
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-51-5
Heft 1/2020 enthält:
Keun, Irmgard
»Ich sehne mich zwar nach Ruhe, aber ich ertrage sie nicht«. Zwei unbekannte Briefe an eine Freundin. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Meitzel, S. 5
Vorbemerkung »Ist Münzenberg tot? Was ist mit Irmgard Keun?« Als sich Nelly und Heinrich Mann am 11. Januar 1941 besorgt bei Hermann Kesten nach (...)
Keun, Irmgard
»Ich sehne mich zwar nach Ruhe, aber ich ertrage sie nicht.«
Zwei unbekannte Briefe an eine Freundin.
Mit einer Vorbemerkung von Matthias Meitzel
Vorbemerkung
»Ist Münzenberg tot? Was ist mit Irmgard Keun?« Als sich Nelly und Heinrich Mann am 11. Januar 1941 besorgt bei Hermann Kesten nach dem Schicksal der beiden Freunde erkundigen, ist Willy Münzenberg nicht mehr am Leben, aber auch die zweite Frage beruhte auf mehr als einer angstvollen Vermutung. Bereits am 16. August 1940 hatte der »Daily Telegraph« berichtet: »Fraulein Irmgard Keun, the novelist, is stated to have taken her life at Amsterdam.«
Ein knappes Jahrzehnt zuvor war die junge, 1905 in Charlottenburg geborene Autorin mit den Romanen »Gilgi – eine von uns« (1931) und »Das kunstseidene Mädchen« (1932) auf Anhieb zur Bestsellerautorin geworden. In beiden Büchern porträtiert sie berufstätige neue Frauen, die unabhängig sein wollen und sich gegen Zurücksetzung, ungerechte Entlohnung und zudringliche Männer zur Wehr setzen. Sie stürzen sich in das bunte, berauschende Leben und wollen wie Doris, das kunstseidene Mädchen, »ein Glanz« werden. Aber nicht nur die zahlreichen Leser, durch die der Universitas-Verlag gutes Geld verdient, sind begeistert. Auch Kurt Tucholsky schreibt 1932 in der »Weltbühne« über die Autorin des Debütromans »Gilgi«: »Hier ist ein Talent (…), aus dieser Frau kann einmal etwas werden.«
Die so vielversprechend begonnene Karriere endet jedoch jäh: Keuns Werke, die das Gegenteil des fortan propagierten Frauenideals präsentieren, gelten den Nationalsozialisten als »Asphaltliteratur«. Zu den im Mai 1933 in Berlin verbrannten Büchern gehört auch »Das kunstseidene Mädchen«.
Doch selbst nachdem die Geheime Staatspolizei die gesamten Bestände ihrer Romane beim Verlag beschlagnahmt hat, fügt sich die gerade dreißigjährige Autorin nicht: Irmgard Keun meldet, da ihr aufgrund dieses Vorgehens erhebliche Einkommensverluste entstanden seien, gegenüber dem Landgericht Berlin Schadenersatzansprüche an. Erst als der entsprechende Antrag ebenso abgelehnt wird wie die für jede weitere Veröffentlichung unerläßliche Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer, verläßt sie Deutschland im Frühjahr 1936 in Richtung Niederlande.
Bis 1938 erscheinen ihre unübersehbar gegen die Diktatur in ihrem Heimatland gerichteten Romane »Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften«, »Nach Mitternacht «, »D-Zug dritter Klasse« und »Kind aller Länder« in den Amsterdamer Exilverlagen Allert de Lange und Querido. Anders als die meisten ihrer exilierten Kollegen, auch als ihr zeitweiliger Lebensgefährte Joseph Roth, entscheidet sich Keun nicht für historische Stoffe. Sie kann den alltäglichen Nationalsozialismus aus eigenem Erleben beschreiben und seinem von der Propaganda verschleierten Kern nachspüren – bis hin zur Vorstellung einer Kunst aus »Blut und Boden«: Die neunzehnjährige Susanne in »Nach Mitternacht« (1937), die sich immer etwas naiv gibt, dabei aber stets aufmerksam beobachtet, möchte – wie Gilgi und Doris – viel lieber in einer großen Stadt leben als in ihrem lehmigen Moseldorf. Als sie aber zu ihrem Bedauern erkennt, daß man sich »heutzutage wegen der Weltanschauung und der Regierung« statt zu einer Metropole zu »dampfenden Erdschollen« hingezogen fühlen muß, läßt Keun die Hauptfigur ihres Romans zu dem erstaunlichen Schluß kommen: »Der Sinn der Erdschollen besteht darin, daß die Dichter sie besingen müssen, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen und nachzudenken, was in den Städten los ist und mit den Menschen.«
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Mai 1940 wird Irmgard Keuns Lage in den Niederlanden zusehends prekärer. Nachdem sich die von Amsterdam aus unternommenen Versuche zerschlagen, noch ein Einreisevisum für ein weiteres Exilland zu bekommen, nimmt sie, wohl auch aus Angst um die weiterhin in Köln wohnenden Eltern, den unwahrscheinlichsten Ausweg und fährt 1940, ausgestattet mit gefälschten Papieren, nach Deutschland zurück. – Noch sechs Jahre später, im Sommer 1946, schreibt Erich Kästner an Hermann Kesten: »Von Irmgard Keun wird erzählt, daß sie umgekommen sein soll. Ob es stimmt, weiß ich nicht. Es ist schon mancher totgesagt worden, der dann wieder auftauchte. Hoffen wir’s auch in ihrem Falle.« Zu diesem Zeitpunkt war die tot oder zumindest verschollen Geglaubte allerdings schon von Mitarbeitern des gerade gegründeten Nordwestdeutschen Rundfunks in einer notdürftigen Behausung aufgefunden und zu Rundfunkarbeiten bewogen worden, die während der nächsten Jahre zu ihrer Existenzgrundlage werden sollten.
Die hier erstmals veröffentlichten Briefe fand ich an entlegener Stelle, als Teil einer Einsendung an das von Walter Kempowski initiierte und gepflegte »Archiv unveröffentlichter Biographien«, das heute vom Archiv der Akademie der Künste verwahrt wird. Bei den Schreiben handelt es sich um insgesamt zwölf handbeschriebene Blätter auf grünlichem Luftpost- oder Durchschlagpapier, dessen Wahl auf eine Sparsamkeit schließen lassen könnte, die Keun schon in früheren Jahren keineswegs fremd war: Selbst in einem 1934 geschriebenen Liebesbrief an Arnold Strauss begründet sie den Abschluß des Schreibens mit den Worten »Wenn ich noch einen Bogen nehme, muß ich Doppelporto zahlen, dann komm’ ich mit den Marken nicht aus.«
Ihre besondere Bedeutung erhalten die Briefe aus der Tatsache, daß sie einen Lebensabschnitt der Autorin beleuchten, aus dem sich so gut wie keine Zeugnisse erhalten haben. Auch an ihren Liebhaber Strauss wird Keun erst nach Kriegsende wieder schreiben. Ihre bisherigen Biographinnen greifen daher entweder auf Zeugnisse Dritter wie die Briefe ihres zeitweiligen Ehemanns Johannes Tralow zurück oder lassen die Jahre zwischen Mitte 1940 und 1945 weitgehend unbehandelt.
