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Heft 2/2009 enthält:
Fabre, Jean-Henri
Entomologische Streifzüge, S. 149
Die Languedoc-Grabwespe Wenn der Chemiker sein Experiment reiflich geplant hat, mischt er seine Reagenzien, wann es ihm am besten paßt, und (...)
Fabre, Jean-Henri
Entomologische Streifzüge
Die Languedoc-Grabwespe
Wenn der Chemiker sein Experiment reiflich geplant hat, mischt er seine Reagenzien, wann es ihm am besten paßt, und macht Feuer unter dem Kolben. Er ist Herr über Zeit, Ort und Umstände. Er wählt eine Stunde, er zieht sich in die Abgeschiedenheit seines Labors zurück, wo ihn nichts ablenken kann. Er erzeugt nach Belieben diese oder jene Bedingung, welche die Überlegung ihm eingibt: Er spürt den Geheimnissen der Natur nach, in der er mit Hilfe der Wissenschaft chemische Aktivitäten hervorrufen kann, wann es ihm günstig erscheint.
Die Geheimnisse der lebendigen Natur - nicht die des anatomischen Aufbaus, sondern vielmehr die des Lebens in Aktion, vor allem des Instinkts - stellen den Beobachter vor viel schwierigere und heiklere Bedingungen. Weit entfernt davon, über seine Zeit verfügen zu können, ist man ein Sklave der Jahreszeit, des Tages, der Stunde, ja sogar des Augenblicks. Wenn die Gelegenheit sich bietet, muß man sie beim Schopf ergreifen, denn sie wird sich wohl so bald nicht wieder bieten. Und da sie sich gewöhnlich genau dann bietet, wenn man am wenigsten daran denkt, ist nichts zur Hand, um den besten Nutzen daraus zu ziehen. Man muß sofort das bißchen Material für seine Versuche improvisieren, seine Pläne ausarbeiten, seine Taktik entwerfen, sich Listen ausdenken; nur zu glücklich ist man, wenn die Eingebung so rasch kommt, daß man die Gelegenheit nutzen kann. Sie bietet sich kaum, wenn man sie sucht. Man muß sie geduldig abpassen, Tag um Tag, hier an den Sandhängen, die der prallen Sonne ausgesetzt sind, dort im Schwitzbad eines von hohen Böschungen umschlossenen Pfades oder auf dem Vorsprung eines Sandsteinfelsens, dessen Festigkeit nicht immer Vertrauen einflößt. Wenn es euch vergönnt war, euren Beobachtungspunkt unter einem mageren Olivenbaum einzurichten, der den Anschein erweckt, als würde er euch vor den Strahlen einer gnadenlosen Sonne schützen, dann segnet das Geschick, das euch verwöhnt: Eure Parzelle ist ein Paradies! Vor allem: Laßt eure Augen auf der Lauer liegen! Der Platz ist günstig, und wer weiß, die Gelegenheit kann jeden Moment kommen.
Sie ist gekommen, spät zwar, aber immerhin. Ach, wenn man doch nach Belieben beobachten könnte: In der Stille des Studierzimmers, ganz für sich, gesammelt, nur auf seinen Gegenstand konzentriert, weit weg von dem laienhaften Spaziergänger, der stehenbleibt, wenn er euch so beschäftigt sieht mit einem Punkt, wo er selbst nichts sieht - der euch mit Fragen überschüttet, euch für einen Wünschelrutengänger hält, der Wasseradern sucht, oder - noch schlimmer! - euch verdächtigt, mit Hilfe von Zauberformeln alte Tonkrüge voller Münzen in der Erde ausfindig zu machen! Wenn ihr ihm immer noch als Christenmensch erscheint, wird er euch ansprechen, wird anschauen, was ihr anschaut, und auf eine Weise lächeln, die unmißverständlich klarmacht, was er von Menschen hält, die sich mit der Beobachtung von Fliegen befassen. Ihr werdet nur zu froh sein, wenn sich der lästige Besucher, der euch insgeheim verlacht, endlich verzieht, ohne alles in Unordnung zu bringen, ohne unschuldsvoll die Katastrophe zu wiederholen, welche die Stiefelsohlen meiner zwei Rekruten verursacht haben.
Wenn eure unerklärlichen Beschäftigungen nicht den Spaziergänger beunruhigen, dann den Feldhüter, den sturen Vertreter des Gesetzes inmitten der Brachen. Schon lange hat er ein Auge auf euch. So oft hat er euch planlos umherlaufen sehen, hierhin, dorthin, ohne erkennbaren Grund, einer verlorenen Seele gleich, so oft hat er euch beim Aufgraben des Erdreichs überrascht, wie ihr unter tausend Vorsichtsmaßnahmen in einem Hohlweg ein Stückchen Wand abschlugt - so daß ihr ihm vielfach verdächtig wurdet. Zigeuner, Vagabund, anrüchiger Landstreicher, Felddieb - etwas anderes seid ihr für ihn nicht. Wenn ihr eine Botanisiertrommel mithabt, ist sie in seinen Augen ein Behälter fürs Frettchen, zum Wildern, und er wäre nicht davon abzubringen, daß ihr unter Mißachtung der Jagdgesetze und der Rechte des Eigentümers alle Kaninchenbaue in der Nähe entvölkert. Seid auf der Hut! So stark auch das Verlangen ist: Streckt nicht die Hand aus nach der Traube im Weinberg des Nachbarn! Der Mann mit der städtischen Dienstmarke könnte da sein; er würde mit Freuden ein Protokoll aufnehmen, um endlich eine Erklärung zu haben für ein Betragen, mit dem man sich an höchster Stelle befaßt.
