
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-39-3
Heft 1/2018 enthält:
Prischwin, Michail
»Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet, S. 5
Vorbemerkung
Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928
Wie soll man (...)
Prischwin, Michail
»Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet
Vorbemerkung
Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928
Wie soll man dagegen sein! Nur ein Verrückter kann sich unter die Lawine stellen und denken, daß er sie aufhält. Mir vormerken: In ein Umfeld gehen, wo aufgebaut und an etwas geglaubt wird.
28. Oktober 1929
Die Revolution beraubt den Menschen seines individuellen Schicksals.
24. Dezember 1930
Michail Prischwin (1873 –1954) ist dem Leser, in Rußland wie jenseits seiner Grenzen, vor allem als Kinderbuchautor bekannt und als »Sänger der russischen Natur« – ein Titel, den er Maxim Gorki verdankt. In den deutschen Sprachraum vermittelte ihn als erster Alexander Eliasberg, der 1914 im Münchener Georg Müller Verlag eine Auswahl früher Erzählungen vorlegte. Den Kulturvermittlern in der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR galt Prischwin, da offiziell zwar anerkannt, doch ideologisch wie stilistisch fern jedem sozialistischen Realismus, als probater Autor, um das deutschsprachige Publikum an die Sowjetliteratur heranzuführen; allerdings betrieb kein Verlag in Ost oder West kontinuierliche Werkpflege. In der DDR erschien noch das eine oder andere, meist aber wurde bereits Übersetztes neu herausgebracht. Prischwins einziger Welterfolg war und blieb »Ginseng. Die Wurzel des Lebens«, verfaßt 1932 / 33, erstmals erschienen 1934. Daß es einen zweiten – gleichwohl vom Naturschilderer nicht zu trennenden – Prischwin gibt, den Beobachter und Bedenker der Menschen und des Menschengemachten, entging der Öffentlichkeit. Und es mußte ihr entgehen: Der Autor, der seit 1905 Tagebuch schrieb, tat dies ab 1917 im verborgenen, auch im engsten Umfeld wußte bis zuletzt nur seine zweite Frau davon. Eine einbändige, thematisch geordnete Auswahl ohne Datumsangaben, die 1960 unter dem Titel »Nesabudki« (Vergißmeinnicht) erschien, konnte nicht – und durfte wohl auch nicht – das tradierte Bild korrigieren. Möglich machte dies erst die Perestrojka: Zwischen 1991 und 2017 wurden Prischwins Tagebücher in 18 Bänden mit mehr als 13 000 kleingedruckten Seiten ediert. Sie umfassen drei russische Revolutionen, den Großen Terror, den Zweiten Weltkrieg, das erste Jahr nach Stalins Tod und bilden ein Mosaik aus Alltagserlebnissen, Begegnungen mit berühmten Persönlichkeiten wie einfachen Menschen, aus Betrachtungen zu Literatur, Religion, Politik, Philosophie, aus Träumen und Selbstbeobachtungen, Naturschilderungen, Briefkonzepten, literarischen Entwürfen, Haushaltsfragen, Überlegungen zur Beziehung der Geschlechter etc. Vor allem aber verzeichnen die Tagebücher immer wieder kleine und kleinste Mutationen des politisch-gesellschaftlichen Lebens und deren Niederschlag im Alltag, im Individuum, im Zwischenmenschlichen, in der Sprache. Dieses gigantische diaristische OEuvre entsprang dem Willen, den eigenen Blick, das eigene Fühlen und Denken, die eigenen Wertvorstellungen, die eigene Sprache freizuhalten von den Korruptionen, denen viele aus mangelnder Widerstandskraft oder aus Angst erlagen – oder zu denen sie durch ihren Glauben an die Revolution verführt wurden. Auch Prischwin gelang es nicht, von den politischen und sprachlichen Topoi des neuen Regimes gänzlich unberührt zu bleiben. So notiert er am 14. November 1930: »Sechs Jahre habe ich an der ›Kette des Kaschtschej‹ [einem autobiographischen Roman] geschrieben in der Hoffnung, unser Land stünde vor einer Wiedergeburt, die ich als einträchtiges gemeinsames Schaffen eines guten Lebens verstand. Mein Vorgefühl hat mich getrogen, wie sich zeigt, ist der Weg bis zu einem ›guten‹ Leben in freiem Schöpfertum noch weit (…)« Zugleich endet der Eintrag mit der Feststellung, daß ihm »die ›Notwendigkeit‹ mit ihrem Realismus « jetzt näher sei »als die ›Freiheit‹ mit ihrer Illusion und Romantik«.