In der Rückschau hat die Autorin in einem Brief an Kesten vom 10. Oktober 1946 berichtet, sie sei 1940 »mit dem falschem Paß nach Deutschland gefahren«. Über die Zeit, in der die hier abgedruckten Briefe verfaßt wurden, schreibt sie: »Na, und da habe ich denn illegal gelebt und zeitweise illegal gearbeitet. Die ersten beiden Jahre waren am schlimmsten. Mir war alles dermaßen ekelhaft, daß ich schon garnicht mehr vorsichtig war. (…) Menschen, mit denen ich mich rückhaltlos hätte verständigen können, fand ich nicht. Manche schimpften wohl auf Hitler, aber siegen wollten sie doch, und fast alle waren besoffen von den Sondermeldungen und Fanfaren und Liedern und Beutewaren. Tröstlich waren meine Eltern, die unbeirrbar zu mir hielten.«
Die beiden Briefe sind nicht lange nach der Rückkehr der Schriftstellerin ins Deutsche Reich geschrieben. Irmgard Keuns Aussichten, daß ihr das »Abseits als sicherer Ort« (Peter Brückner) ein beschütztes Überleben ermöglichen würde, waren außerordentlich unsicher. Bis zur Befreiung blieb sie existentiell gefährdet. Dies – und das Wissen um die nationalsozialistische Postzensur – erklären den eigentümlich zurückhaltenden, fast verhohlenen Ton, der diese Briefe auszeichnet und den Shakespeare in seinem 66. Sonett beschreibt als »tongue-tied by authority«.
Matthias Meitzel
SINN UND FORM 1/2020, S. 5-12, hier S. 5-7
Bibiella, Katrin
Lux Aeterna. Gedichte, S. 13
Stepanowa, Maria
Kein Zimmer für sich allein, S. 15
Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann mir daher die Freiheit nehmen, mich als Schriftstellerin, ja als Dichterin zu betrachten. Letzteres ist (...)
Stepanowa, Maria
Kein Zimmer für sich allein
Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann mir daher die Freiheit nehmen, mich als Schriftstellerin, ja als Dichterin zu betrachten. Letzteres ist eigentlich kein Beruf, sondern eher eine Art zu denken: nämlich eine, die den Reimen der äußeren Welt eine innere Bedeutung gibt. Ich schreibe auf Russisch, also in einer Sprache, in der die Tradition der gereimten Dichtung noch sehr lebendig ist. Wahrscheinlich deshalb sind Koinzidenzen und Korrespondenzen für mich ein wesentlicher Teil des kognitiven Prozesses – sie führen weiter als wir mit reiner Logik je kämen. Es mag zu diesen Koinzidenzen zählen, daß meine Vorlesung gerade auf den 9. Mai fällt, ein Datum, das in der russischen Wahrnehmung der letzten siebzig Jahre große Bedeutung hatte. Allerdings auch nur in der russischen Wahrnehmung, denn der Rest der Welt feiert den Sieg über den Nationalsozialismus einen Tag früher, wodurch Rußlands Tag des Sieges ein wenig einsam wirkt, als stünde er irgendwie abseits. Symbolisch gibt das denen recht, die behaupten, unsere Geschichte sei im doppelten Wortsinn einmalig, anders, besonders, sie müsse als Sonderfall betrachtet werden, der nur mit ganz eigenen Deutungsansätzen zu verstehen und zu vermitteln sei.
Tatsächlich bedeutet der Tag des Sieges vermutlich für die Mehrzahl der Menschen in Rußland etwas ganz Besonderes: Im Lauf der sowjetischen Jahre und Jahrzehnte hatte sich in bezug auf diesen Tag ein einzigartiger Konsens herausgebildet, der alle sozialen Schichten verband, alle Unterschiede aufhob. Die offiziellen Staatsfeiertage, den 1. Mai und den 7. November, mochte man mitfeiern oder über sich ergehen lassen, die religiösen Feste wie Weihnachten oder Pessach mochte man begehen oder, wie die meisten meiner Landsleute, ignorieren, aber der 9. Mai war authentisch, er war aufgeladen mit Sinn, ein Tag des Erinnerns, Trauerns und, ja, auch des Feierns. Ein in den siebziger Jahren populäres Lied beschrieb die Stimmung als »Freude mit Tränen in den Augen«, eine Freude, die sich von der Trauer über die Verluste nicht trennen ließ – Trauer um Abermillionen Menschen, die für den hart erkämpften Sieg mit ihrem Leben bezahlt hatten. Kein Wunder also, daß dieser Tag als vielleicht einzig echter, trotz aller historischen Verschiebungen unverfälschter Feiertag empfunden wurde.
Doch auch das sollte nicht immer so bleiben: Über die letzten zwanzig Jahre hat der 9. Mai sich dank der unermüdlichen Anstrengungen des russischen Staates allmählich in einen Tag der Machtdemonstration verwandelt – von Trauer keine Spur mehr, es bleiben nur die Freude am Sieg und ein Aufmarsch der Simulakren, der die Zuschauer davon überzeugen soll, daß zwischen Vergangenheit und Gegenwart kein Unterschied besteht. Der dem Gedenken gewidmete Tag hat nichts mehr mit der Geschichte zu tun, er wirbt statt dessen für eine historische Fiktion: ein Bild von Rußlands Geschichte, in dem sämtliche Tragödien und Katastrophen eingeebnet sind und die Ereignisse der letzten hundert Jahre als ein Feuerwerk der Erfolge dargestellt werden; in dem das Zarenreich sanft, beinahe organisch in Stalins Imperium und dieses in Putins Rußland übergeht. Historische Fakten, die dieses Bild stören, werden konsequent geleugnet, unterschlagen, in Frage gestellt, an den Rand gedrängt; die Opfer sind nur noch der unvermeidliche Preis für eine notwendige Entwicklung, Trauer wird nicht mehr geduldet.
Interessanterweise machen diese neuen Formen des Gedenkens im Grunde keinen Unterschied mehr zwischen der Roten Armee der vierziger Jahre und den heutigen russischen Streitkräften: Beide werden als Träger einer ununterbrochenen Tradition betrachtet, als eine Einheit mit denselben Vorzügen und Fähigkeiten. Das macht die Dinge einfacher: Man hat das Recht, sich als Sieger zu fühlen, ohne selbst gesiegt zu haben. Um die Illusion der Kontinuität zu nähren, werden die großen Städte des Landes in regelrechte Revivalfestivals verwandelt – Männer, Frauen, sogar Kinder schlüpfen in Militäruniformen und führen das Schauspiel eines Krieges auf, der niemals endet. Die Sprüche dazu – »Unterwegs nach Berlin« steht zum Beispiel auf einer Autotür, oder »Immer wieder gerne!« – hauen in dieselbe Kerbe. Man kann die Kunst, Unterschiede zu verwischen, bis an einen Punkt treiben, wo Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen und keine von beiden mehr Ähnlichkeit mit der Realität hat. Fakten sind unerheblich, nur die Haltung zählt. Es gibt keine Kluft mehr zwischen Literatur und Leben; Politik bezieht sich auf eine fiktive Vergangenheit, und die Wirklichkeit gibt sich alle Mühe, diese zu imitieren. Die Folge ist eine immer tiefere Verunsicherung: Wieder und wieder wird die Vergangenheit revidiert und redigiert, um sie zumindest äußerlich zu stabilisieren – eine vergebliche Anstrengung.
