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Cabezas, Miguel
- 6/1979 | Ein Kommunist stirbt
Cabezas, Omar
- 3/1985 | Ein Gespräch in Managua
Caillois, Roger
- 6/1974 | Die Stadt und das Gedicht
- 3/2010 | Katechismus und Almanach. Über Saint-Exupéry, S. 300 Leseprobe
Caillois, Roger
Katechismus und Almanach. Über Saint-Exupéry
Als Kind hatte Saint-Exupéry offenbar eine fast religiöse Ehrfurcht vor dem Schriftstellerberuf, die er auch nie verlor. Für Kinder und schlichte Gemüter ist Gedrucktes dasselbe wie Literatur. Es hat für sie ein Prestige, das sie später als unverdient ansehen müssen. In Inneraustralien leben Stämme, bei denen die – rein negative – Initiation darin besteht, daß den Jungen erklärt wird, es gebe weder Götter noch Geister, die seltsamen Geräusche, die sie erschreckten, könnten auch sie, zum Schrecken anderer, erzeugen, mit Instrumenten, die sie bekämen, die furchteinflößenden weißen Spukgestalten könnten auch sie beliebig herbeizitieren, indem sie sich mit Farbe bemalten, die sie bekämen, und Masken trügen, die sie selbst schnitzten. Strehlow, der die brutalen und im wahrsten Sinne des Wortes vernichtenden Initiationsreden wörtlich überliefert, schreibt, soweit ich weiß, nichts über die Gefühle der jungen Loritja (oder Aranda?), die zum Ausgleich für dieses plötzliche Vakuum die Macht erhalten, andere zu ängstigen, die ebenso naiv sind wie sie selbst noch einen Tag zuvor. Ich für mein Teil sehe fast keinen schlimmeren Grund zu verzweifeln: Das mit Furcht und Zittern Respektierte bricht zusammen, doch der Zusammenbruch führt zu einem entscheidenden Aufstieg. Man erklärt dem Novizen, daß man ihn getäuscht hat, und entschädigt ihn für dieses Wissen mit der allgemein anerkannten Befugnis, andere zu täuschen. Dieser Handel ist keine Besonderheit der inneraustralischen Savanne. In den Hauptstädten der zivilisierten Welt offeriert man dergleichen, wiewohl entschärft und abgemildert, dem angehenden Diplomaten, dem Jungmanager, dem Studienanfänger, jedem, der sich anschickt, die bedeutsame Schwelle zu überschreiten. Er blickt ins Nichts, aber erhält dafür einen kleinen Anteil an der Macht: einer Macht, die bei den Wilden auf unverhohlenem Betrug beruht, in den Gremien moderner Gesellschaften darauf, daß man die Aufgabe und die Schwierigkeiten, sie zu erfüllen, auf feine, aber unklare und kaum faßbare, doch letztlich beeindruckende Weise mystifiziert. Diese Mystifikation geht einher mit Geheimniskrämerei hinsichtlich der mit der Aufgabe verbundenen Privilegien. Solche Praktiken sind zwar schwerer zu durchschauen als Masken oder Farben, aber ebenso verlogen.
Nicht anders ergeht es dem literaturgläubigen jungen Menschen, wenn er selbst Schriftsteller wird. Bis dahin hatte er vor Büchern denselben Respekt wie vor Priestern oder Lehrern. Für Kinder, vor allem auf dem Lande, sind Bücher etwas Besonderes und fast immer von gleicher Art. Die ganze Literatur scheint ihnen verwandt mit Büchern, die sie kennen und die ihnen die Welt aufschließen, die Erfahrung der Erwachsenen vermitteln und ihnen ihre Pflichten dartun. Sie sind, wie das Abc-Buch und der Kalender, ohne Wenn und Aber gültig und auch ein bißchen magisch. Sie überbringen Gesetze, Wissen und Macht. Das gilt nicht nur für Lehrbücher. Eine unerschöpfliche Fundgrube ist der Almanach: er enthält tausend praktische Anleitungen, Bildtafeln von Saaten, Äckern, Ernten, verschiedenen Knoten, unterhaltsame Einblicke in die Physik, Porträts und Lebensläufe ausländischer Staatsoberhäupter, die wöchentlichen Himmelskarten, mit weißen Sternen in kleinen schwarzen Quadraten oben und unten auf der Seite, alle möglichen wertvollen, nützlichen oder ausgefallenen Kenntnisse, die für anhaltende Freude sorgen; eine offene Tür ins wirkliche Leben, in die unermeßliche Welt. Dazu kommt der Katechismus, durch den das Kind Glaubensartikel und Gebote lernt, formelhafte Texte, an denen auch nur ein Wort zu ändern Sünde wäre.
Ein Schriftsteller, der von Kind an diese abergläubische Ehrfurcht vor Gedrucktem erlebt oder empfunden hat, wird sie nicht ohne weiteres ablegen. Vielleicht hat gerade diese Gläubigkeit ihm Lust gemacht, Schriftsteller zu werden. Man müßte untersuchen, wie er die Realität der Literatur allmählich anerkennt und in welchem Moment der von der Hexenkunst Entzückte das Handwerk zu lernen beginnt.
Gewiß ist er oft deprimiert, wenn nicht empört, über die unglaubliche Leichtfertigkeit der Älteren, ihre Gewissenlosigkeit, ihre Erfolgssucht, ihre erbärmliche Eitelkeit. Doch bald entdeckt er voller Scham, daß sich auch bei ihm Fehler einschleichen und verfestigen, die ihn bei anderen stören. Die Gewohnheit tut das ihre, die Scham vergeht und mit ihr die Erinnerung an das einstige Feuer. Schreiben wird zum Beruf oder zum Karrieremittel. Es geht nur noch um Publizität und Auflagen, um Geld und Ehren; und bei einigen, nicht unbedingt den Lautersten, um den Beifall eines kleinen Kreises oder um den Ruf der Lauterkeit. Dies alles blieb Saint-Exupéry erspart. Er hat sich dem entzogen, und vermutlich hat ihm der Verzicht auch gar nichts ausgemacht. Womöglich ist er dem Almanach und dem Katechismus ganz selbstverständlich treu geblieben, obwohl er Katechismen verabscheute und vielleicht nie in einem Almanach geblättert hat. Doch ich spreche vom Gehalt und der Glaubwürdigkeit der Texte und von der Welt der Kindheit und der Dörfer, in der Katechismus und Almanach zwar nicht die einzigen, aber die wichtigsten Bücher waren (in Saint-Exupérys Kindheit). Mit ihnen erkundet das Kind das Heilige und das Weltliche, das Verborgene und das Sichtbare. Es entdeckt den Katalog und die manchmal überraschende (aber das ahnt es nicht) Hierarchie der Tugenden (Hoffnung) und Sünden (Schadenfreude); das System von Glaubenssätzen und Riten; die schlichten Worte der wesentlichen Mysterien; im weltlichen Bereich erlernt es den Zyklus der Jahreszeiten und der bäuerlichen Arbeiten, den Lauf der Sterne am Nachthimmel und ihre Deutung und natürlich auch Basteln, Zauberkunststücke und Knobeleien.
Meist bleibt von diesem frühen zusammengewürfelten Lehrstoff nicht viel hängen. Das Kind verliert den Glauben oder zumindest das Interesse an Offenbarungen und Mysterien. Der Erwachsene wählt einen Beruf, der Fachkenntnisse erfordert und ihn von dem bildhaften und rein zweckmäßigen, oberflächlichen Allgemeinwissen abbringt, das er im Almanach suchte. Saint-Exupéry überträgt und verlängert offenbar mehr als andere diese komplementären Bildungsgüter Katechismus und Almanach ins Erwachsenenleben und baut darauf auf: Er wird Pilot; er kann in stummer Nacht die Sprache der Sterne entziffern; er repariert Motoren, arbeitet an der Verbesserung eines Querruders, eines Landesystems, eines Geräts zur Aufzeichnung von Funkpeilungen, erwirbt Patente, stellt komplizierte Gleichungen auf, schreibt seitenweise Zahlen auf, um rein theoretische Probleme zu lösen, erfindet Kartentricks. Nebenbei verfaßt er moralische Traktate. In dieses Genre gehören alle seine Bücher, wie unterschiedlich sie auch sind: »Nachtflug«, »Die Stadt in der Wüste«, »Der Kleine Prinz«, »Wind, Sand und Sterne«, und erst recht das »Bekenntnis einer Freundschaft« oder die »Carnets«, in denen selbst bei den moralfernsten Themen der Moralist zum Vorschein kommt.
Was ich sagen will: Saint- Exupéry ist nicht zuerst ein Mann des Wortes, das zeigt schon seine Literaturauffassung. Er ist ein Mann der Tat, dem die Tat nicht genügt, weil er weiß, daß sie allein noch nichts besagt; ein Techniker, der nicht nur an den Nutzen der Technik denkt, sondern auch an ihre Gefahren; ein Kämpfer, der sich weder auf Mut noch auf Gehorsam verlassen will. Aber ein Mann der Feder ist er nicht: Sein Beruf zwingt ihn zu Sorgfalt, Härte und Umsicht; er muß sich mit seiner ganzen Person einsetzen, nicht nur mit Worten.
Die täglichen Pflichten schärfen sein Verantwortungsbewußtsein, bei anderen Autoren verkümmert es als erstes, wenn es nicht gebraucht wird. Er erlebt jeden Tag aufs neue, welche Folgen es haben kann, wenn man ein Ruder oder Funkgerät nicht überprüft oder wenn ein Maure glaubt, man sei feige oder illoyal, oder ein Untergebener, man nehme es nicht so genau, oder ein Kamerad, man denke mehr an sich als an die Mannschaft. Er erobert, er gestaltet eine neue, noch ungefestigte Zivilisationssphäre, in der das kleinste Versäumnis sich sofort auswirkt.
Für Saint-Exupéry ist die Literatur ein Zivilisationsmittel. Sie verhindert, daß Ängste und Großtaten, Niederlagen und Triumphe im Nichts verschwinden. Dergestalt erlangen sie gleichsam etwas Physisches, Strahlendes, Vorbildhaftes. Dieses ergänzt die Lehren, die man selber ziehen kann. Die Kunst des Schriftstellers macht sie zu einer einzigartigen Sentenz, einem wertvollen Kommentar, einer fruchtbaren Glosse in jenem unsichtbaren und riesigen Register, das die Erfahrungen einer Kultur enthält. Der Almanach lebt von bedeutsamen Anekdoten und bewährten Maximen, die den Katechismus ebenso prägen wie die alten chinesischen Klassiker und Geschichtsbücher. Saint-Exupéry versucht nie, den Gebildeten mit Hieroglyphen zu imponieren. Er beteiligt sich auch nicht an den Absonderlichkeiten und dem Geschwätz, den tausend Raffinessen, die nur dem Freude machen, der den ganzen Tag darüber nachsinnt, wie man Kollegen dazu bringt, eine Kunst zu bewundern, die sich ihrer selbst entfremdet hat.
Saint-Exupéry hat einen anderen, einen gefährlichen und schwierigen Beruf, der Können, Beharrlichkeit und Mut verlangt. Er arbeitet und kämpft. Am meisten Kraft kostet ihn sein Leben, nicht seine Kunst. In dieser Situation verzichtet er auf das Privileg des Dichters und Romanciers, das freie Erfinden, das man von ihm doch geradezu verlangt. Er weiß, daß in der Kunst Glaubwürdigkeit kein Verdienst ist, Aufrichtigkeit erst recht nicht, und daß man beide fingieren muß; eine Sache der Geschicklichkeit und nicht der Ehrlichkeit. Er kann nicht übersehen – er hat Beispiele vor Augen –, daß, wenn der Erzähler, ob nun Opfer oder Held, nicht sonderlich geschickt ist, die schlimmsten Prüfungen, die kühnsten Taten, die leidvollsten Triumphe stumm und leblos sind, ja gleichsam schlappe, langweilige Lügen; andererseits hat er so manches Meisterwerk gelesen von Menschen ohne Mut und Ethos, die nie gelitten, nichts erlebt und nichts gewagt haben, doch dank ihrer Phantasie bei Gewährsleuten oder in den Werken anderer fündig wurden, als ersetze ihnen die Schöpferkraft die Fähigkeit zu handeln, ja zu fühlen. Für ihre Freunde waren sie unscheinbar und mittelmäßig, und doch gaben sie einer erfundenen Geschichte Farbe, Glanz, Dichte und Klarheit. Darin besteht die grundlegende Ungerechtigkeit, die Eigengesetzlichkeit der Literatur, die wie das Dogma der Reversibilität ist.
Saint-Exupéry kennt sie. Doch er will dieses große Privileg nicht in Anspruch nehmen. Gewiß, er hat Talent und nutzt es, er arbeitet an seinem Stil, der nicht frei ist von gesuchten Begriffen und auch nicht von Rhetorik. Er hat eine besondere Gabe für starke und neue dichterische Bilder: Er verschmäht auch nicht die wunderbaren Wirkungen, die seine nüchterne, konkrete Prosa urplötzlich überstrahlen. Aber daß er solche im engeren Sinne literarischen Talente nutzt, ändert nichts an seinem eigentlichen Ehrgeiz. Für ihn sind sie bloß Werkzeuge, die ihm zur Verfügung stehen und die er bestmöglich nutzen will, weil ein kraftvoller, packender Stil seinem Anliegen mehr Leser verschafft. Das Wichtigste bleibt indes dieses Anliegen.
Er weiß sehr wohl, daß hier andere Regeln gelten, daß Begabung das Wesentliche ist und es besser ist, sie zu fördern, als für ein festes Fundament zu sorgen. Dennoch versagt er sich jedes Ausschmücken und Fabulieren und begibt sich damit der meisten Mittel, die für Schriftsteller so selbstverständlich sind, daß ihre Kunst zunichte würde, wenn man sie ihnen verböte und bloß Gedanken zuließe. Saint-Exupéry dagegen, dieser einzige oder fast einzige seiner Art, schreibt, um seine Aktivitäten zu dokumentieren. Seine Werke sind Berichte. Sie nähern sich seinen Beobachtungen und Erlebnissen immer mehr an. Entgegen dem Anschein gibt es im »Kleinen Prinzen« und der »Stadt in der Wüste« weniger Fiktives als in »Südkurier« und »Nachtflug«, wo Milieu und Figuren ausführlicher geschildert werden und ganz eigenständig sind. Schon diese frühen Werke sind eher Reportagen als Romane. Die Wirklichkeit wird darin kaum umgebildet. Noch weniger im »Kleinen Prinzen« und der »Stadt in der Wüste«, wo ein Moralexperiment knapp und sachlich beschrieben wird.
Saint-Exupéry verachtet, ja verabscheut Literatur, die nicht durch Realität gedeckt ist. Er will nichts schreiben, wofür er sich nicht mit seinem Leben verbürgen kann und das er nicht geprüft hat. So gesehen ist ihm die Welt der Literatur fremd. Er bleibt einer dieser einfachen Menschen, die ganz in der Wirklichkeit aufgehen und Produkte der Imagination höchstens als Ergänzung, nicht aber als Ersatz der Wirklichkeit ansehen.
Zur Unterhaltung gibt es Spiele: Schachprobleme, Anagramme, Kartentricks – Beschäftigungen, die in Almanachen vorkommen und die Saint-Exupéry begeisterten. Sie erfüllen ihren Zweck vorzüglich. Doch warum die Literatur auf Logogriphen beschränken? Von ihr darf man wohl mehr erwarten. Eben weil er an die Literatur glaubt, bevorzugt dieser Autor echte Anagramme, echte Logogriphen. Er verfaßt selbst welche; er widmet ihnen Freizeit und Phantasie. Er trennt die Aufgaben. Die Genres, Zuständigkeiten, Prioritäten werden bei ihm nie vermischt.
