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La Guma, Alex
- 2/1976 | Südafrikanische Literatur unter der Apartheit
La Rochefoucauld, François de
- 4/1977 | Aphorismen zur Literatur
Laabs, Joochen
Laabs, Klaus
Labatut, Benjamín
- 2/2022 | Die tote Stadt, S. 149 Leseprobe
Labatut, Benjamín
Die tote Stadt
Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli – »La ville morte« – nicht hören könne, ohne von heftigsten Gefühlen überwältigt zu werden, ein ihm selbst unerklärliches Phänomen. Die mit schmerzvoller Stimme gesungene Ballade, begleitet von den Klagelauten eines Akkordeons, besticht durch ergreifende Bilder: Als wir in die tote Stadt einzogen / Hielt ich Margot an der Hand / Ein Morgen, der nicht endete / schenkte uns sein totes Licht / Wir liefen durch die Straßen, von Trümmern / zu Ruinen und von Tür zu Tür / Was einmal Türen waren / grenzte an ein seltsam fremdes Land. Egal wie oft Dyson die Aufnahme abspielte, jedesmal zerfloß er in Tränen, er schämte sich, das Lied in Gesellschaft zu hören; nur von Zeit zu Zeit, allein und wenn ihm danach war, gab er sich der Musik hin. Seine emotionale Reaktion war um so verstörender, als er praktisch kein Französisch konnte und nur eine äußerst vage Vorstellung davon hatte, worum es in dem Chanson ging. Selbst als ein Freund den Text für ihn übersetzte, war ihm das kein Trost. Nach jahrelangem Grübeln kam er zu der Überzeugung, daß diesen Strophen des französischen Dichters und Romanciers Pierre Mac Orlan etwas innewohnte, was in den tiefsten Schichten seiner unbewußten Erinnerung widerhallte, als sänge Monique nicht für die Lebenden, sondern für die zahllosen Seelen der Verstorbenen, deren Überreste sich, unsichtbar und vergessen, unter unseren Füßen sammeln. Eine plausible Erklärung für seine Anfälle von Melancholie fand Dyson schließlich in einem kurzen Artikel des russischen Mathematikers Yuri I. Manin, »Der Archetyp der leeren Stadt« aus seinem Essayband »Mathematik als Metapher«. Die leere Stadt ist hier die »Form einer Gesellschaft, der ihre Seele entzogen wurde und die nicht auf eine Eingabe wartet, eine Leiche, die nie ein lebender Körper war, ein Golem, dessen Leben selbst der Tod ist«. Die Wirkung dieses Archetyps auf unsere Psyche vergleicht Manin mit den diffusen Verlustgefühlen, die uns überkommen, wenn wir zufällig auf einen verlassenen Bienenstock schauen oder auf das endlos strömende Wasser in den Filmen des genialen russischen Regisseurs Andrei Tarkowski, der so besessen davon war, Bilder unserer Träume festzuhalten, daß er mit seiner Frau und seiner Crew in Flüsse voll giftiger Chemikalien stieg, um »Stalker« zu drehen, den Film, der ihn schließlich das Leben kostete. Die funkelnden Schlieren an der Oberfläche, in flüchtigen Bildern auf Zelluloid gebannt, stammten von giftigen Abfällen aus stillgelegten Fabriken und waren wahrscheinlich auch die Ursache für das Krebsgeschwür, das seine Lunge zerstörte und ihn 1986, mit gerade einmal 54 Jahren, umbrachte, und nicht nur ihn, sondern auch seine Frau Larissa und seinen Stammschauspieler Anatoli Solonizyn, die beide an derselben Krankheit starben. In »Stalker« ist ein weiter Landstrich – bekannt nur als »die Zone« – verseucht und unbewohnbar aufgrund von Kräften, die nicht nur den Körper und den Geist der Menschen infizieren, sondern vielleicht sogar ihre Seelen. Bewaffnete Truppen haben die Region abgeriegelt, doch eine kleine Gruppe verzweifelter Männer und Frauen wird unwiderstehlich von ihr angezogen wie Motten von einer radioaktiven Flamme, denn einem Gerücht zufolge gibt es tief im Inneren der Zone, im befremdlichsten Teil dieses Gebiets, einen kleinen und dem Anschein nach ganz gewöhnlichen Raum, in dem all jenen, die es hineinschaffen, ihre innigsten Wünsche erfüllt werden. Um den Fallen und Gefahren der Zone zu entgehen, müssen die Suchenden professionelle Führer anheuern, Stalker genannt, die sie durch die wüste Landschaft mit ihren verlassenen Ruinen und zerfallenden Gebäuden lotsen, wo die Vegetation das Land längst zurückerobert hat. Die Kettenspuren aufgegebener Panzer sind überwuchert, ebenso die Fassaden von Fabriken, Schulen und Krankenhäusern, andere leerstehende Gebäude sind halb verfallen und nicht wiederzuerkennen. Irgendwie sind die Gesetze der Wirklichkeit hier außer Kraft gesetzt, die Zeit fließt in seltsamen Schleifen, Erinnerungen und Träume nehmen Konturen an, Alpträume sind so real und schrecklich, als würden sie im Wachzustand erlebt. Die Szenerie ist erfüllt von einer berauschenden Melancholie, sie ergreift sowohl die Stalker als auch diejenigen, die sich die Verwirklichung ihrer Sehnsüchte erhoffen. Die Zone ist nämlich, obwohl unbewohnt und feindlich, eindeutig belebt und Teil von etwas, was dem menschlichen Bewußtsein ähnelt, ein hartnäckiger Wiedergänger, der sich dem unbarmherzigen Lauf der Zeit zu widersetzen vermag und einfach nicht vergeht, so wenig wie die Bilder vergangener Schrecken, die der Archetyp der leeren Stadt heraufbeschwört. Für Manin erklärt sich die Allgegenwärtigkeit dieses Archetyps in unserem kollektiven Gedächtnis aus den gesammelten Erfahrungen zahlloser Völker, die schon in grauer Vorzeit auf die Überreste alter vergessener Tempel stießen, zu Staub zerfallend im Wüstensand, begraben unter dem üppigen Grün undurchdringlicher Dschungel oder versteckt in den unzugänglichsten Hochtälern der Berge, Ruinen von solch kolossalen Ausmaßen, daß sie Göttern, wenn nicht Wesen von einem anderen Planeten als Wohnstatt gedient haben mußten. Es waren gespenstische Orte, man fürchtete und mied sie, wie auch die Angelsachsen sich fernhielten von den steinernen Mauern römischer Häuser, die sie als das Erbe sagenhafter Riesen betrachteten und niemals bewohnten. Die tote Stadt gibt es seit unvordenklichen Zeiten; sie geht zurück auf die Anfänge der Zivilisation, als die ersten Menschen begannen, sich in Siedlungen zusammenzuschließen, die immer größer wurden, blühten und gediehen und anderen Menschen ein Ansporn waren, Armeen aufzustellen, um diese Siedlungen zu überfallen, zu plündern und zu zerstören. Der Archetyp der leeren Stadt ist ein gedankliches Konstrukt, ein Destillat der Untergangserfahrungen zahlloser realer Gemeinschaften. Er steht für den nagenden Hunger in Zeiten der Dürre und die Nachglut der Brände, die die Häuser dem Erdboden gleichmachten, für die immer noch spürbaren Erschütterungen der Erdbeben, die ihre Fundamente auseinanderrissen, für die Narben, die die Seuchen