Ich kann mich dieser Gerichtsbarkeit stellen; ich habe keine solche Missetat begangen, und doch: Als ich eines Tages auf dem Sandboden liege, hingerissen von den Details der Haushaltsführung einer Kreiselwespe, höre ich plötzlich neben mir: »Im Namen des Gesetzes fordere ich Sie auf: Folgen Sie mir!« Es war der Feldhüter von Angles, nachdem er vergebens versucht hatte, mich bei einem Vergehen zu ertappen, und jeden Tag die Lösung des quälenden Rätsels heftiger ersehnte, entschloß er sich schließlich zu einem brutalen Anruf. Ich mußte mich rechtfertigen. Der arme Mensch schien keineswegs überzeugt. »Pah, pah!« sagte er. »Sie werden mir nicht einreden, daß Sie hergekommen sind und sich von der Sonne rösten lassen, nur um Mücken fliegen zu sehen. Ich werde Sie nicht aus den Augen lassen! Und bei der ersten Gelegenheit! Einmal reicht!« Und tritt ab. Ich glaube, daß mein Ordensband der Ehrenlegion viel zu diesem Ausgang beigetragen hat. Diesem roten Band schreibe ich ähnliche Wirkungen auf anderen entomologischen oder botanischen Streifzügen zu. Es schien mir, vielleicht bildete ich es mir auch nur ein, es schien mir, daß beim Kräutersammeln auf dem Mont Ventoux der Führer umgänglicher und der Esel nicht so störrisch war.
Das kleine scharlachrote Band hat mir nicht immer die mißlichen Abenteuer erspart, die der Entomologe gewärtigt, wenn er an öffentlichen Wegen Experimente anstellt. Beschreiben wir eins, das bezeichnend ist. - Sobald es Tag wird, sitze ich in einer Felsschlucht auf einem Stein und lauere. Objekt meines morgendlichen Besuches ist die Languedoc-Grabwespe. Drei Weinleserinnen kommen auf dem Weg zur Arbeit vorbei. Ein kurzer Blick auf den sitzenden Mann, der in Gedanken versunken scheint. Es wird sogar höflich gegrüßt und höflich zurückgegrüßt. Bei Sonnenuntergang kommen sie wieder vorbei, die vollen Körbe auf dem Kopf. Der Mann sitzt noch da, auf demselben Stein, blickt auf dieselbe Stelle. Meine Reglosigkeit und mein Ausharren an diesem einsamen Platz mußten sie überraschen. Als sie vorübergingen, sah ich, wie sich eine mit dem Finger an die Stirn tippte, und hörte sie tuscheln: »Armer Trottel - der Ärmste!« Und alle drei bekreuzigten sich.
Trottel, hatte sie gesagt, ein Trottel, ein Schwachsinniger, ein armer Teufel - harmlos, aber er hat keinen Verstand, und alle machten das Kreuzeszeichen - ein Idiot trug für sie das Zeichen Gottes. Wie bitte? frage ich mich, welch grausamer Hohn des Schicksals! Du, der du sorgfältig untersuchst, was beim Tier Instinkt und was Vernunft ist - für diese guten Frauen hast du nicht mal Verstand! Welche Demütigung! Egal. »Der Ärmste«, im Provenzalischen Inbegriff höchsten Mitleids, »der Ärmste«, aus tiefem Herzen - das hat mich den »Trottel« bald vergessen lassen.
[...]
Aus dem Französischen von Friedrich Koch
SINN UND FORM 2/2009, S. 149-151
Wulffen, Barbara von
Schuftende Mistkäfer, tanzende Gottesanbeterinnen. Über Jean-Henri Fabre, S. 167
Wiseman, Boris
Die westliche Kontamination. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss, S. 180
BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen (...)
Wiseman, Boris
Die westliche Kontamination. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss
BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine bewußte Wahl?
LÉVI-STRAUSS: Ich wünschte das nicht, weil ich ehrlich gesagt wenig Geschmack an gesellschaftlichen Kontakten finde. Mein erster Impuls ist immer, die Leute zu fliehen und nach Hause zu gehen.
WISEMAN: Man hat Ihnen mitunter eine sehr kritische Sicht auf die Kultur, der Sie angehören, zugeschrieben. Weisen Sie diese Kultur zurück?
LÉVI-STRAUSS: Der Kultur selbst bin ich zutiefst verbunden. Ich empfinde mich als Produkt dieser Kultur. Es ist vielmehr die Gesellschaft, die mich abstößt.
WISEMAN: Was stößt Sie insbesondere ab?
LÉVI-STRAUSS: Tausenderlei Sachen. Aber mir scheint, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen: Als ich zur Welt kam, gab es eine Milliarde Menschen auf Erden, und als nach dem Staatsexamen mein aktives Leben begann, waren es eineinhalb Milliarden; es sind nun sechs Milliarden und morgen werden es acht oder neun sein. Diese Welt ist nicht mehr die meine.
