
[€ 9.00]
Heft 6/2010 enthält:
Manea, Norman
Begegnung mit Cioran, S. 725
Die Sprache ist die Plazenta des Schriftstellers, dieses Exilanten par excellence. Mehr als jeder »Fremde« im eigenen Land muß sich der (...)
Manea, Norman
Begegnung mit Cioran
Die Sprache ist die Plazenta des Schriftstellers, dieses Exilanten par excellence. Mehr als jeder »Fremde« im eigenen Land muß sich der Schriftsteller die Sprache langsam oder auch im Überschwang erobern; sie ist ihm Legitimation, geistige Heimstatt. Durch die Sprache fühlt er sich verwurzelt und frei, nur durch sie ist er mit seinen Gesprächspartnern in der ganzen Welt verbunden. Die Sprache verkörpert die wahre Staatsbürgerschaft, den Sinn der Zugehörigkeit – Haus und Vaterland des Schriftstellers. Aus diesem letzten und wichtigsten Zufluchtsort verbannt zu sein, führt zur brutalsten Verstörung, jener »vollständigen Verbrennung« (holo-kaustos), die den innersten Kern der Kreativität berührt.
Ich habe meinen Entschluß, die sozialistische »Strafkolonie« zu verlassen, viel zu lange hinausgezögert, denn ich war kindisch genug mir einzubilden, ich lebte nicht in einem Land, sondern einer Sprache.
Die Befreiung, dies wußte ich, würde die Freiheit selbst beschneiden. Im Dezember 1986 bestieg ich auf dem Bukarester Flughafen das Flugzeug nach Berlin in der Gewißheit, mich auf einen finsteren Handel eingelassen zu haben: Reisepaß gegen Sprache. Daß ich diesen dämonischen Tausch letztlich akzeptierte, sagt wohl genug über die Dringlichkeit, um jeden Preis aus dem »brennenden Bordell« herauszukommen, wie Cioran die Gegend nannte, die er zurückgelassen hatte, ohne ahnen zu können, wie die sozialistische Melange von Bordell, Zirkus und Gefängnis aussehen würde. Mein zweites Exil (diesmal mit fünfzig, nicht mit fünf, wie bei der Deportation nach Transnistrien) gab der Enteignung und dem Legitimationsverlust einen anderen Sinn. Zur Ehre, ein Heimatloser zu sein, kam der Fluch, als Schriftsteller verstummen zu müssen. Trotzdem hatte ich, wie eine Schnecke das Haus, die Sprache mitgenommen. Auch weiterhin würde sie mir erste und letzte Zuflucht sein, infantiler und unwandelbarer Ort des Überlebens.
Deutschland war meine erste sprachliche Heimstatt im Exil. 1987 erschien im Steidl Verlag mein erster im Westen veröffentlichter Prosaband »Roboterbiographie «. Damals hielt ich mich mit einem Stipendium des Berliner Künstlerprogramms des DAAD in Westberlin auf. Die Reise ins Unbekannte hatte unter einem guten Stern begonnen. Das von Angst und Verstörung geprägte Trauma der Dislokation wurde etwas gemildert durch die Vertrautheit mit der deutschen Sprache, die in der ehemals habsburgischen Provinz Bukowina auch im Sozialismus unter meinen Freunden und denen meiner Eltern im verborgenen überlebt hatte. 1987 sollte ich begeistert entdecken, daß diese Sprache in mir nach langem Dämmerschlaf nur darauf wartete, wieder zu erwachen, und dies obwohl ich nur ein Jahr lang systematisch Deutsch gelernt hatte, 1946, in wenigen und längst vergessenen Privatstunden.
Immerhin, es kam auch zu lustigen Begebenheiten. Als meine Frau mich an einem der ersten Berliner Tage Sahne kaufen schickte, suchte ich auf den abenteuerlich bunten Bechern und Dosen des Supermarkts vergeblich nach der Aufschrift »Schmetten«. Schließlich fragte ich die Verkäuferin. Sie schaute mich ratlos an und begriff erst nach mehreren Erklärungsversuchen meinerseits, worum es sich handelte. »Aha, Sahne!« Der österreichische Regionalismus funktionierte in der deutschen Hauptstadt nicht.
Die literarische Konfrontation sollte später erfolgen, in Göttingen, wo ich mit dem Lektor des Steidl Verlags an der Fertigstellung der Übersetzung meines Buches arbeitete. Nachdem wir uns bis nach Mitternacht herumgeplagt hatten, um die bestmöglichen Entsprechungen zu finden, versuchte mich mein massiger Gesprächspartner zu trösten: »Man kann alles übersetzen, das dürfen Sie mir glauben! In Goethes Sprache findet alles seinen Platz! Alles, alles. Auch die ungewöhnlichsten und überraschendsten Sätze können übersetzt werden, das versichere ich Ihnen. Man braucht bloß Talent, Hingabe. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und gewiß auch Geld.«
Ja, Übersetzungen werden auf dem kapitalistischen Markt gewöhnlich schlecht bezahlt. Nicht jeder Schriftsteller kann – wie Günter Grass – den Übersetzern seiner Werke Arbeitstreffen und Erfahrungsaustausch bieten und dies auch finanziell absichern. Als ich erfreut mein erstes auf deutsch erschienenes Buch in Händen hielt, ahnte ich noch nicht, daß weitere folgen würden; auch daß meine Beziehung zu Rumänien nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur noch spannungsreicher würde und sich mein literarischer Status allmählich in den eines »übersetzten Schriftstellers« verwandeln sollte, konnte ich mir damals noch nicht vorstellen.
Mein erster öffentlicher Auftritt in New York, im Herbst 1989, als die Explosion des Ostens alle Welt beschäftigte, fand bei einer Diskussion statt, die der amerikanische P.E.N. der rumänischen Literatur widmete und die »Das Wort als Waffe« überschrieben war. Den kämpferischen, der Tagesaktualität geschuldeten Ton mißachtend, sprach ich vom »Wort als Wunder«. Und ich beschrieb selbstverständlich auch den Julinachmittag 1945, an dem ich die fabelhaften volkstümlichen Geschichten des rumänischen Schriftstellers Ion Creangă entdeckt hatte.
Einige Tage darauf erhielt ich einen Brief von einer vornehmen Dame, einer Schriftstellerin und Übersetzerin rumänischen Ursprungs, die bei der Veranstaltung zugegen war. Sie wies mich auf antisemitische Texte und Ausdrücke des Schriftstellers hin. Ich kannte sie, kannte auch ähnliche Stellen bei anderen großen rumänischen Schriftstellern. Die deutsche Sprache war nicht nur die von Goethe und Schiller, sondern auch die der SS; das Rumänische des Caragiale und Bacovia war auch die Sprache von Zelea Codreanu, dem Căpitan der Eisernen Garde, und, in meiner Biographie, die Sprache der Liebe und Freundschaft, die Sprache, in der – selbst nach ihrem Tod – meine Eltern und Großeltern zu mir sprachen.
Nicht nur einmal hatte ich die Vorwürfe an jüdische Schriftsteller gehört, sie schrieben in der »Sprache ihrer Mörder«, oder an afrikanische Schriftsteller, sie schrieben in der »Sprache der Kolonialmacht«. Ich fühlte mich nicht schuldig, denn ich hatte meine Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht. Die Sprache erschafft und deckt den vergifteten Fluch ebenso wie die wundersame Metamorphose, den Kontrast zwischen der Trägheit des Geistes und dem kreativen Gedankenblitz. Der Körper der Kunst enthält Eiterherde, um so rätselhafter und wohltuender erscheint uns das Wundersame, in das sie sich verwandeln. Baudelaires »Blumen des Bösen« verweisen wie die »Schimmelblüten« des rumänischen Dichters Tudor Arghezi schon im Titel auf diese unbegreifliche Transzendierung.
Das Wunder des Wortes, von dem ich 1989 in New York sprach, bezog sich auf meine Muttersprache, nicht auf die neue Sprache, in die ich eingewandert war. Die Wunder dieser Sprache waren dem späten Schiffbrüchigen unzugänglich.
[...]
SINN UND FORM 6/2010, S. 725-738
Tanase, Stelian
Cioran im Visier der Securitate, S. 739
Kienlechner, Sabina
»Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie.« »Die Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate, S. 746
Die Verleihung des Nobelpreises 2009 an Herta Müller hat die Öffentlichkeit auf eine Gegend aufmerksam gemacht, von der bisher nur wenige etwas (...)
Kienlechner, Sabina
»Unter dem Einfluß der bürgerlichen Ideologie«. Die »Aktionsgruppe Banat« in den Akten der Securitate
Die Verleihung des Nobelpreises 2009 an Herta Müller hat die Öffentlichkeit auf eine Gegend aufmerksam gemacht, von der bisher nur wenige etwas wußten: das rumänische Banat. Im Grenzgebiet zwischen Rumänien, Ungarn und Serbien gelegen, war dieser Raum seit dem 18. Jahrhundert von Deutschen besiedelt, hier war einst eine blühende bäuerliche Landschaft mit über einer viertel Million deutschsprachigen Einwohnern. Im zweiten Weltkrieg wurde diese Bevölkerung durch Deportation und Vertreibung stark reduziert, doch um 1950 herum lebten dort immer noch etwa 170000 Deutsche, es gab deutsche Schulen, deutsche Zeitungen, deutsche Theater, deutsche Verlage – und es gab eine rumäniendeutsche Literatur. In den siebziger und achtziger Jahren aber begannen die Banater Schwaben zu Zigtausenden auszuwandern, zumeist in die Bundesrepublik. Heute ist die Zahl der noch im Banat verbliebenen Deutschen verschwindend gering. Mit zu den Auswanderern gehörten die Schriftsteller; sie ließen sich im Westen nieder und verwandelten sich, so gut es ging, in bundesdeutsche Autoren. Die rumäniendeutsche Literatur schien nicht mehr zu existieren, um 1990 herum begann man, Nachrufe auf sie zu verfassen.