hinterließen, die sie über Nacht entleerten. Doch Manin weist auch darauf hin, daß solche Phantombilder, egal wie schwach und verblassend, weder passiv noch neutral sind. Im Gegenteil, sie nähren unsere dunkelsten und ungestümsten Wünsche. Eine tiefe Sehnsucht nach Auflösung. Ein leidenschaftliches Verlangen, die Zerstörung all dessen zu erleben, was wir kennen. Ein Bedürfnis, die Welt vom Makel der Menschheit zu reinigen und unseren Planeten nicht nur von den Dämonen des Fortschritts zu befreien, sondern von allen Übeln, die unserer verfluchten Natur entspringen. Das kollektive Unbewußte ist kein bloßes geistiges Gepäck, sondern ein irrationaler Drang zu Tod und Zerstörung. Gleichgültig gegenüber den Träumen der Vernunft, ist das Unbewußte nicht eine Kraft, die zu Gemeinschaft oder Ganzheit führt, sondern etwas Irres, Verrücktes, Chaotisches, ein Sirenengesang, dem wir mit Nachdruck widerstehen müssen. »Diesem Potential«, schreibt Manin, »kann man nur die Erziehung des kollektiven Bewußtseins gegenüberstellen. Sonst wird die leere Stadt unsere letzte Heimstätte sein.«
Der Protagonist des Chansons, das Freeman Dyson so in seinen Bann schlug, ist ein älterer Soldat und Angehöriger einer Besatzungsarmee. Der namenlose Kämpfer ist nicht wach, sondern träumt: Er sieht sich selbst, wie er durch die Trümmer und den Staub einer eroberten Stadt geht und seine Frau an der Hand hält, beide betrachten die dunklen Ruinen ringsum. Sie kommen an ausgebombten Häusern vorbei, an ausgebrannten Autos, offenen Gräbern und dem verbogenen Metall eines zusammengeschmolzenen Spielplatzes, Szenen einer kaum vorstellbaren, von ihm selbst und seinen Kameraden angerichteten Verwüstung. Zwar weiß der Soldat, daß das, was er sieht, nur ein Traum ist und daß er in Wirklichkeit in der Kaserne schläft, fern des Gemetzels und allen Blutvergießens, doch kann er den Gedanken nicht ertragen, die Hand seiner Frau loszulassen, denn er ist fest davon überzeugt – mit einer Gewißheit, wie nur Träume sie schenken –, daß er sie niemals wiedersehen wird, weder in diesem noch in einem nächsten Leben. Und dennoch schultert er, als er die fernen Rufe eines Hornsignals hört, das Gewehr, küßt seine Frau auf den Mund und kehrt zurück in den Kampf.
(…)Aus dem Englischen von Thomas Brovot
SINN UND FORM 2/2022, S. 149-157, hier S. 149-152Monique Morelli, »La Ville Morte« auf YouTube
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- 3/2008 | Gespräch mit Ralph Schock, S. 329 Leseprobe
Lange, Hartmut
Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum beschäftigt Sie das Thema so sehr?
HARTMUT LANGE: Der Tod beschäftigt einen immer dann, wenn man den Zenit seiner Lebenskurve überschritten hat und sieht, daß es nicht nach oben, sondern nach unten geht. Mich beschäftigt der Tod schon seit meinem vierzigsten Lebensjahr.
SCHOCK: Da hatten Sie den Zenit Ihrer Lebenskurve doch noch nicht erreicht.
LANGE: Da war ich schon drüber hinweg. Da war der Hegelsche Rationalismus, jene Form von Vernunft, die die Ich-Perspektive des einzelnen zur Menschheit und zur Weltgeschichte hin überschreitet und der ich so lange anhing, bei mir schon passé. Das geschah in dem Augenblick, als ich mein Selbst entdeckte. Ich fühlte mich plötzlich Philosophen wie Kierkegaard sehr nahe. Kierkegaard fürchtete vor allem die Endlichkeit, und er verzweifelte fast daran. Bei seiner Flucht in den Glauben gibt es Parallelen zu Pascal. Pascal versuchte mit Transzendenzentwürfen über das Nichts und die Leere hinwegzukommen. Bei mir war es ähnlich. Ich entdeckte plötzlich, daß der Rationalismus mir die Welt zwar erklären kann, aber an meiner existentiellen Ungewißheit nichts ändert: ich bin nichts als eine flüchtige Erscheinung. Aber das Ego will ja nicht einfach von der Erde weggefegt werden, und so kommt es, daß man sich so lange mit dem Tod beschäftigt, bis einem diese Grenzüberschreitung vertraut wird. Goethe, der ja noch in einer pantheistischen Gewißheit lebte, sagte von sich, er beschäftige sich so lange mit der Natur, bis er wünscht, dieselbe zu sein. Da ist der Schritt vom unerlösten Subjekt zur angeschauten Objektivität getan. Auch ich war gewillt, eine Brücke zur Transzendenz zu finden. Ich habe »Die Selbstverbrennung« geschrieben, einen theologischen Roman, in dem ich mich als Pfarrer sah, als Nihilist, der versucht, durch Verstandesfrömmigkeit die Angst vor der Endlichkeit zu überwinden. Das gelingt natürlich nicht. Wenn man Rationalist ist, muß man die Dürre und die Kälte des Nihilismus aushalten. Nur ist es dann so, daß man sich fast nur noch mit dem Nichts beschäftigt. Und das Nichts, das ist ja der Tod.
SCHOCK: Sie sprachen vom unerlösten Subjekt. Als Sie mit dem Schreiben anfingen, waren Sie Marxist. Auch der Marxismus hat die Unerlöstheit des Subjekts zum Thema. Was ist der Unterschied zwischen existentieller und marxistischer Unerlöstheit?
LANGE: Der Marxismus ist eine Soziallehre, die auf einem Glücks- oder Heilsversprechen basiert, auf einer Teleologie, einer Geschichtsentwicklung zum Besseren hin. Er sieht das Subjekt durch seine sozialen Bedingungen, seine Zivilisation determiniert, aber er sieht es nicht als Einzelwesen. Der Marxismus begreift das Subjekt nicht existentiell, sondern gesellschaftlich und geschichtlich. Als Marxist können Sie sagen: Wenn der Mensch sozial befreit ist, dann ist der Endpunkt der Geschichte erreicht, dann herrscht Vernunft in Staat und Produktion. Aber mein Erschrecken bestand ja in der Erkenntnis, daß der Marxismus die existentielle Basis des Subjekts, also Angst, Endlichkeit und Tod, ausblendet. Wir wurden doch dazu erzogen, unser Ich gänzlich aus dem Spiel zu lassen. Uns wurde gesagt: habt euch nicht so albern mit euerm Selbst. Jede Art Subjektivismus wurde hart bekämpft. In meiner Not habe ich mich dann an anderen Philosophien festgehalten. Ich wechselte von der Hegelschen Erkenntniseschatologie und der Marxschen Soziallehre, die ja beide streng rationalistisch und vernunftorientiert sind, zu Schopenhauer, Nietzsche, Heidegger und Kierkegaard. Kierkegaard und Pascal fassen die Transzendenz noch christlich auf. Bei Schopenhauer ist das schon nicht mehr der Fall, und Nietzsche ist bereits die Antwort auf den säkularen Nihilismus. Wenn man begreift, daß man sich zwar politisch und sozial, aber nicht existentiell befreien kann, dann wird die Luft dünn, dann beginnt die Bodenlosigkeit, der freie Fall. Ein freier Fall, der kein Ende kennt und in dem man versuchen muß, zur Ruhe zu kommen.