WISEMAN: Wie stellt sich Ihnen das Alltagsleben im Paris des 21. Jahrhunderts dar?
LÉVI-STRAUSS: Es ist so leicht für einen Greis, zu sagen, es sei alles besser gewesen, als er jung war, daß man sich verbieten müßte, auf solche Fragen zu antworten. Aber sei’s drum, wenn Sie möchten, daß ich mich gehenlasse, würde ich sagen, abgesehen vom unbestreitbaren Fortschritt der Medizin, der für jeden von uns von Vorteil ist, bot das Leben für jemanden meines gesellschaftlichen und intellektuellen Milieus in jeder Hinsicht mehr Annehmlichkeiten.
WISEMAN: Würden Sie sich als wesentlich nostalgisch beschreiben?
LÉVI-STRAUSS: Nicht nur nostalgisch im Hinblick auf meine Jugend, sondern auf viele Epochen, die ich nicht gekannt habe.
WISEMAN: Welche zum Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Das hängt von dem Buch ab, das man liest, dem Gemälde, das man betrachtet, der Musik, der man lauscht, oder der Stimmung des Augenblicks. Meistens fühle ich mich als Mensch des 19.Jahrhunderts. Die Epoche zu wechseln ist ein frivoles Spiel: was man auf der einen Liste zu gewinnen glaubt, verliert man auf der anderen.
WISEMAN: Wie nehmen Sie die aktuelle Situation der Anthropologie wahr?
LÉVI-STRAUSS: Es gibt noch jede Menge zu tun, weil es in der Welt noch viele Dinge gibt, die wenig oder schlecht erforscht sind. Aber zuletzt wird es sich nur noch darum handeln, Krümel aufzuklauben.
WISEMAN: Denken Sie, daß die Anthropologie unausweichlich dem Untergang geweiht ist?
LÉVI-STRAUSS: Eher einer Transformation. Die Aufgabe der Anthropologie hing ganz von einer historischen Konstellation ab: dem Augenblick, in dem der abendländischen Kultur bewußt wurde, daß sie die ganze Welt beherrschen würde. Man mußte sich also beeilen, um alle menschlichen Erfahrungen einzusammeln, die ihr nichts schuldeten und deren Kenntnis unentbehrlich ist, wenn man sich von einer Menschheit einen Begriff machen wollte, die nicht auf eine persönliche Betrachtung reduziert werden kann oder gar auf die abendländische Zivilisation selbst. Ich denke, die Anthropologie hat ihre Pflicht, sagen wir mal in den letzten beiden Jahrhunderten, gut erfüllt, aber wir haben den Zeitpunkt erreicht, an dem keine der menschlichen Erfahrungen, die wir noch kennenlernen werden, von der westlichen Kontamination frei sein wird, so daß uns diese Erfahrungen nicht mehr über das unterrichten können, was zu suchen wir ehedem ausgezogen waren.
WISEMAN: Obwohl man das Objekt der Anthropologie in gewissem Sinne als etwas erachten kann, das im Verschwinden begriffen ist, das zerbröselt, entstehen auch neue Objekte. Sie sagen selbst irgendwo, daß, wenn die Unterschiede der Kulturen aufgrund dieser westlichen Kontamination dahinschwinden, andere Unterschiede entstehen können, gleichsam unsichtbare, im Inneren der Kultur, welcher man angehört, Unterschiede, die zum Objekt anthropologischer Studien werden können.
LÉVI-STRAUSS: Das waren freundliche Worte der UNESCO zuliebe, aber man darf sich keinen Illusionen hingeben. Es gab nun einmal Schätze des Glaubens und der Sitten, der Gebräuche und Institutionen, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden waren und sich entwickelt hatten wie seltene tierische und pflanzliche Arten. Es wird neue Unterschiede geben, aber anderer Art.
WISEMAN: Welche Vorstellung machen Sie sich von der Transformation der Anthropologie?
LÉVI-STRAUSS: Es wird sich eine Disziplin herausbilden, dem Studium der neuen Unterschiede gewidmet, die hier und da entstehen werden, aber das ist nicht mehr mein Problem. Ansonsten wird sich die Anthropologie in eine Philologie verwandeln, eine Geschichte der Ideen, so wie die antike Welt, Griechenland, Rom, das vedische Indien verschwunden sind, aber uns seit Jahrhunderten beschäftigen, und das wird noch Jahrhunderte anhalten. Der Umfang an bestehendem anthropologischem Material, das noch nie gesichtet oder publiziert wurde, ist immens.
WISEMAN: Es ist eine Besonderheit der französischen Anthropologie, tief in der Philosophie zu wurzeln. Zahlreiche französische Ethnologen haben eine philosophische Ausbildung. Meinen Sie, daß diese Beziehung zur Philosophie für die Anthropologie ebenso nachteilig wie vorteilhaft sein kann?
LÉVI-STRAUSS: Ich bin überzeugt, daß es ein Vorteil ist.
WISEMAN: Einverstanden, aber meine Frage war: Ist es auch ein Nachteil?