Auch die Tatsache, daß der Nobelpreis 2009 an eine rumäniendeutsche Autorin ging, hätte allein wohl nicht ausgereicht, das Phänomen wiederzubeleben. Doch im Hintergrund des Preises steht ein weit umfassenderes Ereignis, das die Geschichte dieser Literatur auf eine ebenso erschütternde wie erlösende Weise wieder aufscheinen läßt: die Öffnung der rumänischen Geheimdienstarchive. Bereits im Jahr 1999 war die CNSAS (Consiliul Nat¸ional pentru Studierea Arhivelor Securităt¸ii, eine Art rumänische Gauck-Behörde) gegründet worden, doch kam der Aufbau des Archivs nur schleppend und gegen diverse politische Widerstände in Gang. Im Jahr 2006 aber hieß es, die Übergabe der Akten an die CNSAS sei abgeschlossen. Etwa seit 2007 ist es für Betroffene, Journalisten und Forscher nicht mehr nur »theoretisch«, sondern tatsächlich möglich, Einsicht in die Akten zu nehmen. Angehörige des Instituts für südosteuropäische Forschung stießen im Frühjahr 2008 auf Akten, die der rumänische Geheimdienst über einigeMitglieder der »Aktionsgruppe Banat« angelegt hatte. Auch die übrigen Mitglieder sowie andere, ihnen nahestehende Schriftsteller begannen daraufhin, ihre Securitate-Akten anzufordern, und seitdem gelangen mehr und mehr Dossiers aus den Bukarester Archiven ans Tageslicht. Es scheint kaum einen rumäniendeutschen Schriftsteller zu geben, über den die Securitate nicht eine oder mehrere Akten geführt hat: Beobachtungsakten (dosar de problemă), Verfolgungsakten (dosar de urmărire informativă), Strafakten (dosar de urmărire penală) – und manchmal leider auch IM-Akten (dosar de ret¸ea). Den größten Raum nehmen die dosare de urmărire informativă (D.U.I.) ein, in denen die operativen Vorgänge zu den einzelnen Schriftstellern dokumentiert sind. Die Rubrik, der sie ungeachtet ihrer marxistischen Einstellung zugeordnet wurden, war: Deutsche Nationalisten und Faschisten. Die Frage, ob die Akten manipuliert wurden oder nicht, läßt sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt Hinweise darauf, daß Passagen herausgenommen wurden. Das vorhandene Material ist jedoch so umfangreich, daß es in jedem Fall aussagekräftig bleibt. Anders als die DDR-Akten sind die Kopien der rumänischen Akten kaum geschwärzt, auch die Namen blieben stehen. Eine Liste mit den Klarnamen der Informanten aber wurde von der CNSAS bisher nicht geliefert.
Die Aktionsgruppe Banat entstand in den frühen siebziger Jahren. Mit ihr begann eine etwa fünfzehn Jahre dauernde Periode, während der es ein paar Rumäniendeutschen – nicht etwa allen – trotz ihrer isolierten und bedrohlichen Lage gelang, eine hochklassige, moderne, kritische Literatur hervorzubringen. Das Verdienst gebührt tatsächlich einigen wenigen – denn das Gros hätte lieber eine ganz andere Literatur gehabt. Die damals sehr jungen Schriftsteller der Aktionsgruppe befanden sich von Anfang an in einer doppelten Opposition: zum einen gegen ihre deutschen Landsleute, zum anderen gegen Ceauşescus
Diktatur. Die beiden feindlichen Bereiche waren keineswegs sauber voneinander getrennt; und auch die jungen Schriftsteller selbst agierten nicht fehlerlos. Am Ende hatten sie gegen ihre Landsleute einen triumphalen Sieg errungen, während Ceauşescus Diktatur sie auf eine vernichtende Weise geschlagen hatte. Fast alle Gruppenmitglieder sahen sich gezwungen, schon Jahre vor dem Umsturz Rumänien zu verlassen. Nicht alle haben die Repressalien des Regimes überlebt. Nur wenige schafften es, weiterhin zu schreiben. Alle aber haben jahrzehntelang mit biographischen Unklarheiten und Widersprüchen, auch mit Mißtrauen und gegenseitigen Verdächtigungen leben müssen, die erst durch das Auftauchen der Akten ausgeräumt werden konnten. Die Aktenauszüge, die im folgenden wiedergegeben werden, sind aus dem Rumänischen übersetzt; sie können nicht mehr als einen ersten Eindruck vermitteln. Noch liegen bei weitem nicht alle Akten vor, noch sind keineswegs alle Spitzel enttarnt. Die Rekonstruktion der Geschichte hat gerade erst begonnen.
Als sich die Aktionsgruppe Banat 1972 bildete, waren ihre Mitglieder kaum zwanzig Jahre alt. Zum engeren Kreis gehörten: Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner, wobei Richard Wagner die Rolle eines Primus inter pares innehatte. Sie trafen sich an der Universität von Temeswar, wo sie Germanistik studieren wollten. Sie kamen aus den Dörfern der Banater Ebene, von den Höfen und Ländereien, die ihren Vorvätern einst gehörten, jedoch im Zuge der kommunistischen Enteignung verstaatlicht worden waren. Die bäuerliche Banater Minderheit hielt, wenngleich nun in jeder Hinsicht »grundlos«, unerschütterlich an ihrer Mentalität und den landsmannschaftlichen Traditionen, Kirchweihfesten, Heimatliedern, Trachten, Blaskapellen fest. Die Banater hatten es geschafft, über zwei Jahrhunderte hinweg alle »fremden« Einflüsse von sich fernzuhalten und durch und durch »deutsch« zu bleiben. Der Groll über Deportation, Enteignung und Demütigung, die ihnen nach dem Krieg von seiten der Russen widerfahren waren, half ihnen, ihre eigene Nazivergangenheit und den Dienst in der Waffen-SS, der die männlichen Banater in großer Zahl angehört hatten, zu verdrängen. Statt dessen pflegten sie mit Hingabe die Sekundärtugenden Ordnung, Sauberkeit, Pflichtgefühl, was dazu führte, daß sie sich den Rumänen, die ihrer Meinung nach diese Tugenden nicht besaßen, haushoch überlegen fühlten. Nur leider reichte ihr Überlegenheitsgefühl nicht aus, um sich auch gegen die rumänische Diktatur aufzulehnen. »Im Dorf waren alle vor dem Staat geduckt«, schreibt Herta Müller, »aber untereinander und gegen sich selbst kontrollwütig bis zur Selbstzerstörung.«
Die jungen Autoren lehnten sich auf gegen diese Welt; sie weigerten sich, in ihren Texten das Schicksal der deutschen Minderheit zu besingen und den donauschwäbischen Volksgeist zu preisen, wie es die Dichter der vorangegangenen Generationen getan hatten und noch immer taten. Sie wollten eine ganz andere, innovative Literatur schreiben: ebenfalls eine deutsche Literatur, doch eine, die modern war, zeitgemäß, und die mit der des Westens konkurrieren konnte. Sie waren die erste Generation, die im real existierenden Sozialismus aufgewachsen war, und wie ihre westlichen Altersgenossen glaubten sie an Marx und Marcuse, Brecht und Berlinguer, Janis Joplin und Che Guevara und an die Verwirklichung eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Im Gegensatz zu ihren westlichen Altersgenossen freilich lebten sie in einem Land, in dem der Sozialismus bereits verwirklicht war, er hatte nur leider kein »menschliches Antlitz«. Doch auch darin schien sich eine Annäherung anzubahnen zwischen Ost und West. Seit Ceauşescu sich 1968 anläßlich des Prager Frühlings gegen die Sowjets gewendet und einen Freundschaftspakt mit Dubček unterzeichnet hatte, konnte man meinen, Rumänien befinde sich auf dem Weg zu einer dauerhaften Liberalisierung. Der Westen blickte voller Sympathien auf Bukarest. Es herrschte Tauwetter; die schlimme stalinistische Zeit schien vorüber.
Die jungen Schriftsteller setzten sich zusammen und formulierten ein Programm. Sie nahmen darin ästhetisch vorweg, worauf sie politisch hinarbeiten wollten: daß Ost und West eines Tages, vielleicht schon bald, dasselbe meinen könnten, wenn sie »Sozialismus« sagten. Sie gingen mit gutem Beispiel voran und vertraten mitten im Osten einen westlichen Marxismus. Sie bekannten sich zu Brecht und nahmen sich vor, ein »neues Realitätsbewußtsein« zu schaffen, »falsche Denkschemata« zu überwinden, kritisch zu sein, zu provozieren und »auf der Grenze zu gehen«. Ein Journalist, der über sie berichtete, gab ihnen den Namen »Aktionsgruppe Banat«, ein Begriff, der den Freunden wegen des Verwirrungspotentials, das er enthielt, gefiel.
Sie wußten, daß es in Rumänien auch im schönsten »Tauwetter« höchst riskant war, eine Gruppe, gar eine Gruppe mit politischen Ambitionen zu organisieren; aber eben darin wollten sie ihrer Zeit vorauseilen. Ihr vages Vorbild war die Wiener Gruppe, die in den fünfziger Jahren in Österreich mit Gemeinschaftslesungen, Textmontagen und surrealistischen Sketches die Öffentlichkeit provoziert hatte. Ähnliches im realsozialistischen Rumänien des Jahres 1972 zu veranstalten, war so tollkühn wie der Flug des Ikarus. Aber sie ließen sich durch nichts und niemanden davon abhalten. »Man hat die Freiheit, die man sich nimmt, dachten wir«, schrieb Richard Wagner Jahre später. »Was für unsere Umgebung unerhört war, war für uns nicht einmal ein Wagnis. Wir traten mit einem Ton der Selbstverständlichkeit auf, der sogar den Behörden die Sprache verschlug. Für eine Weile jedenfalls. Für eine Weile, in der sie uns argwöhnisch beobachteten.«
Die literarische Produktion der Gruppe erreichte erstaunlich schnell ein professionelles Niveau. Man schrieb Lyrik und kurze Prosa, witzige, vertrackte, skurrile Texte, verwandte die unterschiedlichsten Stile und Techniken und war doch unverkennbar. Die Gruppe wurde rasch über die Grenzen von Temeswar hinaus bekannt, bis hin ins ferne Bukarest, denn sie war einzig in ihrer Art. Entscheidend war, daß es in den deutschsprachigen Zeitungen Rumäniens Redakteure gab, die mit ihr sympathisierten und ihre Erzeugnisse druckten. Insbesondere galt dies für die Zeitschrift »Neue Literatur« (NL), die monatlich in Bukarest erschien. Die NL war ebenso erstaunlich wie das gesamte Phänomen der jungen rumäniendeutschen Dichtung, deren Motor sie war: eigentlich unterstand sie dem offiziellen rumänischen Schriftstellerverband, war aber längst »unterwandert« von kritischen und kundigen Redakteuren, meist selber Schriftstellern, die es irgendwie fertigbrachten, die »Ringmauern« der Zensur zu durchbrechen. Sie publizierten nicht nur die neue, kritische Literatur aus Siebenbürgen, dem Banat und Bukarest, sie veröffentlichten auch Werke aus der DDR, die dort nicht erscheinen durften.
