satz seinen diabolischen Doppelsinn. Der Freigelassene der Schöpfung, der aus ihr Herausgetretene, der nicht mehr an sie Gebundene. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, entpuppt sich als Parasit der Erde, als Irrläufer der Evolution. Und die Erde schickt sich an, ihn abzuwerfen.
Wir kennen alle die berühmten Verse aus Bertolt Brechts Exilgedicht »An die Nachgeborenen«, geschrieben zwischen 1934 und 38 im dänischen Svendborg: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Natur als Gegenstand der Poesie, so die politische Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird. Und nun scheint es so zu kommen, daß gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird, ein Unheil, das nicht durch die Natur selbst, sondern durch menschliche Einwirkung auf sie mitverursacht ist. Gespräche über Bäume werden immer öfter zu Gesprächen über brennende Bäume. Auf griechischen Inseln werden dieser Tage Kirchenglocken geläutet, um Menschen zu evakuieren. Im Nu wird dort ein Sommerwald zu Winterwald – nur ohne Schnee und Kälte. Statt dessen Asche und verbrannte Erde.
Augenscheinlich befindet sich der Metabolismus zwischen Mensch und Natur an einem schicksalhaften Wendepunkt. Wir leben mehr und mehr in der gleichsam mythischen Befürchtung, daß es mit der Duldsamkeit der Natur zu Ende geht, daß uns Wetter und Himmel dafür strafen werden, daß wir im Aussaugen, Verschmutzen und Vermüllen, im Versiegeln und Vergiften, im Bebauen und Besiedeln der Erde, kurz im herrschsüchtigen Industrialismus der Massenzivilisation zu weit gegangen sind.
In der heutigen Wirtschaft, so Klaus Michael Meyer-Abich, der 2018 verstorbene Naturphilosoph, tun die Menschen so, als seien sie irgendwann als interplanetarische Eroberer auf die Erde hinabgeschwebt, um es sich dort eine Zeitlang möglichst gutgehen zu lassen, und als könnten sie, wenn nichts mehr zu holen ist, auf demselben Wege wieder verschwinden.
Flucht nach vorn, könnte man das nennen, und Milliardäre wie Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk sind im Begriff, sie exklusiv anzutreten. Damit sind wir mittendrin im Sorgenzentrum der Gegenwart. Hat das 20. Jahrhundert – in Gestalt von Hitlerismus und Stalinismus – das Grundvertrauen in die menschliche Zivilisation erschüttert, droht das 21. Jahrhundert auch noch das Grundvertrauen in die Natur zu zerstören.
Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, daß ein neues Erdzeitalter begonnen hat, das Anthropozän, und daß bestimmte Reaktionen der Natur erstmals eine Folge menschlicher Rückwirkungen auf sie sind. All diese Dinge und besonders die Erderwärmung und was aus ihr folgt machen mehr und mehr Angst. Ist sie berechtigt? Ich fürchte – nüchtern betrachtet und ohne die Maske der Kassandra anzulegen –, ja.
Über Angst wird ungern gesprochen, denn sie scheint, da mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, den Menschen zu lähmen und zu erniedrigen. Die Leute denken, Angst sei etwas für Feiglinge. Doch dem ist nicht so. Es gibt auch einen Mut zur Angst. Angst ist keine Störung, sie wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umgebung geweckt, sie ist eine instinktive Form der Wahrnehmung von akuter und von künftiger Gefahr. Und so stellt sich – wir sind ja hier unter dem Dach der Kirche – die Frage: Sollte man sie, die Angst, nicht zum Angelpunkt einer dem Ernst der Lage angemessenen Spiritualität machen? Von Gottesdiensten, die das Bewußtsein der Bedrohung schärfen? Denn ohne Angst, ohne das Vor- und Mitwissen der Angst, ohne ihre Nähe zur Wahrheit sind wir, um an ein Wort des Philosophen Günther Anders zu erinnern, »apokalypseblind«. Doch höre ich schon den Einspruch der Theologen, Angst dürfe niemals die Grundlage des Glaubens sein. Christen bauen auf Hoffnung, auf Vertrauen in Gott als Fundament der Hoffnung, und sei es am Ende die Hoffnung verzweifelt Hoffender.