SCHOCK: Bei Ihnen hat dieses Pascalsche Erschrecken aber keine religiöstheologische Grundierung mehr.
LANGE: Pascal gelang es noch, in die Apologie des Katholizismus zu flüchten. Auch Kierkegaard, obwohl hochgradig verzweifelt, gelang noch die Flucht in die Glaubensgewißheit. Bei ihm ist die Angst noch fest mit der Erbsünde verbunden. Das ist bei uns inzwischen alles weg. Sie können heute das metaphysische Erschrecken vor der Endlichkeit nicht mehr mit einem christlichen Transzendenzversprechen überwinden, und auch mit keinem anderen mehr. Sie können aber, und das ist bei mir der Fall, ein Transzendenzbegehren entwickeln. Das findet zwar keine Erfüllung, ist aber in sittlicher Hinsicht besser, als wenn Sie keins hätten. Es gibt von Pascal den wunderbaren Satz: »Dies verrät äußerste Geistesschwäche, wenn der Mensch nicht erkennt, wie groß sein Elend ohne Gott ist.« Damit hat er nicht die Gottesgewißheit postuliert, sondern nur gesagt: Wenn es Gott nicht gibt und der Mensch darüber nicht erschrickt, ist er geistlos. Dem würde ich zustimmen, denn ich wünschte immer noch, es gäbe Gott, obwohl ich überzeugt bin, daß es ihn nicht gibt.
SCHOCK: Könnte man das nicht metaphysische Ironie nennen?
LANGE: Es ist ein unerfülltes Transzendenzbedürfnis. Ich versuche, der Grauzone der Verzweiflung zu entkommen. Ironie hat dort keinen Platz.
SCHOCK: Man könnte so tun, als gäbe es Gott.
LANGE: Nein, das kann man nicht, das ist naiv. Der Unterschied ist, daß Sie Gott brauchen, aber wissen, daß es ihn nicht gibt. Sie können nicht so tun, als gäbe es ihn, das wäre doch Maskerade. Ich möchte den sehen, der das schafft und damit leben kann.
SCHOCK: Wie gelingt es Ihnen, Ihr Transzendenzbegehren zu stillen? Durch das Schreiben?
LANGE: Ja, der Künstler ist ein Selbstheiler, der seine Empfindlichkeit und Verwundbarkeit ins Ästhetische hebt und sich so ein Erfolgserlebnis verschafft. Mit jeder Sache, die man sich von der Seele schreibt, wird man ein Stück freier. Wobei im Rücken schon wieder die nächste Tür aufgeht und das nächste Gespenst erscheint, das man wegschreiben muß.
SCHOCK: Was ist denn das Erfolgserlebnis des Autors Hartmut Lange?
LANGE: Daß etwas gelungen ist.
SCHOCK: Eine Novelle, ein Satz, ein Gedanke?
LANGE: Nein, die Beschreibung eines Zustands. Wenn ich feststelle, daß ich meine eigene und auch einen Teil der objektiven Wahrheit ins Ästhetische gehoben habe, gibt mir das ein Gefühl der Genugtuung. Kunst kommt von Können, und wenn es einem gelingt, sein Können zu beweisen, hat man ein Erfolgserlebnis. Hinzu kommt der Wunsch zu überdauern. Markus Lüpertz wurde einmal gefragt, warum er male. Er antwortete, daß er in den Köpfen der Menschen drei, vier Sekunden länger zu überleben hoffe. Sartre sagte, er habe keine Angst vor seinem Sterben, aber vor dem Tod der Gattung, da er dann in ihrem Gedächtnis nicht mehr aufgehoben wäre. Der schlimmste Gedanke für mich ist, daß das ganze Bemühen um Transzendenz eines Tages durch veränderte kosmische Bedingungen - sofern man der Astrophysik glauben darf - einfach weggewischt wird.
SCHOCK: Das heißt, vor Ihnen tut sich ein dreifacher Gefahrenhorizont auf: erstens der nihilistische Abgrund, zweitens die Schreibtischkante, mit der Sie ihn verdecken, und drittens das Gefühl, daß beide, Abgrund wie Schreibtisch, zusammen mit der Gattung einmal verschwinden könnten.
LANGE: Dann hätte selbst der Nihilismus keinen Sinn mehr. Der Nihilismus definiert sich ja mittels Affirmation. Man will etwas behalten, schafft es aber nicht. Man sieht, daß es aufgezehrt wird. Wenn wir wissen, daß wir aufgrund sich ändernder kosmischer Bedingungen als Gattung verschwinden, erlischt nicht nur die Sozial-, Subjekt- und Kulturgeschichte, sondern auch das Andenken an die Menschheit überhaupt.
[...]SINN UND FORM 3/2008, S. 329-331
- 3/2009 | Der Mörder meines Bruders
- 5/2010 | Im Museum
- 5/2012 | Die Ewigkeit des Augenblicks
- 2/2016 | Im Banne der Kunst. Leipziger Poetikvorlesung
- 3/2021 | Am Osloer Fjord oder Der Fremde
Lange, Horst
- 3/2011 | Briefwechsel 1945-47
Lange, I. M.
- 2/2013 | Mein Freund Walter Benjamin. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla, S. 175 Leseprobe
Lange, I. M.
MEIN FREUND WALTER BENJAMIN
Vorbemerkung
Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der Promotionszeit in Bern dazu, eine Postkarte an Ernst Bloch, Aufzeichnungen zum Spracherwerb seines Sohnes Stefan, ein umfangreiches Konvolut mit Notizen, Exzerpten und Briefentwürfen aus dem Pariser Exil, die unter Zeitungsausschnitten im Moskauer Sonderarchiv verborgen waren, und manches mehr. Die meisten Entdeckungen verdanken sich der Arbeit an der neuen kritischen Gesamtausgabe und werden dort auch zugänglich gemacht, was nicht heißt, daß ihr Erkenntniswert sich in Philologischem erschöpfte. Im jüngst erschienenen Band »Kritiken und Rezensionen« finden sich mehr als zweihundert Seiten bislang ungedruckter Entwürfe und Fassungen von Besprechungen. Die Dokumentation der Kontexte befreit Benjamins Rezensententätigkeit vom Vorurteil der Brotarbeit und macht sie als eines der Zentren seines Werks begreifbar. Die bevorstehende Edition des Werkkomplexes »Berliner Chronik"/"Berliner Kindheit« rückt die Gedächtnisarbeit, die Benjamin mit seinen Kindheitserinnerungen verfolgte, in ein völlig neues Licht, weil erstmals die Konstruktion des Ganzen zu sehen ist.