Nach ihren Debüts auf den Schülerseiten des Lokalblatts »Neue Banater Zeitung«, die ihnen der Chefredakteur Nikolaus Berwanger einräumte, landeten die jungen Schriftsteller bald bei der NL. Sie stießen dort auf den Redakteur und Literaturkritiker Gerhardt Csejka, der sie nicht nur veröffentlichte und unterstützte, sondern im wahrsten Sinn des Wortes ihr Schicksalsgefährte wurde. Von ihm und (am Anfang) auch von dem Schriftsteller Paul Schuster bekamen sie entscheidende Tips und Orientierungshilfen, um sich mit der im Westen erscheinenden Literatur vertraut zu machen. Sie beschafften sie sich auf allen nur erdenklichen Wegen, sie lasen soviel sie konnten, bald kannten sie mehr Bücher, als die germanistische Fakultät ihnen zu bieten hatte, und sie gaben ihre Kenntnisse weiter an jene, die selbst noch nicht schrieben oder gerade erst damit begonnen hatten. Herta Müller, die erst einige Jahre später mit ihren Arbeiten an die Öffentlichkeit trat, sagte: »Ich glaube, ich wurde eigentlich ausgebildet von der Aktionsgruppe, und nicht etwa an der Universität.«
[...]
SINN UND FORM 6/2010, S. 746-769
Ziegler, Gerda
Gespräch mit Eginald Schlattner, S. 770
Bierwisch, Manfred
Erinnerungen an Hans Bunge, S. 782
Bunge, Hans
Aus dem Nachlaß, S. 793
Deutscher Hans Um zu erklären, warum gerade ich die Grabrede für Ruth Berlau hielt und warum ich jetzt dieses Buch mit Gesprächen (...)
Bunge, Hans
Aus dem Nachlaß
Deutscher Hans
Um zu erklären, warum gerade ich die Grabrede für Ruth Berlau hielt und warum ich jetzt dieses Buch mit Gesprächen veröffentliche, die ich vor zwanzig Jahren mit Ruth Berlau geführt habe, muß ich etwas ausholen und dem Leser einige autobiographische Details zumuten. Denn die Zusammenhänge sind merkwürdig genug, und die Begegnung zwischen uns war so wenig vorausbestimmbar, als hätten wir in zwei verschiedenen Zeitaltern gelebt. Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wäre das sogar eine korrekte Aussage.
Der Umstand, daß ich Ruth Berlau – und über sie Bertolt Brecht, Hanns Eisler und andere bedeutende antifaschistische Künstler und Politiker – kennenlernen konnte und mit ihnen zusammen arbeiten durfte, verdanke ich der Niederlage Nazideutschlands im zweiten Weltkrieg, die ich nicht nur nicht erhofft, sondern gegen die ich mich gewehrt hatte, erst aktiv mit der Waffe und dann, indem ich sie lange nicht wahrnehmen wollte. Eine »Kollaboration« mit »Linken«, gar Kommunisten, kam mir bis nach der Kapitulation nicht einmal als Gedankenspiel in den Sinn.
Mein Vater – Korpsstudent mit dem obligaten »Schmiß« einer Mensur, der seine berufliche Laufbahn als Arzt im ersten Weltkrieg begann und sich dann als Zahnarzt in einem Nest bei Dresden niederließ, dort aktives Mitglied des Stahlhelm-Verbandes war, selbstverständlich deutschnational wählte und die Farben der Republik als »schwarz-rot-senf« bezeichnete, einen Kleinkaliberschützenverein gründete und regelmäßig seine Soldatenuniform anzog, wenn er »Stille Nacht, heilige Nacht« unterm Christbaum anstimmte –, mein Vater wäre nicht in der Lage gewesen, mich auf Brecht hinzuweisen. Er wußte nichts von ihm und hätte nichts von ihm wissen wollen. Im Bücherschrank standen statusgemäß selbstverständlich auch Goethe, Schiller, Kleist und Hölderlin, aber besonders stolz war mein Vater auf die vollständige Ausgabe von Karl May, und ich erinnere mich, daß er große Umstände in Kauf nahm, um möglichst schnell an die neueste Krimiproduktion von Edgar Wallace zu kommen.
Meine Mutter war völlig auf ihn eingeschworen. Sie brachte ihm drei Söhne zur Welt, die sie mit turnerischen Übungen abhärtete. Neben ihrer Emsigkeit als Hausfrau – trotz, natürlich, eines Mädchens für die groben Arbeiten, deren Privatleben auf eine durch Vorhänge abgeteilte Ecke unseres Kinderzimmers beschränkt wurde – war das Hervorstechende an ihr, daß sie sich in die Erziehungsfragen aller Familien des Dorfes einmischte, erfolgreich übrigens, weil ihr niemand zu widersprechen wagte, denn sie gehörte dem Kaffeekränzchen der vor Eigendünkel platzenden Hautevolee des Ortes an, wo alles durchgehechelt wurde, was dem Dorf gut oder schlecht bekam. Sie war zudem Schriftführerin des Königin-Luise-Bundes, dem weiblichen Pendant zum Stahlhelm, was sie in ihrer Selbsteinschätzung zu einer heimlichen Thronfolgerin machte. Deshalb gab sie auch nie zu, daß ihr Vater Schuhmacher gewesen war, sondern bezeichnete ihn als Schuhfabrikanten. Ihren Muttertierinstinkt – wir Söhne wurden für [sie] ja nie erwachsen und erhielten wohlgemeinteste Ratschläge bis in unsere Ehen hinein und auch dann noch mitunter eine Ohrfeige –, ihren Muttertierinstinkt bekämpfte sie mit heroischer Selbstverleugnung. Wir wurden alle ins Internat gesteckt, wo die soldatische Erziehung fortgesetzt wurde, ganz im Sinne meiner Mutter. Sie hatte sich eine private Nationalhymne zusammengebastelt, »Lieb Vaterland magst ruhig sein, bei Bunges steht die Wacht am Rhein ...«, und benutzte allen Ernstes die Gleichung: Ein Sohn ist soviel wert wie vier Töchter, weil Söhne ja Soldaten werden dürfen. Wir waren alle drei in Kriegsgefangenschaft und kamen alle drei, früher oder später, aus verschiedenen Himmelsrichtungen zurück. Aber wenn einer totgeschossen worden wäre, weil er in ein fremdes Land eingefallen ist, hätte meine Mutter ihre Tränen zurückgehalten und mit stolzer Bescheidenheit in die Zeitung gesetzt, daß wir »in unabdingbarer Gefolgschaft für Führer, Volk und Reich gekämpft« haben.
Um nicht mißverstanden zu werden: Wir liebten unsere Eltern und hingen an ihnen, trotz Dresche mit der Reitpeitsche, »streng, aber gerecht«. Es war ein normales Leben in der Tradition, antisemitisch und antisozialistisch, so daß wir einen Bogen um den Dorfkonsum machten, in kein Warenhaus gingen, weil der Besitzer doch sicher ein Jude war, und neben dem örtlichen Käseblatt noch den »Alten Dessauer« hielten, benannt nach jenem preußischen Feldmarschall, der den Gleichschritt eingeführt hat und dessen »tägliches Gebet« im Kopf der Zeitung stand: »Lieber Gott, hilf mir heute, oder willst Du nicht, hilf wenigstens den Feinden, den Hunden, nicht!«
Als wir drei Jungen zehn, neun und sechs Jahre alt waren, starb unser Vater, an einem Lungenleiden, aber wer nach der Todesursache fragte, erhielt die schlichte Antwort: an den Folgen des Krieges. Das galt als höherer, ehrenhafterer Tod, und wir konnten als Kriegshalbwaisen herumlaufen.
Der beste Freund unseres Vaters kümmerte sich um die Familie, dann heiratete er unsere Mutter. Er war uns stets wie ein leiblicher Vater, wir liebten und verehrten ihn. Meine Mutter schenkte ihm »aus Dankbarkeit« auch noch einen Jungen. »Zum Dank dafür, daß er so gut zu euch ist«, sagte sie auch später deshalb, weil sie ja nicht gut von unbefleckter Empfängnis reden konnte und fürchtete, wir könnten die Voraussetzung einer Schwangerschaft, den nachweisbar gewordenen Geschlechtsverkehr, für eine Schweinerei halten. Bei dem Übermaß an Prüderie in ihren Anschauungen – und ihrer Erziehung! – war sie sich da selbst nicht ganz sicher.
Durch meinen Stiefvater wurden wir gesellschaftlich aufgewertet, denn er trug eine Uniform, die eines Polizeioffiziers. Kurz vor dem Krieg wurde er als General Kommandeur der Schutzpolizei von Berlin. 1944 wurde er in Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler abgesetzt und verhaftet, aber, weil man ihm nichts Konkretes nachweisen konnte, wieder freigelassen, doch aus der Hauptstadt nach Oberschlesien verbannt. Dorthin kam er aber nicht mehr, weil Oberschlesien inzwischen Kriegsgebiet geworden war. Die Amerikaner brachten ihn auf die Festung Hohenasperg. Er wurde als minderbelastet eingestuft und fand, entlassen, ein Unterkommen als Hilfsarbeiter in einem westfälischen Aluminiumwerk, bis ihm die Nachfolgeregierung des Deutschen Reiches eine auskömmliche Pension zahlte.
Ich achtete meinen Stiefvater später sehr wegen seiner, wenn auch distanzierten, Beteiligung am Widerstand. Vordem hatte ich seine ständigen Auseinandersetzungen mit Himmler und Goebbels eher mit Mißtrauen beobachtet. Ich kann ihm nicht vorwerfen, daß er mich nicht besser informiert hat. Als er mir einmal angewidert von einer Besichtigung des Konzentrationslagers Oranienburg erzählte, ging ich aus dem Zimmer, um nicht zuhören zu müssen. Von Brecht hat er mir allerdings nicht nur deshalb nichts gesagt, weil ich ähnlich reagiert haben könnte. Das lag außerhalb seiner Sphäre.