Doch ist das etwas spezifisch Russisches? Die Vergangenheitsobsession und die wachsende Unzufriedenheit mit den Grenzen historischen Wissens sind ein globales Phänomen. Es beschränkt sich keineswegs auf die Protagonisten des sogenannten Rechtsrucks, die sich gern auf einen imaginären einstigen Ruhm beziehen. Die Geschichte wird pausenlos neu geschrieben, in Universitätslehrplänen wie in sozialen Netzwerken, und sie spielt im Alltag heute eine so zentrale Rolle wie lange nicht mehr. Welche enorme Bedeutung ihr im Lauf der letzten zehn, fünfzehn Jahre allmählich zugewachsen ist, zeigt sich in einer Reihe neuerer Gesetze, die unsere Wahrnehmung der Vergangenheit kontrollieren sollen. Bestimmte Interpretationen werden verboten und kriminalisiert – manchmal in sehr vager Form, wie in dem russischen Gesetz, das Freiheitsstrafen für die »Verfälschung der Geschichte« vorsieht, manchmal mit Bezug auf konkrete Ereignisse, wie etwa die Frage nach einer möglichen polnischen Beteiligung am Holocaust. Die Folgen sind bisweilen fast schon komisch – so wurde dieses Jahr ein junger Mann in Kasan verhaftet, dem vorgeworfen wird, er habe sich abfällig über die Taktik der russischen Streitkräfte während der Belagerung von Kasan durch Iwan den Schrecklichen geäußert – eine Belagerung, die, nebenbei bemerkt, im Jahr 1552 stattfand.
Was steckt hinter dieser retrospektiven Empfindlichkeit in Belangen, die längst vergessen sein sollten? Im Fall Rußlands gibt es vielleicht eine einfache Erklärung: In Ermangelung eines politischen Lebens muß die gesellschaftliche Debatte umgelenkt werden, und die Figuren und Themen der Vergangenheit sind ein willkommener Ersatz für aktuelle Fragen. Wenn es aber um Amerika unter Trump geht oder um das Geschichtsbild der AfD, sind die Gründe vermutlich andere.
Eine mögliche Antwort scheint mir in dem von Marianne Hirsch entwickelten Konzept des Nachgedächtnisses oder »Postmemory« zu liegen, das eine bestimmte Wahrnehmungsweise von Holocaust-Überlebenden der zweiten oder sogar dritten Generation bezeichnet – derer, die von den Ereignissen nicht unmittelbar betroffen, aber als Kinder oder Enkel der überlebenden Opfer in Mitleidenschaft gezogen waren. Was Hirsch beschreibt, läßt sich aber – so meine Vermutung – auch auf ein viel weiteres Feld anwenden. Tatsächlich habe ich den Verdacht, daß vielleicht wir alle diese Wahrnehmung teilen, in mehr oder weniger ausgeprägter Form.
Wenn Sie die Straßenschilder und Läden Moskaus oder Breslaus oder eines bestimmten Schtetls der dreißiger Jahre besser kennen als die Bäckereien Ihrer Kindheit, dann ist das ein Symptom von Postmemory. Dieses Gefühl, daß das eigene Leben mit seinen banalen Vorkommnissen und Problemen irgendwie weniger wichtig, weniger lebendig, weniger denkwürdig ist als das der vorangegangenen Generationen, daß die Vergangenheit überlebensgroß ist und das eigene Leben eher klein, daß es nicht verdient, erzählt oder gesehen zu werden: auch das ist Postmemory. Nach der Menge von Forschungsvorhaben zur Alltagsgeschichte, zur Aufzeichnung und Rekonstruktion von Familienüberlieferungen, zur Geschichte eines bestimmten Orts oder Gewerbes zu urteilen, ist dieses Gefühl heute extrem verbreitet: Es ist ein Trend geworden, aus dem etwas völlig Neues entsteht. Was für den privaten Raum der Familie bestimmt war, interessiert auf einmal ein breites Publikum, und immer mehr Menschen sind in diesen Vorgang involviert.
Über die Ursprünge dieser Entwicklung kann man spekulieren – woher kommt eigentlich dieses Gedächtnis, das nicht nur einen eigenen Platz neben der offiziellen Geschichte beansprucht, sondern ihr manchmal geradezu widerspricht? Einen Hinweis gibt vielleicht unser veränderter Blick auf die Zukunft. Anders als frühere Epochen verbinden wir mit ihr keine Verheißung, sondern Angst, Scheu, Unsicherheit. Wir glauben nicht an eine Veränderung zum Besseren, von den kollektiven Projekten, die diese herbeiführen wollen, ganz zu schweigen – und wenn man an die monströsen Weltverbesserungsversuche des 20. Jahrhunderts zurückdenkt, scheint dieses Mißtrauen auch gut begründet. Spätestens seit den siebziger Jahren hat die »Zukunft als Projekt« düsteren Erwartungen Platz gemacht.
Die heute verbreiteten Zukunftsvisionen basieren hauptsächlich auf Präzedenzfällen, sie rechnen nicht mit dem Unerwarteten. Die Idee des Fortschritts – oder überhaupt irgendeines Wandels – verschwindet hinter einem Berg von Beispielen aus der Vergangenheit, bis die Zukunft unverkennbar dystopisch aussieht.
Da die Zukunft uns also ängstigt und die Gegenwart uns einerseits unvollkommen, andererseits als kostbares, zerbrechliches Gut erscheint, verlagert unser Interesse sich in die Vergangenheit. Vorauszudenken wirkt irgendwie unangemessen, und schließlich wird die Zukunft zum blinden Fleck, notdürftig kaschiert mit zuversichtlichen Phrasen und Versprechungen, die uns vage bekannt vorkommen, denn inzwischen spricht jeder die Sprache der Vergangenheit, vom Politiker bis zum Fernsehmoderator. Die Führer der Rechten klammern sich an ihre Mantren von wiedergewonnener Größe und Volksfeinden. Ihre Gegner bedienen sich aus demselben Repertoire, vergleichen sie mit Stalin oder Hitler, entdecken Parallelen in der jüngeren oder älteren Geschichte. Die Vergangenheit wirkt auf allen Ebenen, sie prägt und verändert das Vokabular von Internetseiten und Fernsehsendern. Auf einer beliebten russischen Website gibt es ein Quiz, bei dem man erraten muß, wann ein bestimmter Satz geschrieben und veröffentlicht wurde – in der Prawda der dreißiger Jahre oder in einer Zeitung von heute. Ich arbeite seit zwanzig Jahren im Journalismus, aber an dieser Aufgabe bin ich gescheitert.
Was das Lebensgefühl des Postmemory vor allem kennzeichnet, ist eine starke emotionale Verschiebung, eine Art Empathie-Ungleichgewicht, eine disproportionale Affektverteilung: Da die Vergangenheit per definitionem wichtiger ist als die Gegenwart, verschwendet man auf sich selbst weder Zeit noch Raum. Vergleichen Sie nur einmal die aktuelle Erinnerungsliteratur mit ihren früheren Formen: Die herkömmliche Struktur der Familienchronik setzt die Präsenz eines Erzählers voraus – derjenige, der die Geschichte erzählt, mag zwar im Hintergrund bleiben, aber seine Existenz ist ein zentrales Element, in dem diese Geschichte implizit oder explizit kulminiert. Das Leben der Eltern und Großeltern dient als Erklärung für meine Position in der Gegenwart. Erst im Kontakt mit dieser wird die Vergangenheit lebendig.