In den Jahren der Leninschen »Atempause« (der Neuen Ökonomischen Politik) und noch 1928 erlaubte sich Prischwin bei aller abständigen Skepsis Hoffnung. Es ist das Jahr, in dem der erste Fünfjahrplan zur Förderung der Wirtschaft in Kraft tritt, die Zeitschrift »Oktjabr« Scholochows »Der stille Don« und Ilf und Petrows »Zwölf Stühle« abdruckt, der wie Grigori Sinowjew und Dutzende andere linke und rechte Oppositionelle aus Politbüro und Partei ausgeschlossene Lew Trotzki nach Alma-Ata verbannt wird, Sergej Eisensteins Film »Oktober« in die Kinos kommt und Maxim Gorki nach siebenjähriger Abwesenheit erstmals wieder sowjetischen Boden betritt. Von Prischwin erscheinen die Bände 3 bis 6 einer auf sieben Bände angelegten Werkauswahl, die, noch ehe der letzte Band herauskommt, 1929 in die 2. Auflage geht. Seine immer wieder aufkeimende Hoffnung auf eine bessere Zukunft verdankt sich seinem früh in einer persönlichen Krise erworbenen Credo der Lebensbejahung, auch dann, wenn Wirklichkeit und persönliche Verzweiflung eher dessen Verneinung nahelegen (Suizid gedanken begleiten ihn bis ins Jahr 1940). Dem augenscheinlich Bösen, Katastrophischen, Sinnlosen einen Sinn abgewinnen, es nicht als das Äußere, Überwältigende, Andere zu betrachten, sondern es als Teil der eigenen lebensweltlichen Wirklichkeit durch teilhabende Beobachtung und distanzschaffendes Schrei ben ins tägliche Dasein zu integrieren – diese Haltung half ihm bereits, die Bürgerkriegsphase zu überstehen. Nach einem zweiwöchigen Gefängnisaufenthalt – man hatte ihn zusammen mit Führungspersonen von »Wolja Naroda« (Volkswille, einer Zeitung der Sozialrevolutionäre, für deren Literaturbeilage er schrieb) verhaftet – notierte er am 30. Januar 1918: »Jetzt ist klar, daß es unmöglich ist, im Namen der menschlichen Individualität gegen die Bolschewiki anzutreten: Der Bottich brodelt und wird bis zuletzt brodeln, man kann höchstens an den Rand des Bottichs treten und überlegen: ›Wie, wenn ich mich auch hineinstürzte‹?« Der Bottich ist bei Prischwin eine Metapher für persönlichkeitslose Räume, für die Geschichte und das kollektive ("östliche«) Wir.
Er selbst wird sich nicht hineinstürzen, sondern dicht am Rand des Bottichs stehenbleiben. Im Frühjahr 1918 zieht er wieder ins heimatliche Chruschtschowo, ein Dorf nahe Jelez im Gouvernement Orjol, wo er versucht, auf einem ererbten Stück Land, auf dem er ein Haus gebaut hat, als Lehrer, Jäger und Selbstversorger mit Frau und zwei Kindern durchzukommen. Doch die Mushiki verjagen ihn schon im Herbst: Es war die Zeit der »schwarzen Umteilung«, in der Landlose nach Gutdünken Enteignungen durchführten. 1920 / 21 darbt Prischwin als Lehrer in Alexino (Smolensker Gebiet), wo er im einstigen Adelssitz der Baryschnikows das »Museum des Gutslebens« einrichtet. Er hungert, geht auf die Jagd und läuft viele Werst in die Stadt, um für seine Dorflehrerration zu kämpfen. Was immer ihm begegnet, notiert er im Tagebuch: Natureindrücke, den Mushiki Abgelauschtes, in deren Dialekt sich Vulgarismen mit Biblischem und verdrehtem Bildungswortschatz ("Antilligenz«) mischen, die Gestik der Revolutionäre, den verunglückenden Sowjetsprech und die Gewaltexzesse der neuen lokalen Machthaber, häusliche Szenen, und dazu nicht selten christlich-apokalyptisch gefärbte Reflexionen über all dies. 1922 verdichtet er, was ihm in Chruschtschowo und Alexino widerfuhr, in wenigen Monaten zu einer schauerlich wahren Groteske, ganze Tagebuchpassagen finden nahezu unverändert Eingang in die Erzählung »Der irdische Kelch«, über die Trotzki, auch wenn er ihr »großen künstlerischen Wert« bescheinigt, das Todesurteil verhängt: »Ganz und gar konterrevolutionär«. Eine vollständige und unzensierte Fassung des Buches liegt erst seit 2004 vor.