Erst sehr viel später kamen für mich beide in einen eigenartigen Zusammenhang. Auf dem großen freien Platz zwischen dem Deutschen Theater und der heutigen Reinhardtstraße stand die Karlskaserne. Dort hat mein Stiefvater residiert, bis die Kaserne zerbombt wurde. Heute erinnert kein Stein mehr an sie. Aber an der Reinhardtstraße ist die nur teilweise zerstörte große Turn- und Exerzierhalle, ein Schinkel-Bau, stehen geblieben. Sie wurde 1947 zum Probenhaus des Berliner Ensembles ausgebaut. Hier, wo ich Brecht seit 1953 bei Theaterproben assistierte, hatte mein Stiefvater während des Krieges Polizeikompanien zum Einsatz in der Sowjetunion verabschiedet. Ich habe das nicht miterlebt, aber ich war dabei, als Brecht dort auf Tonband das Gedicht »An die Nachgeborenen« sprach. Als ich später ein Engagement beim Deutschen Theater hatte, war das Probenhaus inzwischen in den Besitz des Deutschen Theaters übergegangen. Es war wieder mein Arbeitsplatz, als gäbe es transzendente Einwirkungen. Wenn ich zum Theater ging, führte der Weg an einem gewaltigen Luftschutzbunker vorbei, der nicht gesprengt werden konnte und zu einem Lager für Kartoffeln und Gemüse umfunktioniert worden war. Das war im Krieg bei Luftangriffen der Befehlsbunker meines Stiefvaters, denn er leitete auch den zivilen Luftschutz in Berlin. Meine Mutter zeigte mir nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft gern eine Doppelseite der »Berliner Illustrierten Zeitung«, in der mein Stiefvater als »Kommandeur des Berliner Wunders« in Aktion abgebildet war. Mich rührte es sehr, daß sie die Abstrusität ihres Stolzes nicht begriff. Denn ich muß zugeben, daß ich auch einmal stolz darauf gewesen wäre und daß viel geschehen mußte, bis ich es nicht mehr war.
[...]
SINN UND FORM 6/2010, S. 793-802
Becker, Jürgen
Gespräch mit Renatus Deckert, S. 803
Wodin, Natascha
Notturno, S. 821
Ranga, Dana
Kardia, S. 836
Doppagne, Brigitte
Romania I-III, S. 840
Iuga, Nora
Der Komet in der Metzgerei, S. 844
Dorn, Anne
Verlust, S. 853
bewahren, schützen, retten
(Köln, März 2009)
Rasch die Zettel, den Stift vom Tisch, die Tischdecke aufraffen, das Kissen vom Stuhl (...)
Dorn, Anne
Verlust
bewahren, schützen, retten
(Köln, März 2009)
Rasch die Zettel, den Stift vom Tisch, die Tischdecke aufraffen, das Kissen vom Stuhl unter den Arm klemmen, losrennen – es donnert, die ersten, dicken Tropfen fallen –, aufatmen. Im Trocknen stehen. Zuschauen, wie der Wind den Regen herunterpeitscht, wie der nächste Blitz ganz in der Nähe herunterzuckt. Der Genuß des kleinen Glücks: Alles gerade noch so geschafft!
In Gewißheit leben: Von der Reise zurückkommen, mit dem frisch geputzten Blick bemerken, daß die Dinge gewartet haben, daß sie da sind: Am Garderobenhaken der andere Mantel, an der Wand die gerahmte Kopie des Kornfelds, in dem sich der Weg verliert, und dem Krähenschwarm im schwarzblauen Himmel des Vincent van Gogh. In meinem Arbeitszimmer die Uhr, die mir – wie immer – eine kleine Zeitlang noch nachgelaufen ist – und dann stehengeblieben. Leben braucht Orte, die man verlassen und an die man zurückkehren kann, anknüpfen an genau da gehabte Hoffnungen und Erwartungen, um in der regelmäßig den Wünschen widersprechenden Wirklichkeit Sicherheit zu finden. Die Treue der Dinge erleben: Da ist das Bett und da ist der Stuhl mit der steifen Lehne, der Brottopf, der Briefkastenschlüssel.
Das Notizbuch durchblättern, sich Zeit nehmen, die Notizen wieder zu ihrem Anlaß zurückführen, nicht vergessen, sich einzugestehen, wie luxuriös man lebt – mit dem Entschluß, eigenen Gedanken nachzugehen:
knüpfen, verknüpfen,
immer mehr hören,
sehen, verstehen,
die Merkwürdigkeiten sammeln.
Viel Schnur, wenige Perlen.
Rankendes, wucherndes
Grün. Fußangeln.
Wattige Weiten.
Fundevogel
flog auf,
flog, flog, flog –
ließ Lenchen zurück!
Es ist ein lebendes, sich entwickelndes, wachsendes, zeitweilig auch ruhendes, vieldeutiges Etwas, was sich im Laufe eines Schriftstellerdaseins auf dem Papier niederläßt. Nicht unmittelbar zu bewerten und auch nicht ruhigzustellen. Sozusagen das Körperhafte der Gedanken, was, wie alles unberechenbar Lebendige, eine Umgrenzung braucht. Der eine Gedankenkomplex summiert sich zum Roman, der andere zur Novelle, zum Hörspiel, zum Drehbuch, zum Feature, zum Gedicht, zur Dokumentation, zum Bericht, zu einer Reihe von Briefen.
Abgenabelt ist, was auf der Straße steht, in der Öffentlichkeit. Stets als verschlanktes Kind. Für den, der es auf die Straße geschickt hat, bleibt es mit all den Möglichkeiten behaftet, die auch darin gesteckt haben und für ihn auch weiterhin darin stecken, um – vielleicht – neu gerundet und wieder verschlankt vor die Tür zu treten. Leben in der freiwilligen Knechtschaft eigener Ideen erfordert einen Berg Humus: Zettel und Kladden mit Notizen, Skizzen, Entwürfen, Anfängen; Schachteln, Mappen und Schubladen für Fotografien, Briefe, Landkarten und Kalender; Boxen und Stapelregale für CDs, DVDs, Kassetten, Disketten, Sticks und was da alles noch kommen wird. Auch von mir fordern die Verlage, das abgeschlossene, lektorierte Manuskript zu mailen. Aber niemand wird mich dazu bringen, einen Roman, an dem ich sieben Jahre lang gearbeitet habe und dessen Struktur ich nur in immer neuen Ansätzen finden konnte, allein auf dem Bildschirm auf- und abflitzen zu lassen. Was ist das für ein »haben« gegenüber fünfhundert Blatt beschriebenen Papiers, das einen bestimmten Griff hat, seinen Geruch und seine Farbe, und auf das ich noch immer mit meinem Bleistift Bemerkungen machen kann.
Nach meiner Erfahrung setzt sich das, was ich erarbeite, zu einem Drittel unmittelbar um, ein weiteres Drittel vielleicht nach Jahren, das dritte Drittel vermutlich nie. Ich werde in absehbarer Zeit von der Erde verschwinden, meine literarische Hinterlassenschaft jedoch nicht zwangsläufig im gleichen Augenblick. Ich hatte und habe einen geräumigen Manuskripteschrank, aber im Sommer 1999, mitten in der Arbeit an einem auf vielen Recherchen und Reisen basierenden Roman, standen gefüllte Kisten und Kartons schon kreuz und quer in der Wohnung.
Es war Hans Bender, der die Leitung der Abteilung III (Nachlässe und Sammlungen) des Historischen Archivs der Stadt Köln auf das, was in meinen Schränken lag, aufmerksam machte. Er hatte selbst einen wesentlichen Teil seines Vorlasses in dieses Archiv gegeben. Die Möglichkeit, das, was ich hatte, an einen sicheren Ort zu tragen, war verlockend. Sicher ist etwas dort, wo es Achtung erfährt. Wo die dank meiner Existenz existierende Literatur in ihren unterschiedlichen Formen geordnet, aufbewahrt und vor allem zugänglich gehalten werden konnte. Im Jahre 1999 lebte ich bereits seit vier Jahrzehnten mit, für und – schlecht und recht – auch von Literatur. Ab und zu hatte mich die Furcht gepackt, es könnte in meiner Wohnung ein Brand ausbrechen, ich könnte gerade dann nicht zuhause sein, die Feuerwehr könnte im Unwissen, was da im Schrank liegt, alles mit Löschschaum bedecken und den meist nur auf dünnem Papier vorhandenen, unveröffentlichten Manuskripten wie den unterschiedlichen Fassungen der veröffentlichten Arbeiten den Garaus machen. Oder noch anders: Es könnte mir überraschend etwas geschehen, ich könnte plötzlich nicht mehr da sein – im Jahr 1999 war ich immerhin vierundsiebzig Jahre alt und hatte drei Herzinfarkte hinter mir –, daß dann, wenn es so wäre, meine Kinder nicht wüßten, wohin mit dem ›Zeug'. Es war ja und ist für alle dem eigenwilligen, selten bequemen Autor / und für alle der eigenwilligen, selten bequemen Autorin nahen Menschen schwierig, die althergebrachte Rolle des / der Schreibenden – Vater / Mutter – oder auch Sohn / Tochter – hintanzustellen und deren Produkte unangetastet bestehen zu lassen. Die vielen Geschichten von geschwärzten Seiten in Tagebüchern und ›unauffindbar‹ gewordenen Manuskripten ...
Das waren natürlich dumme Gedanken. Immerhin, sie hatten mich zeitweilig gequält. Plötzlich war eine Lösung in Sicht. Das Historische Archiv der Stadt, in der ich seit 1969 lebte. 1925 in der Nähe von Dresden geboren, also ganz Kind des zwanzigsten Jahrhunderts, war der Stoff, aus dem ich etwas bilden und gestalten konnte, von Anfang an mit dramatischem Geschehen durchmischt. Ein Jahrhundert der perfektionierten Gewalt. Der Scherben.