Die Postmemory-Kultur dagegen lenkt unsere Aufmerksamkeit zurück. Die Kulmination verschiebt sich in die Vergangenheit, Vorgeschichte und Höhepunkt fallen zusammen und verweisen auf die Grenze zwischen Jetzt und Damals, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Eben darin besteht ihre formale Bedeutung: Sie legitimiert die Aufteilung der historischen Zeit in zwei Phasen – eine so kostbare wie unwiederbringlich verlorene frühere Zeit und eine andauernde Jetztzeit, die immer aus den Fugen ist, denn die Verbindung zwischen Erzähler und Vergangenheit ist abgebrochen oder beschädigt. Die Vergangenheit ist erstens unerreichbar, sie war vorher (vor der Revolution, vor dem Krieg, vor meiner Geburt), zweitens ist sie verloren infolge einer privaten oder gesellschaftlichen Katastrophe, und drittens ist das Wissen über sie zwangsläufig unvollständig. Das primäre Ziel einer Postmemory-Person liegt im Sammeln von Informationen, an zweiter Stelle folgt das Bergen, Wiederherstellen, Bewahren dessen, was übrig ist. Das ist harte Arbeit, und in den Augen der heutigen Gesellschaft auch eine notwendige Arbeit, die dem Gemeinwohl dient; kein privates Hobby, wie Fußball oder Schmetterlinge sammeln, sondern eine nützliche Tätigkeit. Jenseits des individuellen zeichnen sich die Konturen eines größeren Projekts ab, und mit einem Mal fühlt man sich aufgehoben in einem Gemeinschaftswerk.
(…)
Aus dem Englischen von Olga Radetzkaja
SINN UND FORM 1/2020, S. 15-24, hier S. 15-19
Venclova, Tomas
Prosper Mérimées letzte Novelle, S. 25
Ranga, Dana
Cosmos II. Gedichte, S. 36
Eskin, Michael
Die Facetten der Scham. Ein Gespräch mit Durs Grünbein über Celan, Benn und Mandelstam, S. 40
Bartsch, Wilhelm
Schuscha, die Raubmordstätte. Mit Ossip Mandelstam in Bergkarabach, S. 49
Sagnol, Marc
Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów, S. 58
SAMBOR Am Fuße der Karpaten, an der Straße, die hinauf zu den Almen der Polonina führt, liegt die Stadt Sambor anmutig über dem Dnjestr, der (...)
Sagnol, Marc
Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów
SAMBOR
Am Fuße der Karpaten, an der Straße, die hinauf zu den Almen der Polonina führt, liegt die Stadt Sambor anmutig über dem Dnjestr, der hier noch ein schmales Flüßchen ist, bevor er breiter wird und sich in Mäandern durch die galizische Ebene schlängelt, um größere Städte wie Mogiljow Podolski und Jampol mit Wasser zu versorgen, und schließlich als mächtiger Strom bei der Festungsstadt Belgorod Dnestrowski ins Schwarze Meer mündet.
Doch in Sambor deutet kaum etwas darauf hin, daß dieser schäumende Wasserlauf irgendwann solche Dimensionen annimmt, in seinem Verlauf von so vielen Bächen und Flüssen gespeist werden wird, wie der Strypa, dem Seret oder dem Sbrutsch in Podolien. Eine Brücke führt über den Dnjestr, dann überquert man einen weiteren Wasserlauf, die Mlynowka, den »Mühlbach«, der die kulturelle Grenze zwischen der Stadtmitte und dem jüdischen Ghetto bildete. Lange Zeit war Sambor, wie die meisten galizischen Marktflecken, in zwei ungleiche Teile geteilt, das Zentrum, bürgerlich, polnisch, lag auf der Anhöhe, während sich an den Ufern der Mlynowka und des Dnjestr die Unterstadt erstreckte, zunächst das jüdische Viertel und anschließend die ruthenischen Dörfer.
Einst jedoch erhob sich ein berühmtes Schloß in Sambor, nicht in der Oberstadt, sondern dort, wo sich heute das ärmliche Viertel Blich befindet, nicht weit vom Ufer des Dnjestr entfernt. Dort residierte der Woiwode Jerzy Mniszech, Sproß eines bedeutenden polnischen Adelsgeschlechts, der hier den »falschen Dimitri« empfing und ihm die Hand seiner Tochter Marina anbot, bevor dieser selbsternannte Zar 1604 zur Eroberung Moskaus aufbrach. In Puschkins Drama »Boris Godunow« wird geschildert, wie der entlaufene Mönch, der vorgibt, der im Alter von sieben Jahren in Uglitsch ermordete Zarewitsch Dimitri, der Sohn Iwans des Schrecklichen, zu sein, sich zunächst in Krakau, dann in Sambor auf seinen Feldzug gegen Moskau vorbereitet.
Wir brechen, Kameraden, morgen früh
Von Krakau auf. Auf deinem Landsitz Mniszech,
Werd ich voraussichtlich drei Tage rasten.
Dein gastfreundliches Sambor ist berühmtDurch die gewählte Ausstattung des Schlosses
Und durch die Schönheit seiner jungen Wirtin.
Ich hoffe sehr, die liebliche Marina
Dort anzutreffen …
(Nachdichtung von Manfred von der Ropp)
Die folgende Szene spielt sich im »Schloß des Statthalters Mniszech in Sambor« ab: Hier hat der falsche Dimitri abends am Springbrunnen ein Stelldichein mit Marina, erklärt ihr seine Liebe und verspricht ihr, Moskau für sie zu erobern. In der russischen Geschichte ist diese kleine polnische Provinzstadt seitdem berühmt, aber auch berüchtigt, denn Dimitri gelang es tatsächlich, Moskau zu erobern, sich zum Zaren krönen zu lassen und sich ein Jahr lang auf dem Thron zu halten. Dann wurde er seinerseits ermordet, man zerstückelte seinen Leichnam und schoß die Überreste mit einer Kanone in Richtung Polen. Sambor ist gleichsam das Gegenstück zu Uglitsch am Ufer der Wolga, wo man die Kirche des Heiligen Dimitri »zum vergossenen Blut« besichtigen kann, die an der Stelle errichtet wurde, wo der Siebenjährige starb. Bis heute ist umstritten, ob der Zarewitsch im Auftrag des Regenten Boris Godunow ermordet wurde oder sich versehentlich selbst eine tödliche Verletzung zufügte, wie es die offizielle Version damals behauptete.
Vom Schloß Sambor ist praktisch nichts mehr übrig, vielleicht, weil es in der Unterstadt, nicht weit vom Dnjestr stand. Noch 1919 wies der große Galizien-Kenner Mieczyslaw Orlowicz in seinem Reiseführer darauf hin, daß man in Blich einige »Überreste der Befestigungsanlagen des Schlosses des Woiwoden Mniszech « besichtigen könne, doch heute sind diese nicht mehr auffindbar. Blich ist noch immer ein ärmliches Viertel, aber wenn man sich dem Ufer des Dnjestr nähert, gelangt man in eine Gegend mit freistehenden Häusern, Villen und einem großen Park. Alles deutet darauf hin, daß sich hier das Schloß befand.