Aber noch in den schwärzesten Phasen sucht und findet Prischwin den Augenblick des Innehaltens und Zurücktretens, der Schönheit, der Harmonie, des Aussetzens der jagenden Zeit: das Idyll. Das Idyll nicht als Flucht aus Gesellschaft und Geschichte (also als innere Emigration), sondern im Gegenteil als Rebellion: als beharrliches Erinnern an eine andere Dimension des Daseins – des Seins als solches. Das um so unbeirrter gepriesen werden muß, je mehr es bedroht ist. Er selbst spricht nicht von Idyllen, sondern von »phänomenischen« Notaten und Skizzen. Auch in seinen Romanen schreibe er letztlich »otscherki«, jene nur ungenügend mit »Skizze« übersetzbare Kleinform, die nah an realen Begebenheiten bleibt, sie aber derart verdichtet, daß ein verborgener Sinngehalt hervorgetrieben und das Geschehnis transzendiert, aus seiner Einzelfallhaftigkeit erlöst wird. Tatsächlich ist jedes Tagebuchnotat mal mehr, mal weniger sprachlich-stilistisch durchgestaltet, und die Diarien erscheinen im Ablauf der Tage merklich komponiert. So entsteht Eintrag um Eintrag ein fünfzig Jahre umspannender chronikalischer roman fleuve, dessen Protagonist durch eine Zeit grauenvoller Irrungen und Wirrungen geht, eine Zeit, die Tag für Tag, Jahr um Jahr von den Menschen gelebt wurde, vom einzelnen, der seine Hilflosigkeit, sein Ausgesetztsein erfährt, dem vielleicht eben nur diese eine Chance bleibt: einen Ort zu finden, den er freihalten kann von dem System reiner, vollendeter Tatsachen, die Zeit und Raum und Geist bis an den äußersten Rand füllen und füllen sollen.
Prischwin hat diesen Ort im diaristischen Schrei ben gefunden. »Der Kampf vom Lachen bis zum Schrei und den Tränen über die eigene Person wird für alle gebraucht – darin besteht mein Weg in der Literatur. Deshalb hat mich der im Wasser zappelnde Schmetterling beschäftigt: Das bin ich! Folglich muß der Schmetterling gerettet werden«, notiert er am 18. Juni 1937. Dieser Ort des Rückzugs, der Raum des diaristischen Schreibens, erweist sich auf dialektische Weise zugleich als derjenige Ort, an dem man sich auf die Zumutungen des Faktischen mit allen geistig-seelischen Konsequenzen einlassen kann und an dem sich andere Erkenntnisse gewinnen lassen als im »Bottich« (in den sich etwa ein Ilja Ehrenburg warf): Man erlebt sich – noch eine dialektische Volte – als hineinverwickelt, widersprüchlich, zerrissen, fehlgehend: »Im Politischen irre ich mich beständig, weil ich mir meine Urteile aus Material bilde, das mein Herz mir zuträgt, mein Verstand wagt nur im Verein mit dem Gefühl aufzutreten«, konstatiert er am 21. Juli 1929, »deshalb sind meine Urteile im Politischen stets kleinbürgerlich und unsicher.«