Wenn ein Kind anfängt, die Welt zu »begreifen«, und das mit seinen Händen versucht, hat es den Drang, zu erfahren, was in dem Ding drin ist, und zerbricht es. Das »Dritte Reich« zerbrach, als ich neunzehn Jahre alt und getrennt von meiner Familie einen Pflichtjahrdienst in Österreich zu leisten hatte. Ich sah die befreiten Insassen des KZ Bad Aussee und die an den Ästen des großen Ahorns zwischen Gschwand und Lueg in letzter Minute aufgeknüpften ›Volksverräter'. In einem Historischen Archiv konnten also meine zahlreichen Literatur gewordenen Eindrücke nicht falsch aufgehoben sein.
Die grauen, aus säurefreiem Material gefertigten Kartons wurden gebracht und verließen gefüllt meine Wohnung. Auch mein alter Überseekoffer, vollgepackt mit den unterschiedlichen Fassungen meines Romans »hüben und drüben«, die in neun Jahren Wartezeit entstanden waren, gefiel den Archivaren. Es war der endgültige Abschluß einer Familiengeschichte im geteilten Deutschland. 1982 hatte ich mit der Suche nach einem Verlag begonnen. Anfang der achtziger Jahre galt jedoch in Westdeutschland, wenn das deutsch-deutsche Thema in Erwägung gezogen wurde, der Blickwinkel der aus der DDR ausgebürgerten Autoren. Ich hatte keinen besseren und keinen schlechteren, nur einen anderen. Da ich kein Republikflüchtling war, weil ich Sachsen im Jahr 1944, als an eine Deutsche Demokratische Republik kein Denken war, verlassen hatte, konnte ich – unter strikter Beachtung der Besuchsregeln – in die alte Heimat und auch wieder in den Westen zurückreisen. Und konnte das nicht nur, ich habe das – sobald mein Geld dafür reichte – auch getan! Auf beiden Seiten war meine Sicht der Dinge nicht opportun. Die Mauer mußte erst fallen. Sofort, 1990, erschien »hüben und drüben« als Fortsetzungsroman in der Dresdener Tageszeitung Die Union und 1991 mit einem Vorwort von Lew Kopelew im aus dem Bürgerforum entstandenen Forum Verlag Leipzig. Als besagter Überseekoffer meine Wohnung Richtung Historisches Archiv verließ, bekamen meine Schuldgefühle gegenüber meinen längst verstorbenen Eltern, da ich mich für den Westen entschieden hatte, und meine innere Zerrissenheit, die sich in vierzig Jahren immer weiter vertieft hatte, weil ich thematisch weder von den im Osten empfangenen Eindrücken noch von meiner im Westen entwickelten Authentizität loslassen konnte, ein heilendes Pflaster.
Es entstand eine Art Pendelverkehr zwischen den Archivaren der Abteilung III im Historischen Archiv und mir, der mir sehr wohltat. Wahrscheinlich, weil die Nutzanwendung meiner Güter, also die Abwägung »bringt das, was sie hat, etwas oder bringt es nichts«, die im Gespräch mit Verlagen stets im Vordergrund stand, im Archiv hintangestellt war. Die ruhige Selbstverständlichkeit, mit der man mir entgegenkam, wenn ich ein Gespräch suchte, und umgekehrt, wenn man mich nach etwas fragte, wovon man dachte, ich könnte davon wissen, erlöste mich von der Unsicherheit gegenüber Offiziellen, auch den offiziell im Rheinischen und überhaupt im Westen anerkannten Künstlern. So hatte ich im Jahr 1997 begonnen, mich noch entschiedener nach Osten zu wenden und den Spuren eines verschwundenen Bruders nachzugehen. Mein Vorhaben trug den Titel »Antigone«. Es gab einen guten Arbeitskontakt zum Lektorat im neu entstandenen DuMont Literaturverlag. 1999 hatte sich der Inhalt schon von einer linearen Bruder-Schwester-Beziehung gelöst und war zum Thema, zur Suche an sich geworden. Suche nach dem, was verlorenging, aber auch nach dem, was sehnlichst erwünscht war! »Siehdichum«, so der neue Titel. Zum ersten Mal hatte ich den Mut, erschütterndes, authentisches Material sichtbar in meine Arbeit einzubauen, ohne damit den eigenen Ton meines Erzählens, den man mir inzwischen nachsagte, aufs Spiel zu setzen. Zwischen mir als Produzentin und den verschiedenen Archiven als Materialdepots (z.B. Bundesarchiv Koblenz) mit Archivaren, deren Beruf es unter anderem war, entsprechende Wünsche zu erfüllen, entstand das in jeder menschlichen Beziehung sinnvolle Geben und Nehmen.
2003 gab es in Köln beunruhigende Nachrichten: Aufgrund der Notwendigkeit für die Stadt, Mittel einzusparen, geriet die Abteilung III Nachlässe und Sammlungen des Historischen Archivs als Top I auf die Liste der möglichen Streichungen. Nein – das konnte nicht sein. Es gab und gibt – nicht nur in Köln – für Schreibende so wenig Rückhalt, so wenige Orte, wo sie das nicht gerade jetzt im Augenblick Nutzbare und das schon Genutzte, aber in keiner Weise Abgenutzte aufbewahrt und zugleich zugänglich gehalten wissen konnten. Für die Stadtverwaltung lag die Streichung von Punkt I der Liste nahe. Die Archivalien aus der Abteilung III hatten innerhalb der einzelnen Fraktionen nur eine an den Fachbereich gebundene und in der Bevölkerung selbst gar keine Lobby. Die Nutzer des Reichtums in der Severinstraße 222 waren in der Regel Historiker, Wissenschaftler, Studenten oder interessierte Menschen von überall her, nicht nur aus den deutschsprachigen Ländern. Um die kommentarlose Schließung unserer Abteilung III abzuwenden, mußten sich die Betroffenen, deren Schätze stillgelegt werden sollten, selber rühren.
Das Dankschreiben des damaligen Direktors, Herrn Doktor Kleinertz, und der gesamten Abteilung III habe ich mir an die Wand gehängt, auch, um nicht zu vergessen, daß eine lange Epoche der fraglos zugestandenen Schutzbedürftigkeit und Pflege von Originalen zu Ende geht. Mit dem Einzug der Elektronik auch in Kunst und Wissenschaft kann eine nahezu unbegrenzte Menge von Daten auf kleinstem Raum aufbewahrt und abrufbar gehalten werden. Da im Zuge der Globalisierung für die Masse des als bewahrenswert angesehenen Kulturguts, von den verschiedenen Medien fortwährend aufgezählt, eine Geschwindrettung angesagt scheint, gilt auch im Umgang mit Unikaten mehr die Organisation von Mengen als die Wahrnehmung von Inhalten. Ich sehe und spüre diese Umwandlung, meine mühsam erworbene, innere Sicherheit beruht jedoch auf einem anderen Verhalten.
Anläßlich der Matinee zu meinem 80. Geburtstag am 27. November 2005 im Literaturhaus der Stadt Köln bestückte ich auf Anregung und unter Mithilfe von Doktor Everhard Illner aus dem Historischen Archiv die vier Vitrinen im Veranstaltungsraum mit Zeugnissen meines literarischen Werdeganges. Darunter befanden sich kurze Texte, noch in der Zeit meiner abendlichen Unterrichtsstunden in der Kunstgewerbeakademie in der Günzstraße in Dresden in gotischer oder Frakturschrift aufs Papier gebannt; Entwürfe aus meiner Zeit als Kostümbildnerin; und ein Portrait, das die Starfotografin Lieselotte Strelow anläßlich meiner ersten Veröffentlichung aus lauter Freude, daß ich mich auf den Weg gemacht hatte, aufgenommen hat. Weiter wählten wir einen in sehr originellem Deutsch verfaßten Brief von Luc Ferrari, das multi-media-projekt »dorf« für die 6-Städte-Ausstellung »urbs 71« betreffend, in das wir beide verwickelt waren. Der Kölner Objektebauer Hingstmartin, Luc Ferrari als Komponist, Anne Dorn als Autorin, ausgewählt von Doktor Kurt Hackenberg, vertraten mit diesem »dorf« die Stadt Köln, in der Vitrine lag auch die Dokumentation dieses Ereignisses, von Karin Thomas in dem aussagekräftigen Band »Kunst Praxis heute« Anfang der siebziger Jahre bei DuMont veröffentlicht. Ja, und da lag dann auch meine alte Super-8-Filmausrüstung im Glaskasten, die Kamera, der kleine Gucki, die Klebepresse, die antimagnetische Schere – mitsamt dem Zahlungsbefehl der Firma Foto-Stein, weil ich das Gerät zur Herstellung eines ersten Streifens von 27 Minuten Dauer (der mir den Weg zum wirklichen Filmemachen geöffnet hat) im Jahr 1971 nicht ordnungsgemäß abstottern konnte. Was noch: Handgeschriebene wie maschinengetippte Absagen und Ermutigungen von Rundfunkanstalten wie Verlagen, von Leuten mit Namen und von Freunden, die zur Zeit ihres Schreibens noch keinen hatten – aber ihren bekommen sollten, wie Wilhelm Genazino. Aufgeschlagen auch ein Exemplar meiner himmelblauen Novelle »Damals, als die Sonne schien«, genau so, daß neben einer Textseite eine von Jana Grzimeks genialen Bebilderungen des inhaltlichen Vorganges zu bestaunen war. Als wir das Material ausgesucht und in die besagten Kartons gepackt hatten, sagte der im Lesesaal Aufsicht führende Archivmitarbeiter: »Was sind das für schöne Sachen!«
Was mir bei späteren Besuchen im Archiv auffiel: Die Benutzer im Lesesaal hatten meist Pergamente vor sich liegen. Oder in Kanzleischrift beschriebene Bögen, Bücher mit ledernen Rücken und Ecken und dem phantasievoll gemusterten Vorsatzpapier. Das gefiel mir, andererseits war, was ich sah, auch bedenklich, denn es bezeugte die nach außen gelangte Wertschätzung des Historischen Archivs der Stadt Köln eben als Historisches Archiv, in dem die literarischen Archivalien, abgesehen von denen des Ur-Kölners und Nobelpreisträgers Heinrich Böll und des in Köln geborenen und weithin geschätzten Literaten und Literaturwissenschaftlers Hans Mayer, einen stillen Platz hatten.
Was mir im Lesesaal noch auffiel: Es gab offensichtlich keinen willentlich betriebenen und geförderten Austausch zwischen der Kölner Universität und dem Historischen Archiv. Obwohl die zwei wichtigsten Arbeiten des Albertus Magnus, des Gründers der Kölner Universität, im Historischen Archiv zu finden waren.