Neue Zeugnisse zur Biographie des Schriftstellers sind indes nicht gerade zu erwarten. Es scheint, als sei das, was Freunde und Zeitgenossen über Benjamin erzählen wollten, von diesen selbst publiziert oder mittlerweile annähernd lückenlos aus Nachlässen zutage gefördert worden. Mit beträchtlichem Gewinn: die Erinnerungen an Benjamin halten sein Bild lebendig. Allen voran Gershom Scholems »Geschichte einer Freundschaft « (1975), die große, aus der Sicht des Jerusalemer Freundes geschriebene Biographie, dazu in den sechziger Jahren für den Rundfunk aufgenommene Erzählungen von Ernst Bloch, Theodor W.Adorno, Max Rychner und Jean Selz, ferner Berichte und Erinnerungen von Asja Lacis, Hannah Arendt, Bernard von Brentano, Charlotte Wolff, Gisèle Freund, Adrienne Monnier, Max Aron, Hans Sahl und Lisa Fittko, um nur die wichtigsten zu nennen.
Es mag verblüffen, daß mit dem Text von I.M. Lange Unbekanntes jetzt von einem DDR-Literaturkritiker kommt, einem Mann, der sich gegenseitiger Wertschätzung, ja Freundschaft mit Benjamin rühmt, obwohl sein Name im Benjamin-Zusammenhang bisher nur eine Randnotiz war. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erinnerten sind jedoch rasch zu zerstreuen. Lange weiß aus erster Hand zu erzählen. Sein Blick auf Benjamin ist ungeachtet seiner politischen Borniertheit direkt und unverfälscht.
Johann (Hans) Friedrich Lange, der sich Johann Melchior Lange, I.M. Lange, kurz: I.M.L., nannte, wurde 1891, ein Jahr vor Benjamin, in Berlin geboren. Sein Vater war Goldschmied und handelte mit Immobilien; »man gehörte zum mittleren Bürgertum«, beschrieb der Sohn seine Herkunft, die ihm offenbar Freiheiten gab. I.M. Lange brach die Schule ab und begann eine Ausbildung: zunächst an der Königlichen Bauschule in Dresden, sodann als Volontär einer Potsdamer Buchhandlung, schließlich als Verlagskaufmann. Er machte 1911 in Wismar die Bekanntschaft von Georg Heym und 1914 die von Franz Pfemfert, der 1916 in seiner Zeitschrift »Aktion« unter dem Pseudonym HALA ein expressionistisches Gedicht des mittlerweile im Kriegsdienst stehenden und als Feldbuchhändler eingesetzten Lange publizierte. Bis in die frühen zwanziger Jahre hatte er engeren Kontakt zu Carl Zuckmayer, der in seinen Lebenserinnerungen »Als wär’s ein Stück von mir« erzählte, daß Lange »ganz in der Geisteshaltung der russischen Vorkriegs-Anarchisten« lebte. Ihren Schriften war Lange 1914 in der Königlichen Bibliothek, Unter den Linden, begegnet, wo er in der Musikabteilung volontierte. Zuckmayer hatte Lange als Verkäufer in einer Feldbuchhandlung kennengelernt und war durch ihn auf Bakunin, Alexander Herzen, Kropotkin und Stirner aufmerksam geworden. In dem verschmuddelten Lädchen des hageren Buchhändlers hätten neben vaterländischen Romanen »sämtliche revolutionär gestimmte Broschüren und Zeitschriften dieser Tage« gelegen. Unter den Versen des Freundes gab es Zuckmayer zufolge »manche von merkwürdiger Schönheit«. Lange lebte längere Zeit in Heidelberg und Westfalen, später wieder in Berlin, er arbeitete als Antiquar und Bibliothekar. 1927 erschien sein Gedichtband »Frank und Sebastian«. Zwei Jahre später trat Lange in die KPD ein. Er lehrte am Bauhaus in Dessau und in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH), schrieb unter dem Kürzel iml für die »Rote Fahne« und war Lektor und Korrektor bei Publikationen der Münzenberg-Verlage. In Dessau lernte er 1930 die Bauhausschülerin Annemarie Wimmer kennen, das Paar heiratete 1938; Annemarie Lange schrieb später vielfach aufgelegte kulturhistorische Berlin-Bücher. Während des Krieges war I.M. Lange als Hilfsbibliothekar und Hilfsarbeiter tätig. In der DDR machte er spät noch Karriere im Verlag Volk und Wissen, wo er politisch für die gesamte Schulbuchproduktion verantwortlich war, in der SED-Parteihochschule und am Zentralinstitut für Bibliothekswesen. Er promovierte noch als Sechzigjähriger mit einer Arbeit über die gesellschaftlichen Beziehungen in Fontanes Romanen, gab eine Dokumentation zeitgenössischer Quellen zur Revolution von 1848 heraus, die erste Fontane-Ausgabe bei Aufbau, Bücher von Heine, Hauff und Alexis, er verfaßte Monographien und Kommentare zu Leibniz, Fallada und Thomas Mann, Aufsätze und Rezensionen. 1970 wurde er zum Professor ernannt. I.M. Lange starb 1972 in Berlin.
Den hier erstmals veröffentlichten Auszug aus Langes Memoiren und die Daten zur Biographie des Verfassers stellte Hartmut Pätzke zur Verfügung, dem an dieser Stelle herzlich für den Hinweis auf den teilweise handgeschriebenen Text sowie dessen Transkription und Kollation gedankt sei. Das Manuskript entstand in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, Korrekturvermerke verweisen auf das Jahr 1963. Es umfaßt 500 Seiten und liegt heute in Langes Nachlaß, den die Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt. Lediglich ein Auszug, der Erinnerungen an die Novemberrevolution enthielt, war 1958 in der »Neuen Deutschen Literatur« veröffentlicht worden. Lange war enttäuscht, daß sein Lebensbericht offenbar nicht auf das von ihm erhoffte Interesse stieß. Der für unseren Abdruck gewählte Titel geht auf einen hier nicht gedruckten Satz aus Langes Manuskript zurück, wo es heißt: »ich denke an meinen lieben Freund Walter Benjamin, der in diesem Bericht erst später auftreten wird«. An einer anderen Stelle spricht er von Freunden, die ihn in Heidelberg besuchten, und schreibt, Benjamin sei ihm immer der »werteste« gewesen.
Die Bekanntschaft begann in den frühen zwanziger Jahren, als Benjamin in Heidelberg lebte, Baudelaire übersetzte und eine Zeitschrift mit dem Titel »Angelus novus« herausgeben wollte. Nach Langes Angaben gab es auch in Berlin in den späten zwanziger und vermutlich in den frühen dreißiger Jahren noch Begegnungen. Der einzige unmittelbare Niederschlag der Begegnung bei Benjamin ist dessen Nachfrage in einem Brief an seinen Verleger Richard Weißbach vom 4. September 1923: »Von Lange höre ich nichts. Wissen Sie etwas von ihm?« 1928 besprach Lange Benjamins bei Rowohlt erschienene Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels « in der »Weltbühne«. Die »Einbahnstraße« rühmte er als »Hauptverkehrsader neuern Denkens«, das Buch begründe eine Essayistik, »die in kürzester Weise den Extrakt ihres Stoffes lückenlos darbietet«.