Deutlich wird diese Unsicherheit etwa in Prischwins zwiespältiger Haltung gegenüber den Mushiki, dieser Lumpenbauernschaft, die zwischen 1917 und 1922 zu einem plündernden und mordenden gesellschaftsfeindlichen Mob wurde. Ihm zog er, so brutal sie ihrerseits war, die bolschewistische Staatsmacht vor, schien sie doch ein Minimum an Ordnung zu garantieren. Als er 1928 / 29 in Sagorsk (Sergijew Posad) lebt und viel auf dem Land unterwegs ist, fühlt er sich erneut an die Zeit des Kriegskommunismus erinnert: »Dem Mushik ›die Freiheit geben‹«, vermerkt er am 21. August 1928, »bedeutet, ihm die Freiheit zur Zerstörung zu geben.« Gut ein Jahr später, am 1. November 1929, schreibt er: »Das äußere Bild erinnert sehr an 1918, damals allerdings wurde das Plündern mit der Revolution gerechtfertigt: ›Plündere den aus, der dich ausgeplündert hat‹, heute mit dem sozialistischen Aufbau der Zukunft. Damals saß auf jedem Posten ein überzeugter Revolutionär, heute nur noch ein Exekutivbeamter, Überzeugte gibt es nicht mehr. [durchgestrichen: Die Welt hat in der Geschichte alle Arten von Raub und Plünderung gesehen, aber so etwas, daß jeder Werktätige ausgeraubt wird zugunsten der faulenzenden ›Armut‹ und die Bürokraten mit dem Wort ›wer nicht arbeitet‹ … Widerlich, daran zu denken.]« Drei Tage zuvor hatte er notiert: »Selbst wenn es eine Akkumulation der Produktionsmittel, von Traktoren und anderen Maschinen gibt, so zahlt den Preis dafür die Bevölkerung durch Verarmung. Die Frage ist bloß, was zuerst eintritt: Machen die Maschinen die Armen glücklich und reich, oder zerstören die Armen in äußerster Verzweiflung die Maschinen? Warten sie oder nicht?«
Michail Prischwin betrachtete seine Tagebücher als sein Hauptwerk. Zu Recht: Sie sind Zeitchronik und Zeitroman in einem, sind durch die Wahrnehmung eines einzelnen gegangene und in unterschiedlichem Maße literarisch verdichtete Mitschriften der Ereignisse. Dieser einzelne – man kann es sich denken – ist zu keinem Zeitpunkt ein innerlich entschiedener oder gar sich offen bekennender Gegner des Regimes, doch ebensowenig ein Befürworter. Gerade das öffnet sein Ich auf all die anderen einzelnen, die unter den Bedingungen von Revolution, Krieg, Bürgerkrieg und Stalinismus lebten.
Der folgende Auszug stammt aus dem Jahr 1930, das am 5. Januar mit dem ZK-Beschluß »Über das Tempo der Kollektivierung und die staatlichen Hilfsmaßnahmen beim Kolchosaufbau « begann. Am 30. Januar folgte der Beschluß »Über Maßnahmen zur Liquidierung der Kulakenwirtschaft und zur Durchsetzung der Kollektivwirtschaft«, am 25. April der »Über die Konsolidierung der Situation in den Arbeitslagern«. In Sogorsk wurden im Januar die Glocken von den Kirchtürmen gestürzt. Prischwin hat dieses »Glockensterben « im Tagebuch und auch auf Fotos festgehalten. Er selbst gerät als Mitglied der Schriftstellergruppe Perewal in die Kritik. In Moskau wurde am 2. Februar eine Ausstellung zu Majakowski eröffnet, der gut zwei Monate später den Freitod wählte; Isaak Brodski malte »Lenin im Smolny«, und im Bereich der Literatur erschienen Arkadi Gajdars »Die Schule des Lebens«, Marietta Schaginians »Das Wasserkraftwerk«, Iwan Bunins »Das Leben Arsenjews«, Andrej Platonows »Die Baugrube« sowie, im Berliner Exilverlag Slowo, Vladimir Nabokovs Roman »Lushins Verteidigung«.
Eveline Passet
SINN UND FORM 1/2018, S. 5-27, hier S. 5-9
Ranga, Dana
Cosmos! Gedichte, S. 28
Murawjowa, Irina
Die Gestrigen, S. 33
Sobol, Michał
Herr Orkusz. Gedichte, S. 42
Köpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne, S. 46
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den (...)