Im vergangenen Januar durchsuchte ich im Lesesaal bestimmte Manuskriptvarianten meiner Romane »hüben und drüben« und »Siehdichum« nach zwei in sich geschlossenen, aber nicht veröffentlichten Textteilen. Ich arbeite zur Zeit an einem weiteren Prosaband, und manchmal bin ich mir sicher, daß ich ein bestimmtes Thema schon einmal vor die Seele gezogen und passende Worte dafür gefunden habe. Ich saß also im Lesesaal, in dem mehrere Menschen still arbeiteten, neben mir aufgetürmt die Kartons, um die ich gebeten hatte, fühlte mich wohl und fand, was ich gesucht hatte. Besprach, welches meiner Filmdrehbücher ich demnächst noch einmal haben wollte, und fragte auch nach dem Senkelband meines Hörfunkfeatures »daß die armen Leute nicht arm sind, weil sie dumm wären / alternatives Leben in New York«, weil ich mir das irre Geräusch Tausender trappelnder Füße nachmittags gegen siebzehn Uhr auf dem blanken Boden im Ausgangsbereich des World-Trade-Centers, aufgenommen mit einem Nagra-Gerät im Mai 1978, noch einmal kopieren wollte.
Am Dienstag, dem 3. März 2009, war ich bis ungefähr 14.30 Uhr vor der Tür, um Briefe in den Kasten zu stecken und ein Medikament aus der Apotheke abzuholen. In kurzen Abständen rasten Polizeiwagen mit Blaulicht über die Neusser Straße stadteinwärts. Auch Feuerwehr und Notarztwagen mit tatütata in gleicher Richtung unterwegs. Wieder in meiner Wohnung kochte ich mir Tee, setzte mich hinter den Küchentisch auf die Eckbank, verrührte einen halben Teelöffel Honig in der Tasse, den Blick auf die erste Seite der Tageszeitung gerichtet, die ich meist erst nachmittags und manchmal überhaupt nicht lese. Und dann der Druck meines Zeigefingers der linken Hand auf den Startknopf des kleinen Radios mit Standardeinstellung WDR III.
»Nachrichten. Es ist fünfzehn Uhr. Soeben ist das Historische Archiv der Stadt Köln in sich zusammengestürzt.«
Eingestürzt. In sich zusammengefallen. Das Historische Archiv. Das Gebäude weggesackt, vornübergefallen. Eine riesige Staubwolke. Es war unmöglich. Ich stand sofort auf und ging, auf meinen Rollator gestützt, hin und her. Und es war mir wie bei einem Spiel, einem albernen Kinderspiel, wo man sich anfaßt und einer gegenüberstehenden Reihe ebenso sich an den Händen fassender Kinder entgegenschreitet und singt: »Morgen wolln wir heiraten, juhuhuuuu!«, und dann wieder zurückgeht und wiederholt: »Morgen wolln wir heiraten – ixe, axe, uuuuhh!« Jetzt sind die anderen dran, kommen und singen: »Wen wollt ihr heiraten – juhuhuuuu?« So richtig verlieren konnte bei diesem Spiel niemand, es war einfach nur ein spielerisches Kräftemessen und Protzen. Das Historische Archiv war in sich zusammengefallen. Man hatte das gerade in den Nachrichten gesagt. Der Karneval war vorüber. Es war der 3. März, nicht der 1. April. Ich stellte mich an das große Erkerfenster zur Straße hin, es war heller Nachmittag, die Leute liefen ruhig. Es rauschte in meinen beiden Ohren, und da war wieder der Druck auf meiner Brust, das Elefantenbein, das mir die Luft abdrückte. Das Gefühl, nicht mehr wirklich dabeizusein.
Wohin oder wovon weg hatten mich die 15- Uhr-Nachrichten im WDR III katapultiert? Ich rief meine Tochter Anna an. Wir hatten vor nicht allzu langer Zeit überlegt, daß sie die Bevollmächtigte unter meinen Kindern für meinen Nachlaß sein sollte. Ich sagte ihr, was ich gehört hatte, und sie meinte »das kann nicht sein«. Alles war bizarr: Das kurze Gespräch mit meiner Tochter und meine körperlichen Gefühle – es war eine Art Oberflächenwirklichkeit, in der ich mich befand. Das Archiv – eine Staubwolke, die Feuerwehr, die Polizei, höchstwahrscheinlich verschüttete Menschen. Der Adrenalinausstoß, weil – es ist das Historische Archiv! Gänsehaut. Und unter der Haut bleierne Stille und Schwere, wie ein Senkblei die gefühlte Gewißheit: Das ist für mich. Da ist etwas mit mir passiert und passiert gerade jetzt. So, als wäre ich versteckt gewesen und gerade entdeckt worden – man hätte mich erwischt und das hätte ich nun davon! Ich rief bei Hans Bender an und hatte seinen Lebenskameraden am Apparat. Auch er sagte: »Nein!« Am Abend sah ich auf dem Fernsehbildschirm dieses Loch in der Häuserreihe, nicht ganz präzise gezielt, weil links und rechts noch in die Nachbarschaft gegriffen, aber einwandfrei dieses große Gebäude aus dem Zusammenhang gerissen und sozusagen verworfen. Und ich konnte noch immer nichts, als blöde lächeln.
Die stündliche, anfangs halbstündliche Nachrichtenverbreitung im Radio und im Fernsehen lenkte mich nicht hin, sondern ab, erst neun, dann drei, dann zwei Menschen gesucht, einen Bäckerlehrling und einen Studenten. Zwei Gesichter. So junge Menschen! Daran hielt ich mich fest, nein, ich hielt mich bei den beiden auf! Ich habe sieben Enkelkinder, und da waren zwei »wie meine Enkel« ganz tief unter Schutt begraben. Unvorstellbar, aber, eben, Wirklichkeit, die ich gedanklich noch mitvollzog.
Ich hatte Schüttelfrost. Die Anwohner der Nachbarhäuser des Historischen Archivs unter Schock, ihr Hab und Gut war verloren. Ich kannte das aus meiner Jugend, diese schamlos zur Schau gestellten Innenseiten von Wohnungen: Ein Stuhl an der Wand, von der ein Fetzen Tapete herunterhängt. Oder in einer Wand auf Höhe einer zweiten oder dritten Etage eine geschlossene, vielleicht auch verschlossene Tür, die niemals wer wieder aufschließen würde. Es konnte einen so treffen, jeden konnte es so treffen, jeder war sich dessen fortwährend bewußt, und jeder konnte Glück gehabt haben und im Keller oder anderswo gewesen sein – immerhin konnte er dann noch sehen, daß sein Hab und Gut verschwunden war, und sein Leben fühlen. Und darüber glücklich sein! Im Krieg.
Aber der Krieg war am 3. März 2009 hier, in meinem Lebensbereich, nicht ausgebrochen. Dieser Schutthaufen war etwas Unglaubhaftes, Unglaubliches, das mit mir und mit dem ich etwas zu tun hatte. Ich mußte mich schütteln, als stünde ich ohne Mantel an einer windigen Kreuzung, und das Frösteln war sehr real. Ich rannte in Gedanken in den Lesesaal und sah nach, ob meine Mitarbeiter des Archivs, deren Stimmen ich genau im Ohr hatte, weg waren, draußen, wie im Radio gesagt wurde, da nämlich Bauarbeiter gerufen und gebrüllt hatten und alle Menschen aus dem wankenden Gebäude auf die Straße gelangt waren! Aber da war ja der Bauzaun gewesen, die Taxifahrer hatten mich, wenn ich ins Archiv wollte, immer gefragt, wo sie denn halten sollten, am besten am Ende des umzäunten Geländes, Richtung Überführung der Zufahrt Severinsbrücke. Der Eingang zum Archiv war seit langem irgendwie verbaut, obwohl man außer den Absperrungen und großen Maschinen nicht gesehen hatte, wieso eigentlich. Von oben her sah man keinen Fortgang der Bauarbeiten.
verlieren, vermissen, betrauern
Es half mir nicht, daß ich mir das alles ausmalte und wie ein ordnender Geist oder ein Kind, was alles lenken will, mit meinen Gedanken in der Severinstraße war. Ich hatte das Archiv im Kopf, so wie es war – und eben nun nicht mehr war. Am ersten Abend habe ich nicht weiter telefoniert. Im Archiv konnte ich niemanden anrufen, und inzwischen wäre da normalerweise auch Feierabend gewesen. Ich war bei allem Hinstarren auf den riesigen Haufen zerbröselten Zements und die riesige Lücke in der Häuserreihe, was immer wieder auf dem Bildschirm erschien, ruhig. Wie ein kleiner, schlauer Zwerg hatte sich der Gedanke »Ich habe ja mein Findbuch!« in meine Fassungslosigkeit eingeschlichen. HAStK – Best. 1621 Dorn, Anne ca.1967–2007 Bearbeiter Bergmann-Franke. Ich holte das grau gebundene DIN-A4-Heft, 52 Seiten stark, darin aufgelistet die Bestellnummern A 1 bis A 142 und sollte es ja auch durchsehen, ergänzen oder korrigieren – oder nun nicht?
In den nächsten Tagen besetzten die in der Zeitung veröffentlichten Fotos der zwei vermißten, jungen Männer meine Vorstellungskraft. Die Möglichkeit, diese jungen Menschen lebend zu bergen, schwand von Stunde zu Stunde. Sie waren nicht meinetwegen ums Leben gekommen, aber sie standen mir durch ihren Tod im Zusammenhang mit dem Einsturz des Archivs auf gewisse Weise nahe. Wenn der Tod ins Haus tritt, fallen die gewohnten Regeln. Jeder ist konfrontiert mit der Gewißheit, daß er selbst auch sterben muß. Es ist ein nur kurze Zeit anhaltender Zustand des Außer-sich-Seins, den ich in meinem Roman »hüben und drüben« genutzt habe, um meinen literarischen Figuren, die Mitte der achtziger Jahre von hüben und drüben anläßlich des Begräbnisses eines alten Mannes in der Nähe von Dresden aufeinandertreffen, ungewöhnliches Verhalten zu ermöglichen. Ihre bei weniger außerordentlichen Begegnungen zurückgehaltenen Gedanken und Gefühle einmal auszusprechen und zu zeigen. Niemand unter ihnen hat diese Verhaltensänderung gewünscht oder erwartet – aber es geschieht so, sie verhalten sich anders und jeder weiß, daß es richtig oder sogar richtiger ist, was sie sich jetzt sagen – den Atem dafür hat ihnen der Tote mit seinem Verschwinden gegeben.