Saint-Exupéry lehnt noch ein anderes Schriftstellerprivileg ab, nämlich sich nicht an die Regeln halten zu müssen, die er dem Leser vorschreibt. Die Literatur begünstigt seit jeher auch Skrupellosigkeit und Heuchelei. Sie ermöglicht Feiglingen, Tapferkeit zu fordern, und Mutigen, die Segnungen der Angst zu loben; Geizigen, die Freigebigkeit zu preisen; Lüstlingen, die Keuschheit zu rühmen; Keuschen, die Lüsternheit zu verherrlichen und so weiter. Die Literatur dient zweifellos oft als Ausflucht oder Kompensation. Aber Saint-Exupéry macht sich nichts vor.
Er ist kein Asket, er kennt und genießt die Freuden der Sinnlichkeit. Er lebt weder maßvoll noch enthaltsam, frönt Faulheit, Wollust und Völlerei. Und denkt mit Zärtlichkeit an die Wärme und den Frieden abends im Familienkreis. Er hofft auf einen großen Preis, um alle Freuden des Lebens genießen zu können. Er hat vor dem Leben eine solche Achtung, daß er sich offenbar beherrschen muß, um nicht laut herauszuschreien, daß nichts, aber auch gar nichts die Opferung auch nur eines Menschen rechtfertige. Gleichwohl fordern seine Bücher dazu auf, Anstrengung statt Ruhe, Mühsal statt Freude, Gefahr statt Sicherheit zu wählen.
Die Menschen zum Verzicht auffordernd, betont er dennoch den Wert dessen, was sie verlieren. Er will sie nicht täuschen, er stellt sie vor die Wahl. Er macht ihnen das Glück nicht schimpflich; er beharrt auf der Heiligkeit des Lebens. Er denkt an die Piloten, die beim Aufbau einer Postlinie ums Leben kamen, an das beim Bau einer Brücke zerquetschte Gesicht eines Arbeiters. Ist eine Brücke den Tod eines Menschen wert? Oder die wenigen Stunden, um welche sich die Beförderung von ein paar Geschäfts- oder Liebesbriefen verkürzt? Das fragt er sich nicht nur einmal. Doch letzten Endes bejaht er Brücken und Postlinien. Seine Antwort hätte wohl anders gelautet, wenn das nicht sein Beruf gewesen wäre: unter Gefahren in unbekannter, lebensfeindlicher Umgebung neue Strecken zu erkunden. Dann hätte er die Antwort vielleicht bloß gedacht und nicht aufgeschrieben. Er glaubte wie gesagt an die Bedeutung der Literatur und verlangte von anderen grundsätzlich weniger als von sich selbst.
Er schreibt, um den Menschen den Sinn und die Tragweite ihres Tuns bewußtzumachen. Er sagt ihnen, was sie entzweit: man brauche ihnen nur ein Korn hinzuwerfen, und schon stritten sie. Aber auch, was sie eint: eine Aufgabe, die Zusammenarbeit erfordert. Der Koketten, die über ein verlorenes Schmuckstück weint, erklärt er, daß sie über den Tod weint, der sie von allem Schmuck trennt. Er versucht, bei jedem einen Sinn für die Moralgesetze zu wecken, die so unbeschränkt gelten wie die der Physik oder der Mechanik, nur vieldeutig, komplex, schwerer begreifbar sind als Windverhältnisse und Wetterschwankungen. Die Freiheit des Menschen macht alles unvorhersehbar. Doch gilt auch hier das ungeschriebene Gesetz, daß nichts verlorengeht und alles wiederkehrt.
Saint-Exupéry, der nicht eingestehen will, daß seine Literatur nicht so tiefgründig und nützlich wie Abc-Buch, Almanach und Katechismus ist, will dem Menschen mit seinen Büchern Kraft geben für die Prüfungen, die ihm seine Stellung als begabtes Tier auferlegt. Denn nichts hat dieses Tier dazu bestimmt, Brücken zu bauen oder Postlinien einzurichten, Bücher zu schreiben oder moralische Verpflichtungen einzugehen. Tiere brauchen keine Druckerei, keine Schrift, nicht einmal eine Sprache. Der Dschungel kann auf Logik und Moral verzichten. Doch sobald das Tier – infolge welcher unwahrscheinlichen Kausalkette? – den Instinkt überwindet und mehr als nur seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigen will, sind die Würfel gefallen, es beginnt ein unendliches Abenteuer, zu dem Brücken gehören, Postlinien, Kompaß, Steuern und Wehrdienst, die Inquisition, die Entdeckung Amerikas, die Eroberung Konstantinopels durch Kreuzfahrer oder Türken, Setzmaschinen, Bibliotheken, Fernsehen und schließlich Skepsis, wenn eine Kultur untergeht, die Lästereien derer, die gegen Logik und Moral sind.
Der nicht gläubige Held einer atheistischen Zeit hat nur die Werke und Fortschritte des Menschen, um sich vom Tier zu unterscheiden. Demnächst wird er sowohl den Wert der Werke als auch der Fortschritte in Frage stellen. Viele sind der Meinung, daß die Gewinne nicht die Verluste aufwiegen und die vielen Zwänge ein schlechter Tausch sind für die Unbekümmertheit. Und nicht zufällig suchen gerade die Empfindsamsten und Erfahrensten nach einer Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, die nicht vom Zivilisationsprozeß abgeleitet ist, sondern über ihn hinausgeht, ihn antizipiert und vielleicht erklärt oder rechtfertigt. Bezeichnenderweise stellt Saint-Exupéry die Definition des Menschen, die in André Malraux’ Frage steckt, ob die Freude nicht »von Anfang an vergiftet ist für das einzige Tier, das weiß, daß sie nicht dauern wird«, den Worten seines Kollegen Guillaumet gegenüber, der sich tagelang durch die verschneiten Anden kämpfte, obwohl sein Körper nur noch ausruhen und sterben wollte: »Was ich gemacht hab’, hätte kein Tier gemacht.«
Indem der Mensch sein Schicksal nicht mehr in die Hand der Götter legt, versucht er sich vom Tier zu unterscheiden. An beiden Fronten macht er denselben Versuch, aus berechtigtem Stolz und in kühner Unabhängigkeit. Er weiß, daß auf dem Olymp nur die Götter wohnten, die er sich eingebildet hat, aber er ist noch nicht soweit zuzugeben, daß sein Glaube an diese Projektionen wahrhaftig und fruchtbar war. Außerdem glaubt er sich immer noch dafür rechtfertigen zu müssen, daß er aus dem Tierreich stammt.Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 3/2010, S. 293-299
- 3/2010 | Gespräch mit Roger Caillois (1978)
- 6/2014 | Die Ordnung und das Kaiserreich
Calvino, Italo
- 4/1997 | Eremit in Paris
Camartin, Iso
- 6/1990 | Auf der Suche nach der sprachlichen Identität
- 2/2006 | Erkundungen der erträglichen Nähe. Für Barbara Honigmann
Camilleri, Andrea
- 2/2020 | Pirandellos Asche
Campert, Jan
- 4/1954 | Das Lied der achtzehn Toten
Camus, Albert
- 1/2021 | Albert Camus, Maria Casarès, »Und doch habe ich gewaltige Pläne«. Drei Briefe
Canetti, Elias
- 1/1977 | Das Gewissen der Worte
- 6/1980 | Menschen erlernen
- 1/1981 | Der 15. Juli
- 4/1996 | Aufzeichnungen 1993
- 6/1997 | Sind Tagebücher zeitgemäß? Gespräch mit Elias Canetti, Max Frisch, Lars Gustafsson, Uwe Johnson und Barbara König 1972
- 2/2000 | Briefe an Hans Bender
- 6/2013 | Notizen gegen den Tod
- 6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek, S. 776 Leseprobe
Adorno, Theodor W.
»Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen« Briefwechsel mit Elias Canetti
Ein Vulkan an Ressentiment.
Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti
Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits ihrer gewaltigen Eitelkeiten einiges an Spannungen in der Luft lag, ist dem erhaltenen Briefwechsel nur indirekt zu entnehmen; man verkehrt formvollendet, ja überhöflich miteinander, versichert sich der gegenseitigen Hochschätzung, läßt den direkten Austausch aber auf sich beruhen, nachdem das mehrtägige Kennenlernen brieflich hinreichend nachbesprochen ist.
Das Ereignis, das die Korrespondenz begründet, ist Adornos Einladung, Canetti möge an der Frankfurter Universität über einen frei gewählten Komplex aus seinem philosophisch-anthropologischen Lebenswerk »Masse und Macht« (1960) sprechen, an dem er etwa ein Vierteljahrhundert im Exil gearbeitet hatte. Als er »Das Chaos der Größe« vorschlägt, wünscht Adorno sich angesichts des universitären Publikums einen Titel, der etwas mehr »down to earth« ist, und so wird »Macht und Überleben« daraus.
Canetti reist am 17. Februar 1962 an, er liest und diskutiert im Vorlesungssaal zwei Tage später vor Adorno, seinen akademischen Schülern und studentischem Publikum, wiederum zwei Tage später führen die beiden das bekannte und mehrfach abgedruckte Rundfunkgespräch über »Masse und Macht« – am 21. Februar 1962, aus der Korrespondenz ist das genaue Datum zu entnehmen (bisher wurde es meist falsch auf März 1962 datiert). Abgesehen von den beiden Terminen gibt es wenige Treffen: Gretel und Theodor W. Adorno laden Canetti zum Abendessen ein, Adorno empfiehlt seinem Gast die eigenen Schriften und schickt ihn in Frankfurter Antiquariate. Es geht vor allem um die »Dialektik der Aufklärung« (1947), zu diesem Zeitpunkt nicht im Handel, und die Frage nach möglicherweise parallelen Gedankengängen. Canetti bedankt sich im März 1962 artig bei Frau Gretel und bei Adorno, sie wechseln noch zwei geradezu freundschaftlich klingende Briefe, in denen es vor allem um die kulturkritischen »Prismen« (1955) und ihre Aufnahme in Großbritannien geht, damit bricht die Korrespondenz ab.
Sie steht in einem größeren Zusammenhang, der sich von der Canetti-Seite her umfassend darstellen läßt, auf Adornos Seite bestätigen sich die raren Erwähnungen Canettis im veröffentlichten Werk auch in seiner Korrespondenz. Er hat sich nie so recht auf den anderen eingelassen; das berühmte Radiogespräch der beiden ist auch schon als Beleg für Adornos Autismus gesehen worden, er kreist in seiner eigenen Begriffswelt, obwohl seine Rolle die des Interviewers hätte sein sollen. Dabei war sein Einstieg in Canettis Werk ein sehr persönlicher: Seine Frau Gretel Karplus war eine entfernte Cousine der österreichischen Malerin Marie-Louise von Motesiczky (1906 –1996), einer Schülerin Max Beckmanns; die schmale (unveröffentlichte) Korrespondenz zwischen Adorno und Motesiczky (»Piz«) zeigt, wie engagiert sie versucht hat, ihn mit Canetti zusammenzubringen. Adorno war wohl auch nicht ganz unempfindlich gegenüber diesen Versuchen; eine der wenigen Nennungen Canettis scheint ihr zuliebe erfolgt zu sein – in dem Programmheftbeitrag »Bilderwelt des Freischütz« (1961) verweist er auf den Wald, der in »Masse und Macht« als das »Massensymbol der Deutschen« benannt wird.
Motesiczky war jahrzehntelang Freundin, Geliebte und Mäzenin von Elias Canetti, wie er aus Wien nach London geflohen. Die Korrespondenz der beiden ist 2011 unter dem Titel »Liebhaber ohne Adresse« erschienen, herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. Hier ist nachzulesen, daß Motesiczky 1961 mit den Adornos einen Sommerurlaub in Sils Maria verbracht hat, und sie hat auch vorher schon für Canettis Werk geworben. Sie schreibt ihm, Adorno stehe »gemischt« zu »Masse und Macht« und wolle seine Vorbehalte nur mit Canetti selbst diskutieren, tatsächlich hat Adorno ihr von einer Verwandtschaft zu Teilen der »Dialektik der Aufklärung« geschrieben, von »frappierenden Übereinstimmungen« gar. Ihr Eindruck ist, es handle sich dabei nicht um eigentliche Einwände, sondern um Prioritätsfragen. Er solle doch bitte Adorno keine Absage schreiben, solange sie mit ihm und seiner Frau in Sils sei (16. August 1961). Canetti hat da schon zugesagt, nach Frankfurt zu kommen, wenn auch ein Semester später als ursprünglich gewünscht, und er antwortet seiner Geliebten etwas stachelig, sie schaffe einen »Vulkan an Ressentiment« in ihm – falls Adorno in Einzelheiten auf anderen Wegen zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sei, bestätige das doch nur seine Ergebnisse und auch seine Selbständigkeit, schließlich kenne er Adornos soziologische Schriften nicht und sei überhaupt der Soziologie ausgewichen (18. August 1961).
Canetti fliegt also bereits mit gemischten Gefühlen nach Frankfurt; in seinem Nachlaß gibt es in einer Adorno-Aufzeichnung die Bemerkung, er sei seit Jahren keinem geistigen Menschen begegnet, mit dem er wirklich habe sprechen können, er bewunderte einzelne Formulierungen in den »Prismen«, sah die umfassende Bildung Adornos und die Leichtigkeit, mit der er sich in Systemen bewegte – all dies trotz des eingepflanzten Ressentiments. Aber seine Einschätzung muß schnell gekippt sein, gleich während des Frankfurter Aufenthalts; er war mit den Veranstaltungen nicht einverstanden, ärgerte sich über Fragen des akademischen Publikums, das er gut abgerichtet fand. Adornos Gesprächsführung im Funk schien ihm perfid, weil sein Gesprächspartner wieder mit der »Dialektik der Aufklärung« ankam, von der er wußte, daß Canetti sie nicht kannte, wohl auch nicht kennen konnte – vor 1969 gab es nur die Exil-Ausgabe im Amsterdamer Querido Verlag (1947), in einer niedrigen Auflage. Obendrein spricht Adorno vom »Skandalon« der »Subjektivität des Ansatzes« von »Masse und Macht« – ein Buch, das sich mit seinem anthropologischen Zugriff in der Tat trotz des wissenschaftlichen Gebirges, auf dem es steht, durch einen antiwissenschaftlichen Gestus, ein Denken in Bildern und seinen Essayismus auszeichnet. Mindestens der letztere dürfte aber Adorno nicht fremd gewesen sein.