Köpp, Ulrike
Neues Leben und Gemeinschaft. Zum Reformstreben in der Moderne
Die Stalinallee, jene für ihre Architektur bewunderte wie verhöhnte Prachtstraße in der östlichen Mitte Berlins, ist eine Chiffre für den hoffnungsvollen Kurs zum Aufbau des Sozialismus wie auch für die existentielle Krise der Deutschen Demokratischen Republik im Juni 1953. Der sozialistische Boulevard sollte Arbeitern und ihren Familien großzügige, lichte Wohnungen bieten, mit Ladenzeilen die industrielle Leistungsfähigkeit des Landes demonstrieren und den Bewohnern mit einer Vielfalt gediegener Konsumgüter ein gutes Leben verheißen. In der Vorstellung der Planer gehörten dazu neben Geschäften für Jenaer Glas, für Schuhe und Bekleidung auch eine großzügige Buchhandlung und zwei Reformhäuser. Deren Einrichtung war im Rat des Stadtbezirkes unumstritten. Ganz anders die Frage, ob man auch dem Verkauf von Antiquitäten und Pelzwaren stattgeben solle, galten diese doch als Luxusgüter und standen für eine Gesellschaft der sozialen Ungleichheit, welche die DDR als Gesellschaft der Gleichen überwinden wollte. An den Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Reformhäusern störte sich aber niemand, sie gehörten zum städtischen Leben und Einkaufen dazu wie Werbeanzeigen für Säfte oder Margarine aus der Reformsiedlung Eden bei Oranienburg. Die Ideen und Praktiken der um 1900 entstandenen Lebensreformbewegung waren inzwischen ganz selbstverständlich in den Alltag der Leute eingegangen. Auch für mich gehörten die Reformhäuser mit ihren braunen Holzregalen seit meiner Kindheit zum Inventar der Städte. Erst auf der Suche nach den Adern der Lebensreform in der DDR im Archiv stieß ich auch auf institutionelle Widerstände gegen diese Bestrebungen. Hinter den Kulissen gab es sogar den Versuch, den Gebrauch des Begriffs Reform für diese Handelseinrichtung zu unterbinden. Womöglich kam er von subalternen Mitarbeitern, die damit dem revolutionären Selbstverständnis der SED Genüge zu tun meinten. Bei dem Versuch sollte es dann aber auch bleiben.
Bei den Auseinandersetzungen um Praktiken der Lebensreform in den Nachkriegsjahren und der Frühzeit der DDR ging es immer auch um die Frage: Wie wollen wir leben nach diesem schrecklichen Krieg? Sein Ende wurde auch als Chance für einen kulturellen Neuanfang verstanden. Mit der Roten Armee kamen im Mai 1945 dessen Vorboten, die sowjetische Besatzungsmacht zirkelte den politischen Raum dafür ab: mit der Entnazifizierung der Behörden und Verwaltungen, mit der Bodenreform und der Enteignung der großen Unternehmen, die mit dem Krieg Gewinne gemacht hatten. Und ob die Deutschen sich nun als von den Faschisten Befreite fühlten oder als vom Feind Besiegte, sie nahmen diesen Raum ein und zeigten, daß selbst noch im radikalen historischen Bruch eine kulturelle Kontinuität waltet. Auch die Revolution von oben hat ihren Boden, der sie nährt.
Gleich im Sommer 1945 richtete der Magistrat von Groß-Berlin im Ressort Volksbildung eine Abteilung »Neues Leben« ein. Sie sollte »die Kulturarbeit des neuen Menschen« befördern. Mit Vorlesungen, Volkshochschulen und Ausstellungsführungen wollte sie den Berlinern geistige Anregung bieten. Tanz matineen, Gymnastik und Laienspielgruppen sollten für Unterhaltung und Entspannung der erschöpften Bevölkerung sorgen. Gesangs- und Sprechchöre wollte man auf die Beine stellen und mit ihnen die antifaschistisch-demokratische Politik des Magistrats unterstützen. Sogar um die Organisation von Reisen und Wanderungen wollte sich die Abteilung zusammen mit Jugend- und Tourismusvereinen kümmern. All diese Vorhaben erinnern an die Praxis der sozialdemokratischen Kulturarbeit in der Weimarer Republik. Der Mehrzahl der Berliner lagen freilich wohl die Unternehmungen weit näher, die sie mit der NS-Organisation »Kraft durch Freude« erlebt hatten. Diese aber hatte nur an das Freizeitkonzept der Arbeiterkulturbewegung vor 1933 angeknüpft, so wie nun auch die Antifaschisten, die zum Beispiel im Bezirk NO 55 die Bewohner zu einer ersten Silvesterfeier nach dem Krieg einluden. Man wolle das Jahr gemeinsam »in würdiger Form und froher Weise abschließen«, mit Freude und neuem Lebensmut. Die Einladung versprach ein kurzes Programm mit Rezitation und Gesang, ein Marionettenspiel mit dem Titel »Ein chinesisches Friedenslied« und Tanz in das neue Jahr hinein. Das Mehl und das Fett für die Pfannkuchen mußte allerdings jeder selber mitbringen.