LÉVI-STRAUSS: Es könnte insofern ein Nachteil sein, als es zu voreiligem Theoretisieren einlädt, doch das gilt nicht für alle … Aber sagen wir mal, es rüstete die französischen Ethnologen mit einer allgemeinen philosophischen Bildung aus, die umfassender war als die vieler unserer ausländischen Kollegen.
WISEMAN: Gibt es anthropologische Probleme, die Sie ohne diese philosophische Bildung, ohne den Beitrag der Philosophie, nicht hätten lösen können?
LÉVI-STRAUSS: Schwer zu sagen. Der Beitrag der Philosophie war eine allgemeine Bildung, aber vor allem eine gewisse Gymnastik des Geistes, eine bestimmte Art, die Reflexion zu lenken.
WISEMAN: Welcher philosophischen Tradition fühlen Sie sich in dieser Hinsicht zugehörig?
LÉVI-STRAUSS: Man hat oft gesagt, ich sei Kantianer, was wahrscheinlich wahr ist.
WISEMAN: Die strukturale Anthropologie ermöglicht es unter anderem, die Phänomene zu erhellen, die den Ethnologen interessieren. Welche Typen von Phänomenen entziehen sich der strukturalen Erhellung? Was kann der Strukturalismus am schwersten erkennen?
LÉVI-STRAUSS: Das sind keine Typen von Phänomenen, eher Ebenen, die man einnimmt, um irgendwelche Phänomene zu beobachten.
WISEMAN: Wären Sie einverstanden mit der Feststellung, daß die vom Strukturalismus bevorzugten Ebenen der Beobachtung diejenigen sind, die dem Unbewußten am nächsten sind?
LÉVI-STRAUSS: Ja, aber vor allem gibt es Phänomene, für die wir hoffen, bereits die passende Ebene der Beobachtung gefunden zu haben, und andere, für die sie sich uns entzieht. Vielleicht werden wir sie niemals finden.
WISEMAN: Haben Sie dafür ein Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Ich würde sagen, die Ebenen, auf denen es unerläßlich ist, dem Individuum einen Platz einzuräumen.
WISEMAN: In dem Maß, in dem der Geist mit einer kleinen Anzahl rekurrenter Strukturen funktioniert, bilden diese Erzeugnisse eine geschlossene kombinatorische Einheit. In »Traurige Tropen« beschwören Sie die Möglichkeit eines periodischen Systems bestehender oder möglicher sozialer Strukturen. Was erwidern Sie den Kritikern, die sagen, daß eine derartige Auffassung des Geistes den Menschen eines seiner fundamentalen Werte beraubt: der Freiheit?
LÉVI-STRAUSS: Das ist eine Sprache, die mir so dunkel ist wie eine Fremdsprache. Ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich sagte Ihnen soeben, daß, wenn man das Individuum in Rechnung stellen will, es viele Annäherungen gibt, die legitim wären, aber nicht der Strukturalismus, denn dieser bedingt, daß wir imstande sind, vom Individuum zu abstrahieren. Wenn Sie ein Mikroskop mit verschiedenen Vergrößerungen haben und eine schwache Vergrößerung wählen, werden Sie in einem Wassertropfen kleine Tierchen sehen, die sich ernähren, kopulieren, sich lieben, sich hassen und für die die Freiheit existiert. Wenn Sie sich einer etwas stärkeren Vergrößerung bedienen, werden Sie nicht mehr die Tiere sehen, sondern die Moleküle, aus denen ihre Körper zusammengesetzt sind. Das Thema der Freiheit verliert dann seinen Sinn. Es ist nur auf einer anderen Ebene der Realität anwendbar.
WISEMAN: Ich glaube, meine Frage war: bis zu welchem Punkt determinieren die strukturalen Ebenen unsere Erfahrungen, unsere Wahrnehmungen, so wie wir sie auf der Ebene erleben, auf der wir als Individuen funktionieren, in der Welt handelnd und lebend.
LÉVI-STRAUSS: Es gibt so viele Determinismen, die auf allen Ebenen wirken, auf den Ebenen, die zur Molekularbiologie gehören oder zur Tierphysiologie, und was sonst noch alles, so daß die Art und Weise, in der all diese Faktoren ineinandergreifen, ungeheuer komplex ist und diese Art Frage jeglichen Sinn verliert.
WISEMAN: Glauben Sie an die Möglichkeit vollkommen freier Handlungen, die sich den von Ihnen beschriebenen Determinismen entziehen?
LÉVI-STRAUSS: Ich weiß nicht, was das heißen soll.
WISEMAN: Sie wissen nicht, was das heißen soll, eine freie Handlung?
LÉVI-STRAUSS: Nein, ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich fühle mich frei, wenn ich nichts in mir verspüre, was sich in mir gegen das, was ich tun will, sträubt.
WISEMAN: Es gibt eine etwas heikle Frage, die ich gern mit Ihnen erörtern würde. Montaigne sagte, Philosophieren heißt Sterben lernen. Hat Philosophieren für Sie auch diese Bedeutung?
LÉVI-STRAUSS: Das ist die Betrachtung eines Greises. Montaigne ist nicht alt gestorben, aber er erachtete sich als Greis, weil man damals häufig jung starb. Jedenfalls hört der Tod am Ende des Lebens auf, eine Abstraktion zu sein, was er die meiste Zeit unseres Daseins ist, und wird dann zu etwas sehr Konkretem. Also ja, gewiß. Man kann sich den Fragen, die sich die Menschen stellen, seit es sie auf Erden gibt, nicht nicht stellen. Und die Philosophie lehrt uns zu versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die uns annehmbar erscheint.