Es ist also schon nachvollziehbar, daß Canettis Einschätzung seines Gegenübers rasch ins Negative kippt. In einer Aufzeichnung, die auf 1962 datiert ist und die Canetti nach Adornos Tod in »Die Provinz des Menschen« (1973) veröffentlicht hat, heißt es:
»Er spielt auf zu vielen Instrumenten zugleich. Aber Denken ist nicht Komponieren. Im Denken wird etwas rücksichtslos auf die Spitze getrieben. Der Prozeß der Erkenntnis besteht vorerst darin, daß alles über Bord geworfen wird, um rascher und leichter an das eine geahnte Ziel zu gelangen. A. kann nichts über Bord werfen. Er schleppt sich immer ganz mit. Er gelangt nirgends hin. Alles, was er weiß, ist ihm immer gegenwärtig. Er pocht an alle Türen und tritt nirgends ein. Da er gepocht hat, glaubt er, er ist dort gewesen.«
Nun war das Rundfunkgespräch für die Rezeption von »Masse und Macht« durchaus von einiger Bedeutung; im Jahr der deutschen Erstausgabe war zu Canettis tiefer Enttäuschung sein erklärtes Hauptwerk versunken, fast ohne öffentliches Echo. Sein Buch kam über den Umweg des Erfolgs der englischen Übersetzung zu seiner großen Wirkung im deutschen Sprachraum, und ein weiterer Treppenstein dorthin war das Adorno-Gespräch – die erste deutsche Verlegerin, Hilde Claassen, hat das offensichtlich erkannt. Und es gab eine weitere Einmischung Adornos, die für Canetti wichtig war: Sein Stück »Hochzeit« (1932) erlebte am 3. November 1965 in Braunschweig seine Uraufführung, die einen Skandal zur Folge hatte. Autor und Theater wurden wegen Erregung geschlechtlichen Ärgernisses, vulgo Obszönität, denunziert, die Staatsanwaltschaft ermittelte und stellte noch im Dezember 1965 das Verfahren ein, es wurde keine Anklage erhoben. Das Theater hatte eine Reihe von Prominenten um Stellungnahmen gebeten, die auch in großer Zahl kamen, darunter von Fritz Bauer und Hermann Kesten, Erwin Piscator, Hilde Spiel, Peter Weiss, die grundsätzlichste Einlassung kam von Theodor W. Adorno. Er wies sich als genauer Kenner des Werkes von Canetti aus, »und zwar des sehr bedeutenden wissenschaftlichen (›Masse und Macht‹) ebenso wie des dichterischen (das Hauptwerk ist ›Die Blendung‹)«. Die Vorwürfe des anonymen Denunzianten – seiner Argumentation nach ein autoritärer Charakter – seien lächerlich, das Stück verdiene als Verbindung zwischen Expressionismus und absurdem Theater größtes Interesse und sei in seiner moralischen Absicht ganz unzweideutig: »Wer an diesem Stück Ärgernis genommen hat, der muß schon gekommen sein, um Ärgernis zu nehmen.«
Adorno hatte schnell reagiert, er mußte sich für seine Stellungnahme offenbar nichts neu anlesen, weil er große Teile von Canettis bislang erschienenem Werk kannte – mindestens so gut, daß es für eine solche Stellungnahme ausreichte. Daß er im letzten hier abgedruckten Brief zur Anrede »Lieber Herr Canetti« übergeht und sich wünscht, daß »der Kontakt zwischen uns nicht abreißen soll«, war also vermutlich doch ganz ernst gemeint, entsprechende Äußerungen gibt es auch in Adornos Briefen an Marie-Louise von Motesiczky (wo er von unvergeßlichen Tagen schreibt und der Hoffnung, ihn bald wiederzusehen). Canetti erwidert diese Anrede nicht, und auch die Stellungnahme zu »Hochzeit«, so wichtig sie für ihn in der Situation selbst gewesen war, änderte seine kritische Haltung nicht; er blieb auf Distanz. Durch die Verbindung über Motesiczky haben sich die beiden noch ein paarmal gesehen, etwa 1965 in Paris (vor der Uraufführung); in seinen Aufzeichnungen mokiert Canetti sich über die Weltfremdheit des Philosophen, der hinter jeder Frau, mit der er gern spreche, eine literarische Figur sehe: »Es ist klar, daß er von keinem wirklichen Menschen eine Ahnung hat«, seine einzige Leidenschaft sei sein Ehrgeiz. »Ein Denker, der von nichts Konkretem ausgehen kann, ist für mich keiner, und ein einziges Fragment von einem griechischen Philosophen, von dem sonst nichts besteht, ein einziger Satz ist mir mehr als die ganzen Werke des lebenden Adorno.«
Im Zuge der Recherchen für sein Kafka-Buch »Der andere Prozeß« (1968) las Canetti Adornos »Aufzeichnungen zu Kafka« (1953), ebenfalls 1955 in die »Prismen« aufgenommen. Diesen Text ertrug Canetti offenbar nicht mehr; die meisten seiner Sottisen sind in dem Band »Prozesse. Über Franz Kafka« (2019, herausgegeben von Susanne Lüdemann und Kristian Wachinger) veröffentlicht worden. Adorno habe »Kafka auf sein schmuckes Rad geflochten«, es »ist, als hätte ein Tintenfisch nach Kafka gegriffen«; er habe »sprachliche und gedankliche Elemente von Kraus, Kierkegaard, Freud, Marx, Proust und Gott weiß was noch« hineingebracht, der »abscheulichste Eklektizismus, ein geistiger Snobismus«, und er schwört sich: »nie wieder Adorno!« Daß ihm die »Aufzeichnungen über Kafka« im Weg gewesen sein könnten, weil es tatsächlich Berührungen mit eigenen Gedankengängen gibt, zeigt sich indirekt in einem Gespräch, das Heinz-Klaus Metzger 1967 mit Canetti geführt hat.
Dabei wird es bleiben; Canetti beobachtet Adornos Leben aus der Ferne, es finden sich noch einige einfallsreiche Schimpftiraden in seinen Aufzeichnungen 1969, danach werden sie seltener und knapper, kaum mehr als kurze Bemerkungen. Daß sich Adornos Studenten im Zuge der Achtundsechziger-Revolte gegen ihn aufgelehnt haben, verzeichnet Canetti mit leiser Genugtuung, nicht einmal Adornos Tod wenige Monate später ruft eine Revision der harten Urteile hervor, wenn sie auch lakonischer werden. Die wenigen vom Autor selbst veröffentlichten sind anonymisiert (»A.«), wie er ihn auch zu Lebzeiten nie offen kritisiert hat. Canettis Tiraden sind mitunter treffsicher, strikt subjektiv und polemisch, und sie bewegen sich auf einer schmalen Basis: Er hat Adorno ein paarmal erlebt, hat wenige Jahre äußerst freundlich mit ihm korrespondiert, wie hier nachzulesen ist, und er hat ihn – (fast) nicht gelesen. Auch aus dem Nachlaß wird nicht klar, ob er mehr kannte als die »Prismen«, nicht einmal die »Dialektik der Aufklärung« erscheint als gelesenes Buch in den Nachlaß-Notizen, der »Jargon der Eigentlichkeit« (1964) bloß als Schlagwort, ganz zu schweigen von den Komponisten-Monographien oder Hauptwerken wie der »Negativen Dialektik« (1966) oder der postum erschienenen »Ästhetischen Theorie« (1970). Ob es nun Parallelen zwischen der sich selbst erhaltenden Vernunft, die Adorno in seinem Gespräch mit Canetti für die »Dialektik der Aufklärung« reklamiert, und der Figur des Überlebenden (»Masse und Macht«) gibt, ist ein großes Thema, über welches das Lesepublikum selbst entscheiden möge – dazu braucht es mehr als ein paar Seiten.
Sven Hanuschek
SINN UND FORM 6/2023, S. 790-810, hier S. 790-793
Capek, Karel
Caragiale, Ion Luca
- 4/1952 | Eine Osterkerze
Cardenal, Ernesto
- 3/1973 | Die verlorenen Städte
- 6/1979 | Brief an das Volk Nikaraguas
- 1/1982 | Gespräch mit Jürgen Scheich
Carew, Jan
- 3/1984 | Der karibische Schriftsteller und das Exil
Carey, John
- 5/2009 | Der Unbeständige. Über John Donne, S. 690 Leseprobe
Carey, John
Der Unbeständige. Über John Donne
John Donne war ein Dichter neuen Typs. Seine Originalität beeindruckte die Zeitgenossen. Sie meinten, daß er das literarische Universum verändert habe. Er war der »Kopernikus der Dichtung« – ein prometheischer Neuerer, der das »gelehrte Unkraut« und den verstaubten Zierrat der klassischen Mythologie ausgemerzt hatte. Kein englischer Dichter vor ihm war so avantgardistisch und keiner so intellektuell oder so schwierig. Sein Freund Ben Jonson fürchtete, Donnes Dichtung werde sich als zu dunkel erweisen, um zu überdauern. Bei seinem Tod würdigten ihn seine Bewunderer mit Metaphern von Macht und Energie. Er habe über eine »Monarchie des Geistes« geherrscht; in seinem »klaren Verstand« habe ein »schreckliches Feuer« gebrannt.
Warum war Donne so besonders? Welche Umstände in seiner Kultur drängten ihn, eine so unnachahmliche, kompromißlose und antagonistische Sprache zu entwickeln? Die Antwort darauf mag zum Teil in seiner Kindheit liegen, die von Verlust und Zurückweisung geprägt war – Bedingungen, die das Gefühl des Andersseins sicher noch verstärkten. Sein Vater starb, als Donne knapp vier Jahre alt war. Noch Jahre später erinnerte er sich der »Liebe und Fürsorge« des Vaters, und obwohl seine Mutter noch zweimal heiratete, ihm also zwei Stiefväter bescherte, fehlte ihm sein leiblicher Vater sehr. In den »Heiligen Sonetten«, die er mit fast vierzig schrieb, verbindet sich die Angst, Gott habe ihn zurückgewiesen, mit der Angst, sein verstorbener Vater würde im Himmel womöglich nicht sehen, wie er das Böse mit aller Kraft bekämpfte.
Donnes feiner Familiensinn ist von Bedeutung, denn seine Familie war katholisch, und das hieß im elisabethanischen England Verfolgung und Zurückweisung von Geburt an. Katholiken wurden mit hohen Geldstrafen belegt, ihre Häuser von Regierungskommissionären überfallen und geplündert, sie durften kein öffentliches Amt bekleiden und keinen Universitätsgrad erwerben. Wenn man sie verdächtigte, Priestern Unterkunft zu gewähren, wurden sie verhaftet und gefoltert. Verurteilte Priester und Leute, die ihnen geholfen hatten, wurden barbarisch bestraft. Sie wurden gehängt, lebendig vom Galgen geschnitten, kastriert und ausgeweidet. Die braven Londoner frohlockten beim Anblick ihrer Todesqualen. Das öffentliche Abschlachten der an der Babington-Verschwörung beteiligten jungen Katholiken, als Donne vierzehn war, wurde von Feuerwerk, Freudenfeuern und Glockenläuten begleitet.
Donne erhielt Unterricht bei katholischen Hauslehrern, da er in einer Lateinschule die Staatsreligion hätte annehmen müssen. Seine Lehrer waren, wie er berichtet, begierig, den heiligen Tod zu sterben, und nahmen ihn offenbar mit zu Hinrichtungen von Katholiken, in der Hoffnung, daß die Begeisterung für die Märtyrerkrone auch ihn anstecken würde. Er schildert, wie Katholiken in der Menge niederknieten und zu den verstümmelten Überresten der hingerichteten Priester beteten. In seiner Jugend ließ ihn der »Gedanke ans Martyrium nicht schlafen«. Das war Familientradition. Mütterlicherseits stammte er von dem Märtyrer Sir Thomas More ab, und mehrere Verwandte waren für ihren Glauben in den Tod oder ins Exil gegangen. Sein Onkel Jasper Heywood, den die Obrigkeit schließlich aufspürte, war Leiter der geheimen Jesuitenmission in England.
Der junge Donne wußte, daß Spione und Feinde ihn umgaben, und ist ihnen offenbar trotzig entgegengetreten. Das früheste erhaltene Porträt zeigt ihn als Achtzehnjährigen, modisch gekleidet, die Hand am Schwert und mit dem Motto Antes muerto que mudado (Lieber tot als geändert). Über einer spanischen Bildunterschrift zu erscheinen, nur drei Jahre nach der Armada, war ein Affront gegen den englischen Patriotismus, und das Motto bestätigt sein Festhalten am alten Glauben. Auch seine kreuzförmigen Ohrringe hätten Protestanten empört. Doch das Porträt war eine Miniatur – ein persönliches Schmuckstück, das man nur engen Freunden zeigte. Es hat etwas Herausforderndes, macht dies jedoch nicht allzu deutlich. Das entspricht einem bei Donne häufig zu beobachtenden Muster, ein Verhalten, in dem sich privates Geltungsbedürfnis mit öffentlicher Unterwürfigkeit und Anpassung verbindet.
Für Katholiken war solches Verhalten ratsam. John Donne und sein Bruder Henry wurden mit zwölf bzw. elf Jahren nach Hart Hall in Oxford geschickt, das Katholiken bevorzugten, weil das College keine Kapelle besaß und das Fernbleiben vom Gottesdienst daher weniger auffiel. Als Jurastudent an den Londoner Inns of Court scheint Donne sich dann um gesellschaftliche Akzeptanz bemüht zu haben. Er schrieb schmeichlerische Versepisteln an Freunde, und seine Wahl zum Meister der Feste in Lincoln’s Inn 1593 läßt darauf schließen, daß er allgemein beliebt war.
Doch die Satiren und Liebeselegien, die er damals zu schreiben begann, erzählen eine andere Geschichte – oder vielmehr zwei. Der durch die Elegien stolzierende Protagonist ist kein vernünftiger, freundlicher Konformist, sondern ein Außenseiter, ein Freibeuter der Gesellschaft, der den bürgerlichen Frauen und Töchtern nachstellt. Die Frauen können ihm nicht widerstehen; er beleidigt und verführt sie im selben Atemzug und entkommt mit Hilfe der für ihn Entflammten den Wachen und Spionen, die die Gesellschaft auf ihn angesetzt hat. Er ist unverhohlen käuflich – einer von ihm verführten jungen Erbin versichert er, das Schönste an ihr sei die Aussicht auf den Reichtum ihres Vaters. Wiewohl schlüpfrig, gotteslästerlich und grausam, ist er doch hinreißend intelligent und welterfahren und (das macht er deutlich) den von ihm Betrogenen kulturell überlegen.
Der Sprecher der Satiren hat keine Ähnlichkeit mit diesem geilen Marodeur. Ernst, verantwortungsvoll und moralistisch, klagt er über Laster und Korruption und entdeckt sie praktisch bei allen, außer bei sich. Niedertracht, gibt er zu verstehen, sei besonders verbreitet unter Höflingen, Staatsdienern und denen, die – im Gegensatz zu ihm – Macht und Erfolg haben.
Die Satiren und Elegien zeigen, vermittels verschiedener Masken, denselben Antagonismus, dieselbe Überlegenheit, denselben Groll. Wir dürfen keinen der Zyklen für bare Münze nehmen. Bei beiden handelt es sich in hohem Maße um Ersatzphantasien. Der forsche, weltkluge Held der Elegien war eine Fiktion, die den Studenten der Inns of Court gefallen sollte. Denn in Wahrheit waren diese jungen Männer im elisabethanischen London ziemlich hilflos. Ständig in Geldnöten und unerfahren, waren sie eine leichte Beute für Wucherer, Prostituierte und andere Ausbeuter. Durch ihre Leichtgläubigkeit und Aufschneiderei machten sie sich zum Gespött der Bürger. Donnes Elegien kamen bei seinen Kommilitonen an, weil ihre erotischen Eroberungen und vornehmen Posen die gesellschaftliche Realität umkehrten.
Auch die Hochherzigkeit von Donnes Satiren war eine Pose. Der Hof, als Zentrum der Macht, zog die Studenten der Inns of Court magnetisch an, denn nur dort boten sich ihnen angemessene Karrierechancen. Erpicht auf Einkünfte und Einfluß, aber durch ihre Jugend ausgeschlossen, gaben sie vor, die Geschäftswelt zu verachten, und daher paßte die Rolle des Satirikers für sie. Indem sie sich wie moralische Richter aufführten, schmückten sie sich mit einer Autorität, die sie im wirklichen Leben nicht besaßen.
Mit dem Hermetismus und Antagonismus seiner Elegien und Satiren reagierte der junge Katholik auf die protestantische Gemeinschaft, die ihn zum Opfer gemacht hatte. Die sexuellen Provokationen der Elegien sind vielleicht besser als eine Art sozial-religiöser Protest zu erklären, wenn man bedenkt, daß die öffentliche Kastration von Katholiken Bestandteil der terroristischen Exekutionen des Staates war, die Donne im empfänglichsten Alter miterlebt hatte.