Die Abteilung »Neues Leben« des Berliner Magistrats setzte auf alle, die trotz der Trümmerlandschaften wieder zu hoffen wagten. Mit Liederheften wollte sie die Gemeinschaft stärken, was schließlich not täte »beim nicht leichten Aufbauwerk «. Ein erstes Heft, »Lieder für Feier und Gemeinschaft«, erschien 1946. Es hob an mit »Freundschaft ist die Quelle wahrer Glückseligkeit«, einem Kanon von Beethoven, und ging weiter mit dem Volkslied »Die Gedanken sind frei« und dem Lied der Moorsoldaten, mit dem die Häftlinge des Konzentrationslagers Börgermoor ihr elendes Dasein zu überstehen versuchten. Der Grundton von Gemeinschaft erklang auch in den zukunftsgewissen deutschen Arbeiter und Jugendliedern wie »Wann wir schreiten Seit’ an Seit’« und in russischen Volksliedern. Ein zweites Liederheft hieß »Weisen von Abschied, Liebesfreud und Liebesleid«; der Verlag Neues Leben hatte sie offenbar sämtlich dem »Zupfgeigenhansl « entnommen, dem legendären Liederbuch der bürgerlichen Wandervögel. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte es Gymnasiasten und Studenten auf ihren kleinen Fluchten aus dem Alltag begleitet und ihnen geholfen, sich auf ihren Wanderungen als »neue Menschen« zu fühlen. Im »Zupfgeigenhansl« war demokratisches Liedgut über die Nazizeit hinweg aufbewahrt worden. Die ursprünglich darin enthaltenen Soldatenlieder hatte der Verlag allerdings nicht mehr abgedruckt. Den fröhlichen Marsch ins Feld zu besingen, danach war niemandem mehr zumute, schon nach dem Ersten Weltkrieg nicht und nun erst recht nicht mehr.
Wo sich 1945 in Ostdeutschland Hoffnung auf Gemeinschaft und ein neues Leben regte, reichte diese also bis an den Anfang des Jahrhunderts zurück. Der Soziologe Ferdinand Tönnies hatte den Begriff der Gemeinschaft 1887 in seiner Schrift »Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen« geprägt. Darin grenzte er die beiden sozialen Gebilde scharf voneinander ab. Er verklärte das naturwüchsige Leben in der traditionellen Dorfgemeinschaft zum Inbegriff harmonischen Daseins und sah die Gesellschaft als bloßes Nebeneinander entfremdeter Individuen. Tönnies hatte die mit den Gründerjahren sich rasant entwickelnde Industriegesellschaft vor Augen, die ihm allein auf »Egoismus«, auf »Begierde und Furcht« zu beruhen schien. Die Großstadt galt ihm »überhaupt als Verderben und der Tod des Volkes«. Seitdem entfaltete der Begriff der Gemeinschaft eine geradezu magische Kraft. Denn die Bewohner der großen Städte übernahmen ihn und übertrugen ihn auf ihre Bedürfnisse. Sie lösten ihn von seinem Ursprung, der dörflichen Zwangsgemeinschaft, und wendeten ihn auf Gemeinschaftsformen an, die sich innerhalb der kritisierten Gesellschaft eröffneten. Die in die Moderne Entlassenen erfanden sich ihre Gemeinschaft, wählten sie je nach Lebenslage, Interessen und Neigungen. Wie die Wandervögel, die Gymnasiasten und Studenten, die am Wochenende »auf Fahrt« gingen und dabei ihr Anderssein kultivierten und sich als Neue Menschen stilisierten. Oder wie die ehemaligen Tagelöhner und Mägde, die in die Städte gezogen waren, wo sie die Fabriken und Wohnverhältnisse als Fluch erlebten. Sie fanden mit ihresgleichen neue Zugehörigkeit, die Geselligkeit in der Kneipe, die Ausfahrt am Sonntag oder den solidarischen Zusammenhalt im Arbeitskampf um höhere Löhne.