Langes Erinnerungen sind nicht ohne Irrtümer chronologischer und sachlicher Natur: So hat Benjamin erst während des Ersten Weltkrieges Zugang zur Heidelberger Intelligenz gefunden. Der frühe Hölderlin-Aufsatz ist nicht in einer der Jugendschriften vor dem Krieg gedruckt worden. Benjamin publizierte in der Zeitschrift »Der Anfang«, die nicht von Ernst Joël geleitet wurde, nicht aber in dessen »Aufbruch«. Benjamin und Scholem studierten nicht in Zürich, sondern in Bern. Nicht Jonas Fränkel, sondern Richard Herbertz war Benjamins Doktorvater, seine Dissertation widmete sich nicht dem »Problem«, sondern dem »Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, als Habilitationsschrift reichte er selbstverständlich nicht nur die Einleitung seiner Studie »Ursprung des deutschen Trauerspiels« ein, der Moskau-Aufsatz erschien in Bubers Zeitschrift »Die Kreatur«, nicht in der »Sammlung« usw. Es würde zu weit führen, hier weitere Fehler zu korrigieren. All das ist für Lange nicht entscheidend gewesen. Er verfaßte seine Memoiren aus dem Gedächtnis, war sich bei der Namensschreibung und bei manchem Detail nicht sicher und hielt es auch nicht für nötig, sich darüber Gewißheit zu verschaffen – etwa durch Anfrage bei Gershom Scholem, der, als Lange sich an ihn erinnerte, in Jerusalem lebte.
Es kann uns auch nicht um Langes eigenwillige, teils aberwitzige Wertungen gehen – etwa die literarhistorische, Benjamin sei einer der Propagandisten des Expressionismus, oder die charakterliche, Benjamin sei ein »vor lauter Schüchternheit leicht boshaft werdender Mensch« gewesen. Achtet man jedoch auf unbekannte Sachinformationen und Nebentöne, wird man diese Abschnitte aus Langes Memoiren nicht ohne Gewinn lesen. Wie es Benjamin gelang, vom Kriegsdienst befreit zu werden, ist in zahlreichen, teils einander widersprechenden Anekdoten überliefert. In den ersten Augusttagen 1914 will er sich – »keinen Funken Kriegsbegeisterung im Herzen« – mit Freunden aus der Jugendbewegung freiwillig gestellt haben, um unter Gleichgesinnten bleiben zu können. Nach dem Tod seines Freundes Fritz Heinle suchte Benjamin phantasiereich nach Auswegen. Ihm, Bloch, Scholem und vielen anderen half die Flucht in die Schweiz, und dennoch hatte Benjamin immer wieder vor den Musterungsbehörden zu erscheinen. Scholem wußte, daß es Benjamin gelungen war, sich als »Zitterer« zu präsentieren, und so wurde er vom Militärdienst freigestellt. Diese Version berührt sich mit den erst kürzlich zugänglich gewordenen Erinnerungen von Rudolph E.Morris, einem Kommilitonen, der Benjamin vor einer Musterung getroffen und von ihm erfahren haben will, daß er so viel starken Kaffee getrunken hätte, daß die Einberufungsbehörde ihn wegen erhöhter Herzfrequenz zurückgestellt habe. Langes Version kennen wir von Scholem, dem Benjamins Ehefrau Dora anvertraut hatte, daß sie durch Hypnose ischiasähnliche Symptome bei ihm hervorrufen konnte, wobei erst Langes Bericht deutlich macht, daß die Ischiassymptome, über die Benjamin noch monatelang klagte, nicht simuliert waren.
Lange kannte Benjamins Arbeiten: nicht nur die zur Zeit des Umgangs mit ihm zugänglichen wie die Dissertation, den Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«, die Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, die Aufsätze in der »Literarischen Welt«, sondern auch spätere. Prominentes Beispiel sind die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, auf die Lange mit dem Satz hinweist, Benjamin habe Paul Klees »Angelus novus« sogar eine eigene Abhandlung gewidmet (mit dem Titel »Kriegszug« meint Lange Klees Tuschezeichnung »Die Vorführung des Wunders« von 1916, die Benjamin 1920 von Dora zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte). Offenbar war Langes Begegnung mit Benjamin so intensiv gewesen, daß er sich noch nach Jahren an diesen Büchermenschen genau erinnern konnte, an seine Denk- und Schreibweise, seine Art, Gedichte zu sprechen, seine Erfahrungen in Moskau. Manchem ist nachzugehen – etwa der Erwähnung von Alfred Seidel und Karl Hildebrand Silomon, deren Namen im Umkreis Benjamins unbekannt sind, oder dem Hinweis auf die frühe Lektüre der Marx-Schrift »Zur Judenfrage«; sie ist wahrscheinlich, weil 1923 ein Auszug in der »Roten Fahne« für Diskussionen gesorgt hatte (in den Passagenaufzeichnungen zitiert Benjamin die Schrift nach der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe von 1927). Aus dem Abstand von fast vier Jahrzehnten betonte Lange jedoch das Trennende und Fremde. Näher an den Geist Benjamins heranzutreten verbot das ideologische Rüstzeug, das Lange sich auf seinem Weg durch die kommunistischen Institutionen erworben hatte. Er beschreibt Benjamin als einen am Rande der Gesellschaft stehenden Einzelgänger, als einen, der, wie es in einer hier nicht abgedruckten Passage heißt, zu den Kindern gehörte, bei denen der Aufenthalt in einem Landerziehungsheim ein »Trauma der Hochempfindlichkeit« hervorgerufen habe. Seine alte Bewunderung für den Freund gestand Lange nur unter Zögern ein, weil Benjamin in den fünfziger und frühen sechziger Jahren im Umkreis der DDR-Volksbildung kein unverdächtiger Gewährsmann war. So kommt es zu einer ambivalenten Haltung: Lange, der von Benjamin ohne Frage beeindruckt war, hält ihn jetzt auf Distanz. Man hat den Eindruck, der Memoirenschreiber müsse seiner eben erst eingestandenen Bewunderung unverzüglich Einhalt gebieten.
Dafür eignet sich am besten der Gestus des Tadels: Benjamin merkte nicht, »worauf es hinauslief«, er verstand kaum, »was da in Wahrheit vorging«, Menschen wie dieser würden »vor unserer Zeit nicht ganz bestehen«, sie könnten, »was wir wollen, gar nicht begreifen«. Das ist schon etwas heftiger als die in Nachworten zu sogenannten bürgerlichen Texten üblichen Beschwörungsformeln, mit denen Lange Benjamin ebenfalls bedachte: »Er blieb immer ein bürgerlicher Intellektueller, der sich kaum der klassenmäßigen Beschränktheit seines Denkens bewußt war, vielleicht auch, weil er mit dem, was er gelernt und sich erarbeitet hatte, einfach nicht weiter kommen konnte.« Zu Zurechtweisungen dieser Art paßt eine Rüge von Heinrich Mann, der 1934 Benjamins Essay »Der Autor als Produzent« als Ausdruck der »Patzigkeit der kommunistischen Literaten« empfand. Das mag gegenüber Benjamin ungerechtfertigt gewesen sein, für Lange hätte es gestimmt.