Auch daß seine Gedichte oft dunkel waren, vertiefte den Graben zwischen ihm und der Gesellschaft und schützte sein Werk vor inferioren Geistern, aber schmeichelte der Intelligenz der wenigen Auserwählten, die er ins Vertrauen zog. Er zeigte seine Gedichte nur engen Freunden, die versprechen mußten, sie nicht zum Zwecke der Verbreitung zu kopieren. Sie zu veröffentlichen war mit seinem Gefühl einsamer Überlegenheit unvereinbar. Obendrein hielten es manche für unvornehm. Daß er sich später überreden ließ, aus finanziellen Gründen die »Jahrestagsgedichte« zu drucken, bedauerte er bald: »Der Fehler, den ich mir eingestehe, ist, daß ich mich derart erniedrigte und Verse publizierte … Offen gestanden weiß ich nicht, wie ich mich dazu überhaupt bereit fand, und verzeihe es mir nicht.«
Donnes Publikationsabneigung war eine Facette seiner Geheimhaltungsstrategie. Die Poesie gehörte zu seinem verborgenen Leben, das die Öffentlichkeit nicht sah. Wenn er in Briefen an Freunde seine Gedichte erwähnt, setzt er sie stets herab. Sie seien »schwache Geistesblitze«, »Ausdünstungen« oder »Versfetzen «. Das zeigt, wie sehr ihm daran lag, sein Dichterleben gegen die zudringlichen Forderungen der Realität abzuschirmen. Herabsetzen verhinderte Nachforschung. Durch scheinbares Abwerten schützt er seine Gedichte vor Fragen – von anderen oder von sich selbst.
Und er fürchtete, Gedichte würden sein Fortkommen behindern, die Satiren Anstoß erregen, die Elegien ihm Schande bringen. »Ich möchte sie um jeden Preis verstecken«, verrät er einem Freund. Doch die Gedichte waren nicht das größte Hindernis. Die eigentliche Barriere zwischen Donne und den bei Hofe vergebenen Vergünstigungen war sein katholischer Glaube. Wann er beschloß, ihm abzuschwören, ist nicht bekannt. Aber womöglich hat der Tod seines Bruders Henry 1593, als Donne einundzwanzig war, ihn darauf hingelenkt. Henry wurde verhaftet, weil er einen katholischen Priester beherbergt hatte. Im Kerker von Newgate, wo die Pest wütete, starb er nach wenigen Tagen. Der Priester, William Harrington, wurde gehängt, ausgeweidet und gevierteilt.
Henrys Schicksal hat Donne vielleicht vor Augen geführt, wie kurz sein Leben sein könnte, wenn er seinen katholischen Ratgebern die Treue hielt. Satire 3 von 1594 oder 1595 zeigt, daß er kein überzeugter Katholik mehr war – allerdings auch noch kein überzeugter Protestant. Die Teilnahme an zwei Schiffsexpeditionen gegen die Spanier unter dem Kommando des Earl of Essex, 1596 und 1597, sollte seinen Patriotismus unter Beweis stellen und den Argwohn gegen seine katholische Erziehung ausräumen. Das Gedicht »Der Sturm«, das auf der zweiten Reise entstand und für die Freunde in Lincoln’s Inn gedacht war, feiert vor allem »England, dem wir verdanken, was wir sind und haben«.
In Essex’ Diensten bestand für Donne wohl auch die Aussicht, nützliche Kontakte zu knüpfen, und er sorgte dafür, daß dies geschah. Auf der zweiten Reise schloß er Freundschaft mit dem jungen Thomas Egerton und wurde bald nach der Rückkehr Sekretär bei dessen Vater, dem Lordsiegelbewahrer.
Diese Entwicklung überrascht vielleicht durch die unangenehme Ähnlichkeit mit Handlungsweisen, die Donne in seinen Satiren anprangert. Das Hofieren des Sohns und Erben eines großen Anwalts in der Hoffnung auf persönlichen Vorteil erscheint in Satire 1, 21–24, als eine besonders widerliche Art von Selbsterniedrigung; und in Satire 3, 17–19, zählt die Teilnahme an Schiffsexpeditionen gegen die Spanier zu jenen unbesonnenen, tollkühnen und entsetzlich geistlosen Eskapaden, die der Satiriker Donne mißbilligte. Doch drei oder vier Jahre später tat er eben dies. Man betrachte die Satiren daher besser als komplexe Texte, die Verurteilungen zu sein scheinen, tatsächlich jedoch Übertragungen uneingestandener Wünsche und Bestrebungen sind. Ein Satiriker, bekannte Donne später, verspottet »die Dinge, die nirgendwo Gültigkeit haben als in ihm selbst«.
Seine heimliche Heirat Ende 1601 mit Ann More, der Tochter eines reichen Grundbesitzers in Surrey, war womöglich auch von Ehrgeiz motiviert. In dem Brief, in dem er ihren Vater, Sir George, davon in Kenntnis setzt, erklärt er, nicht öffentlich um Anns Hand angehalten zu haben, weil ihm klar gewesen sei, daß er durch Stand und Vermögen nicht für sie in Frage kam. Ann, Lady Egertons Nichte, lebte in York House, der Londoner Residenz der Egertons, wo auch Donne wohnte. Die heimliche Romanze, die sich vor den Augen der nichtsahnenden Familie abspielte, wirkt wie eine in die reale Welt versetzte Szene aus den Elegien – als sei es Donne ausnahmsweise nicht gelungen, Phantasie und Wirklichkeit zu trennen; oder als habe ihn sein Groll gegen das Establishment am Ende doch genötigt, diesem auch in der Realität und nicht nur in der Schattenwelt der Gedichte die Stirn zu bieten.
[...]Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol
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Cărtărescu, Mircea
Gespräch mit Anke Pfeifer
ANKE PFEIFER: Sie gelten als einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren und sind auch jenseits der Landesgrenzen sehr bekannt. Seit dreißig Jahren veröffentlichen Sie Lyrik, Prosa und Essays. Vor zwei Jahren haben Sie die umfangreiche Trilogie »Orbitor« beendet, die zum Teil auch schon auf deutsch vorliegt. Als der abschließende dritte Band erschien, sagten Sie, dieses Romanwerk sei das beste Buch, das Sie schreiben konnten, und was nun komme, sei nur noch ein Anhang. Sind Sie immer noch dieser Meinung?
MIRCEA CĂRTĂRESCU: Es wäre sehr traurig, wenn ich das immer noch glaubte. Als ich es seinerzeit sagte, lastete auf mir der kolossale Druck der vierzehn Jahre, die ich an »Orbitor« geschrieben hatte. Ich verspürte eine akute Erschöpfung, die über ein Jahr anhielt. Nach dieser Trilogie, in der ich versuchte, mich eins zu eins abzubilden, wobei ich nicht weiß, ob mir das gelungen ist, war es wirklich schwierig, weiter zu schreiben. Inzwischen habe ich es jedoch geschafft, das Buch zu vergessen, und bin versessen darauf, etwas Neues zu schaffen.
PFEIFER: Ich nehme an, es wird sich wieder um Prosa handeln, sagten Sie doch kürzlich bei einer Lesung in Berlin, daß Sie keine Poesie mehr schreiben.
CĂRTĂRESCU: Poesie bedeutet zweierlei. Einerseits eine bestimmte Art und Weise, die Welt zu verstehen, sie mit den Augen eines Kindes zu sehen, vor aller intellektuellen Erfahrung. So gesehen gibt es Dichter, die nie ein Gedicht geschrieben haben. Ich habe versucht, für immer Kind oder Heranwachsender zu bleiben, gerade aus diesem Bedürfnis nach Poesie heraus, das ständig in mir ist. Ich lese viel, ganz unterschiedliche Sachen, und überall suche ich die Poesie. Selbst wenn ich einen realistischen Roman, ein Buch über Biologie oder Theologie oder auch die Bibel lese – bei allem interessiert mich hauptsächlich diese besondere poetische Weise, die Dinge zu betrachten. Aber Poesie bedeutet auch noch etwas anderes, nämlich ein literarisches Genre mit spezifischen Regeln, wobei mir die offensichtlichste Regel am wichtigsten erscheint: daß die Zeilen am linken Seitenrand beginnen und nicht bis zum rechten gefüllt werden. In diesem Sinne schreibe ich keine Verse mehr, wohl aber Poesie in Form von Romanen, Essays, Tagebüchern. Ich fühle, daß ich genau zu dem Zeitpunkt mit der Lyrik aufhörte, als ich nicht mehr in der Lage war, konzentriert und wahrhaftig Gedichte zu schreiben. Daher bin ich froh, daß ich die Kraft hatte, auf dieses Genre zu verzichten. Neben den sechs oder sieben Lyrikbänden aus meinem frühen Schaffen gibt es noch einen, den ich bisher nicht publiziert habe. Es war der letzte, den ich seinerzeit geschrieben hatte, und derjenige, bei dem mir wirklich klarwurde, daß sich meine poetischen Quellen erschöpft hatten. Damals war ich unzufrieden und habe ihn nicht publiziert. Heute möchte ich ihn als eher psychologisches denn ästhetisches Dokument herausgeben. Als ich ihn nach so langer Zeit in einem Schuhkarton entdeckte und wieder las, schien er mir überraschenderweise frisch und interessant, weil er wie heutige Lyrik klang. Und so habe ich gedacht, daß eine Veröffentlichung durchaus interessant sein könnte. Der Band heißt »Nimic« (Nichts) und ist ein Kontrapunkt zu dem in meiner Jugend entstandenen Band »Totul« (Alles).
PFEIFER: »Levantul« (Levante), ein Poem, das Sie für Ihr bestes lyrisches Werk halten, erschien 1990 und war auch Ihr letztes. War Ihr Abschied von der Lyrik gerade zu diesem Zeitpunkt Zufall oder hatte er auch mit anderen Dingen zu tun, zum Beispiel mit den tiefgreifenden Veränderungen im damaligen Rumänien?
CĂRTĂRESCU: »Levantul« war ein Abschied von der Jugend und eine Art Quintessenz von Formen der rumänischen Literatur, die vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Geltung hatten. Das Buch hat gleichsam eine Kunstepoche beendet, sagen wir, die Moderne der rumänischen Lyrik, und etwas anderes eingeleitet, sagen wir, die Postmoderne. Es ist neben »Nostalgia« und »Orbitor« mein bestes Buch. Aber die Tatsache, daß ich zur Prosa gewechselt bin, ist auch einer äußeren Ursache geschuldet, nämlich der Existenz zweier verschiedener Literatenkreise, in denen ich gleichzeitig verkehrte. Es gab den von Nicolae Manolescu geleiteten »Cenaclu de luni« (Montagskreis), der sieben Jahre lang, von 1977 bis 1984, bis er wegen angeblicher Subversivität aufgelöst wurde, wöchentlich Sitzungen durchführte, an denen ich immer teilnahm. Außerdem ging ich noch zum Literaturkreis »Junimea« (Jugend) unter der Leitung von Ovid S. Crohmălniceanu. Während im »Montagskreis« überwiegend Lyrik gelesen wurde, war die »Junimea« ein Treffpunkt für Prosainteressierte. Meine besten Freunde waren Prosaisten, und für mich war das Schreiben von Prosa eine Art Hommage an diese Menschen. Zunächst entstanden fünf Erzählungen, die später genau in der Reihenfolge ihres Entstehens den Band »Nostalgia« bildeten. Angefangen habe ich mit dem »Roulettespieler«, den ich mit Erfolg im Literaturkreis vortrug, so daß ich mich entschloß, mit längeren Erzählungen weiterzumachen. Die einzige Erzählung, die ich dort nicht mehr lesen konnte, ist »Rem«, meiner Meinung nach die beste des Bandes. Dann habe ich mich entschlossen, Berufsschriftsteller zu werden, eine Entscheidung, die zumindest in den neunziger Jahren fortwährend Zweifel und Krisen nach sich zog.
PFEIFER: Was sagten Ihre Eltern damals zu Ihrer künstlerischen Betätigung?
CĂRTĂRESCU: Sie haben mich nicht gerade ermutigt, im Gegenteil. Als einfache Leute ohne große kulturelle Bildung waren ihnen meine modernen Gedichte völlig unverständlich. Erst sehr viel später, vielleicht im Zusammenhang mit dem relativen materiellen Erfolg, begriffen sie, daß ich etwas Ernsthaftes machte. Doch wegen ihrer Aufrichtigkeit sind sie mir lieb und teuer. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, haben sie es mir direkt gesagt.
PFEIFER: Für die 80er Generation war Schreiben Lebensersatz, Flucht aus der Wirklichkeit. Sie selbst sagten einmal, daß Sie bis zu Ihrem vierunddreißigsten Lebensjahr, also bis 1990, im wesentlichen in Büchern gelebt haben. Wie ist das heute?
CĂRTĂRESCU: Ich würde nicht sagen, daß das Verfassen von Literatur für uns damals eine Flucht aus der Wirklichkeit war. Im Gegenteil, die Realität bedeutete einen Rückzug vom Schreiben, einem Schreiben, das uns alles bedeutete. Wir waren jung, naiv. Wir konnten Rumänien nicht verlassen und somit unsere Situation nicht wirklich einschätzen. Wir hatten den Eindruck, die Realität müsse so sein, wie sie war, und die Literatur half uns zu überleben, durchzuhalten. Meine Kollegen und ich haben unter gräßlichen Bedingungen gearbeitet, aber die Literatur, die wir schufen, wird für immer die Literatur jener Zeit sein. Wir haben versucht, wie freie Menschen zu schreiben.
PFEIFER: Waren die Literaturkreise nicht eine Art Parallelwelt?
CĂRTĂRESCU: Eigentlich war die Wirklichkeit eine Parallelwelt der Literaturkreise, denn die waren für uns die Normalität. Es gab in den achtziger Jahren einen kulturellen Aufbruch, trotz Dunkelheit, Kälte und Elend. Es gab ein kleines normales Rumänien inmitten eines immensen paranormalen Rumänien. Ich weiß nicht, wie es zur Rede vom Widerstand durch Kunst gekommen ist. Eigentlich zählte nur die Kultur, sie war weder Widerstand noch Flucht. Sie war real, während die übrige Realität meiner Meinung nach anormal war.
PFEIFER: Sie sind heute nicht nur Schriftsteller, sondern auch Wissenschaftler, lehren seit zwanzig Jahren als Dozent für rumänische Literatur an der Bukarester Universität und sind dort seit 2007 Professor. Wie ist das Verhältnis zwischen künstlerischer Praxis und ästhetischer Theorie? Kontrollieren Sie sich beim Schreiben? Oder beschreiben und erklären Sie nun, wie Sie schreiben?
CĂRTĂRESCU: Die Verbindung von Literaturtheorie und -praxis definiert den Schriftsteller meiner Generation. Die große Mehrheit sind heute Universitätsprofessoren, entweder in Rumänien oder im Ausland, viele sind außerdem noch Literaturkritiker. Wir haben uns nicht zur Boheme berufen gefühlt und waren vielleicht die erste Generation, die die eigene wie die Literatur im allgemeinen intellektuell verstehen wollte. Für uns war es ganz natürlich, auch Essays und Studien zu schreiben, und so schrieb ich meine »Rumänische Postmoderne«.
PFEIFER: Das war Ihre Promotionsschrift, über eine Richtung, die von Ihrer Generation in die rumänische Literatur eingeführt wurde.
CĂRTĂRESCU: Einem Dichter hilft es sehr, wenn er sich in der Geschichte der Dichtung auskennt oder den Ideenroman als Teil eines literarischen Systems versteht. Heute ist dieses System verfallen, die Literaturgeschichte wurde plattgemacht, und das ist ein großer Verlust, weil das einzelne Werk ohne seine Vorgänger nur schwer zu verstehen ist. Bücher bilden ein System, in dem eins das andere beeinflußt und reflektiert.
PFEIFER: Was ist das Spezifische an der rumänischen Postmoderne?
CĂRTĂRESCU: Inzwischen verwende ich diesen Begriff nicht mehr gern, erscheint mir abgegriffen. Was mich anbetrifft, habe ich dazu alles gesagt.
PFEIFER: Aber was bedeutete er damals für Sie und Ihre Generation?