Doch auch abgesehen vom Schloß haben sich in Sambor sehenswerte Spuren der polnischen Aristokratie erhalten, welche die Stadt geprägt hat, ebenso wie einige bescheidenere Überbleibsel der beiden alten jüdischen Viertel, die früher die Unterstadt bildeten und die Artur Sandauer in seinen »Notizen aus der toten Stadt« anschaulich schildert: Das eine, Targowitza genannt, lag am linken Ufer der Mlynowka, direkt unterhalb der Oberstadt und wurde von den »aufgeklärten« Juden bewohnt, die sich von den Bewohnern des Ghettos abgrenzen und der polnischen Kultur assimilieren wollten. Das andere trug den Namen Blich und lag am rechten Ufer der Mlynowka. Es handelte sich um ein echtes Ghetto, eine in sich abgeschlossene Welt, geprägt von chassidischer Religiosität, überlieferten Traditionen und nicht zuletzt der jiddischen Sprache. Als Artur Sandauer 1939 nach neun Jahren Abwesenheit in seine Geburtsstadt zurückkehrte, nahm er deren Topographie mit neuen Augen wahr. In seinem Roman beschreibt er drei voneinander abgeschlossene Viertel, drei Welten mit ganz unterschiedlichen Farben und Gerüchen: Rynek, Targowitza und Blich, deren anfangs klar gezogene Grenzen nach und nach immer fließender werden:
»Mein Geburtsort, Targowitza, war zur einen Seite, durch die Brücke über die Mlynowka, mit dem tiefsten Ghetto verbunden, zur anderen Seite, durch die Treppen, mit dem Marktplatz, dem Viertel der Amtsgebäude, der Schulen und der Kirchen. Der Umstand, daß der Marktplatz auf einer Anhöhe gelegen war, nahm für mich eine existentielle Bedeutung an. Wenn man die Treppen zum jüdischen Viertel herabstieg, stieg man zugleich auf der gesellschaftlichen Stufenleiter herab. Der Abstieg war jedoch nicht unmittelbar. Im Targowitza-Viertel waren die Häuser weniger baufällig und man hörte neben jiddisch auch polnisch sprechen. An den Markttagen, wenn die Bauern mit ihren Fuhrwerken den Platz bevölkerten, kam noch eine dritte Sprache dazu: ukrainisch.
Überquerte man die Brücke über die Mlynowka, dann gelangte man von Targowitza ins Herz eines dunklen Kontinents, ins Ghetto am rechten Flußufer. In Blich, wo sich Dutzende baufälliger Häuschen mit von verrotteten Schindeldächern halbverdeckten Fenstern aneinanderkauerten, sprach man nur jiddisch oder, wie man damals sagte, ›Jargon‹. Am Freitagabend erklangen hinter den erleuchteten Scheiben auch hebräische Gesänge.«
Der Dnjestr und der Rynek übten jeweils eine ganz unterschiedliche Faszination auf Sandauer aus. Der Rynek, das war die griechisch-lateinische Hochkultur, die er in der Schule in sich aufnahm, der Dnjestr stand für die slawische Welt, die Wälder, aber auch für die sündhafte Seite des menschlichen Daseins. Der Rynek war Griechenland, der Dnjestr Sizilien. Die Topographie bestimmte natürlich auch sein Liebesleben, und das junge Mädchen, das er im Rynek-Viertel kennenlernt, vor dem glänzenden Hintergrund der Villen und Jugendstilhäuser, wohnt natürlich in der Nähe des Dnjestr, und er beobachtet sie eines Tages mit einem anderen Verehrer am rechten Flußufer. Wie der Proustsche Erzähler spielt der Autor die verschiedenen Gegenden der Stadt gegeneinander aus. Seine Jugend ist von einem zweifachen topographischen Paradoxon bestimmt: Da ist einerseits das mehr oder weniger neutrale Terrain des Targowitza-Viertels, ein Ort des Übergangs, »eine Art Bushaltestelle an der Straße von Blich zum Rynek, an der seine Eltern ausgestiegen waren, um ihre Fahrt nicht weiter fortzusetzen «, und andererseits die Tatsache, daß man ins Paradies, in die Traumwelt des rechten Flußufers, nur gelangte, indem man den Weg durch die Hölle von Blich nimmt. Er durchquert dieses Viertel stets mit einem Gefühl der Unsicherheit und Bedrohung und ekelt sich vor seinen offenen Abwasserkanälen, durch die sich aller Unrat der Oberstadt ergießt und die ihm nur zwei Jahre später, während der deutschen Besatzung, das Leben retten werden.
Trotz des Altersunterschieds zwischen ihnen kam es zwischen Bruno Schulz und dem zwanzig Jahre jüngeren Artur Sandauer 1938 zu einer Bekanntschaft, die zur Freundschaft wurde. Die Briefe von Schulz an Sandauer sind verschollen, einige Briefe des Jüngeren haben sich jedoch erhalten:
»Lieber Herr Bruno, ich bin überwältigt von Ihrem Brief. Ich habe keine Worte des Glücks, keine Worte des Trostes. Ich wünschte, ich wäre bei Ihnen. Ich liebe Sie schon seit langem um Ihres Werks willen, jetzt liebe ich Sie um Ihres Leidens willen.« (12. Mai 1938) Einen Monat später sind beide zum Du übergegangen. Die Frühreife des jungen Schriftstellers scheint Bruno Schulz beeindruckt zu haben: »Dieser Sandauer, der im ›Pion‹ über Gombrowicz schreibt, ist ein guter Bekannter von mir, ein 23jähriges Bürschchen, sehr intelligent«, schreibt er an seine Freundin Romana Halpern (23. Januar 1938). Die letzte Postkarte, die Sandauer im November 1942 an Schulz schickte, kam mit dem Vermerk »Empfänger unbekannt« zurück.
Um in das alte Viertel Blich zu gelangen, dessen Name sich von »bleichen« ableitet, da hier früher Wäschereien ansässig waren, überquert man hinter dem Busbahnhof das Gewässer, das Sandauer die Mlynowka nennt, einen halb ausgetrockneten und zur Kloake gewordenen Bach, und kommt in eine düstere Gegend, deren Hauptstraße immer noch Torgowa heißt. Hier finden sich einige Läden, Getränkestände, Geschäfte, in denen billige Möbel, Eisen- und Haushaltswaren oder gebrauchte Kleidung nach Gewicht verkauft werden, Schaufenster des lokalen Elends. Das einzige, was fehlt, sind die ehemaligen jüdischen Bewohner, die sich buchstäblich in Rauch aufgelöst haben. Am Ende der Straße, vor einem Fabrikeingang, stößt man auf die Reste der alten Synagoge, 1763 erbaut und seit der deutschen Besatzung profaniert: ein großes Gebäude, dessen Fenster mit Holzplatten mit den Aufschriften »Speisesaal« und etwas weiter »Night club« vernagelt sind. Nur die längliche Form des Bauwerks und das Dach mit seiner einzelnen Mansarde ermöglichen es, die Synagoge anhand eines Fotos aus der Vorkriegszeit zu identifizieren. Das angrenzende Gebäude, das früher ebenfalls dazugehörte, dient heute als »Motel« und trägt den russischen Namen »Randewu« (Rendezvous). Der Eingang ist mit Fotos von jungen Frauen dekoriert, die Zimmer werden stundenweise vermietet. Gerade tritt eine Frau aus dem Gebäude, die mit sehr knappen Shorts bekleidet ist und ihr Make-up nachzieht. Von Blich aus hat man einen guten Ausblick auf die Kirchen, welche die Silhouette der Oberstadt prägen.