Bezeichnend ist ein Fauxpas am Ende des Textes. Lange führt den Bruch der Freundschaft mit Benjamin auf eine Zeit zurück, »in der es sich zu entscheiden galt«. Vielleicht meinte er damit gar nicht die Frage, ob man 1933 in Deutschland bleiben oder ins Exil gehen sollte, auch wenn der anschließende Satz genau das nahelegt: »Und das folgte dann auch bald, Benjamin ging nach Paris.« Beklemmend wird es da, wo Lange dem von den Nazis in den Freitod getriebenen jüdischen Intellektuellen nachsagt, Menschen wie Benjamin würden »höchstens ›zu Besuch‹ einmal bei uns einkehren und niemals ganz seßhaft werden können: einfach, weil ihnen die Möglichkeit, seßhaft zu werden, längst abhanden gekommen ist«. Das war in einem makabren Sinne wahr, Benjamins Besuch würde fortan ausbleiben. Und es mildert die Sache nur wenig, daß Lange derlei wohl eher gedankenlos notierte und dabei zugleich großmütig einräumte, solche Menschen würden »uns niemals feindlich gegenüberstehen«.
Erdmut Wizisla
SINN UND FORM 2/2013, S. 175-179
Lange, Marianne
- 2/1983 | ...aber wir haben gesiegt. Gedanken zu Wilhelm Grinus: Aus den Papieren des Germain Tawordschus
- 4/1984 | Blick zurück vom Tamasberg. Tibor Déry: »Kein Urteil, Memorien«, aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Verlag Volk und Wissen, Berlin, 1983
- 2/1985 | Die Geschichten des Günther Rücker
- 3/1985 | Ein Mensch, Grossgeschrieben
- 4/1986 | Die Lebenserinnerungen der Vera Figner
- 2/1987 | »Wie sehr fehlt sein Ton...«
- 5/1987 | Unsere Träume gingen durch sein Leid
Langhoff, Wolfgang
- 5/1953 | Reden zur Siebzig-Jahr-Feier des Deutschen Theaters am 4. Oktober 1953
- 1/1954 | Die Deutsche Akademie der Künste. Zur Gründung des Ministeriums für Kultur
- 1-2-3/1957 | Stimmen der deutschen Bühne zum Tode Brechts
Lanoux, Armand
- 4/1982 | Maupassant und Flaubert
Lanzmann, Claude
- 4/2009 | Das Wunder der Erinnerung
Laor, Yitzhak
- 5/2017 | Ich habe genug. Gedichte
Lara, Omar
- 2/1977 | Gedichte aus Chile
Lasarew, Lasar
Laschen, Gregor
Lasker-Schüler, Else
- 3/1951 | Gedichte
- 1/2003 | Briefe zur Uraufführung von »Arthur Aronymus und seine Väter« in Zürich 1936
Lataster, Petra
- 2/1986 | Gespräch mit Joris Ivens
Lau, Jerzy
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Laurich, Regina
- 3/1973 | Diskussionen um Plenzdorf
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- 6/2015 | Apropos Lady Chatterleys Liebhaber
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- 5/1951 | Olafur Karason Ljosvikingur
- 5/1953 | Schafsuche
- 3/1954 | Napoleon Bonaparte
- 5/1955 | Das Buch über das Genie. Zu seinem Roman »Weltlicht«
- 6/1955 | Der Hering
- 1/1956 | Temudschin kehrt heim
- 5-6/1956 | New Iceland
- 4/1957 | Die Woluspa auf Hebräisch
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Léautaud, Paul
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Lebedewa, Katja
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Lebrun, Jean-Claude
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Lec, Stanislaw Jerzy
- 5-6/1956 | Gedichte
Ledda, Gavino
- 6/1981 | Die Sprache der Sichel
Leetz, Antje
- 3/1990 | Gespräch mit Ludmila Petruschewskaja
Leetz, Michael
- 6/2016 | »Der erste, der wirklich alles verstanden hat«. Andrej Platonow, der Schriftsteller der Zukunft, S. 790 Leseprobe
Leetz, Michael
»Der erste, der wirklich alles verstanden hat«. Andrej Platonow, der Schriftsteller der Zukunft
Im Dezember 1934 bereitet den Redakteuren des Almanachs »Zwei Fünfjahrpläne« ein Beitrag großes Kopfzerbrechen. Er umfaßt nur wenige Seiten, doch sein Inhalt ist von großer Sprengkraft. Allein der Titel läßt den Text gefährlich erscheinen: »Über die erste sozialistische Tragödie«. Die Sowjetunion befindet sich in ihrem dreizehnten Jahr. Es ist die Zeit des Zweiten Fünfjahrplans, der einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen soll. Die Errichtung der ökonomischen Basis des Sozialismus steht offenbar kurz vor ihrem erfolgreichen Abschluß. Wie kann man angesichts dieser lichten Zukunft von der »Ersten sozialistischen Tragödie« sprechen? Gefährlich ist der Text aber vor allem durch seinen Verfasser, den fünfunddreißigjährigen Schriftsteller Andrej Platonow, der wenige Jahre zuvor als »Klassenfeind« in Verruf geraten war. Er hatte einen Roman geschrieben, »Tschewengur«. Dieser handelt von einer Ortschaft gleichen Namens in der südrussischen Steppe, deren Bewohner ohne technische Hilfe, gleichsam aus der Natur heraus den Kommunismus errichten. Platonow schaffte es, den konterrevolutionären Charakter des Werks zu verschleiern und den Verlag zu täuschen. Fast wäre der Roman erschienen. Die Druckfahnen existierten bereits, doch im letzten Augenblick stoppte die Zensurbehörde die Veröffentlichung. Kurz darauf gelang es dem Autor, die Redakteure einer Literaturzeitschrift zu überlisten. Ihnen jubelte er eine Novelle unter, die er als Diskussions beitrag zur Kollektivierung der Landwirtschaft ausgab. In Wirklichkeit aber propagierte er die Ideologie der Kollektivierungsfeinde, der Kulaken. Die Novelle erschien und der Skandal war perfekt: Stalin tobte. Er beschuldigte nicht nur den Schriftsteller, sondern auch die ahnungslosen Redakteure, »Agenten unserer Feinde« zu sein. Und nun also »Über die erste sozialistische Tragödie« …
Solche Gedanken müssen den Redakteuren von »Zwei Fünfjahrpläne« durch den Kopf gegangen sein, als der Text auf ihrem Schreibtisch lag. Verbürgt ist, daß sie den beunruhigenden Essay in den ersten Januartagen 1935 an Maxim Gorki sandten. Im beigefügten Brief baten sie den obersten Schriftsteller im Staate, zu entscheiden, was mit dem »politisch fremden, philosophisch feindlichen und melancholischen« Text geschehen soll, und auch mit seinem Verfasser.