CĂRTĂRESCU: Wir entdeckten die Postmoderne im Vergleich zum Westen ziemlich spät, Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre. Meine Generation benutzte den Terminus, um einen Bruch mit der europäischen Dichtungstradition zu markieren und eine neue Tradition zu schaffen, die ihren Ausgangspunkt in der amerikanischen Literatur hatte. Aber wir verwendeten ihn in erster Linie ideologisch im Sinne einer literaturpolitischen Konfrontation und erst in zweiter Linie ästhetisch oder theoretisch, und außerdem hatte jeder seine eigene Vorstellung davon.
PFEIFER: Ihre Generation wollte mit allen Traditionen der rumänischen Literatur brechen und etwas ganz Neues schaffen. Heißt das, daß es für Sie keine Vorgänger gab, an denen Sie sich orientierten?
CĂRTĂRESCU: Doch, doch. Wie im Leben, verbünden sich auch in der Literatur die Enkel oft mit den Großeltern. Unsere Gegner waren die Dichter der siebziger Jahre, die eine Art Spätmoderne bedienten, düster, expressionistisch, schwer, während unsere Literatur meist ironisch, spielerisch und humoristisch war. Im »Montagskreis« lachten wir die ganze Zeit, wir waren aus einer Art Kränkung heraus fröhlich. Dafür gab es Vorbilder, am meisten schätzten wir Ion Luca Caragiale, Tudor Arghezi, Nichita Stănescu. Wir hatten nie das Gefühl, daß die rumänische Literatur mit uns beginnt.
PFEIFER: Welche Rolle spielten für Sie die Vertreter der rumänischen Geisteselite der 1930er Jahre, also der Generation von Mircea Eliade, Emil Cioran, Constantin Noica, denen nach1990 besondereAufmerksamkeit geschenkt wurde?
CĂRTĂRESCU: Wir waren ihnen nicht gewogen. Unsere Gruppe Bukarester Schriftsteller aus dem Literaturkreis nahm gegenüber Noica und seinen Nachfolgern Andrei Pleşu und Gabriel Liiceanu eine sehr kritische Haltung ein. Genauso kritisch beurteilten wir die sogenannte Generation ’27 mit Mircea Vulcănescu, Petru Comarnescu, Eliade, Cioran usw. Deren rechte, ja rechtsextreme Ideologie war uns suspekt. Wir hatten durch unsere Mentoren, in erster Linie Nicolae Manolescu, eine liberale Bildung erhalten, und uns gefielen diese ideologischen Übertreibungen nicht. Später wurde mir allerdings bewußt, daß unsere Zeitgenossen Liiceanu oder Ples¸u und einige andere, die die Gruppe von Păltinis¸ unter Noica besucht hatten, zwar deren Vorstellungen über Kultur akzeptiert, ihre Ideologie jedoch abgelehnt hatten. Sie hatten Mut und Verstand genug, das geistige Erbe dieser großen Denker, Schriftsteller, Künstler anzunehmen und von ihrer beschämenden Politik zu trennen. Cioran ist ein außerordentlicher Stilist und als solcher mit Tudor Arghezi vergleichbar, aber ein Buch wie »Schimbarea la faţă a României« (Die Verklärung Rumäniens) kann ich nicht ertragen. Immerhin hat er sich später davon losgesagt.
PFEIFER: Und wie steht es mit Mircea Eliades phantastischer Literatur? Das Phantastische spielt doch auch bei Ihnen eine wichtige Rolle.
CĂRTĂRESCU: Die rumänische Phantastik ist diejenige Eminescus. Er ist der Urvater aller Rumänen, die phantastische Literatur geschrieben haben, ein Phantastiker deutschen Typs, schließlich konnte er seit seiner Schulzeit in Czernowitz Deutsch und lebte fünf Jahre in Wien und Berlin. Er war innig vertraut mit der deutschen Literatur, mit Novalis, Chamisso, Jean Paul, Bettina von Arnim usw. Er schuf in der Tradition der deutschen Romantik eine Welt, in der sich das Ich bis an die Grenze des Universums ausdehnt. Eliade setzte diese Linie fort. Auch er erschafft in seinen Büchern über Zeit und Raum, über das Heilige und das Profane usw. solch eine phantastische, ideale, mystische Welt. Unsere Generation mochte das Phantastische nicht so sehr, weil es uns literarisch gesehen ziemlich nutzlos schien. Wir schätzten Eliade für seine Geschichte der Religionen. Später wurde mir überraschend klar, wie sehr Eliade meine eigene Prosa doch beeinflußt hat. Es war eine Art Reminiszenz und offenbar ein unterbewußter Vorgang. Meine Prosa nimmt direkt auf Eliades Prosa Bezug, zum Beispiel auf sein Buch »Auf der Mântuleasa-Straße«. Als ich es las, hat es mich nicht sonderlich beeindruckt. Doch die Geschichte ist wie eine Art Jerichorose, kommt sie mit Wasser in Berührung, entfaltet sie sich. Als ich sie später noch einmal las, wurde mir klar, daß die Themen und Motive in mir weitergewirkt hatten.
PFEIFER: Woher kommt diese Vorliebe rumänischer Autoren für das Phantastische?
CĂRTĂRESCU: Die Rumänen sind eben Lateiner, wie die Südamerikaner. Eine Erklärung dafür ist wohl die reiche Imagination, die wir bei Cervantes finden, dem großen Vater der hispanoamerikanischen Literatur, und dann bei dieser ganzen Pléiade südamerikanischer Schriftsteller, von Márquez bis Cortázar und Sábato, sie alle schreiben phantastische Literatur. Und wie Rumänien mit seinen Kontrasten zwischen Arm und Reich, Legal und Illegal eine Art versprengtes südamerikanisches Land ist, so ist auch die rumänische Literatur eine Art Exklave der südamerikanischen Literatur.
PFEIFER: Als ich »Orbitor« las, dachte ich auch an Gabriel García Márquez und seinen magischen Realismus.
CĂRTĂRESCU: Außerdem scheint das Phantastische eine Kompensation für karge, flache Landschaften zu sein. Wo es die Pampa gibt, oder Wüsten, oder weite Ebenen, wie bei uns im Süden Rumäniens den Bărăgan, entwickelt sich eine Literatur des Onirischen, Phantastischen. Wenn man einen Monat in einer dunklen Höhle verbringt, reagiert man mit Halluzinationen. So ist es auch mit der Literatur aus der Ebene.
PFEIFER: In »Orbitor« gehen Sie zu den Wurzeln der Erschaffung des Menschen im organischen und geistig-religiösen Sinn zurück. Eine Art Ariadnefaden führt durch eine labyrinthische Lebenswelt, die gleichermaßen körperlich und geistig ist. Welche Erkenntnisse haben Sie für sich beim Schreiben gewonnen, und was wollen Sie dem Leser vermitteln?
CĂRTĂRESCU: Über »Orbitor« zu reden vermeide ich nach Möglichkeit, weil ich das Buch selbst noch nicht ganz verstehe. Ich bin dankbar, daß ich es schreiben konnte, und warte darauf, daß andere, Kompetentere, es mir erklären. Ich kann nur sagen, daß ich es mit großer Freude, aber ohne jeden Plan geschrieben habe, so wie Termiten ihre Hügel errichten – ohne zu wissen, was sie tun. Und doch entsteht letztlich ein raffinierter Bau mit Gängen, unzähligen Kammern usw. In den fast fünfzehn Jahren, die ich an dem Buch gearbeitet habe, konnte ich nicht anders, als so vorzugehen. »Orbitor« ist eine genaue Karte meines Verstandes, meines Gehirns. Gödels berühmte Theorie besagt, niemand könne ein System beschreiben, dem er selbst zugehört. Daher kann ich nur wenig über dieses Buch sagen. Sicher: Es ist auch ein Familienroman. Der erste Band handelt von meiner Mutter und ihren Vorfahren, der dritte von meinem Vater und seinen Ahnen. Genauso wichtig sind aber die Geschichten um den Zwillingsbruder Victor, den großen Abwesenden, dessen Stimme nur in einem einzigen Kapitel am Ende des dritten Bandes zu vernehmen ist. Wenn wir vom Ariadnefaden sprechen, dann ist es dieser Zwillingsbruder. Er ist das eigentliche Objekt von Mirceas großer Suche.
Zudem hatte ich den Ehrgeiz, von der Skatologie bis zur Eschatologie zu gehen, den Raum zwischen Obszönität und Niedertracht und höchstem Ideal auszumessen. Ich wollte nichts dem menschlichen Verstand Vorstellbares auslassen, weder Phantasmen und Halluzinationen noch die historische Realität des rumänischen Kommunismus und der Revolution im letzten Band. »Orbitor« ist die Synthese all dessen, was ich in meinem Leben kennengelernt und gelesen habe. Es der Ort, wo sich alle meine Bücher treffen, alle bisher geschriebenen und wohl auch alle, die ich noch schreiben werde, eine Art Sonnensystem meines Schaffens.
PFEIFER: In den Mikrokosmos Ihres literarischen Werkes gehen nicht nur Ihre Erfahrungen mit Belletristik ein. Sie kennen sich mit Philosophie und Naturwissenschaften aus, vor allem mit Medizin, Neurowissenschaften, Hirnforschung und Biologie. Auch die Insektenwelt hat es Ihnen angetan. Dieses Wissen arbeiten Sie ein und verleihen Ihrem Werk damit eine unverwechselbare Charakteristik. Eine Art Leitmotiv ist der Schmetterling. Die Bände der Trilogie heißen »Linker Flügel«, »Körper« und »Rechter Flügel«, und im Romangeschehen erscheinen die vielen kleinen und großen Schmetterlinge in wunderbaren Farben. Was hat das zu bedeuten?
CĂRTĂRESCU: »Orbitor« ist in der Tat ein Roman voller Schmetterlinge. Während ich daran schrieb, hatte ich unzählige Erlebnisse mit Schmetterlingen. Bei Márquez in »Hundert Jahre Einsamkeit« gibt es eine Figur, um die ständig Schmetterlinge flattern. So kam ich mir auch vor. Beispielsweise war ich ein Jahr lang in Amsterdam und begann dort mit dem Buch. Draußen regnete es, und durch das offene Fenster kam ein großer roter Schmetterling herein, schwirrte durchs Zimmer und fiel auf dem Fensterbrett in eine Wasserlache. Ich habe ihn herausgeholt. Er saß mir dann gegenüber, bis seine Flügel getrocknet waren. Und als es aufgehört hatte zu regnen, ist er in den Regenbogen hinausgeflogen.
PFEIFER: Ein schönes Bild.
CĂRTĂRESCU: Ein anderes Mal, ich saß gerade mit meiner Frau beim Kaffee, kam wieder ein Schmetterling herein, flog geradewegs zum Bücherregal und setzte sich auf den Einband meines Gedichtbands »Dragostea« (Liebe). Dort blieb er eine halbe Stunde und flog dann wieder weg. Der Schmetterling ist vielleicht das wunderbarste Symbol, das der Mensch in der Natur entdeckt hat, weil er durch die Metamorphose, die er durchläuft, ein Symbol der Seele ist. Zuerst ist er eine Raupe, was unserem Erdenleben entspricht, dann spinnt diese sich in eine Puppe ein, eine Art Grab oder Sarg, und wartet auf die Wiedererweckung, so wie der Mensch auf Unsterblichkeit, auf seine Verwandlung in einen Engel hofft. Interessanterweise waren bei den alten Griechen nicht Vögel, sondern Schmetterlinge das Symbol der Seele. Im Altgriechischen heißt die Seele Psyche, sie wurde als Frau mit Schmetterlingsflügeln dargestellt. Der Schmetterling ist außerdem ein Ausdruck vollkommener Symmetrie, wie ein gutes Buch. Der menschliche Körper ist wie ein Schmetterling, und das Symbol des gekreuzigten Christus auch. Der Schmetterling dient sogar der Erkundung des Bewußtseins: Einer der wichtigsten psychologischen Tests ist der Rorschach-Test. Ein Blatt mit Tintenklecksen wird gefaltet, gepreßt und wieder entfaltet, so daß die Muster auf der rechten und der linken Seite spiegelgleich sind. Die meisten der zehn Tafeln, mit denen die Persönlichkeit des Probanden interpretiert wird, zeigen schmetterlingsähnliche Formen. Zu ihnen gibt es viele Kommentare, die ich auch verwendet habe, um dem Roman eine gewisse symbolische Kohärenz zu geben.
PFEIFER: Man könnte den Aufbau der Trilogie auch mit dem eines Altars vergleichen. Die Religion spielt in Rumänien heute wieder eine größere Rolle. Gottesdienste haben mehr Zulauf, viele Menschen, ob jung oder alt, bekreuzigen sich an Kirchen. Überall gibt es Ikonen zu kaufen. Wie erklären Sie sich diese Entwicklung? Und wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur Religion?
CĂRTĂRESCU: Ich bin in einer typisch kommunistischen Familie der fünfziger Jahre großgeworden, in der die Religion verteufelt wurde. Meine Eltern waren einfache Leute vom Lande, die in die Stadt kamen und Arbeiter wurden. Üblich war ein Besuch der berühmten Parteihochschule »Ştefan Gheorghiu«. Mein Vater ist dann Journalist geworden. Sie sind als ganz junge Leute mit dem Kommunismus indoktriniert worden, daher bin ich ohne religiöse Erziehung aufgewachsen. In der Schule wurde natürlich gesagt, Juri Gagarin war im Weltall und hat dort keinen Gott vorgefunden. Ich glaubte, Religion sei eine Ansammlung von Vorurteilen und Aberglauben, etwas für alte Frauen, die in die Kirche gehen und beten. Zu Hause hatten wir nicht mal eine Bibel. Erst nach der Revolution habe ich von Missionaren eine bekommen, da ich war schon über dreißig. Und weil ich wußte, daß die Bibel wie der Koran ein bedeutsames Buch ist, habe ich, wenn auch voller Skepsis, angefangen zu lesen, doch nach und nach hat mich die Lektüre gefangengenommen. Nach etwa hundert Seiten wurde mir klar, daß es etwas völlig anderes war, als ich angenommen hatte. Die Bibel ist der größte Roman, der je geschrieben wurde. Sie war der Ausgangspunkt für viele Fragen, die ich mir seither gestellt habe. Von dem Zeitpunkt an habe ich sie fast jedes Jahr von neuem von vorn bis hinten durchgelesen. Vor kurzem erst bin ich wieder einmal mit der Apokalypse zu Ende gekommen. Für mich als Gläubigen und auch für mich als Künstler ist die Bibel ein wichtiges Buch.
Die Rumänen hatten fünfzig Jahre lang kein normales religiöses Leben. Nun haben wir es mit einer Art Wiederkehr zu tun, die viele gute Seiten hat, aber auch viele Übertreibungen hervorbringt. Die rumänische orthodoxe Kirche neigt dazu, ihre Macht zu mißbrauchen. Fünfundneunzig Prozent der Rumänen sind orthodoxen Glaubens, und da die Kirche in der kommunistischen Zeit akzeptiert, oder besser gesagt, toleriert wurde, während andere Religionen, wie die griechisch-katholischen Kirche, verboten waren, hat sie autoritäre Reflexe entwickelt. Auch heute mischt sich die Kirche oft in politische Angelegenheiten ein. Das ist unerfreulich, aber in letzter Zeit hat sie auch viel Gutes getan. Zum Beispiel bringt sie sich im Umweltschutz und im karitativen Bereich ein, der schon immer in die Kompetenz religiöser Institutionen fiel.
PFEIFER: Spielen Sie als Künstler Gott und schreiben eine Schöpfungsgeschichte, wie Radu C. Ţeposu von den rumänischen Postmodernen sagte? Beschreiben und interpretieren Sie mit Ihren Werken die Welt nicht nur, sondern erschaffen sie gar?