WISEMAN: Denken Sie oft an den Tod?
LÉVI-STRAUSS: Oft.
WISEMAN: Mit Zufriedenheit?
LÉVI-STRAUSS: Ich rufe den Tod nicht herbei, aber ich sehe nicht recht, was noch mein Platz auf dieser Erde ist.
WISEMAN: Warum das?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich mein Werk vollendet habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich dem, was ich geschrieben habe, nichts mehr hinzufügen. Was ich hinzufügen könnte, wäre von minderer Qualität und also entbehrlich.
WISEMAN: Ist die Tatsache, dieses Werk geschrieben zu haben, für Sie mit großer Befriedigung verbunden?
LÉVI-STRAUSS: Sie ist mit der Befriedigung verbunden, mich nicht gelangweilt zu haben.
WISEMAN: Sie schreiben nicht mehr?
LÉVI-STRAUSS: Das ist nicht so einfach. Es kommt vor, daß ich noch an kleinen Sachen arbeite. Aber es ist keine Frage von Schreiben oder Nichtschreiben, es ist die Frage, ob das Denken noch fruchtbar ist oder aufhört, es zu sein.
WISEMAN: Sie haben wiederholt über die Riten geschrieben, die die Völker erfanden, um die Beziehung zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten zu symbolisieren. Was halten Sie als Anthropologe von der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft ihre Beziehungen zur Welt der Toten darstellt?
LÉVI-STRAUSS: Ich erinnere mich, daß mir in dem kleinen Dorf, in dem ich meine Ferien verbringe und das keinen ständigen Pfarrer hat, derjenige, dersechs oder sieben Gemeinden betreut, eines Tages sagte, daß den Franzosen als einzige Religion der Totenkult verblieben ist.
WISEMAN: Die Religion als religiöse Praxis ist verschwunden?
LÉVI-STRAUSS: Wenigstens ist es im bürgerlichen Leben die Form, in der die Religion ihre Realität bezeugt.
WISEMAN: Ich glaube, hier können wir aufhören.
LÉVI-STRAUSS: Das ist ganz in meinem Sinn. Allmählich finde ich keine Worte mehr, um Ihnen zu antworten.
Aus dem Französischen von Anita Albus
SINN UND FORM 2/2009, S. 180-185
Ranga, Dana
Wasserbuch, S. 186
Wagner, Jan
Gedichte, S. 191
Böhme, Thomas
Gedichte, S. 196
Lehnert, Christian
Gedichte, S. 200
Dieckmann, Friedrich
Die postrevolutionäre Zuflucht, S. 206
Dähnert, Gudrun
Wie Nelly Sachs 1940 aus Deutschland entkam. Mit einem Brief an Ruth Mövius, S. 226
Engelberg, Ernst
Politik und Poesie: Dante, S. 258
Karlauf, Thomas
Meine Jahre im Elfenbeinturm, S. 262
I Die Fahrkarte habe ich aufgehoben. Das kleine ockerfarbene Pappstück, 3 x 5,5 cm, liegt in meiner Devotionalienschachtel: einfache Fahrt 2. (...)
Karlauf, Thomas
Meine Jahre im Elfenbeinturm
I
Die Fahrkarte habe ich aufgehoben. Das kleine ockerfarbene Pappstück, 3 x 5,5 cm, liegt in meiner Devotionalienschachtel: einfache Fahrt 2. Klasse von Frankfurt (Main) Hbf nach Amsterdam, ausgestellt auf den 7. August 1974, Preis DM 56,60. Der Zug trug den herrlichen Fernwehnamen »Wien-Holland- Expreß«. In Wiesbaden wurde die Lok ans andere Ende gespannt, dann ging es gemütlich den Rhein entlang. Zwei Monate vorher hatte ich Abitur gemacht. Weil ich in Griechisch ohnehin verloren war, hatte ich mich mit zwei Klassenkameraden zusammengetan, um es wenigstens in Mathematik noch auf die rettende Vier zu schaffen. Nachmittags trafen wir uns, um sogenannte Kurven zu diskutieren. Wer sich als erster erbarmte, ging zum Plattenspieler und legte die einzige Platte auf, die wir in diesen Wochen hören mochten: Dylans »Highway 61 Revisited«. Spätestens beim fünften Lied der A-Seite war es mit dem Lernen vorbei. »Because something is happening here, but you don't know what it is«, krächzte Dylan, und grölend stimmten wir jedes Mal ein in den Refrain: »Do you, Mister Jones?« Dann holten wir uns was zum Durchziehen, und während die Scheibe zum dritten oder vierten Mal abgenudelt wurde, verflüchtigten sich unsere Kurven in süße Rauchringe.