Heute gilt der damals Verfemte als einer der wichtigsten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Andrej Platonow (1899 –1951) war ein sowjetischer Schriftsteller, der sich dem in der Sowjetunion zur Norm erhobenen »sozialistischen Realismus« nie unterordnete. Künstlerisch ging er eigenständige, neue Wege. Er war ein Sozialist, der aufrichtig an den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft glaubte. Gerade deshalb erfaßte er die inneren Widersprüche des ersten sozialistischen Staates besonders tief. Seine Kritik war so grundsätzlich, daß die meisten seiner Bücher erst während der Perestroika oder nach dem Ende der Sowjetunion in seiner Heimat erscheinen konnten.
Hierzulande ist Platonow heute fast ein Unbekannter. Über zwanzig Jahre liegt die letzte deutsche Veröffentlichung zurück: das 1993 im Verlag Volk und Welt publizierte Romanfragment »Die glückliche Moskwa«. Im Dezember dieses Jahres erscheint bei Suhrkamp sein Roman »Die Baugrube« in einer Neuübersetzung. Es ist an der Zeit, Platonow dem Vergessen zu entreißen. Er ist nicht nur ein Klassiker der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der noch der Entdeckung harrt, von seinem Werk geht auch ein Impuls aus, der hier und jetzt für uns wichtig werden könnte.
»Die Baugrube« nahm bereits 1930 den Zusammenbruch des sowjetischen Systems visionär vorweg. Nach dem erstmaligen Erscheinen des Romans 1987 in der Moskauer Literaturzeitschrift »Nowy mir« (in Frankfurt am Main war er bereits 1969 im russischen Exilperiodikum »Grani« erschienen) sprach der Petersburger Schriftsteller Andrej Bitow von Platonows prophetischer Gabe: »Es ist Sache der Gegenwart, Platonows Texte wiederauferstehen zu lassen, weil er im eigentlichen Sinne ein Schriftsteller der Zukunft ist. Platonow wird sich als ein merkwürdig uneinfacher Schriftsteller erweisen, weil er der erste war, der wirklich alles verstanden hat.«
Dieses Alles-Verstehen weist weit über die sowjetische Epoche hinaus, denn Platonow war auch ein ökologischer Prophet. Bereits in den frühen zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte er sich für die Nutzung erneuerbarer Energien ein, vor allem der Solarkraft. Er war von der Notwendigkeit einer neuen Wirtschaft überzeugt, die die natürlichen Ressourcen schont. Eine ökologische Katastrophe ließe sich nur verhindern, wenn fossile Brennstoffe durch regenerative Energien ersetzt würden und der Mensch ein neues Bewußtsein erlangte, das ihn dazu befähigt, im Einklang mit der Natur zu leben. Platonow hat die gewaltigen ökologischen Probleme, vor denen wir im 21. Jahrhundert stehen, genau vorhergesehen und erstaunlich aktuelle Ansätze zu ihrer Überwindung aufgezeigt.
Sein ökologisches Denken war durch seinen zweiten Beruf, den des Ingenieurs, geprägt: Anfang der zwanziger Jahre organisierte er in Zentralrußland als Elektrotechniker die Elektrifizierung der Landwirtschaft und kämpfte als Meliorator, d. h. als Bewässerungs-Ingenieur, gegen die katastrophale Dürre an, die zum Hungertod von Millionen führte. Er selbst nannte dies den »Kampf gegen die Wüste«. Unter Wüsten verstand Platonow keine natürlichen Landschaften; sie waren für ihn vielmehr das Resultat menschlicher Geschichte, Gräber einst blühender Kulturen, die untergingen, weil sie durch unvernünftiges Wirtschaften ihre Lebensgrundlagen zerstört hatten. Als Meliorator strebte er danach, die der Natur vom Menschen zugefügten Wunden zu heilen, als Leiter der Elektrifizierung suchte er nach neuen Wegen der Energiegewinnung, die den Raubbau an der Natur grundsätzlich beenden sollten. Diese Bestrebungen fielen bei Platonow mit der Verwirklichung des sozialistischen Ideals zusammen. Bereits 1922 schrieb er in seinem Aufsatz »Licht und Sozialismus« über die Nutzung der Sonnenenergie: »Denn das Licht soll die Grundlage der sozialistischen Wirtschaft sein – oder es wird niemals Sozialismus geben, sondern nur eine ›ewige Übergangsepoche'.«
Ein bedeutendes Zeugnis für Platonows ökologisches Denken ist jener hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Essay »Über die erste sozialistische Tragödie« (1934), ein Schlüsseltext nicht nur für Platonows literarisches Werk, sondern auch für das 20. Jahrhundert. Selten zuvor ist so vorausschauend das Problem der Begrenztheit der Ressourcen beschrieben, so deutlich vor der Gefahr einer durch den Menschen verursachten globalen ökologischen Katastrophe gewarnt worden. Platonow unterstreicht, daß die Menschen früherer Jahrhunderte nicht die technischen Möglichkeiten besessen hätten, die Natur bis in ihre tiefsten Tiefen auszubeuten: »Das ist auch gut so, ansonsten hätten die Menschen die gesamte Natur – in der historischen Zeit – längst ausgeplündert, verbraucht, sich an ihr berauscht, sie ausgesogen bis auf die Knochen: An Appetit hätte es nie gemangelt.« Nun aber sei der Mensch mit seiner Technik fähig, ins Innere der Welt einzudringen, ohne allerdings die seelische Reife zu besitzen, mit der Natur verantwortungsvoll umzugehen. »Doch der Mensch ändert sich langsamer, als er die Welt verändert. Genau darin besteht das Zentrum der Tragödie.«
Die »Grenzen des Wachstums«, die der Club of Rome 1972 benannte, hatte der Schriftsteller bereits vierzig Jahre zuvor erkannt.