CĂRTĂRESCU: Schon immer hat sich der Künstler für einen kleinen Gott seiner eigenen Welt gehalten. In »Orbitor« ist ja auch die Rede von der Sekte der »Wissenden«, denen aber bewußt ist, daß sie in einem Buch und nicht in der Realität leben. Aufmerksam suchen und finden sie sich und bewegen den Autor dazu, dieses Buch und kein anderes zu schreiben, also jenes, in dem sie existieren. In diesem Buch und mehr noch in »Nostalgia« ist der Demiurg, der Schöpfer der Welt, ein beherrschendes Thema. Aber das ist nichts Besonderes, ich glaube, so wie jedes Buch sich selbst reflektiert, träumt auch jeder Autor, ob Realist wie Balzac oder nicht, von der Kontrolle über die Vollendung seines Werks.
PFEIFER: Als Sie nach 1989 nach Westeuropa und Amerika reisten, erlitten Sie nach eigenen Aussagen einen Kulturschock, der Ihre Maßstäbe zerbrach und Ihr Selbstwertgefühl ins Wanken brachte. Das Poem »Der Westen« ist Ausdruck eines Verzweifelten, der sein bisheriges Leben und künstlerisches Schaffen entwertet sieht. Sie schrieben: »Ich finde meinen Platz nicht, ich bin nicht mehr von hier und kann von dort keiner sein.« Inzwischen haben Sie sich längere Zeit außerhalb Ihres Heimatlandes aufgehalten und können auf zahlreiche Übersetzungen Ihrer Werke sowie auf beachtliche Resonanz im Ausland verweisen. Haben Sie sich nach zwanzig Jahren von dem Schock erholt und einen neuen Platz gefunden?
CĂRTĂRESCU: T. S. Eliot hat genau über diese Situation ein Poem geschrieben. Es heißt »Die Reise aus dem Morgenland« und handelt von den drei Weisen, die dem Stern von Bethlehem folgen und Zeugen von Jesu Geburt werden. Dann stellt sich das Problem der Rückkehr nach Hause. Die drei sind im Zustand völliger Verwirrung, weil sie nicht mehr Heiden sein können, aber auch keine Christen sind. Sie befinden sich zwischen zwei Welten, sind Zeugen einer entstehenden Welt. Genau so habe ich mich gefühlt. Alle Rumänen, eigentlich alle im Osten Europas, haben das nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung der Grenzen durchgemacht. Das ist auch ganz natürlich, ein Eiserner Vorhang, der zwei Welten so viele Jahrzehnte getrennt hat, kann nicht ohne psychische Spuren überwunden werden. Können Sie sich das vorstellen? Ich bin zum ersten Mal aus diesem furchtbaren und grauen Bukarest des Hungers und der Kälte abgereist und bin … im Land, wo Milch und Honig fließen, gelandet. Mitten in New York, über das ich so viel gelesen hatte, ohne zu denken, daß ich es je mit eigenen Augen sehen würde. Nicht mal auf Prag hatte ich mir Hoffnung gemacht! Am ersten Morgen, ich hatte kaum geschlafen und stand um sechs Uhr auf, hängte ich mir den Fotoapparat um und ging in den erstbesten Selbstbedienungsladen, den erstbesten Supermarkt, und begann zu fotografieren, denn ich dachte, zu Hause glaubt mir kein Mensch, wenn ich von diesem materiellen Überfluß erzähle. Nicht zu reden von all den Peinlichkeiten, die allen aus dem Osten passiert sind: nicht zu wissen, wie die Heizung angestellt wird, wie die Toilettentür wieder aufgeht, wie die Dusche funktioniert usw.
Es war also eine Art sozialer und kultureller Paradigmenwechsel, eine traumatisierende Erfahrung. Ich glaube, auch Rolf Bossert, der zwei Monate nach seiner Ausreise aus Rumänien Selbstmord beging, hat sie gemacht und, weil er sensibler war als andere, nicht ausgehalten. Aber wir alle hatten Momente, in denen wir an Selbstmord dachten. Weil dieser Schock bedrohlich war und erst allmählich nachgelassen hat. Es hat Jahre gedauert, bis wir begannen, uns von unseren alten Komplexen und Vorurteilen zu befreien.
Für uns war jeder Mensch aus dem Westen beinahe ein Gott. Mir erschienen diese Leute, verglichen mit uns, wie andere Wesen. Dann zeigte sich, daß sie uns doch sehr ähnlich waren, denn wir konnten problemlos kommunizieren, es gab nur unbedeutende Unterschiede und gar keinen Grund, ihnen gegenüber Minderwertigkeitskomplexe oder Überlegenheitsgefühle zu haben. Aber es hat einige Jahre gedauert, bis ich das gelernt hatte. Heute bin ich vertraut mit dem Westen, bin viel herumgekommen seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Und überall, wo ich war, habe ich gute Freunde gefunden. Fast alles, was ich in den letzten zwanzig Jahren verfaßt habe, ist im Ausland entstanden, in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich, Ungarn und den USA. Dort kann ich besser schreiben als zu Hause in Rumänien, wo mich immer allerlei Sorgen plagen und ich kaum Zeit zum Arbeiten finde.
PFEIFER: Diese Gefühle finden in Ihrem Band »Europa hat die Form meines Gehirns« überzeugenden Ausdruck. Die dort enthaltenen Essays beschreiben, wie Sie selbst formulieren, »die geistige Verfassung, die Gedanken und Wertvorstellungen eines Künstlers in einer Zeit großer Umbrüche politischer, gesellschaftlicher und kultureller Natur«. Was bedeutet für Sie Europa oder europäische Identität?
CĂRTĂRESCU: Mir scheint, daß die rumänische Revolution von 1989 verloren gewesen wäre, wenn man Rumänien nicht in die Europäische Union aufgenommen hätte. Es war das wichtigste Ereignis seit Jahrzehnten. Ich glaube, dadurch haben wir die politische Legitimität erlangt, die uns vorher versagt war. Wir haben zwischen den beiden politischen Strukturen, die Anspruch auf uns erhoben, dem postsowjetischen und dem westlichen, die richtige Entscheidung getroffen. Unsere Orientierung nach Westen, zu den westlichen Werten war richtig, nun müssen wir uns dieser Einladung auch würdig erweisen. Rumänien war und ist nicht ausreichend gerüstet für die Integration in europäische Strukturen, das durfte man auch nicht erwarten, daher muß die Vorbereitung begleitend erfolgen. Durch die Aufnahme in die EU wie auch durch die gegenwärtige Migration, die viele erstmals mit dem realen Westen in Kontakt bringt, beginnen die Rumänen langsam, sich in Europa heimisch zu fühlen. Sie begreifen sich nicht nur als rumänische Staatsbürger, sondern auch als Bürger dieser Supranation. Europa ist kulturell sehr stark. Dieser symbolischen kulturellen Legitimation werden das Ökonomische und die anderen Bereiche folgen.
PFEIFER: In Ihren Texten beschwören Sie Ihre Herkunft und zeichnen das Bild einer idealen balkanisch-orientalischen Welt. Ich denke besonders an Ihre zauberhafte Geschichte von der Donau-Insel Ada Kaleh, die in dem Essayband enthalten ist. Ich habe den Eindruck, daß Sie sich angesichts der Erfahrungen der letzten zwanzig Jahre Ihrer persönlichen Identität zu vergewissern versucht haben. Ist das richtig? Wie würden Sie diese Identität beschreiben?
CĂRTĂRESCU: Das Balkanische ist Rumäniens Süden, wo ich herkomme. Meine Mutter stammt aus Bukarest, mein Vater aus dem Banat. Beide Regionen gehören geographisch zum Balkan. Siebenbürgen dagegen ist nicht balkanisch, sondern gehört zu Zentraleuropa. Wir im Süden haben uns schon immer dem Orient nahe gefühlt. Wir waren fünfhundert Jahre lang Vasallen der Osmanen, und zweifellos prägt uns dieser paradoxe orientalische Geist, in dem sich Weisheit mit Faulheit, Korruption und anderen mit dem Orient verbundenen Dingen paart. Unser Wesen ist nicht rumänisch, sondern südlich, walachisch. Mein Poem »Levantul« ist eine Hommage an den Süden Rumäniens.
PFEIFER: Nach der »Ţiganiada« (Ziganiade) von Ioan Budai-Deleanu ist »Levantul« die zweite Epopöe der rumänischen Literatur. Letztere ist darin sogar die Hauptfigur. Was bedeutet das, und warum haben Sie diesen Titel gewählt? Als »Levantiner« im engeren Sinn galt im 19. Jahrhundert jemand mit europäischen und orientalischen Wurzeln, viele vermittelten als Kaufmann zwischen Europa und dem Orient.
CĂRTĂRESCU: Levante ist im Rumänischen ein Synonym für Balkan. Das Balkanische war für uns immer Teil der Levante, also des östlichen Mittelmeers, eine Welt für sich. Dazu gehören die Ägäis, die Semiten mit ihren antiken Meisterwerken, Kreta, der Minotauros, Alexandria usw. Diese Welt lebt in gewisser Weise weiter. Sie ist älter als die westliche Welt und bewahrt viele Spuren des Hellenismus nach Alexander dem Großen, aber auch von Byzanz. Es ist eine Art Histoire croisée, ein Potpourri aus Einflüssen dreier Kontinente. Geprägt durch die drei großen Religionen Judentum, Islam, Christentum, ist es eine historisch, sozial und kulturell vielfältige Welt. Ich habe die Levante immer in mir gespürt, und als ich einige Dichter des 19. Jahrhunderts las, z. B. Dimitrie Bolintineanu, gab es eine Schwingung, eine Übereinstimmung zwischen ihnen und mir. Bolintineanu stammt ja auch aus dem Süden Rumäniens. Ich habe versucht, die Stimmen dieser eher unbedeutenden Autoren aufzugreifen, die in einem sehr ursprünglichen Rumänisch, einer für uns seltsamen und lächerlichen, aber außergewöhnlich flexiblen und interessanten Sprache schrieben. Ich wollte dieser Levantiner Welt ein Denkmal setzen. »Levantul« ist historisch nicht lokalisiert, sondern eine Synthese von Epochen, vor allem ist es ein Repertoire der rumänischen Dichtungssprache von ihren Anfängen bis heute, von Themen und Motiven, aber es ist auch ein Abenteuerroman, ein Liebesroman, ein metaphysischer und ein politischer Roman. Es ist ein Buch, für das ich eine gewisse Nostalgie hege, denn ich werde nie vergessen, wie es entstand. Ich schrieb es auf der Schreibmaschine mit meiner kleinen Tochter auf dem Arm in einem Atemzug und ganz ohne Streichungen.
PFEIFER: War der Wechsel von der Lyrik zur Prosa bei Ihnen mit einem Wechsel in der Art zu denken und zu leben verbunden? Lebt man als Dichter anders denn als Prosaist?
CĂRTĂRESCU: Dichtung ist eine Frage der Inspiration. Man kann drei, vier Tage lang jeden Tag ein Gedicht schreiben und dann sechs Monate lang keines mehr. Dann folgt wieder eine Periode der Inspiration. So habe ich meine Gedichtbände geschrieben: Am Anfang entstand durchschnittlich alle zwei Wochen ein Poem, für einen Band brauchte ich etwa zwei Jahre. Als ich mit Prosa begann, bedeutete das für mich die Disziplinierung des schöpferischen Geistes, die Erfahrung einer kontrollierten Inspiration. Dichtung verhält sich zu Prosa wie eine stürmische Liebe zum Eheleben. Die Ehe ist gesetzter und unaufgeregter, das hat Vorteile, und ich bin ein überzeugter Familienmensch. Das Schreiben von Prosa paßt also zu mir.
Aus dem Rumänischen von Anke Pfeifer
SINN UND FORM 3/2012, S. 383-394.
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Chesterton, Gilbert K.
- 6/2008 | Essays über Eugenik, S. 725 Leseprobe
Chesterton, Gilbert K.
Essays über Eugenik
An den Leser
Ich veröffentliche diese Essays zum jetzigen Zeitpunkt aus einem besonderen Grund, der mit der gegenwärtigen Situation zusammenhängt und den ich kurz benennen und erläutern möchte.
Wiewohl sich die meisten Schlußfolgerungen, vor allem zum Ende hin, auf Ereignisse der jüngsten Vergangenheit beziehen, wurde der größte Teil der vorbereitenden Notizen über die Wissenschaft der Eugenik vor dem Krieg geschrieben. Es war eine Zeit, als dies das Thema der Stunde war; als es in den Illustrierten von eugenischen Babys - die sich von anderen nicht merklich unterschieden - nur so wimmelte; als Nietzsches Evolutionsphantasien bei den Intellektuellen der letzte Schrei waren; und als Mr. Bernard Shaw und andere meinten, Menschen wie einen Droschkengaul zu züchten sei der richtige Weg, um jene höhere Zivilisation intellektuellen Großmuts und mitfühlenden Verständnisses zu erlangen, die man bei Droschkengäulen findet. Es mag deshalb den Anschein haben, daß ich diese Meinung zu polemisch genommen habe und, wie ich meine, manchmal wohl auch zu ernst. Doch aus der Kritik an der Eugenik wurde rasch eine allgemeinere Kritik an der neuzeitlichen Manie für wissenschaftlichen Bürokratismus und eine strikte Gesellschaftsorganisation.
Und dann kam die Stunde, als ich - geradezu erleichtert - das Gefühl hatte, nun alle meine Aufzeichnungen ins Feuer werfen zu können. Das Feuer war sehr groß, und es verbrannte größere Dinge als solchen Humbug. Und ohnehin wurde die Sache ganz anders entschieden. Der wissenschaftliche Bürokratismus und die Organisation in dem Staate, der sich darauf spezialisiert hatte, führten Krieg gegen die ältere Kultur des Christentums. Entweder würde das Preußentum gewinnen, und Protest wäre aussichtslos, oder das Preußentum verlöre, und Protest wäre unnötig. Als sich dann der Krieg vom Giftgaskrieg zum Piratenkrieg gegen Neutrale entwickelte, zeigte sich immer deutlicher, daß der wissenschaftlich organisierte Staat nicht beliebter wurde. Egal, was geschah, kein Engländer würde sich je wieder dem Gestank dieses infamen Labors aussetzen. Deshalb hielt ich alles, was ich geschrieben hatte, für belanglos und schlug es mir aus dem Kopf.
Es betrübt mich zutiefst, sagen zu müssen, es ist nicht belanglos. Allmählich hat sich meinem erstaunten Blick gezeigt, daß die herrschenden Klassen in England weiterhin davon ausgehen, Preußen sei ein Vorbild für die ganze Welt. Zwar sind Teile meines Buches schon fast neun Jahre alt, aber die Prinzipien und Prozeduren dieser Klassen sind wesentlich älter. Sie können uns nur dieselbe pedantische Wissenschaft anbieten, dieselbe einschüchternde Bürokratie und denselben Terrorismus zehntklassiger Professoren, die das Deutsche Reich zu seinem jüngsten augenfälligen Triumph geführt haben. Deshalb stelle ich drei Jahre nach dem Krieg mit Preußen diese Aufzeichnungen zusammen und veröffentliche sie.