Der von Dylan verspottete Mister Jones - so viel stand fest - war ein Idiot, ein intellektueller Streber, einer, der kluge Bücher las und glaubte, überall mitreden zu können. Bis er eines Tages in eine merkwürdige Gesellschaft geriet, in der ihm die abstrusesten Dinge widerfuhren und er jede Orientierung verlor: »Give me some milk or else go home.« - »Ballad of a Thin Man« zählt zu den großartigsten Dylan-Songs überhaupt und ist ziemlich deftig; geschildert wird eine Art früher Swingerparty in der Schwulen- und Transvestitenszene von Greenwich Village. Die sexuellen Anspielungen des Textes blieben mir zwar verborgen. Aber selbst wenn ich die Obszönitäten verstanden hätte - »Here is your throat back, thanks for the loan« -, wäre ich mit Mister Jones kaum nachsichtiger gewesen; er war und blieb ein Spießer.
Was ein Spießer ist, weiß ein heller Junge in diesem Alter sehr genau. Spießer waren zum Beispiel die Klassenkameraden, die nach dem Abitur eines dieser öden Studienfächer belegten, die schon ihren Vätern zur Karriere verholfen hatten. Auf die Idee, bei einer Literaturzeitschrift in Amsterdam, die keiner kannte, eine Lehre zu absolvieren, wären sie nicht einmal gekommen, wenn man ihnen die Lehre bezahlt hätte. Spießig war die Deutschlehrerin, die ich davon hatte überzeugen wollen, daß Stefan George nun wirklich bedeutender war als Rilke. Als sie mir am letzten Schultag die Hefte des »Castrum Peregrini« zurückgab, die ich ihr zur Nachhilfe ausgeliehen hatte, lag eine Ansichtskarte bei: »Gott segne Sie und Ihren Idealismus!« Pikanterweise zeigte die umseitige Abbildung einen nackten griechischen Jüngling. Dabei war die Deutschlehrerin gar nicht so übel, und ich hatte ihr zum Lohn die schönsten Hölderlin-Aufsätze geschrieben, die sie wohl je zu lesen bekam.
Am spießigsten war natürlich meine Mutter. Sie platzte vor Neugier, traute sich aber nicht, den einzig relevanten, für sie als Mutter aber unaussprechlich heiklen Punkt, was sich denn da nun zwischen den Männern in diesem Amsterdamer Kreis abspiele, mir gegenüber zur Sprache zu bringen. Nur in Gegenwart meines Vaters wagte sie sich bisweilen ein Stück vor; dann sprach sie etwa so, wie der Biologielehrer im Aufklärungsunterricht von den Bienen gesprochen hatte, bis mein Vater, dem das Ganze wohl ziemlich klar, aber sichtlich unangenehm war, ihr den Mund verbot. Heute glaube ich, daß der Grund ihres in Andeutungen sich erschöpfenden Schweigens nicht mangelnde Aufrichtigkeit oder fehlender Mut war, sondern die Sorge, mich, ihren einzigen Sohn, zu verlieren. Am Ende war sie aber vor allem stolz, daß dank der gewaltigen Dimension des Großen Geistigen, das sich ihrem Sohn durch Aufnahme in den George-Kreis eröffnete, sogar für ihre eigene Bildungsgeschichte noch etwas abfiel.
"How does it feel to be such a freak«, sang Dylan unterdessen zum hundertsten Mal, »and you say ›impossible‹, as he hands you a bone.« Ich hielt den »Knochen« für eine Dylansche Metapher und rätselte stets aufs neue, um welchen besonderen Knochen es sich wohl handelte.
Im Oktober 1970 war ich auf der Frankfurter Buchmesse von Wolfgang Frommel, dem Gründer und nimmermüden Spiritus rector der George-Zeitschrift »Castrum Peregrini«, angesprochen worden. Ich war fünfzehn und besserte mein Taschengeld auf, indem ich am Nachmittag den »Rheinischen Merkur« verkaufte. Aufmacher der Messe-Woche war ein Artikel über Richard Nixon; an das dazugehörige Porträtfoto erinnere ich mich gut, weil es mir hämische Bemerkungen der in Scharen vorbeiziehenden Achtundsechziger in ihren für den Bücherklau präparierten viel zu großen Parkas eintrug. Einmal blieb ein älterer Herr mit langem weißem Haar stehen. »Was für eine interessante Zeitung Sie da haben«, meinte er. Was ich denn so machte, wenn ich keine Zeitungen verkaufte. »Ach, Sie gehen auf das Gymnasium, wie interessant.« Alle Antworten, die ich dem Herrn auf seine neugierigen Fragen gab, quittierte er so - »ach, wie interessant«. Daß es ein humanistisches Gymnasium war, daß ich gern malte, daß ich katholisch war - alles fand er furchtbar interessant.
Am nächsten Tag kam er wieder, um eine Zeitung kaufen. Als ich ihn darauf hinwies, daß es sich beim »Rheinischen Merkur« um ein Wochenblatt handele, meinte er etwas verlegen, er habe gar keine Zeit gehabt, die Zeitung zu lesen, er kaufe mir aber gern ein zweites Exemplar ab. Ein weiterer Herr, der deutlich jünger war, vielleicht Anfang vierzig, und den ich beim ersten Mal nicht bemerkt hatte, stand diesmal etwas näher. »Das ist der Verleger unserer Zeitschrift«, sagte der Weißhaarige, »kommen Sie doch einmal an unserem Messestand vorbei.« Später legte der Jüngere stets großen Wert darauf, daß er es war, der mich als erster gesehen oder - wie es in der Sprache der Georgeaner hieß - mich »entdeckt« hatte. So werden Stammbäume des Geistigen begründet.