Nicht selten war die Erkundung alternativer Lebensformen mit der Suche nach Antworten auf die »soziale Frage« oder »die Arbeiterfrage« verbunden, zeitgenössische Kürzel für die Mißstände der kapitalistischen Gesellschaft und die Hoffnung auf Besserung im Sinne des Sozialismus. Auch der Untertitel der ersten Ausgabe von Tönnies’ »Gemeinschaft und Gesellschaft«, der noch die Begriffe von »Communismus und Socialismus« enthielt, ist nur ein Indiz dafür, wie virulent sozialistische Vorstellungen waren und wie eng die verschiedenen politischen und kulturellen Bestrebungen im Ausgang des 19. Jahrhunderts zusammenhingen. Das Wissen darum ist freilich im 20. Jahrhundert verlorengegangen. Die geschichtlichen und sozialen Entwicklungen trennten sie, nicht zuletzt die großen Kriege. Und eine akademische Geschichtsschreibung, die dem Gang der Ereignisse politisch befangen, wenn nicht ideologisch verblendet nur auf bestimmten Pfaden folgt.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 46-60, hier S. 46-49
Rosenau, Christian
Helden sagen. Gedichte, S. 61
Habbal, Rasha
Ich erlaube dir nicht, mich zurückzulassen, S. 65
Antoon, Sinan
Die schmale Stelle am Tor. Gedichte, S. 75
Demus, Jakob
Nachtschau, S. 78
Stárková, Magdaléna
Die Nacht verteilt. Gedichte, S. 87
Wegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire«, S. 90
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, (...)
Wegmann, Christoph
Der Kanzler und die Sängerin.
Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire»
Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, Spielkarten, Ofenkacheln mit biblischen Szenen und vielem mehr. 1819 geboren, wurde er Zeuge jenes Umbruchs, in dessen Verlauf Bilder die Schrift verdrängten und die Herrschaft über Wahrnehmen und Denken übernahmen.
Als Fontane sieben Jahre alt war, brachte der Vierfarbendruck die Lithographie in Schwung, und der Neuruppiner Bilderbogen, durch den der Knabe Theodor so vieles erfuhr, erstrahlte in farbigem Glanz. Als er zehn war, taten sich Joseph Nicéphore Niépce und Louis Daguerre zusammen, um das heliographische Verfahren zu verbessern. Mit dreizehn konnte er in der Wundertrommel die ersten Bilder laufen sehen, mit achtzehn die ersten hochwertigen Farbillustrationen bestaunen, mit vierundzwanzig die erste Illustrierte durchblättern. Dann kamen der Rotationsdruck und die Massenpresse auf, auch das Photonegativ, mit dem man von ein und derselben Aufnahme beliebig viele Abzüge herstellen konnte. Ab Mitte des Jahrhunderts errichtete man wie im Fieber in allen großen Städten Museen, Ausstellungssäle, Kunstgalerien und Rundgebäude für Panoramen. Litfaßsäulen und Plakatwände wurden montiert, die Bildergeschichten Wilhelm Buschs, Witzblätter und Kunstzeitschriften entstanden, Bilderschauen gingen auf Tournee. Als Fontane 1898 starb, gab es die Lichtreklame, die Photolithographie, den Rollfilm, den Bildtelegraphen und die Kinematographie; eigentlich alles, was das Auge begehrte. Und der Sprachmensch Fontane hat vieles davon mit wachem Interesse aufgenommen.
Der Bilderschatz, den Fontane im Verlauf der Jahrzehnte in seinem Gedächtnis ansammelte, wurde zu einem riesigen »Musée imaginaire«. Über 1500 Bildobjekte tauchen in seinen Romanen auf; nur etwa 300 davon sind Kunstwerke im engeren Sinn, die Mehrzahl stammt aus dem Alltagsleben, das der Erzähler mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit erkundet hat. In diesem imaginären Museum gibt es Abteilungen für Kinder und für Fromme, für Kenner von Karten, Globen und Modellen, für Liebhaber des Erotischen und des Panoptikums. Alle wichtigen Geschehnisse und Themen spiegeln oder konzentrieren sich in Bildern, mit Bildern lernen sich Figuren kennen und lieben, wegen Bildern zerstreiten und trennen sie sich.