G.K.C.Die Anarchie von oben
Eine lautlose Anarchie zerfrißt unsere Gesellschaft. Bei diesem Wort muß ich innehalten, weil der eigentliche Charakter der Anarchie meistens verkannt wird. Anarchie muß keineswegs gewalttätig sein; und sie muß auch nicht von unten kommen. Eine Regierung kann ebenso anarchisch werden wie ein Volk. Der sentimentalere Tory benutzt das Wort Anarchie nur als Schimpfwort für Rebellion; dabei übersieht er einen höchst wichtigen gedanklichen Unterschied. Eine Rebellion mag falsch und verheerend sein; aber selbst, wenn sie falsch ist, ist sie nie Anarchie. Wenn sie nicht Selbstverteidigung ist, ist sie Usurpation. Ihr Ziel ist es, das alte Regime durch ein neues zu ersetzen. Sie kann in ihrem Wesen nicht anarchisch sein - weil sie ein Ziel hat - und erst recht nicht in ihren Methoden, denn Menschen müssen organisiert sein, wenn sie kämpfen, und die Disziplin in einer Rebellenarmee muß ebenso gut sein wie im königlichen Heer. Diesen grundlegenden Unterschied muß man sich klarmachen. Nehmen wir ihrer Symbolik wegen jene zwei geistlichen Erzählungen - ganz gleich, ob wir sie nun für Mythen oder Mysterien halten -, die so lange die beiden Angelpunkte der gesamten europäischen Moral waren. Der Christ, welcher der eingesetzten Obrigkeit im allgemeinen wohlwollend gegenübersteht, denkt an Rebellion unter dem Bilde des Satans, der sich gegen Gott empörte. Aber Satan, wiewohl ein Verräter, war kein Anarchist. Er erhob Anspruch auf die Krone des Kosmos; und wäre er siegreich gewesen, hätte er erwartet, daß seine Engel das Rebellieren einstellten. Hingegen wird der Christ, der eher Sympathien für die berechtigte Notwehr der Unterdrückten hegt, lieber an Jesus denken, der den Hohenpriestern die Stirn bot und die reichen Händler mit der Geißel traktierte. Aber ob Jesus nun, wie manche behaupteten, Sozialist war oder nicht, ein Anarchist war er ganz bestimmt nicht. Jesus erhob wie Satan Anspruch auf den Thron. Er errichtete eine neue Autorität gegen eine alte. Doch er errichtete sie mit positiven Geboten und einem verständlichen Plan. In diesem Licht hätten alle Menschen im Mittelalter - ja, bis vor kurzem noch alle Menschen - Fragen der Rebellion beurteilt. John Ball hätte sich erboten, die Regierung zu stürzen, weil sie schlecht war, nicht, weil sie eine Regierung war. Richard II. hätte Bolingbroke nicht des Friedensbruchs, sondern der Usurpation bezichtigt. Anarchie im üblichen Wortsinn ist also etwas ganz anderes als eine berechtigte oder unberechtigte Rebellion. Sie ist nicht unbedingt zornig; sie ist, zumindest in den Anfangsstadien, nicht unbedingt schmerzhaft. Und wie gesagt: oft ist sie absolut lautlos.
Anarchie ist jener Zustand des Geistes oder der Methoden, in dem man nicht mehr innehalten kann. Sie ist ein Verlust der Selbstkontrolle, die zur Normalität zurückzukehren vermag. Es ist nicht Anarchie, wenn Menschen mit Aufruhr und Ausschweifung beginnen und sich in Experiment und Gefahr stürzen dürfen. Es ist Anarchie, wenn Menschen damit nicht aufhören können. Es ist nicht häusliche Anarchie, wenn an Silvester die ganze Familie lange aufbleibt. Es ist häusliche Anarchie, wenn die Familienmitglieder noch Monate danach lange und immer länger aufbleiben. Es war keine Anarchie, wenn in der römischen Villa während der Saturnalien die Sklaven zu Herren und die Herren zu Sklaven wurden. Es war - aus Sicht der Sklavenbesitzer - Anarchie, wenn die Sklaven sich nach den Saturnalien weiter saturnalisch aufführten; die Geschichte zeigt, daß sie es nicht taten. Es ist nicht Anarchie, ein Picknick zu veranstalten; aber es ist Anarchie, wenn man keine Mahlzeiten mehr kennt. Es wäre, glaube ich, Anarchie, wenn wir, einem abstoßenden Vorschlag folgend, uns einfach von der Anrichte bedienten. Das würden Schweine tun, wenn Schweine Anrichten hätten; Schweine haben keine festen Feiertage; sie sind ungewöhnlich fortschrittlich, eben Schweine. Diese Unfähigkeit, nach einer legitimen Extravaganz in vernünftige Grenzen zurückzufinden, ist die eigentlich gefährliche Unordnung. Die moderne Welt ist wie der Niagara. Sie ist großartig, aber nicht stark. Sie ist schwach wie Wasser - wie der Niagara. Der Einwand gegen einen Wasserfall ist nicht, daß er ohrenbetäubend oder gefährlich oder gar zerstörerisch ist, sondern, daß er nicht aufhören kann. Offensichtlich können die Kräfte, die eine Gesellschaft regieren, ebenso leicht von dieser Art Chaos besessen sein wie die solchermaßen regierte Gesellschaft. Und im heutigen England sind hauptsächlich die regierenden Kräfte davon besessen - sie sind wahrhaftig von Teufeln besessen. Diese Wendung - in ihrer handfesten alten psychologischen Bedeutung - ist nicht zu stark. Der Staat ist plötzlich ganz still und leise verrückt geworden. Er redet Unsinn und kann damit nicht aufhören.
Selbstverständlich sollte und muß eine Regierung ebenso zu außergewöhnlichen Methoden greifen dürfen wie ein Haushaltsvorstand, der ein Picknick veranstaltet oder Silvester die ganze Nacht aufbleibt. Wenn er vernünftig ist, kann der Staat oder der Haushaltsvorstand solche Ausnahmen als Ausnahmen behandeln. Derlei verzweifelte Maßnahmen sind womöglich nicht einmal rechtens; aber sie sind erträglich, solange sie als verzweifelte Maßnahmen deklariert werden. Dazu gehört natürlich der Lebensmittelkommunismus in einer belagerten Stadt; das offizielle Dementi der Verhaftung eines Spions; die Anwendung des Kriegsrechts auf einen Teil des bürgerlichen Lebens; die Sperrung von Verbindungswegen bei Seuchen; oder jene schwerste Entartung des Gemeinwesens, wenn Soldaten nicht gegen fremde Truppen, sondern gegen ihre eigenen aufständischen Brüder eingesetzt werden. Manche dieser Ausnahmen sind richtig und manche nicht; aber alle sind richtig, soweit sie als Ausnahmen verstanden werden. Die moderne Welt ist verrückt, nicht so sehr, weil sie das Anormale zuläßt, sondern weil sie nicht wieder normal werden kann.
Wir sehen das an der unbestimmten Ausweitung von Strafen, etwa von Gefängnisstrafen; oft wollen gerade jene Reformer, die zugeben, daß das Gefängnis schlecht für Menschen ist, sie durch ein bißchen mehr davon bessern. Wir sehen das an einer panischen Gesetzgebung wie nach dem Weißen-Sklaven-Horror, als die Prügelstrafe für alle möglichen, nicht näher definierten verschiedenartigen Typen von Menschen wieder eingeführt wurde. So verrückt waren unsere Väter nie, selbst wenn sie Folterer waren. Sie streckten einen Menschen auf der Folterbank. Sie streckten nicht die Folterbank, wie wir es tun. Als die Leute Hexen verbrannten, sahen sie vielleicht überall Hexen - weil ihr Denken auf Hexerei fixiert war. Aber sie sahen nicht überall Dinge, die verbrannt werden sollten, weil ihr Denken keinen Halt mehr hatte. Wenn sie eine sehr unbeliebte Hexe auf den Scheiterhaufen banden, fest davon überzeugt, daß sie eine spirituelle Tyrannei und eine Pest verkörperte, sagten sie nicht zueinander: »So ein bißchen Brennen würde sich meine Tante Susan gegen ihre Rückenschmerzen wünschen«, oder: »Ein paar von diesen Reisigbündeln würden deinem Vetter James guttun und ihn lehren, daß man mit der Liebe armer Mädchen nicht spielt.«
All das nennt man Anarchie. Nicht nur, daß es nicht weiß, was es will, es weiß
nicht einmal, was es nicht will. Es wuchert in der eher amerikanischen Art englischer Zeitungen. Wenn diese neuartigen Neu-Engländer eine Hexe verbrennen, steht die ganze Prärie in Flammen. Diese Leute haben nicht die Entschlossenheit und die innere Distanz dogmatischer Zeitalter. Sie sind außerstande, eine ungeheuerliche Tat zu begehen und sich deren Ungeheuerlichkeit bewußt zu sein. Wo sie hintreten, wächst kein Gras mehr. Sie können ihre Gedanken nicht bremsen, obwohl sich diese in den Abgrund ergießen.
Ein abschließendes Beispiel, das sich viel knapper darstellen läßt, findet sich in dem allgemeinen Sachverhalt, daß die Definition fast jedes Verbrechens immer vager geworden ist und sich wie eine immer flacher und dünner werdende Wolke über immer größere Gebiete erstreckt. Kindesmißhandlung, so meinte man, sei so unverkennbar, so ungewöhnlich und entsetzlich wie Vatermord. Heutzutage wird sie auf nahezu jede Verwahrlosung angewendet, die es in einem bedürftigen Haushalt geben kann. Mit dem einzigen Unterschied natürlich, daß solche Verwahrlosungen bei den Armen, die im allgemeinen nichts dagegen tun können, bestraft werden, bei den Reichen, die es im allgemeinen könnten, aber nicht. Doch darum geht es hier gar nicht. Hier geht es darum, daß wir auf dem besten Wege sind, Maria und Josef - nur weil sie ihr Kind im Tempel verloren haben - eines Verbrechens zu bezichtigen, das wir instinktiv mit Herodes und der Blutnacht der unschuldigen Kinder verbinden. Angesichts eines kürzlichen Falls - eine zugegebenermaßen gute Mutter, die ins Gefängnis kam, weil ihre zugegebenermaßen gesunden Kinder kein Wasser zum Waschen hatten - wird dies, glaube ich, niemand für eine unzulässige schriftstellerische Übertreibung halten. Das ist genau so, als könnte man nun all das Entsetzen und die harten Strafen, die bei primitiven Stämmen mit Vatermord einhergehen, auf jeden Sohn anwenden, der etwas getan hat, das seinem Vater vermutlich Kummer bereitet und ihn somit gesundheitlich geschädigt hat. Kaum einer wäre da sicher.
[...]
Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol
SINN UND FORM 6/2008, S. 725-729
Chiarini, Paolo
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Chişe, Ruxandra
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Chodassewitsch, Valentina
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Chotjewitz, Peter O.
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Christensen, Inger
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- 4/2001 | Die lächerlichste Sprache der Welt. Ein polnischer Schriftsteller in seinem Verhältnis zu den slawischen Sprachen
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- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Begegnungen mit Thomas Mann
Cisek, Oskar Walter
- 4/1957 | Mihail Sadoveanu
Cixous, Hélène
- 2/2014 | »Osnabrück ist das verlorene Paradies, nur nicht für mich.« Gespräch mit Cécile Wajsbrot, S. 214 Leseprobe
Cixous, Hélène
»OSNABRÜCK IST DAS VERLORENE PARADIES, NUR NICHT FÜR MICH» Gespräch mit Cécile Wajsbrot
Vorbemerkung
Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von ihrer Rolle bei der Gründung der alternativen Universität Vincennes (jetzt Saint-Denis), an der man auch ohne Abitur studieren konnte, ich wußte von der Strahlkraft ihrer Seminare und auch von ihrer Freundschaft mit Derrida, die sich in mehreren Büchern niederschlug. Dennoch lernte ich Hélène erst viel später, 2006, durch den gemeinsamen Freund Frédéric-Yves Jeannet kennen. Inzwischen hatte ich mit dem 1999 erschienenen Buch »Osnabrück« meine Cixous-Lektüre wiederaufgenommen und begab mich alljährlich treu zum Stelldichein der Herbstneuerscheinungen, wo die unendliche Erzählung ihres Werks Buch für Buch fortgesponnen wurde – eine Art mythisches Epos, aus transfigurierten Alltagselementen gewoben und von literarischen Hausgöttern wie Stendhal, Montaigne und Kafka behütet.
Als Hélène Cixous die Wohnungstür öffnete, kam mir Nofretete in den Sinn, deren ebenmäßiges und doch rätselhaftes Gesicht die Zeiten überdauert hat. Beim Anblick des Panoramas von Paris, das sich vor den Fenstern darbot, sprachen wir über Deutschland, über Berlin, wo ich damals schon lebte. Im Laufe der Jahre wurden mir diese Treffen mit Hélène zur Gewohnheit – schwebend gleichsam im Raum (hoch droben in einem Neubau) und in der Zeit, seltene, doch regelmäßige Besuche – manchmal wirbelte eine Katze herein –, geprägt von der mal sichtbaren, mal unsichtbaren Gegenwart ihrer Mutter Ève, die im Sommer 2013 dahinging. Mit der Zeit entwickelten sich eine Freundschaft, glaube ich, und ein Austausch.
Wie kam es zur Idee eines Gesprächs über Deutschland? Die Wichtigkeit des Themas für unsere Unterhaltungen, die Bedeutung der deutschen Sprache und Literatur für Hélène Cixous’ Leben und Werk, auch wenn sie von der Kritik kaum wahrgenommen wurde – es gab viele Gründe, die dabei zusammenkamen. Hélène sagte sofort zu. Das Gespräch sollte fortlaufend stattfinden, in jenen Freiräumen, die uns unsere vielfältigen Aktivitäten ließen – in Hélènes Fall das monatliche Seminar im Pariser Heine-Haus, das Stück, das sie für Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil schrieb und das anschließend geprobt wurde, die mit der Arbeit an ihrem nächsten Buch erfüllten Sommermonate in Arcachon und natürlich Ève, die sich in ihrer Obhut befand. Was also konnte zweckmäßiger als die Schriftform sein, zumal wenn man mit der Hand schrieb und nicht am Computer?
Es handelt sich hier also um ein geschriebenes Gespräch, geführt zwischen Mai und November 2012.
Cécile Wajsbrot
CÉCILE WAJSBROT: Es kommt mir vor, als beträten wir einen neuen Kontinent, ein aus den Wassern auferstandenes Atlantis. Das deutsche Wort Angst und der Städtename Osnabrück sind die ersten Hinweise auf Deutschland, denen man in Ihren Buchtiteln begegnet. Was ist Deutschland für Sie in erster Linie: ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wenn die Frage zu weit führt, sagen Sie es mir.
HÉLÈNE CIXOUS: Mir fällt an Ihrer Frage das bezeichnende »erst« auf, das zweimal vorkommt und die Hypothese Deutschland als Raum, Oberfläche, Gelände oder geographisches Gebiet markiert. Habe ich je mit Deutschland Fühlung aufgenommen? Hat es je mit mir Fühlung aufgenommen? Habe ich es je betreten, habe ich es je verlassen? Meinem Gefühl nach bin ich seit jeher von ihm umgeben, meine wichtigste Erinnerung besteht darin, eine treibende Alge inmitten dieses Meers gewesen zu sein. In Algerien wurde ich geboren, von Deutschland stamme ich ab, es hat mich von Geburt an umschlossen. Denken, Sätze bilden und die Welt lesen, all das habe ich in einer in algerische Gefilde versetzten deutschen Welt gelernt. Während ich als pflanzlich-tierisches Menschenwesen im trockenen und duftigen Klima von Oran aufwuchs, sog ich aus zwei Böden Kraft und Bedeutung, ich war durch das in Algerien enthaltene Deutschland mit der Zeit verbunden. Umgekehrt lag meine Geburtsstadt Oran in Osnabrück, der Stadt meiner Mutter.
Daß die Frage zu weit führen könnte, ist ein guter Indikator: Sie zeigt die unberechenbare Gegenwart all dessen an, was unter dem Namen Deutschland um mich versammelt ist. Am Ende (meines Lebens) würde ich ein Traktat, ein Epos, eine deutsche Autobiographie (eine meiner Autobiographien) geschrieben haben können oder sollen.
Ich sage Deutschland, und die Sache erscheint mir genauso unendlich, unerbittlich, von mir selbst unablöslich wie, sagen wir, für Derrida der Name Abraham, den er zum Vornamen des Rätsels Judesein bestimmen wollte. Ich sage Deutschland, und der Name klingt für mich seit meiner frühen Kindheit, als wäre er ein Synonym für Omi, meine Großmutter, meine Mutter für Deutschland. Omi kommt 1938 zu uns nach Oran, ich bin anderthalb und habe zwei ganz verschiedene und doch spiegelbildliche und stets miteinander verbündete Ammen, Deutschland und Algerien. Meine geistigen Großmütter, meine Schicksalsverwandten, die mein Ohr mit der gleichen Anfangssilbe umschmeicheln (Allemagne/Algérie). Sobald ich Allemagne sage, erhebt sich Algerien und folgt ihm wie ein Schatten.