Ich besuchte die Herren in ihrer Koje, und eh ich mich versah, hatte ich für die zwei Wochen später beginnenden Herbstferien eine Einladung nach Amsterdam. Die Stadt galt als Hippiezentrum und war besonders bei der Afghanistan-Fraktion angesagt; einen bestickten Hirtenmantel besaß ich schon, und die Chance, da mal vorbeizuschauen, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Meine Mutter hatte schlaflose Nächte. Nachdem ein halbes Dutzend Professoren und sonstiger Honoratioren ihr telefonisch versichert hatte, es könne im Leben eines Fünfzehnjährigen gar nichts Großartigeres geben, als von Wolfgang Frommel eingeladen zu werden, schämte sie sich wohl ein wenig, überhaupt auf abwegige Gedanken gekommen zu sein, und gab ihre Zustimmung unter der Bedingung, daß ein Freund mitfuhr.
[...]
Sinn und Form 2/2009, S. 262-264
Weichelt, Matthias
Gespräch mit Hans Keilson, S. 273
MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie (...)
Weichelt, Matthias
Gespräch mit Hans Keilson
MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens in Holland gelebt und gearbeitet, halten aber immer noch an der deutschen Sprache fest, schreiben auf deutsch. Das ist etwas Besonderes.
HANS KEILSON: Das ist es bestimmt. Meine Frau würde sagen, es ist schon sehr seltsam. Ich bin holländischer Arzt, holländischer Nervenarzt, Psychoanalytiker. Aber es gibt eine Verbindung, eine Beziehung, für die ich nur das Wort Treue finde.
WEICHELT: Dabei heißt Ihr 1986 erschienener Gedichtband, in dem Texte seit den dreißiger Jahren, also auch aus der Zeit vor Ihrer Flucht versammelt sind, »Sprachwurzellos«. Ist in diesem Begriff für Sie beides enthalten, Herausgerissensein und Verbundenheit?
KEILSON: So ist es. Das ist Sprachwurzellosigkeit. Ich spreche mit meinen Patienten holländisch, habe aber meinen ersten Roman im S.Fischer Verlag publiziert. Ich erinnere mich daran, daß der alte Samuel Fischer mir bei einem Empfang in seiner Villa im Grunewald die Hand schüttelte und sagte: Wir bringen ja ein Buch von Ihnen. »Das Leben geht weiter« konnte 1933 noch herauskommen, wurde aber schon im Jahr darauf verboten. Mein zweiter Roman, »Der Tod des Widersachers«, in dem ich meine Erlebnisse in der Nazizeit verarbeite, erschien 1959 bei Westermann. In Deutschland wurde das Buch kaum wahrgenommen, in Amerika bekam es glänzende Kritiken.
WEICHELT: So ging es ja vielen geflohenen Autoren in der Nachkriegszeit, etwa Alfred Döblin, der wie Sie bei S. Fischer war. Haben Sie dafür eine Erklärung?
KEILSON: Ich dachte immer, das liege an meiner Haltung. Der Roman ist ja kein Haßroman. Ich habe 1944 auch ein Gedicht geschrieben, »Variation«, in dem heißt es: »Doch lieg ich jetzt und gar so wund / in fremdem Land und scheu das Licht. / Es tönt aus meines Kindes Mund / ein andrer Klang als mein Gedicht. // Und wenn es dämmert, ziehn vom Meer / Flieger herauf zur Phosphorschlacht. / Ich lieg auf meinem Lager, schwer, / denk ich an Deutschland – in der Nacht.« Damals haben die englischen Flugzeuge Phosphor über Deutschland abgeworfen. Und ich lag auf meinem Lager, versteckt, und wollte nicht, daß mein Land mit Phosphor bombardiert wird. Ich wünschte es auch meinen Feinden nicht. Ich habe kein Bedürfnis nach Rache, auch wenn das viele gestört hat.
WEICHELT: Ihren Unmut über die Zerstörung der deutschen Städte haben Sie ja noch vor Kriegsende in einem Essay zum Ausdruck gebracht.
KEILSON: Ja, im Februar 1945 schrieb ich den Text »Ein leises Unbehagen«. Mit war nicht wohl bei der Vorstellung, daß auf Zerstörung immer nur Zerstörung folgt, daß man einen Brand, also die Bombardierungen durch die Deutschen, mit neuen Bränden löschen will. Wohin sollte all das führen? Mein Unbehagen bestand darin, daß eine Welt vernichtet wurde, nicht nur schöne Städte. Es war zwar die Welt unseres Feindes, aber irgendwann würde es die Welt unseres Freundes sein. Eine Welt, durch Wille und Fleiß von Menschen im Verlauf ihrer Geschichte aufgebaut, wurde durch Wille und Fleiß anderer Menschen zu Nichts zerschmettert, als wäre es Kinderspielzeug.
WEICHELT: Sie haben in Berlin Medizin studiert und 1934 das Examen gemacht, durften als Jude aber nicht Arzt werden, so haben Sie bis zu Ihrer Emigration an jüdischen Privatschulen Sport und Gymnastik unterrichtet. Wie schnell wurde Ihnen klar, daß Sie aus Deutschland wegmußten?