Fontane war ein ausgesprochener Augenmensch, ja geradezu hypervisuell begabt. »Wir lernen mit den Augen am meisten«, erklärte er einmal seiner Frau, »es ist beständig tätig«. Auf sein Auge traf dies jedenfalls zu, es wurde zudem von einem phänomenalen Bildgedächtnis unterstützt. Als Fontane im Sommer 1880 an »Graf Petöfy« zu arbeiten begann, stützte er sich außer auf Kartenmaterial auch auf seine Erinnerungen an einen fünf Jahre zurückliegenden Wienaufenthalt, um die Schauplätze des Romans zu bestimmen. »Ich kenne jetzt in der Altstadt jede Gasse und weiß ganz genau, wo meine Personen wohnen«, berichtete er seiner Frau, nachdem er sich drei Tage in seine Erinnerungen und Tagebuchnotizen vertieft hatte. »Dies lokale sich Einleben bedeutet furchtbar viel; das andre findet sich schon, selbstverständlich wenn man seinen Stoff als Keim des Ganzen hat.« An anderer Stelle behauptete er, er könne sich etwas als »unverwischbares Daguerrotypbild« einprägen und unverändert behalten.
Überall fand er Bilder, auf denen etwas zu entdecken war, ein Detail, das seine Phantasie anregte – auf Friedhöfen und Rummelplätzen, in Wirtshäusern und Salons. Einmal, als er in einem sehr engen »Water-Closet« direkt vor seiner Nasenspitze die eingravierten Schweinigeleien von »talentvollen jungen Männern « inspizierte, fand er zu seinem Erstaunen darunter auch »die bekannte Figur des pythagoräischen Lehrsatzes« – eine Kombination, die sein »hellstes Lachen« hervorkitzelte. Er kannte keine Berührungsängste vor dem Gewöhnlichen oder gar Primitiven. In London besuchte er ebenso gern das Panoptikum mit den Wachsfiguren der Madame Tussaud wie die National Gallery. Wie ein Goldgräber wusch und siebte er Massen von Bildmaterialien, um die lauteren Stücke zu gewinnen, die für seine literarischen Anliegen brauchbar waren. So hat er seine Erzählkunst auch beschrieben, als »Dunkelschöpfung im Lichte zurechtgerückt«, denn in seinen Entwürfen sei stets »Dummes, Geschmackvolles, Ungeschicktes neben ganz Gutem«, und es gehe darum, dieses ganz Gute in mühsamer Arbeit »herauszupulen« und zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.
Auf Reisen kaufte sich Fontane Ansichtskarten oder kleine Photoalben. Die Abteilung »Photographie« seines imaginären Museums umfaßt einige Dutzend Sammlerstücke, vor allem Visitenkartenbilder, Ansichtskarten und Porträtaufnahmen, die wichtigsten Photoformate im 19. Jahrhundert. Die massenhaft verbreiteten Visitenkartenphotos kamen ab 1860 auf. Brauchte Fontane eine solche Aufnahme, ging er wie alle andern ins Photostudio, allein oder mit Familie. Damals besaß fast niemand eine Kamera, die Kodak-Box kam erst 1895 auf den Markt. Fontanes erstes, bis heute erhaltenes Porträt stammt vom September 1863. Es handelt sich um ein Ganzkörperbild in Dreiviertelansicht: Der Vierundvierzigjährige ist in einen offenen Gehrock gekleidet und stützt den rechten Arm lässig auf eine Konsole; den schmalen Kopf erhoben, die feinen Haare nach hinten gekämmt, blickt er bestimmt und verträumt zugleich auf ein unsichtbares Objekt.
Auch Bismarck begab sich zuweilen ins Photostudio, einmal sogar ganz ohne politische Absicht. Der Kanzler begleitete eine attraktive junge Dame, und dabei entstand ein kleines Bild mit skandalöser Wirkung.
(…)
SINN UND FORM 1/2018, S. 90-97, hier S. 90-92
Nolte, Paul
Handschrift und Helfer. Thomas Nipperdeys »Deutsche Geschichte«, S. 98
Thill, Hans
Schafwinter. Gedichte, S. 112
Kleinschmidt, Sebastian
Vom Unheil des Erkennens. Hartmut Langes erster Novellenband, S. 115
Rothmann, Ralf
Dunkler Umriß – Kleist und das Glück. Dankrede zum Kleist-Preis 2017, S. 125
Heinemann, Elke
Under Cover. James Kirkups Erzählung über Heinrich von Kleist und Thomas Pynchon, S. 128
Ansull, Oskar
Aspekt einer schwierigen Identitätsfindung. Karl Emil Franzos, Walter Benjamin, Ludwig Strauß, Paul Celan, S. 134
Krieger, Hans
»Zieh den Mondkork aus der Nacht!« Noch einmal Christine Lavant: ein Nachtrag zu Werk und Rang, S. 136