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Heftarchiv – Themen und Debatten

Das Ohr am Radio und das Hören in die Ferne

In unserer Reihe "Online Lesen - in Verbindung bleiben" widmet sich unser Dossier diesmal dem Ohr am Radio und dem Hören in die Ferne. In ihrem Beitrag "Wieder eine Nacht" in Heft 6/2009 erzählt Cécile Wajsbrot, wie die Schlaflosigkeit ihr in den Nächten zusetzt, das Warten auf den Schlaf zur Qual wird. Rettung vor Dunkelheit und Einsamkeit verspricht nur der Griff zum Radioknopf: "Ich vertiefe mich in Sendungen über die Geschichte der Gastronomie, den mittelalterlichen Roman, ich lausche den Stimmen von Toten und höre Beiträge über ihr Leben und Werk, ich höre Anrufer von ihrer Geschichte, ihrem Leid erzählen, und etwas geht auf – eben noch fühlte ich mich einsam und verlassen, und jetzt kommt die Welt zu mir. Schlaf ist nicht mehr das Wichtigste. Und während andere schlafen, wird mein Leben weiter."

Klaus Reichert berichtet in "Adorno und das Radio" (Heft 4/2010) von einer besonderen, für alle Hörer einprägsamen und maßgeblichen Stimme, die seit den fünfziger Jahren über das Radio das Denken einer ganzen Generation beeinflußte: „Die Stimme hatte eine ganz eigene Faszination, die Zigtausende von Hörern den auch im gesprochenen Wort keineswegs leicht verständlichen Gedankengängen folgen ließ. Sie hatte einen unverwechselbaren Duktus und Klang; schon nach zwei, drei Worten wußte der Hörer, wer sprach.“

Anne Dorn wiederum beschreibt in "Der Verlust" (Heft 6/2010), wie sie durch den Druck des Zeigefingers der linken Hand "auf den Startknopf des kleinen Radios" vom Einsturz des Kölner Stadtarchivs erfährt, der auch all ihre Manuskripte, Aufzeichnungen und Notizen unter Schutt und Trümmern begräbt: "Leben braucht Orte, die man verlassen und an die man zurückkehren kann, anknüpfen an genau da gehabte Hoffnungen und Erwartungen, um in der regelmäßig den Wünschen widersprechenden Wirklichkeit Sicherheit zu finden. Die Treue der Dinge erleben: Da ist das Bett und da ist der Stuhl mit der steifen Lehne, der Brottopf, der Briefkastenschlüssel."

CÉCILE WAJSBROT Wieder eine Nacht
Und jetzt aufstehen, lautlos, um meinen Gefährten nicht zu wecken – so lautlos, als beginge ich einen Verrat, ließe unser gemeinsames Leben hinter mir –, und das Gefühl der Einsamkeit überwinden, indem ich mich am anderen Ende der Wohnung aufs Gästebett lege, wo ich Radio hören kann. Auf wie vielen Betten habe ich so gelegen, nicht gerechnet die Einzelbetten und die halb oder ganz genutzten Doppelbetten in Hotelzimmern, die nach Norden oder Süden gingen, in Paris, Berlin, Sofia, New York, Lwow, Aix-en-Provence, Seoul – harte und weiche Matratzen, Schlafmöbel, die zu Arenen eines gnadenlosen Kampfes wurden, zwischen Bewußtsein und Müdigkeit, zwischen gewesener oder kommender Anspannung und einem Loslassen, das nah und doch unmöglich ist.
6/2009 | zum Text

KLAUS REICHERT Adorno und das Radio
Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren anfing, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dem boten sich dafür zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten: die Schule, obwohl damals noch ein reiner Paukbetrieb und für die Entwicklung geistiger Fähigkeiten eher hinderlich, und, andererseits, das Radio. Morgens Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort, abends Gottfried Benn, Günter Eich, Ingeborg Bachmann und manchmal auch der von den Deutschen jener Jahre ungeliebte Thomas Mann, der das Gespräch zwischen Felix Krull und Professor Kuckuck im Zug nach Lissabon vortrug und dessen Schillerrede im Jubiläumsjahr 1955 übertragen wurde, von der mir noch im Ohr ist, wie der Autor die von der Schule heiliggesprochenen Dichtungen als "höheres Indianerspiel" charakterisierte.
4/2010 | zum Text

ANNE DORN Verlust
Und dann der Druck meines Zeigefingers der linken Hand auf den Startknopf des kleinen Radios mit Standardeinstellung WDR III.
"Nachrichten. Es ist fünfzehn Uhr. Soeben ist das Historische Archiv der Stadt Köln in sich zusammengestürzt."

6/2010
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