Ich merke, daß ich Deutschland auf französisch sage, denn es war die französische Sprache, in die meine Mütter (meine Mutter meine Großmutter), als sie es während des Kriegs für nötig hielten, ihr Haus und ihre aus Deutschland stammenden Leiber verwoben und hüllten, in der sie sie vielleicht sogar verbargen, also ihre erste Wahrheit unter dem Tischtuch des Französischen verschwinden ließen. In unserer Behausung in Oran sagte Omi stets »chez nous«, wenn sie eine besonders verbindliche Regel oder Sitte formulierte, und dieses »bei uns« war in Deutschland. Sicherlich kam es auch einmal vor, daß sie es auf deutsch sagte, doch in ihrer gebieterischen Art und Weise, unseren Gehirnen deutsche Ordnung beizubringen, zog sie es vor, »auf französisch deutsch zu sprechen«. Noch heute schmeckt das Wort Allemagne für mich nach Dom und Schlagsahne oder Schuberts klangvollem Dahinströmen. Ich glaube, in meiner zweisprachigen Kindheit ging französisch oft als deutsch durch, und das Deutsche floß zu meiner größten Zufriedenheit ins Französische ein. Diese Weiterungen, Ergänzungen, Pfropfungen, Einladungen machten mir große Freude, ich hatte eine Freude am Spiel, die mir heute als Urszene jeder Form von Genuß erscheint: zu zweit sein, zwei sein, zugleich der andere sein, stets zu etwas anderem seine Zuflucht nehmen können, nicht in der Zelle des Eigenen, des Nationalen eingeschlossen sein, über alle Transportmöglichkeiten verfügen, nach Lust und Laune über die Ufer treten. Die Wonne, sich mühelos zu einer Fremden zu machen.
Ein Land, eine Stadt, eine Sprache? Wie könnte man das auseinanderhalten oder in eine Rangfolge bringen? Mir fällt ein Kompositum ein: Sprach-Stadt-Land. Eine Sprache, in der ich wie in einer Stadt wohne und reise und die mein ganzes Weltland wäre. Und die alle meine Stimmungen in sich aufnähme. So wird »Angst« und »Osnabrück« der gleiche Platz zugewiesen, nämlich der eines Titels. Zwei »deutsche« Titel, zwei Bestimmungen, gleichsam zwei Namen geistiger Orte, zu deren Archäologin ich geworden bin. Tatsächlich widme ich mich der Erforschung der Tiefen, den Bergwerken, Stollen, Irrgängen, Grabungs- oder Auferstehungsstätten, ich horche die Brust der Schöpfung ab. Es drängt mich dazu, die Herkunft zu untersuchen – die Ursprünge, die Passionen. Und oft geben sich mir diese urwüchsigen Zonen in Gestalt archaischer, also deutscher Gottheiten zu erkennen. Ich habe so viel in »Angst« gelebt, diesem Land seltsamer Irrlichter. Und es stellt sich heraus, daß die prähistorischen »Städte« der Triebe und Passionen in meinem inneren Deutschland liegen. Das Bild, das ich von Osnabrück habe! Ein Klangbild, ein Scheppern, ein Gerassel von Phonemen, etwas geradezu Mythologisches! Während »Angst« den Tod im Leben bezeichnet, beschwört »Osnabrück« ein Pompeji vor dem Jahr 79 herauf, eine jugendliche, europäische, genießerische Stadt, eine Schatulle voller lebenskluger Menschen, man schwimmt, geht ins Theater, treibt Sport, und eines Morgens überrascht einen der Krieg. Streckt einen nieder. Os-na-brück. Erich Maria Remarques Schule, Straßen für Felix Nußbaum, »Osnabrück«.
WAJSBROT: Dann hätte Deutschland also keinen Anfang, es wäre selbst der Ursprung. Aber gab es denn kein erstes Mal? Wann zum Beispiel fand die erste Reise ins reale Deutschland statt und wohin führte sie?
CIXOUS: Köln. Bad Nauheim. 1951. Schlagsahne. Ich sehe mich mit Omi in den Straßen Kölns. In der großen hellen Wohnung von Eri und Bertold Barmé. Eri, Omis zweite Tochter, meine Tante. Im Kurhaus in Bad Nauheim langweile ich mich bloß, nichts als alte und kranke Leute, echte Kranke und auch eingebildete, wie Omi.
Ich glaube, ich bin voller Vorfreude mit Omi in Algier aufgebrochen. Ich habe Lust auf Deutschland. Ich bin vierzehn. Die Umstände brauen sich zusammen: Zum einen – und das ist die geheime Motivation – wohnt meine Tante Eri jetzt in Köln mit meinem Onkel Bertold, ihrem Mann, einem Zahnarzt. Zum anderen hat Omi ihr Recht auf Wiedergutmachung in natura geltend gemacht: Sie muß ihre Gesundheit in den Bädern wiederherstellen! Man verordnet oder verschreibt ihr Bad Nauheim – aber das ist ein Vorwand: Niemand in der Familie glaubt an die Heilwirkung der Bäder. Für mich ist das ein Motiv der Literatur, man findet über Dostojewski und Thomas Mann dorthin, allenfalls noch über Kafka und Thomas Bernhard. Mir erscheint das alles als Farce. Manche Pensionsgäste sind herzkrank. Man kann nichts tun, als mit Omi, die schlecht zu Fuß ist, im Wald spazierenzugehen. Ich verstehe mich gut mit Herrn Ober und stelle fest, daß meine schwarzen Augen in diesem Land, wo alle Welt Omis blaue Augen hat, Aufsehen erregen. Ein armer mißgestalteter jüdisch-polnischer Händler, auch er mit einem Anspruch auf Wiedergutmachung, macht mir einen Heiratsantrag. Letztlich wird das Hotel zum Schauplatz einer kleinen Einführung in den Roman des 19. Jahrhunderts, die »Psychologie«: Man stecke Vertreter unterschiedlicher Spezies in eine Arche ohne Zukunft. Eine Versuchsanstalt. In Köln lerne ich die deutsche Großstadt kennen. Für mich sind wir dort in einen »fremden« Leim getaucht. Omi fühlt sich wohl, es ist schlichtweg ihr Land und beinahe ihre Gegend. Das Stück Deutschland, in dem die Familie verwurzelt ist: Hamburg, Dresden, Gießen, Hannover, Osnabrück, Köln, Frankfurt. Die Städte, wo die Onkel, Tanten, Cousins gedeihen, Kaufleute, Bankiers, Unternehmer. Man spricht viel von Hamburg in der Welt. In Köln bemerke ich die Grenzposten: Ich werde »gesehen«, schief angesehen. Auf der Domtreppe hält mich ein gereizter Priester auf und weist mich, weist meine nackten Arme ab, es ist ein strahlender und heißer Sommer. Da kam mir ein Verdacht. Ansonsten begegnet mir 1951 keine Spur von Antisemitismus. Es gibt auch keine Juden mehr in Deutschland. Bis auf meinen Onkel Bertold, der den Zwängen Israels entflohen ist, wo er 1937 oder 1938 ankam, als es noch Palästina und ein Schutzraum war. Zehn Jahre haben ihm gereicht.
Als guter freimaurerischer Stadtbewohner, Bürger von Köln, kehrt er »heim« und bringt seine Familie mit. Es läuft gut für ihn, den angesehenen Zahnarzt, den umgänglichen und charmanten Mann. Ein Roman, der noch zu schreiben wäre. 1951 blüht Köln, es gedeiht – doch, doch, ich komme aus Algier. Und aus London, wo es Hunger gibt und Lebensmittel rationiert sind. Während ich in Köln endlich der riesigen Sahnetorten ansichtig werde, von denen mich Omi den ganzen Krieg über träumen ließ. Köstlich. Sie sind bis heute unübertroffen.
Bleibt noch der Mythos Osnabrück: Bin ich mit Omi hingefahren? Oder habe ich das nur geträumt? Ich sehe uns dort in den engen Straßen, ich sehe uns am Nikolaiort, wie im Traum.
Leider habe ich es versäumt, Omi zu fragen, ob wir wirklich dort gewesen sind. Osnabrück war stets so strahlend gegenwärtig in meinen »Erinnerungen«, die von den Berichten meiner drei Erzählerinnen getönt waren – den feenhaften Zeuginnen, meiner Mutter Ève, meiner Tante Eri und Omi.
Mein erstes, zwiespältig reizvolles Deutschland, ich habe dich geliebt. Und gewiß wollte ich von dir geliebt werden.
[...]
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 2/2014, S. 214-222, hier S. 214-218
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Czapski, Józef
Tumult und Gespenster
(…)
Cannes. Das Schiff ist gerade erst aus Genua eingelaufen. Auf den Wellen schaukelt eine riesige, weise Schmuckschatulle mit einem roten Streifen am Schornstein und einem grünen dort, wo es die Wellen berührt: »Giulio Cesare«. Schiffsreisen liegen mir überhaupt nicht. Ich kann Schiffe nicht leiden, nicht einmal die schönsten. Die überlangen Flure und Treppen, überall ein eigenartiger Geruch (Lack? Schmiere?), die Enge der Kabinen – auch der ärmste Schlucker wohnt auf Erden geräumiger –, das sanfte Schaukeln, auch wenn der Kreuzer stillsteht – mir wird schon aus bloßer Angst, seekrank zu werden, leicht übel. Nervosität, das normale Reisefieber. Wo sind die Kisten? Wo steht welcher Koffer? Hektisches Suchen, um die »beste« Liege auszuwählen, obwohl alle gleich sind, den besten Tisch im Speisesaal, obwohl alle gleich bequem sind. Die Stimmung in der Menge ist beinahe festlich, triumphierend, fur manchen ist es die Erfüllung eines Traums, das ganze Leben wird auf den Kopf gestellt. Die meisten aber sind Geschäftsreisende, so eine Überfahrt ist für sie ganz alltäglich. Nur eine Frau sehe ich weinen.
Gegen Abend legen wir ab. Bis zum Einbruch völliger Dunkelheit fahren wir die Kette der Alpes Maritimes entlang, sanfte Hügel in oliv, zartlila oder, die entferntesten unter ihnen, blau vor dem weichen, zitronengelben Himmel.
Das erste Mittagessen. Zahllose Gerichte, das Menu auf einer enormen Karte aus Glanzpapier, die Bedienung eifrig. Ein einziger Luxus. Ich sitze bei einem schon alten Paar: Sie sind argentinische Staatsbürger, Juden aus Żółkiew, und sprechen noch polnisch. Die Frau freut sich, einem Landsmann zu begegnen. Sie sind auf der Rückfahrt, hinter ihnen liegt die erste große Urlaubsreise nach vierundzwanzig Jahren schwerster Arbeit in Buenos Aires. Sie erzählen mir von Italien, der Schweiz, Frankreich, wie sich dort die Preise unterscheiden, sie erfreuen sich an jeder Kleinigkeit,ohne auch nur einen Schatten von Groll oder Prahlerei. Ich bin froh, daß ich diesen ersten Abend unter Fremden mit ihnen verbringen kann. Die Menge auf dem Schiff ist laut und aufgeregt, in den vollen Salons bilden sich Grüppchen, man hört Spanisch, Portugiesisch, Italienisch und Englisch. Nur einmal höre ich einige Worte Französisch. Diese Masse empfinde ich vom ersten Moment an als abstoßend und unerträglich fremd. Es überwiegen Herren fortgeschrittenen Alters und mal vertrocknete, mal etwas zu dicke Damen mit üppig verkleidetem Rumpf und extravaganten Ringen und Behangen an ihren Quadratgesichtern.
9. Mai – Ich teile mir die Kabine mit einem Italiener. Er ist gleichmäßig gebräunt, noch recht ansehnlich und hat, obgleich nicht mehr jung und trotz seiner wie eine Billardkugel blitzenden Glatze, eine sportliche Figur; er erweist sich als typischer homme moderne, der sich schon eingerichtet hat (nichts geht übers Tempo). Er bittet mich darum, zwischen sieben und acht Uhr die Kabine zu meiden. Voller Begeisterung, das ich ihn verstanden habe, bietet er mir in gebrochenem Französisch klitzekleine italienische Shampootübchen an – vielleicht ist er Handelsvertreter des Herstellers, oder er will mich bestechen, mich für meine vorausgesetzte Diskretion einfach mit einem Produkt belohnen, das ihm bei seiner Kahlköpfigkeit ohnehin nichts nutzt. Dazu verkündet er noch, er sei Vorsitzender eines höchst erlesenen Clubs an einem Strand in Argentinien, und bietet mir an, eine Ausstellung für mich einzufädeln. Ich erfahre, das er in Stalingrad war, als Soldat während des Krieges, aber er läßt sich in keine Unterhaltung über diese Zeit verwickeln, schneidet den Gesprächsfaden augenblicklich ab, die traurigen Erinnerungen hat er aus dem Gedächtnis getilgt und ist jetzt voller Lebensfreude. Sogar Falten hat er nur wenige. (»Ausgezeichnet sehen Sie aus«, sagte einmal jemand zur keineswegs mehr jungen, aber immer noch bezaubernden Fürstin T., die seit je in Florenz lebte. »Das liegt daran, daß ich mein Lebtag keine Sorgen hatte!«, antwortete sie mit spontaner Ehrlichkeit. Diese Fürstin hatte auf dem Florentiner Friedhof sechs ihrer Kinder begraben.) Das Schiff machte einige Stunden halt in Barcelona. Drei Stunden in einer heißen und staubigen Stadt. Quietschende Straßenbahnen, eine Menschenmenge, die auf den ersten Blick der von Marseille so ähnlich sieht
In Barcelona. Ich betrete eine Kirche im massigen Herrera-Stil. An den Altären – es ist ein Werktag – drangen sich die Betenden. Auf den Wanden einige Fresken im schrecklich heuchlerischen Stil der Moderne. An einem der Seitenaltäre steht eine Madonna aus dem achtzehnten Jahrhundert, vor Gold triefend, mit einer gewaltigen goldenen Krone und einem aufgemalten, kleinen, beinahe erschrockenen Gesichtchen. In ihren Armen halt sie Jesus, auch er mit einer goldenen Krone und in goldenen Gewändern, er trägt ein gemeißeltes Kreuz, so wuchtig wie eine Keule. Blumen stapeln sich auf dem Altar und dem Boden. Der Charakter der betenden Menge ist ein ganz anderer als in französischen Kirchen, die Menschen hier scheinen sich geradezu heimisch zu fühlen, es herrscht eine ehrliche Atmosphäre lebendigen, täglichen Gebets. Ein Linienbus fährt mich bergauf, dorthin, wo sich ein großes Museum für katalonische Kunst befindet. Im Bus läßt sich noch eine ältere Amerikanerin durchschütteln.
Sie ist mit dem Flugzeug gekommen, mit dem Flugzeug fliegt sie wieder zurück. Ob sie es rechtzeitig zum Flughafen schafft? Auf das Museum will sie nicht verzichten und riskiert es. Ich denke an den Pfaffen von Ludwig XIII.: Was diese Frau nur in solcher Zerfahrenheit wirklich sehen wird? Ich besuche das Museum eigentlich genauso hastig, dabei muß ich mich noch überwinden, denn der Zauber des Neuen wirkt auf mich nicht mehr. Wozu in Barcelona ins Museum gehen, wenn ich mich noch nicht einmal im Louvre richtig auskenne? (…)Aus dem Polnischen von Ron Mieczkowski
SINN UND FORM 4/2023, S. 437-450, hier S. 438-440
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- 5/2002 | Gespräch mit Renatus Deckert
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