Der Einsturz des Historischen Archivs der Stadt Köln hatte mich in diesen Zustand des Außer-sich-Seins versetzt, ich hatte einen Schock. Ich mußte akzeptieren, daß ich völlig unvorbereitet wen und was verloren hatte. Wenn meine Kinder fragten: »Was denn alles?«, konnte ich erst nur »… ach ja …« sagen und wild durcheinander irgend etwas benennen, zum Beispiel diesen Brief meiner Mutter, aus dem ich ein Theaterstück machen wollte und eigentlich auch gemacht habe, aber erst mal Pause eingelegt und anderes weitergebracht, damals. Dann hatte ich, weil mich dieser Brief meiner Mutter quälte und dann ärgerte und sogar empörte, als Antwort ein Gedicht geschrieben, es verändert, gekürzt, ergänzt, in den entsprechenden Karton gegeben. In dem immer auch an das zuletzt ausgedruckte Blatt Papier die vorherigen Zettel mit einer Büroklammer angeheftet sind, und manchmal umsortiert werden – nein, wurden! –, weil doch die zweite Fassung eigentlich undsoweiter …
Meine Filmdrehbücher! Man macht drei Vorschläge, einer wird akzeptiert. Aber die anderen zählen, für mich sind sie ebenso und vielleicht … Dann die ganzen Auseinandersetzungen mit den Darstellern, die schriftlichen Anfragen des Produktionsleiters, warum gerade den oder die, und das Verteidigen des Standpunkts mit schriftlicher Zusammenfassung des Inhaltes überhaupt, um wenigstens etwas davon zu retten. Unter dem Habhaften zu meinem Film »Begegnungen – elf angebrochene Geschichten« befand-befindet? sich auch eine Postkarte aus Dänemark, die Antwort von Hannelore auf meine Anfrage, ob sie, Hannelore Hoger, mit mir arbeiten wolle, auf der zu lesen steht: »Mit Ihnen immer!« Und das Immer war wunderbar gewachsen und gibt es noch, und das wissen meine Kinder auch. Aber wie soll ich ihnen begreiflich machen, daß sich die Figuren aus den unveröffentlichten Manuskripten bei mir melden, mit dem Anspruch, nicht weggeworfen zu sein, ihre Schicksale so fein und auch hinterhältig mit meinem verwoben, und also Entscheidung von mir verlangend, bohren sie: »Hast du die Mappe mit ›Strand‹ und die mit ›Momente‹ tatsächlich weggegeben, wolltest du nicht – oder willst nun ausgerechnet jetzt?«
Am schlimmsten ist der Verlust von den mit Absicht zurückgehaltenen Manuskripten. In die Obhut des Archivs gegeben, weil damit so viel aufgedeckt war: Der Haß. Die Wut. Die erbärmliche, niemals kleinzukriegende, wilde Sehnsucht nach Liebe. Ins Archiv gegeben als Anfang für irgendwann. Weil damit an eine weitere Tür geklopft war, hinter die ich schauen wollte und immer noch schauen will. Ohne Neugier hört alles auf. Ich sage meinen Kindern und Enkeln: »Mein Humus ist weg.« Sie sagen: »Es kann ja noch was gefunden werden.«
Was ich höre, sind Stimmen aus der Erde. Stimmen Verstorbener aus Briefen, die im Krater in der Severinstraße liegen und die ich mir mit den dereinst leibhaftig geführten Gesprächen ergänze. Die lange währende, freundschaftlich ausgetragene Verschiedenheit in der Auffassung vom real existierenden Sozialismus im Osten und dem von Helder Camara gelebten Sozialismus in Südamerika. Ich hätte so gern den Zettel wieder, den Dorothee Sölle mir in ihrem New Yorker Apartment hinterlassen hatte und auf dem zu lesen war: »Liebe Anne, ich gebe Dir gern mein Apartment. Ich gebe Dir auch gern meine Freunde – aber ob meine Freunde Deine Freunde sind, mußt Du selbst herausfinden!« Und dann waren da vier Adressen. Ein wahrer Schatz.
Ich hätte auch gern die Zettel wieder, die ich von meinen Reisen ins alte Zuhause über die deutsch-deutsche Grenze schmuggeln konnte. Durchschläge von Berichten und Meinungen zur Veränderung ihrer Welt, welche Menschen – meist unterm Schutzdach der Kirche – seit Anfang der achtziger Jahre formuliert haben, wie die »Gedanken wider die Resignation« des Psychologen Ludwig Drees aus Stendal. Es wäre noch weiter und weiter aufzuzählen, was ich verloren habe und gern wieder hätte, und was mir regelrecht fehlt, fehlt, fehlt. Ohne das ich mir nackt vorkomme.
Vielleicht ist es nicht mehr notwendig, daß ich die Glaubwürdigkeit des von mir Geäußerten mit mir anvertrauten Zeitzeugenaussagen belege. Vielleicht bin ich durch das Verschwinden meiner nachweisbaren Verflechtung in die dinghaften und geistigen Vorgänge meiner Lebenszeit aufgerufen, endlich zu vertrauen! Noch höre ich ja die Stimmen aus der Erde, wie die meines Onkels, der eigentlich nie mein Onkel war, weil die Schwester meiner Mutter ihn nie geheiratet hat. Er war Halbjude und hatte seine besondere Geschichte. Und es gab im Historischen Archiv einen Karton mit dem Briefwechsel zwischen ihm und mir durch alle Zeiten. Es gibt diesen Onkel auch als literarische Figur in meinen »Geschichten aus tausendundzwei Jahren«. Vor allem gab und gibt es in meinem Bewußtsein noch seine so simple und deshalb schwer zu akzeptierende Feststellung: »Es ist, wie es ist.« Sooft ich ihn besucht habe, war ich wieder darin bestärkt: Es gibt diesen Mut, sich aus bedrohlichen Situationen nicht fortzuträumen und den Quadratmeter Boden zu sehen, auf dem man steht.
Selbst wenn von meinen dem Historischen Archiv übergebenen Dingen etwas gefunden werden sollte – ich stehe im vierundachtzigsten Lebensjahr. Was gefunden wird, muß erkannt und restauriert werden. Das erfordert Zeit.
Jedenfalls will ich selber nichts aus Nachlässigkeit versäumen: Heute danke ich den Archivaren für ihre beinahe zehn Jahre währende Akzeptanz meiner – der verwickelten Lebenssituation entsprechenden – Pläne und Wünsche im Umgang mit meinem Vorlaß. Ich danke ihnen für ihr Interesse an meiner Arbeit überhaupt und für guten Rat. Und vor allem für ihre Fähigkeit, gleich guten Übersetzern meine Dinge unangetastet bestehen zu lassen – und doch, durch ihren Umgang damit, sie zu bereichern.
suchen, versuchen, finden, sich abfinden
(April 2010)
Etwas verloren haben heißt noch nicht, überhaupt zu verlieren, festgenagelt auf der Verlustseite des Lebens. Ich hatte meinen Vorlaß verloren. Sollte nun alles, was noch in meiner Wohnung war, bei mir bleiben? Der Einsturz des Historischen Archivs war auch eine fühlbare Konfrontation mit dem mir natürlicherweise bevorstehenden Ende meines Lebens. Bislang hatte mir der Kontakt mit den Archivaren und ihre Wertschätzung meiner Arbeit eine Art Lebenssicherung gegeben. Diesen fließenden Vorgang, daß ich etwas, was mir in sich schlüssig und abgeschlossen vorkam, ins Archiv gab und umgekehrt etwas, das aufgrund neuer Überlegungen unbedingt ergänzt oder fortgesetzt werden sollte, zeitweilig zurückholte, empfand ich als eine Art Bestätigung, durch mein Tun auch ohne die ganz große Öffentlichkeit in die Auseinandersetzungen meiner Zeit verflochten zu sein. Meist wußte ich genau, ob für ein neu begonnenes Vorhaben ein Hinterland existierte und wo ich suchen mußte, um meine von anderer Warte aus entstandene Vorarbeit wiederzufinden. Natürlich suchte ich zuerst in Griffnähe, in meinen Schränken und Regalen – aber der Gang durch die frische Luft mit der Gewißheit, daß die Archivare meinem Wunsch gemäß eine bestimmte Mappe im Lesesaal bereitgelegt hatten, diese Unterbrechung einer Arbeit, von der niemand sonst etwas wußte und die entsprechend von niemandem erwartet wurde, gab mir stets das zum Durchhalten notwendige Quentchen Zuversicht.
Am 22. April 2010, ein Jahr und fünfzig Tage nach dem Einsturz des Historischen Archivs in Köln bin ich noch immer, aber auf andere Weise betroffen. Vielleicht so, wie man plötzliche Betroffenheit spürt, wenn man einem Menschen begegnet, mit dem man etwas zu tun hat, aber nicht damit rechnet, wirklich vor ihm zu stehen. Meinem jüngsten Roman »Spiegelungen« habe ich ein Wort Friedrich Schillers als Motto vorangestellt: »Des Menschen Engel ist die Zeit.« Ich habe diesen Octavio Piccolomini in den Mund gelegten Satz »Wallensteins Tod« (letzter Akt, elfter Auftritt) entnommen, und zuendegeführt lautet er: « – die rasche / Vollstreckung an das Urteil anzuheften / ziemt nur dem unveränderlichen Gott«. Ein Jahr nach dem Einsturz habe ich kein Urteil über die Zusammenhänge, die dazu geführt haben, zu fällen, und erst recht keines zu vollstrecken – aber es ist Zeit, daß ich mir mein am 3. März 2009 entstandenes und inzwischen in die alltägliche Wirklichkeit eingestuftes Betroffensein neu bewußtmache. »Weg ist weg. Das Leben geht weiter« und was der in ihrer Simplizität nüchternen Sprüche mehr in Umlauf sind, ich will sie nicht einfach streichen, ihnen allerdings einen Platz auf den hinteren Rängen zuweisen und mich fragen: Was verstört mich noch immer am Geschehen in der Severinstraße 222?