Doch vergessen wir nicht, daß die alte, vertraute christliche Hoffnung nicht mit der diesseitigen Apokalyptik verbunden war, sondern mit der biblischen. In der Heiligen Schrift gibt es mindestens zwei davon, im Alten Testament das Buch Daniel und im Neuen Testament die Offenbarung des Johannes. In beiden artikulieren sich nicht nur bildmächtige Gesichte göttlich beorderter Schrecken zum einbrechenden Ende der bisherigen Welt, des alten Äon, sondern auch Gesichte einer messianischen Rettung, einer neuen Welt, des neuen Äon. Die Johannesoffenbarung, geschrieben in der Zeit römischer Christenverfolgung, endet mit der Vision des himmlischen Jerusalem, das Buch Daniel, dessen Geschehnisse sich während der babylonischen Gefangenschaft der Juden ereignen, endet mit der Vision des aus den Wolken herniederschwebenden Menschensohns und der Vorhersage, daß die Gerechten des Volkes Israel aus den Gräbern auferstehen werden zu ewigem Leben.
»Der Zweck dieser Literatur«, so der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide ganz unpathetisch, »ist zweifach: Trost zu spenden über das Elend heute – mittels der Belehrung über das Unheil von morgen, dem das Heil von übermorgen unverzüglich folgen muß.«
Was aber wenn – wie in der säkularen Apokalyptik – keine Rettung, kein Heil von übermorgen verheißen wird? Wenn folglich die Erwartung dunkler Fatalität jeden Versuch, auf religiöse Weise an neue Anfänge zu glauben, unausführbar macht? Gleichsam das Kreuz ohne Auferstehung, Karfreitag ohne Ostersonntag. Dann stünden wir an einem Punkt, wo es nirgendwo transzendenzverbürgte Hoffnung mehr gäbe. Und wo allein die Angst der irdischen Wesen bliebe.
Im Umgang mit Angst sind uns drei Reaktionen vertraut, ja wohlvertraut, verkleinern, vergrößern oder bannen. Angst verdrängen macht blind für Gefahr. Angst schüren macht zittern bei Gefahr. Angst bannen macht stark in Gefahr. Ins Politische gewendet: Angst ignorieren führt zu Illusionismus. Angst schüren zu Machiavellismus. Angst bannen zu Wachsein und Besonnenheit.
Das »führt zu« gilt auch andersherum: Ignoranten – nach dem Motto, dieser Kelch wird schon an uns vorübergehen – drängen auf Angstvergessen; Machiavellisten – nach dem Motto des Namensgebers »Angst ist die solideste Grundlage, um andere für sich einzunehmen« – drängen auf Angstschüren; Wache und Besonnene – ganz ohne Motto – drängen auf Angstbannen.