Steigt man die Treppen oder eine der abschüssigen Gassen am Hang hinauf, gelangt man auf den Marktplatz, in dessen Mitte sich das Rathaus mit seinem Belfried erhebt, auf dem eine ukrainische Fahne weht. Auf allen Seiten grenzen Kirchen und Klöster an den Platz. Die alte Zisterzienserkirche, die die Anhöhe beherrscht, ist heute ein Konzertsaal für Orgelmusik. Der Marktplatz wird von zwei asymmetrischen Promenaden flankiert, die man zu österreichischer, aber auch noch zu polnischer Zeit die Linie A-B – welche die vornehmere war – und die Linie C-D nannte. Man sieht sie auf alten Postkarten und sie lassen sich bis heute gut erkennen, vor allem die Linie A-B mit ihren Bänken, die wie für Liebespaare beim ersten Stelldichein gemacht zu sein scheinen.
Gleichsam aus umgekehrter Perspektive wie Artur Sandauer, dessen Blick sich von Targowitza aus nach oben, hinauf auf den Marktplatz richtete, beschreibt Andrzej Kuśniewicz die Stadt in seinem Roman »Nawrócenie« (Bekehrung). Er läßt seinen Blick von dort aus über die Unterstadt schweifen und versucht, das ihm fremde Stadtviertel in sich aufzunehmen, dem er, in Anlehnung an die Mlynowka, den »Mühlbach«, den Namen »Hintermühlen« gibt: »Rechts zieht sich ein Stück der Linie A-B schräg durch das Blickfeld. Links biegt die Straße ab, die bis hinunter nach Hintermühlen führt. Und gerade gegenüber steht das Rathaus mit einem von einem Pfeil durchbohrten Hirsch auf der Turmspitze. Auf dem ziemlich weitläufigen Großen Platz kommen und gehen die Bauern in ihren Schaffellmänteln und im Sommer in weißen Leinenhemden, die über ihre Hosen allen.« Der Erzähler setzt seinen Rundgang durch die Stadt fort, indem er langsam in die Vorstädte »Über’m Fluß« und »Hintermühlen«, Targowitza und Blich, hinabsteigt, deren exotischer Reiz ihn aus der Ferne lockt.
Obwohl Kuśniewicz zur polnischen Aristokratie gehört, übt die jüdische Welt eine starke Anziehung auf ihn aus, wie schon vor ihm auf Schriftsteller wie die Romanautorin Eliza Orzeszkowa oder den polnischen Nationaldichter Mickiewicz, der in seinem Versepos »Pan Tadeusz« einer jüdischen Figur, dem Schankwirt und Musiker Jankiel, eine zentrale Rolle einräumt. Kuśniewicz nutzt jede Gelegenheit, um in die Unterstadt hinabzusteigen, in das Viertel, »wo es dunkel ist wegen der Kaftane und hell vom Licht der Sabbatkerzen, wo es alte Häuser gibt, die halb in der Erde versunken sind, Gossen voller Schmutzwasser und lärmende Kinder, die darin herumtollen«. Von dieser Welt in ihren Bann gezogen, entfremdet er sich mehr und mehr der Welt seiner Herkunft, bis er sich schließlich nirgends mehr zu Hause fühlt. »Den Marktplatz habe ich hinter mir gelassen, und auf der anderen Seite des Flusses überschreite ich die Grenze, die Grenze des Fremden und des Schreckens zugleich. Ich fühlte mich unbehaglich. Denn hier, auf diesem Boden, bin ich ein vollkommener Außenseiter. Von überallher von Hunderten Blicken beobachtet.«
Kuśniewicz, der Voyeur, träumt davon, ein Teil der Welt zu werden, die Gegenstand seiner Beobachtung ist: »Sie beobachten mich, starren mich an, als ob ich bereits einer der ihren wäre. Aber das ist Einbildung. Ich ergreife also die Flucht und werfe meinen Hut in den erstbesten Rinnstein. Pah, lassen wir das, eine folgenlose Phantasterei. Es war nur eine Fiktion.«
Der Erzähler taucht hier aus einer Phantasmagorie empor, die in der Tradition von Bruno Schulz steht: Auch dieser verhält sich gegenüber der jüdischen Gemeinschaft von Drohobycz wie ein Voyeur. Zwar ist er ein Teil dieser Gemeinschaft, wird jedoch gleichzeitig zum »Verräter« an ihr, indem er sie mit dem Blick eines Außenstehenden beobachtet, der sich über eine fremdartige Welt beugt, die Welt der Zimtläden und der chassidischen Feste.
(…)
Aus dem Französischen von Andreas Fliedner
SINN UND FORM 1/2020, S. 58-68, hier S. 58-63
Seithe, Angelica
Lichtung. Gedichte, S. 69
Różycki, Tomasz
Die Schlacht im Tal. Aus einem Versepos, S. 71
Eilers, Alexander
Kiesel. Aphorismen, S. 80
Horch! Da braust das Malmen
Der Kiesel, die Wellen zurücksaugen, und
–Wiedergekehrt – an den hohen Strand schleudern,
Das (...)
Eilers, Alexander
Kiesel. Aphorismen
Horch! Da braust das Malmen
Der Kiesel, die Wellen zurücksaugen, und
–Wiedergekehrt – an den hohen Strand schleudern,
Das ertönt, erstirbt und wiederum ertönt,
Langsam, mit bebender Kadenz, und
Den ewigen Klang der Trauer mit sich führt.
Matthew Arnold, »Dover Beach« (1867)
Realismus: Boden ohne Faß.
Dem Spiegelbild das Ich anbieten.
Eine stehengebliebene Uhr zeigt das Wesen der Zeit an.
Was uns einzigartig macht, verdanken wir unseren Wiederholungen.
Das Kratzen im Hals hat die Todesangst verdrängt.
Nichts Junges wirkt alterslos.
Bücher – ins letzte Leinen gebunden.
Lupenreine Plagiate sind der Restbestand der Authentizität.
Wer den letzten Stein wirft, bleibt ohne Schuld.
Die Utopie beginnt dort, wo sie endet.
Beim Rückzug steht einem die Gefolgschaft im Wege.
Das Neue hat das Alte erfunden.
Von uns bleibt nur der Fortschritt.
Größe zeigt sich im Kniefall.
Im Alter ist die Vergangenheit unbestimmter als die Zukunft.
Lächeln untergräbt das Lachen.
Seitdem er nicht mehr dagegen war, sprach nichts mehr dafür.
Die Kreativen ahmen die Schöpferischen nach.
Stürbe die deutsche Sprache aus, wäre ein Stein kein Stein mehr.
SINN UND FORM 1/2020, S.80
Petersdorff, Dirk von
An eine Dreizehnjährige. Gedicht, S. 81
Ikstena, Nora
Nadje, S. 83
Große, Jürgen
Metamorphosen des Ressentiments, S. 91
Harich, Wolfgang
»Die reaktionärste, menschenfeindlichste Erscheinung der Weltkultur«. Vier Briefe über Nietzsche an Stephan Hermlin. Mit einer Vorbemerkung von Andreas Heyer, S. 103
Hamburger, Maik
Der weite Weg zu den Bermuden. Erinnerung an Robert Weimann, S. 121
Leggewie, Claus
Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington, S. 123
»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der (...)