KEILSON: Ich erinnere mich, daß Oskar Loerke, mein Lektor bei S.Fischer, 1935 zu mir sagte: Machen Sie, daß Sie hier rauskommen, ich befürchte das Schlimmste.
WEICHELT: Haben Sie das auch so gesehen? [...]
SINN UND FORM 2/2009, S. 273-277
Osterkamp, Ernst
Laudatio auf Hans Keilson, S. 277
Kehlmann, Daniel
Selbstvorstellung, S. 281
Matt, Peter von
Selbstvorstellung, S. 282
Meine Damen und Herren, in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, (...)
von Matt, Peter
Selbstvorstellung. Akademie der Künste
Meine Damen und Herren,
in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, andererseits die größte Einheit in einem Werk. Nach vielen Jahrzehnten professionellen Lesens bin ich zur Überzeugung gelangt, daß sich die Literatur wesentlich im einzelnen Satz verwirklicht. Das zeigt sich an einem merkwürdigen Phänomen. Wenn ein Buch etwas taugt, stößt man in ihm von Zeit zu Zeit auf einen Satz, der den Zusammenhang, in dem er steht, übersteigt. Aus dem Schreiben eines größeren Ganzen heraus geboren, ist er doch ein Ding für sich, ein philosophisches und poetisches Ereignis, das man erlebt und untersuchen kann, als stünde es ganz allein zwischen zwei Buchdeckeln. Ich notiere mir das jeweils auf dem hinteren Schutzblatt: »S. 127 Satz«. Und wenn ich das Buch später wieder in die Hand nehme, schlage ich zuerst diese Sätze nach und freue mich über die Wiederbegegnung. In einem solchen Satz kann sich das Denken und Erfahren des Autors beispielhaft verdichten. Es kann aber auch sein, daß der Satz dieses ganze Denken und Erfahren zischend übersteigt, als würde eine Rakete aus der Prosa fahren. In Rezensionen werden solche Sätze nie erwähnt. Die Rezensionen schauen immer auf das Ganze, beschreiben das Ganze, bewerten das Ganze, als ob nur das Ganze die Wahrheit wäre. Es ist aber ein Aspekt unter andern.
Wissenschaftlich sind diese Sätze heikel. Ich erlebe sie als Solitäre. Darf ich sie aber von der Figur trennen, die sie ausspricht, vom erzählten Moment, in dem sie fallen? Natürlich darf ich. Ob ich die Teile eines Romans für so miteinander verwachsen halte wie die Organe eines Körpers oder aber für so zufällig zusammengeschüttelt wie die Glassplitter im Kaleidoskop, das ist je eine Optik, die zu wählen ich frei bin, und je nachdem sieht das Werk anders aus.
Das Paradebeispiel ist für mich der Satz, den die schöne Philine gegenüber Wilhelm Meister äußert, als dieser sie auffordert, zu ihm auf größere Distanz zu gehen. Wilhelm erklärt feierlich: »Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben.« Sie lacht ihm ins Gesicht, meint, sie denke nicht daran, und sagt dann: »Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«
»Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?« – Natürlich kann ich diesen Satz benützen, um eine der zauberhaftesten Frauen der deutschen Literatur psychologisch zu ergründen. Aber er reicht über ein Charaktersymptom weit hinaus. In den zehn Worten steckt eine ganze Liebestheorie. Die zehn Worte antworten auf die Menschheitsfrage, was die Liebe sei, in der vielleicht verblüffendsten Weise. Und sie sind Literatur, ein aufstrahlendes Ereignis der Literatur. Inwiefern? Sie lösen ein Rätsel mit einem neuen Rätsel. Das nämlich macht die Literatur aus, und das hat sie heute noch mit den ältesten Orakeln gemein.
Gerne hätte ich jetzt in meiner Bibliothek gewühlt und wahllos Stellen zusammengetragen, zu denen ich einmal hinten ins Buch geschrieben habe: »Satz!« Auch wäre es wohl aufschlußreich, wem von Ihnen welche Sätze bekannt und vertraut sind, wem sie ebenfalls einmal aus dem Text heraus entgegengesprungen sind. Aber zu solchen Spielen sind Sie nicht hergekommen.
Ganz konnte ich es allerdings doch nicht lassen. Zwei, drei Fälle wollte ich doch den Zufall finden lassen. Ich griff mir einen Roman von Jeremias Gotthelf heraus, aus Trotz, weil den gewaltigen Erzähler in Deutschland niemand lesen will. Da stand tatsächlich auf dem Innendeckel: »S. 310 Satz!«. Ich blätterte und las: »Wir hätten eine Saunatur, sagte er, es verleide einem, Mensch zu sein.« »Wir hätten eine Saunatur «, das kann jeder sagen; das andere aber, »es verleide einem, Mensch zu sein«, dazu braucht es mehr, einen Kopf von Rang und gefährlichem Witz. Man glaubt, es habe von fern gedonnert. Und wenn man darüber nachdenkt, werden die paar Worte immer unheimlicher.
Darauf griff ich zu Gottfried Keller, [...]
SINN UND FORM 2/2009, S. 282-284