Ist es die abrupte Art des Verschwindens meiner Dinge und die nachträglich gestellte Frage: War es voreilig, meine Sachen selbst in eine gewisse Ordnung zu bringen und durch die Übergabe an das Archiv auf den Erhalt dieser Ordnung zu bauen? Das Archiv war nicht meinetwegen da und überhaupt keiner einzelnen Personen halber. Vor der Übergabe hatte man, was ich übergeben wollte, geprüft und für wert befunden. Aber galt nicht auch für Direktoren und gestandene Archivare Immanuel Kants Erkenntnis: »Es gibt nur ein subjektives Geschmacksurteil"? Gibt es nicht die Geschichte, daß, während Goethe und Schiller in Weimar wirkten, Kotzebues Werke weit höher geschätzt wurden? Wie und von wem soll der Wert von nicht unmittelbar nutzbaren Dingen festgelegt werden?
Bei den wirklich alten Archivalien ist diese Frage leicht zu beantworten. Pergamente haben ihren Wert schon in sich, dank ihrer Konsistenz. Eine in ihrer Einmaligkeit einem Lebewesen zugehörige und nach dessen Tod abgelöste, dünn geschabte Tierhaut ist als Schreibgrundlage kostbar – und also das geeignete Material, Verträge, Thesen, Gelübde, bedeutungsschwere Nachrichten und eben außergewöhnlich weitreichende Gedanken darauf festzuhalten. Vielleicht überdauern diese Pergamente so gut, weil so viel Zeit zu ihrer Bereitung nötig war – und selbst die Tinte zu ihrer Beschriftung mühselig dem Tintenfisch entnommen werden mußte. Auch das Purpur, das Gold und das Indigoblau zur farbigen Gestaltung der Initialen wie der Illustrationen in den Handschriften des frühen Mittelalters mußten mit großem Aufwand bereitet werden. All diese Materialien waren schon ohne Verwendung wertvoll.
Ein Jahr nach der Katastrophe in Köln zeigt sich, daß gerade die auf Pergament verfaßten Dokumente den Einsturz am besten überstanden haben. Ich habe auch Fetzen guten, alten, in der Papiermühle aus Lumpen hergestellten Papiers gesehen, darauf noch ein Wort oder zwei, drei in deutscher Kanzleischrift, sorgfältig mit leichtem Aufund kräftigem Abstrich zu Papier gebracht. Zur Herstellung dieses Papiers mußten Lumpen gesammelt, sortiert, gewaschen, zermahlen, gebleicht und dann die Fasern durch Schütteln miteinander verfilzt werden.
Die Manuskripte, die ich als Vorlaß ins Archiv gegeben habe, waren zumeist auf wohl nicht einmal säurefreiem, maschinell hergestelltem Schreibmaschinenpapier getippt, oder auch nur mit Hilfe von Blaupapier fabrizierte Durchschläge von Manuskriptseiten auf Durchschlagpapier. Die inhaltsreichen, handschriftlich verfaßten Briefe aus Zeiten des Krieges fallen dank des stark vergilbten Holzpapiers auch zerfetzt in der Masse des Aushubs sofort auf. Nicht das Material, die auf das Papier gebannte Mitteilung ist jetzt der Wert.
Als der Krieg vorbei war, sollte alles besser und ganz anders werden: Ein Herr Kudelski, Bürger der Schweiz, kaufte alle in den verschiedenen Heeren zur Optimierung der Nachrichtenübermittlung entstandenen Erfindungen auf und produzierte das NagraTonband-Aufnahmegerät. Zwölf starke Batterien brachten es in Gang – und es wog entsprechend schwer. Die Aufnahmen waren außerordentlich gut und wurden auf einem Magnetband, etwa so breit wie ein Schnürsenkel, festgehalten. Ich habe selbst damit gearbeitet, habe auch miterlebt, wie beim Schnitt die Toningenieure die Spulen rasch abrollten und die verworfenen Aufnahmen als ein Berg von Senkelbandschlangen unter den Tischen landeten. Man rollte sie später wieder auf und löschte die darauf festgehaltenen Töne, um die Bänder erneut zu verwenden. Diese Mühe war also inbegriffen, von der Mühe der einzelnen Erfinder, die im Dienst ihrer Vaterländer die Basis für die neuen Medien geschaffen haben, nicht zu reden.
Die Kassettenrecorder kamen, leichter, bequemer, mitsamt dem dazugehörigen noch weit schmäleren Band in Tonkassetten, im Fünferpack zu kaufen bei Aldi.
Im Bereich des Films kamen Ende der siebziger Jahre die ersten Videokameras in Gebrauch. Sie waren leicht und handlich. Die für 16-Millimeter-Film meistgenutzte Ariflex Kamera war – ähnlich dem NagraTonbandgerät – dagegen enorm schwer. Es war körperlich harte Arbeit, damit umzugehen.
Die Belege meiner Filme erhielt ich als VCR-Kassetten, deren Band fast so breit war wie der 16-mm-Film selbst. Dafür gab es keine Heim-Abspielgeräte. Also griff ich sofort zu, als die VHS-Kassette als Neuerung aufkam. Das normale Fernsehgerät, ein Recorder, schon hatte ich meine Filme, umgespielt von VCR auf VHS, zur Verfügung.
Waren es wirklich noch meine Filme? Zusehends verblaßten die Farben, vor allem die feinen Geräusche verschwanden in Windeseile, das Summen der Insekten, ein Rascheln im Laub, der Schrei eines Bussards, der im Bild nicht zu sehen ist, aber die Geschichte weiterträgt.
Inzwischen habe ich alle Möglichkeiten, Gedanken oder Geschehnisse aufzuzeichnen und aufzubewahren, buchstäblich in der Hand. Handys sind alles, mein Gedächtnis, mein Mahner, mein NachrichtenTransporteur, aber wozu will ich frei sein von diesen Mühen, die mich nicht mehr aufhalten auf dem Weg – und wohin denn?
Während ich hier sitze und diese Zeilen schreibe, gibt es unentwegt weitere Erfindungen zur Speicherung von dem, was wir unser geistiges Gut nennen. Wahrscheinlich ist es eine unabdingbar notwendige Übereinkunft, die wirklich gilt: Daß wir dieses unser geistiges Gut um gar keinen Preis verlieren wollen, weil es unser Menschsein ausmacht. Wir überschlagen uns darin, Methoden und Geräte zu dessen Aufbewahrung zu erfinden – und erfahren gleichzeitig, daß alles Neue nur vorläufig ist. Was wir eben noch zum Speichern benutzt haben, benutzt »kein Mensch mehr«. Zur Zeit nimmt man einen Stick, der bewahrt und auch weitergibt, sozusagen in und aus Rock oder Hosentasche.
Vor drei Jahrzehnten habe ich mich über eine ganze Zeit hin damit beschäftigt, warum selbst Flachländern die Sehnsucht innewohnt, einen Berg zu besteigen. Daraus entstand die Erzählung »Bergpartie«. Als vor drei Jahren eine Inhaltsangabe meines Romans »Siehdichum« nötig war, fiel mir dieser Text wieder ein. Ich holte ihn aus dem Archiv und fand darin ein gutes Bild für die widersprüchlichen Empfindungen der Protagonistin in »Siehdichum«. Immer wieder schlägt sie gegenläufige Wege zu einem vermuteten Gipfel hin ein, und als sie oben ankommt, weiß sie, daß es nur eine Möglichkeit unter vielen war, zu finden, wonach sie sucht. Es war das Treffendste, womit ich den Inhalt meines Romans umreißen konnte. Noch vor drei Jahren also stand ich auf einem über lange Zeit hin entstandenen und mir jederzeit zugänglichen Denk- und Ausdrucksfundament. Einem Reichtum, vergleichbar der Kiste voller Zweifel, die noch immer unter jedem Bett steht, in dem ich schlafe.
Nehme ich einmal an, daß ich noch jünger wäre und in zwanzig Jahren noch schreiben könnte – ich würde dann vielleicht gern einen auf einem Stick gespeicherten Text wieder lesen. Aber hätte ich ihn auf alle in der Zwischenzeit nutzbaren Datenträger umkopiert? Auf dem Stick selbst wäre er – nach meinen Erfahrungen mit der Solidität der rasch und leicht zu nutzenden Speicher – in zwanzig Jahren nur ein weißer Flecken.
Etwas aufheben, weil es mir lieb ist. Ich liebe auch mein Leben. Es soll schön sein! Schön ist, was – zumindest für den Augenblick und für mich – in Ordnung gekommen ist, was ich überschauen kann, was gestaltet ist und mir in seiner, von mir erkennbaren Form keine Angst macht.
Meinem jüngsten Roman, im März 2010 im Dittrich Verlag erschienen, habe ich den Titel »Spiegelungen« gegeben. Etwa ein dreiviertel Jahr vor der Katastrophe in der Severinstraße begonnen, habe ich ihn nach Überwindung der Schreckensstarre vom März 2009 mit leidenschaftlichem Engagement zu Ende geschrieben. Es geht mir darin um die in den einzelnen Lebensphasen sehr unterschiedliche Art von Wahrnehmung all dessen, was mit uns, um uns herum und in uns geschieht. Alle Romanfiguren befinden sich fortwährend in einer Gegenwart, aber immer in einer extrem anderen als gerade eben, als trauten sie weder einer Vergangenheit noch einer Zukunft. Auf diese Weise spiegelt sich im Geschehen ein ganzes Jahrhundert. Erst im letzten Kapitel konnte ich meinen Figuren erlauben, sich zu erinnern. Sich aus der fordernden Gegenwart zu lösen, einer unartikulierten Zukunft zuliebe.
Der Einsturz des Historischen Archivs in Köln war und bleibt ein Schock, nicht nur für mich. Wie konnte es sein, daß beim Kennzeichnen der besonders schützenswerten Gebäude entlang der projektierten U-Bahn-Linie das Historische Archiv vergessen wurde? Aufgrund dieses fehlenden Eintrags wurde genau vor dem Gebäude Severinstraße 222 eine Gleiswechselstelle eingeplant und der 28 Meter tiefe Schacht dafür nötig. In dieses Loch fiel das den U-Bahn-Planern, Gutachtern und Bauherren unbekannte Gedächtnis der Stadt. Der Rheinlande. Westeuropas. Daran denken nun alle.
SINN UND FORM 6/2010, S. 853-864