Leggewie, Claus
Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington
»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der hohen Schule von Salamanca, Bulldozer, Planierungsmaschinen, Höhlenbohrer, Verstecke für die Angst, Unterstände für die Torheit, die alten Weinberge den Göttern und den Heiligen und dem Umsatz geweiht, das deutsche Vorfeld, die germanische Mitte, des Erdteils gebrochenes Herz, Maginots wiedererstandene Illusionen, die Kolonien der Feldoffiziere und Sergeanten mit dem Indianergesicht, Nachbarschaft und Isolierung, die Main Street mitgebracht …«
Was für ein Eröffnungssatz! Der sich dann im gleichbleibenden Stakkato über zwei weitere Seiten erstreckt und, noch ganz unter dem Eindruck eines amerikanisch besetzten und beglückten Landes, den Bericht von einer Reise durch das Land der »Weltherrschaftsaspiranten« und des »guten Gelds des Marshallplans« einleitet. Liest man Wolfgang Koeppens »Amerikafahrt« von 1959 heute wieder, bekommt man ein Bewußtsein für den Anfang und das Ende des Vorbilds, das »Amerika« nicht nur in unseren Breiten darstellte.
Genau deswegen gestattete ich mir das Vergnügen, das vor sechzig Jahren im Henry Goverts Verlag erschienene Buch zum Cicerone einer neuerlichen Reise durch die Vereinigten Staaten zu machen, wo ich im Unterschied zu Koeppen einige Jahre leben und arbeiten durfte. Manhattan war der Sehnsuchtsort des Schriftstellers, bei dem bis heute vor allem die spätere Schreibhemmung und das nicht erschienene Werk herausgestellt werden – ein Werk, dessen Gesamtausgabe nun freilich nicht weniger als sechzehn Bände umfaßt. Amerika, das Koeppen dreimal besuchte, wobei er vor allem New York mit Reiseberichten bedachte, war nicht sein einziges Ziel, zuvor hatte er von Spanien, Frankreich und Rußland erzählt, und diese literarischen Reportagen wurden zu seiner Haupteinnahmequelle. Der Schriftstellerfreund Alfred Andersch leitete damals das Abendstudio des Süddeutschen Rundfunks, der die Reise mit Unterstützung durch das State Department finanzierte.
Und dem Autor alle Freiheiten ließ. Im Fall Koeppens war das die eingangs zitierte assoziative Parataxe und Montage, deren Eigentümlichkeit einen Rezensenten wie den Schriftsteller Helmut Heißenbüttel zu dem Urteil brachte, man wolle sie wohl lieber hören als lesen. Amerika war für Koeppen ein Experimentierfeld der literarischen Moderne, deren Koryphäen er in seinen frühen BRD-Romanen meisterhaft imitiert hatte, bis hin zu dem von Gertrude Stein entlehnten Titel »Tauben im Gras«. So kam Amerika »schon zu Koeppen, bevor er nach Amerika gehen konnte«, schreibt Michael Kimmage, der Übersetzer der erst 2012 erschienenen Übertragung ins amerikanische Englisch. Koeppens eigentlicher Guide war allerdings Karl Roßmann aus Kafkas Roman »Amerika«.
Der 1906 in Greifswald geborene Romancier war kein Bewunderer der Vereinigten Staaten. Er steckte tief im Erfahrungsraum zweier Weltkriegskatastrophen und im Erwartungshorizont einer atomaren Konfrontation zwischen den Supermächten, die er gleich zu Beginn aufruft. Koeppen schaut weder auf die USA herab, wie viele seiner Generation, noch bewundert er sie, wie viele meiner und späterer Generationen. »Hier war ich Europäer, und ich wollte es bleiben.« Stereotypen und Platitüden finden sich selten beziehungsweise genau da, wo sie hingehören, wo das Land seinen Besuchern nämlich aus Film & Fernsehen ohnehin stets bekannt vorkommt. (Ein europäischer Schriftsteller bekundete mir während seines USA-Stipendiums in den neunziger Jahren seine Langweile: »Das kenn ich eh schon alles.«)
Koeppen war im April 1958 per Schiff angereist und in New York an Land gegangen. Von dort reiste er mit dem Zug nach Washington D. C. und New Orleans, mit dem Greyhound-Bus weiter durch Texas und Arizona, mit der Santa-Fe-Bahn nach Los Angeles, von dort nach San Francisco und über Salt Lake City nach Chicago und Boston. Von New York trat er im Juni den Rückflug nach Europa an. Gute zwei Monate sind länger als das berüchtigte »Europe in ten days«, das dollarschwere US-Bürger damals absolvierten, aber doch sehr knapp bemessen für etwas, das mehr als eine Tour d’horizon sein sollte. Die freilich lieferte Koeppen als luzider Beobachter, ob und gegebenenfalls mit wem er sich unterhalten hat, notiert er kaum. Mal war er amüsiert über Kindsköpfiges, mal schockiert über die strikte, kaum durchbrochene Rassentrennung, gelegentlich animiert durch Striptease und Sex und stets voller Bewunderung für US-Autoren. Die Diagnose des Soziologen David Riesman, Amerika bilde eine »einsame Masse« und kenne das aus Europa bekannte Kollektivhandeln nicht, formulierte Koeppen so: »Kein Land der Masse, ein Land der Einsamkeit.« Und einsam wollte er ja auch auf Reisen sein, sich wenigstens so stilisieren zwischen Katastrophenfurcht und Selbstentfremdungslust.
Koeppen tat gut daran, ganz Amerika zu durchreisen und es nicht bei Manhattan oder Berkeley zu belassen. Damals regierte Dwight D. Eisenhower im Weißen Haus, jener General, der die Deutschen erst besiegt und dann in die westliche Allianz aufgenommen hatte, um den Preis dauerhafter Teilung und periodischer Berlin-Krisen. Koeppen schrieb vor der Konsolidierung dieser Asymmetrie zur (niemals harmonischen) »Deutsch-Amerikanischen Freundschaft« und der Routine transatlantischer Lobby Groups. Washington erlebte er noch als hitzeschwüle, fast idyllische SüdstaatenCity, deren Hotels er sich dennoch nicht leisten konnte. Der Aufstieg von Senator John F. Kennedy aus Massachusetts stand noch bevor, ebenso das Free Speech Movement an der Universität von Berkeley, der er einen Besuch abstattete. Mit Jack Kerouac wußte er etwas anzufangen, aber nicht mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg, die bei Teilen meiner Generation eine Haßliebe zu den USA erzeugten.
Ganz anders ist heute das Verhältnis zur rivalisierenden Großmacht: Mittlerweile ist eher von einer »collusion«, einer unappetitlichen Verquickung von Geschäftsinteressen des amtierenden Präsidenten Donald Trump mit Putins Oligarchen und versuchter Wahlmanipulation aus Moskau die Rede. Zur Zeit darf man aus europäischer Sicht beide Ex-Schutzmächte als trollartige Akteure wahrnehmen, die der EU schweren Schaden zufügen. Eine kämpferische Restrivalität zeigt sich nur, wenn der Straßenabschnitt vor der russischen Botschaft in Washington »Boris Nemtzov Plaza« getauft wird, in Erinnerung an den vor dem Kreml heimtückisch ermordeten Oppositionellen. Und der amerikanische Freiheitsdrang ist noch vital im (gescheiterten) Bemühen, die New Hampshire Avenue vor der saudischen Botschaft »Jamal Khashoggi Way« zu nennen, um das Bekenntnis der USA zur Pressefreiheit zu unterstreichen.