Als Gebot der praktischen Vernunft bleibt nur das Dritte, die Mitte zwischen den Extremen, nämlich das kluge, pragmatische Bannen der Angst. Ansonsten wird sie uns in ihren Bann schlagen. Soll heißen, daß wir uns von ihr überwältigen lassen. Wir müssen in unserer Lage Angst sowohl respektieren als auch bezwingen. Nicht nur um der Schreckensspirale des Prognosen-Alarmismus zu widerstehen, sondern auch dem Doom Scrolling. Doom, englisch, steht für Untergang, Scrolling für das Verschieben von Bildausschnitten auf den Displays unserer Smartphones. Doom Scrolling ist der obsessive Drang, unentwegt düstere, ja dystopische Nachrichten im Netz zu konsumieren. Es befeuert das, was man inzwischen weltweit Climate Anxiety, Klima-Angst, nennt. Doch auch dem Gegenteil, der wenig ratsamen Gelassenheit, gilt es zu trotzen, der Vogel-Strauß-Mentalität. Der Dichter Hanns Cibulka, der nicht aufs Warten setzen wollte, schrieb schon Anfang 2000: »Obwohl die Temperaturen nur langsam steigen, fühlen wir bis in die Fingerspitzen die Bedrohung. In allen Dingen wächst verdeckt die Angst.« Aber wie und mit welchen Mitteln will man sich dem unheilschwangeren Ganzen, von dem wir schon seit drei Jahrzehnten wissen, überhaupt entgegenstellen? Jetzt spreche ich nicht von Aktivismus, nicht von Politik, nicht von Wissenschaft, nicht von Maßnahmen der sogenannten Klimarettung wie der Reduzierung des anthropogenen Anteils am CO2-Gehalt der Atmosphäre und der daran geknüpften Hoffnung, den Treibhauseffekt und damit die Erderwärmung zu stoppen. Die Angst, die tückische, sagt uns ja gerade: Das Drama ist nicht aufzuhalten, was auch immer wir dagegen unternehmen. Die Gewichte, die zu stemmen wären, sind zu groß. Kaum daß es uns gelingen werde, den Lauf der Dinge zu verzögern, von Richtungsumkehr nicht zu reden. Der alles andere als apokalypseblinde Rudolf Bahro meinte einmal: »Es ist, als wollten wir uns mit Tonnen Blei an den Füßen aus einem Schiffbruch retten.«
Hier stellt sich nun erneut die Gottesfrage, eine Frage, von der so viele dachten, daß sie längst hinter uns liege. Sie geht übrigens auch Agnostiker und Atheisten etwas an. Selbst wenn wir nichts von der Angst wüßten, eines wissen wir: Angst lehrt beten. Auch diejenigen, die zuvor noch nie gebetet haben. Und nicht nur das. Beten ist auch ein wirksames Mittel dagegen. Die Angst drückt von außen nach innen, das Gebet löst von innen nach außen. Ohne Beten kein Bannen. Das gilt auch für das Singen. Von Augustinus stammt der Satz: »Wer singt, betet doppelt.« Der Psalm 107 spricht von jenen, »die dann zum Herrn riefen in ihrer Not, und er errettete sie aus ihren Ängsten«.
Diese Ansicht wird natürlich nicht von allen geteilt, zum Beispiel nicht von Bertrand Russell, dem britischen Mathematiker und Philosophen. Der Nobelpreisträger hat in seiner Schrift »Warum ich kein Christ bin« von 1927 kurz und bündig erklärt: »Was die Religion betrifft, bin ich der gleichen Ansicht wie Lukrez. Ich halte sie für ein aus der Angst geborenes Übel und eine Quelle unsäglichen Leids für die Menschheit.« In seinem Buch »Eroberung des Glücks« von 1930 hat er jenseits des Glaubens ein eigenes Programm der Angstbekämpfung entworfen, das ganz auf Rationalisierung setzt.
Es geht in etwa so: Wenn Unheil drohe, sei es ratsam, sich ernsthaft und bedacht zu überlegen, was im schlimmsten Falle eintreten könnte. Hat man sich das möglicherweise bevorstehende Mißgeschick genau ausgemalt, dann suche man nach triftigen Gründen, aus denen es alles in allem doch nicht gar so furchtbar sei. Solche Gründe gebe es immer, da selbst im allerschlimmsten Falle nichts, was uns persönlich geschehe, irgendeine kosmische Auswirkung habe. Sobald man eine Zeitlang den schlimmsten Ausgang in Ruhe überdacht habe und mit aufrichtiger Überzeugung zu dem Schluß gekommen sei, daß er schließlich doch nicht von so ungeheurer Bedeutung ist, werde man finden, daß die Selbstquälerei in ganz erstaunlichem Grade nachlasse.
Wohl dem, möchte man dem großen Gelehrten zurufen, bei dem es funktioniert! Allerdings war dies nicht einmal bei ihm selbst der Fall. Wie Russell in seiner Autobiographie erzählt, erlebte er verschiedentlich Angstzustände, die er durch kein intellektuelles Verfahren beheben konnte. Auch war es bei ihm nicht die Angst vorm Klimawandel, sondern vor erblichem Wahnsinn und vor Depressionen.
SINN UND FORM 1/2022, S. 44-56, hier S. 49-54