Von Koeppen ließ ich mich zu einer Konferenz in die Georgetown University begleiten, die »alte Jesuitenuniversität«, deren Umgebung vom »Negerslum« zum Viertel der »Diplomaten, Staatssekretäre, Stars des Journalismus« avanciert war (die mittlerweile auch weitergezogen sind). Schülerinnen und Schüler, so war ihm aufgefallen, standen »in nach Rassen getrennten Gruppen beisammen, doch ein blonder Junge interessierte sich lebhaft für eine dunkle Schönheit; ich verstand seine Begeisterung, ich fühlte mit ihm, und ich fragte Amerikaner, wie in diesem Fall die Aussichten der Liebe seien, der Liebe auf dem Schulweg, und die Amerikaner wußten es nicht zu sagen …« Diese Passage wäre heute nicht nur politisch inkorrekt, weil über racial relations (die noch so heißen dürfen) in dieser Weise nachgedacht wird (und Koeppen ungeniert das N-Wort benutzt). Aber auch die »Rassenbeziehungen« haben sich gewandelt. Als ich den GeorgetownCampus überquerte, riefen gemischte Gruppen die Kommilitonen auf, sich an einer Wiedergutmachungsaktion für die Nachfahren jener 272 Sklaven zu beteiligen, die 1838 verkauft worden waren, um die bankrotte Uni zu retten. Offenbar ist deren Genealogie noch nachvollziehbar, und so sollen Nachgeborene aller Hautfarben ihnen einen Obolus leisten. Das nicht bindende Referendum fand eine überwältigende Zustimmung. Reparationszahlungen für die Leiden und Langfristfolgen der Sklaverei sind ein häufiges, auch von den meisten demokratischen Präsidentschaftsbewerbern aufgegriffenes Thema – das die Nation immer noch spaltet.
Viel hat sich seit 1959 verändert, manches blieb. Die Mehrheit der Washingtonians ist immer noch schwarz, aber es ist eine potente schwarze Mittelschicht entstanden – und Barack Obama hat zwei Amtszeiten regiert. Dennoch ist die Neigung der Weißen, bestimmte Viertel zu besuchen, weiterhin begrenzt. Ich erinnere mich an meinen ersten Aufenthalt in D. C., als mich ein Polizeifahrzeug flankierte und die Cops mich besorgt fragten, ob ich hier wirklich weiter spazierengehen wolle. (Sie fuhren weiter, so daß mir gar nichts anderes übrigblieb, den Spaziergang habe ich unbeschadet überstanden.) Ein paar Jahre später wollten wir zur informellen Amtseinführung Bill Clintons, der sie aus Dankbarkeit für die Stimmen der Afroamerikaner an die berüchtigte Ecke von Georgia und Florida Street verlegt hatte – der indische Taxifahrer fuhr erst los, als wir ihm nachdrücklich versichern konnten, der Präsident höchstpersönlich werde dort sein. Mittlerweile hat die Gentrifizierung auch die Schwarzen Viertel östlich der 16th Street ergriffen. Die Gegend um Howard University wird von wohlhabenden Schwarzen bewohnt und hat das hippste Nachtleben, aber die ärmeren sind in andere Viertel abgedrängt worden. Weiterhin gibt es gute Gründe für die Proteste von »Black Lives Matter«, aber endlich findet man auf Washingtons Museumsmeile auch ein Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur.
Koeppen interessierte sich nicht sonderlich für amerikanische Innenpolitik. Er mokierte sich über die Washingtoner Wichtigtuer, ging aber fast ehrfürchtig ins Capitol, den Sitz des Kongresses, und wohnte einer Debatte zum Arbeitsrecht bei. Aus der Perspektive des Bonner »Treibhauses« war das die hohe Schule der Politik. Ins Capitol kann man, nach eher schlampiger Leibesvisitation, immer noch hinein, um Ausschußsitzungen zu lauschen, aber der Kongreß achtet nicht länger auf parlamentarische Regeln und menschlichen Anstand, sucht längst nicht mehr parteiübergreifend den Kompromiß. Die Südstaaten-Demokraten waren damals rechts von der »Grand Old Party« angesiedelt, seit Jahrzehnten hat sich das Koordinatensystem gedreht und die Republikaner haben die niedrigsten Instinkte der Politik freigesetzt. Wie Trump eine über Jahrzehnte gewachsene Gewaltenteilung demontiert und die Demokratie aufs Spiel setzt, ist wohl die größte Veränderung (und Enttäuschung) seit 1959.
Auf Koeppens Spuren wollte ich noch in die Library of Congress, doch ein privates Event sperrte die Wißbegierigen aus dem »Hohen Tempel des Alphabetentums« aus. Kein Betteln und Flehen verschaffte ihnen Zugang in die »ideale Bücherei«, wo mittlerweile elektronisch ausgeliehen wird und die Lesesäle vom Klappern der Laptops erfüllt sind. Auch das White House, das Koeppen mit »Schulen, Schulen, Schulen« besuchte, war weiträumig abgesperrt: Staatsbesuch des ägyptischen Militärdiktators Abdel Fattah El-Sisi, den Trump später ungebührlich rühmte, genau wie Bolsonaro, Duterte und andere Autokraten. Der Washington Post war dann zu entnehmen, daß der Präsident die Chefin der »Homeland Security«, die ohnehin schon schärfste Kontrollen der Grenzen und die Vertreibung von Illegalen vorantrieb, an die Luft setzte. Die Abschottung gegen Immigration, obgleich keine Neuigkeit in der US-Geschichte, hat sich seit den fünfziger Jahren gravierend verstärkt.
Die Grand Tour des 20. Jahrhunderts führte nach Amerika. Gilbert K. Chesterton hat einmal gewitzelt, von jedem, der über den großen Teich fahre, werde ein Buch erwartet. Und so war es auch in Deutschland – jedes Jahr erschien mindestens ein »großes Amerika-Buch«, das Bewunderung, Abneigung oder Grundaussage meist schon im Titel verriet. Koeppens Radioreportage hieß »Die Früchte Europas. Amerika westwärts – Amerika ostwärts«. Diese eurozentrische Sicht, wonach die Alte Welt von Amerika etwas zu lernen, sich vor ihm zu fürchten oder es zu übertrumpfen habe, haben kommentierte Editionen auch bei Koeppen diagnostiziert. Zu seiner Zeit ging die kulturelle Amerikanisierung erst richtig in die Breite. Immer noch wird »amerikanische Kultur«, neuerdings in Form von Serien, Streaming-Angeboten und Plattformen aus dem Silicon Valley, reichlich rezipiert, Anlässe für große Reiseberichte sehen aber eigentlich nur noch heimkehrende TV-Korrespondenten, die persönlich Bilanz ziehen wollen. Das transatlantische Politikgeschäft ist zur Selbstbeschäftigung verkommen, für Work & Travel nach dem Abi sind eher Australien oder Bali angesagt, das wechselseitige Desinteresse wächst rapide. Der Kontrast zwischen der weißen Suprematie im Süden und der gelebten Multikulturalität an der Westküste sollte, wie Koeppen damals meinte, aufgehoben werden im Kosmopolitismus der Vereinten Nationen, deren Gebäude am East River er vor dem Abflug seine Reverenz erwies. Das war, dreizehn Jahre nach Kriegsende, sicher auch als Aufforderung an die Deutschen zu verstehen. Und das ist sie heute für die ganze »westliche Welt«, die sich damals zur Lebensform entwickelte und gerade zum Auslaufmodell wird.
SINN UND FORM 1/2020, S. 123-127
Buch, Hans Christoph
Wo die wilden Kerle wohnen. Laudatio auf Berthold Zilly, S. 127
Seel, Daniela
Der Garten, in dem man verschwindet. Zum Gartenmotiv in Inger Christensens »Alphabet«, S. 131
Thimm, Günter
Stehst bald nicht mehr da, o Fichte, S. 133
Bürger, Christa
Rilkes Gesetz, S. 135