[...]SINN UND FORM 6/2016, S. 790-799, hier S. 790-792
Leggewie, Claus
- 1/1992 | Zurück aus Sowjetrussland? Die Reiseberichte der radikalen Touristen André Gide und Lion Feuchtwanger 1936/37
- 5/2016 | Neue Briefe aus Paris. Eine Wende im literarisch-politischen Grenzverkehr, S. 26 Leseprobe
Leggewie, Claus
Neue Briefe aus Paris. Eine Wende im literarisch-politischen Grenzverkehr
Für Rupert Neudeck,
den Frankreichkenner und Menschenretter
(1939 – 2016)Das Schmettern des gallischen Hahns
Frankreich zieht deutsche Kulturschaffende seit der Revolution von 1789 in seinen Bann. Zu den Frankophilen des »Jungen Deutschland«, einer Kongregation freiheitsliebender Literaten im Vormärz, zählte Carl Ludwig Börne, 1786 als Juda Löb Baruch in der Frankfurter Judengasse (am heutigen Börneplatz) geboren und 1837 in Paris gestorben. Aus dem Exil schrieb er seiner Muse Jeanette Wahl »Briefe aus Paris«, deren zweiter (von insgesamt 115) vom 7. September 1830 für den Sound zeitgenössischer Frankreichbegeisterung stehen mag. Schon der Grenzübertritt löst bei ihm Verzückung aus: »Die erste französische Kokarde sah ich an dem Hute eines Bauers, der, von Straßburg kommend, in Kehl an mir vorüberging. Mich entzückte der Anblick. Es erschien mir wie ein kleiner Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes. Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte – ganz unbeschreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern. (…) Die Fahne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft. Fragen Sie doch den ersten besten Legationssekretär, ob das nicht gegen das Völkerrecht sei. Es war nur der rote Farbenstreif der Fahne, der in unser Mutterland hineinflatterte. (…) Gott! könnte ich doch auch einmal unter dieser Fahne streiten, nur einen einzigen Tag mit roter Dinte schreiben, wie gern wollte ich meine gesammelten Schriften verbrennen, und selbst den unschuldigen achten Teil von ihnen, der noch im Mutterschoße meiner Phantasie ruht!«
Börne trifft am 16. September 1830 in Paris ein, mit ihm halten sich rund siebentausend deutsche Exilanten an der Seine auf. Er flaniert, besucht Kaffeehäuser, die Oper und das Vaudeville, den Jardin des Plantes und stürzt sich »jubelnd in das frische Wellengewühl«. Solche Euphorie ist mittlerweile nur noch schwer vorstellbar. Börne, der heute als Erfinder des politischen Journalismus gilt, wurde 1808 in Gießen zum Doktor der Philosophie promoviert und lebte eine exemplarische Existenz, ihm ging es um"die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Publikum, die Information der Öffentlichkeit durch eine allgemeinverständliche Darstellung von Ideen, das Zusammenführen der verschiedenen Lebenskreise« (Willi Jasper). Diese Tätigkeitsbeschreibung nimmt recht genau die Aufgaben vorweg, denen sich Ende des 19. Jahrhunderts »les intellectuels « stellen sollten und die von Paris aus für ganz Europa stilbildend wurden.
Von Börne und Heine, um nur einen Compagnon und Widersacher zu nennen, führt eine lange Spur zu teilweise schon vergessenen Deutschen, die aus dem französischen Geist Inspiration und Courage bezogen. Jean-Paul Sartre und Albert Camus werden seit den vierziger Jahren breit rezipiert, ebenso wie um 1968 die Nouvelle Gauche und in den Siebzigern die »Franzosentheorie« von Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault, auch die »Neuen Philosophen« um André Glucksmann und Bernard Henri-Lévy. Zu erwähnen sind aber auch Friedrich Sieburg, konservativer Kulturkorrespondent der »Frankfurter Allgemeinen« in Paris, oder Armin Mohler, der Doyen der Konservativen Revolution, der für diverse Tages- und Wochenzeitungen aus der französischen Hauptstadt berichtete.
Vielen Generationen war Paris vor allem ein Leuchtturm der sozialen Emanzipation: »Wenn alle Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns«, prophezeite Karl Marx im Januar 1844 von Paris aus den Deutschen, die ihre bürgerliche Revolution verpaßt hatten und nun gleich in die sozialistische Gesellschaft springen sollten. Die Pariser Kommune von 1871 nährte noch einmal die Hoffnungen der radikalen Linken, und bis heute erwarten sich Unbeirrbare ein neues Fanal aus Frankreich, wenn die Bewegung der »Nuit debout« die Nacht über aufrecht steht und Gewerkschaften gegen die französische Agenda 2010 mobil machen. Eines jedenfalls galt lange als ausgemacht: Der (französische) Geist steht links.
Energischsein
In Frankreich können freilich auch Republikaner den Aristokraten geben. Männer (und Frauen) der Linken pflegen Marotten und Spleens, die sie vom einfachen Volk abheben, ganz selbstverständlich benehmen sie sich als Angehörige der Elite. Dazu gehört finanzielle Unabhängigkeit – eine Erbschaft, ein Familienbetrieb oder eine Apanage im Hintergrund, Tantiemen aus der Schriftstellerei. Man spricht ein etwas altmodisches Französisch, unverdorben vom plebejischen oder migrantischen Patois, aber nicht ohne drastisches Vokabular und stets etwas pathosschwanger. Eine katholische Erziehung stört ebensowenig wie Freimaurerei, man bedient sich toter Sprachen und bissiger Aperçus. Und kann im Alter von Abenteuerreisen in koloniale Gebiete berichten, deren Verlust milde bedauert wird.
Um derlei rechts zu überholen und sich wahrhaft Elite nennen zu können, muß man schon Monarchist sein, die Ermordung Ludwigs XVI. unter der Guillotine als Urkatastrophe des modernen Frankreich ansehen, die Messe auf Latein hören, eventuell okkulten und esoterischen Neigungen frönen. Und offen reaktionär sein, die Revolution für einen welthistorischen Fehler und Maréchal Pétain, der mit Hitler kollaborierte, für eine honorige Person halten. Mit der Familie Le Pen, die dem Front National in quasi-dynastischer Erbfolge vorsteht, macht man sich nicht direkt gemein, liefert aber der rachgierigen Bourgeoisie die Stichworte und verachtet den Plebs, der früher der KP, nun Le Pen folgt, als auswechselbare Masse.
Als Inkarnation dieses état d’âme, einer Seelenlage zwischen Dandytum, Rebellion und Melancholie, darf der über neunzigjährige Schriftsteller Jean Raspail gelten. Die meisten Deutschen kennen den Mann nicht, dem die FAZ schwärmerische Elogen widmet und jüngst einen Abgesandten in die Pariser Wohnung, selbstverständlich Rive droite, schickte, zum »letzten ausführlichen Gespräch (…), das der reaktionäre Einzelgänger der Öffentlichkeit zu geben gedenkt« (6. April 2016). Das Resümee war der Sektion »Geisteswissenschaften« fast eine ganze Seite wert.
Die Homestory war eine Art Kassiber an Raspails anschwellende Lesergemeinde in Deutschland. Drei Werke sind soeben zum Teil neu übersetzt erschienen, zwei davon im Verlag Antaios, dem nach Ernst Jüngers Zeitschrift benannten Verlag im Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt, einer Kaderschmiede der »Alternative für Deutschland« und der Pegida-Bewegung. Deren Ambitionen ließen sich gut in eine markige Losung Jean Raspails fassen: »Gewalt ist nicht zwangsläufig ein Töten, sondern zunächst eine Attitüde eminenten Energischseins.« Das klingt nach Aufruhr und Rebellion, aber sicher nicht nach links. Exakt solche jüngerhaften Sätze festigen Raspails Status als »Kultautor« der völkisch-autoritären Rechten. Nicht daß man ihn gegen seine Liebhaber diesseits und jenseits des Rheins verteidigen müßte (er macht seinem Image als »archéo-réac« alle Ehre), aber versuchen wir zunächst, seinem früheren Werk gerecht zu werden.
Für Kindheit und Jugend des 1925 geborenen Autors trifft grosso modo zu, was über ähnliche Geistesaristokraten schon gesagt wurde: Abkunft von einem Militärattaché und Bergwerksdirektor aus einer lupenrein französischen Familie, katholische Gymnasien, eine gewisse Sympathie für Deutsche in Uniform (1935 an der besetzten Saar und 1940 im okkupierten Frankreich), Antipathie gegen ein Amerika, das Frankreich 1945 von ihnen befreit. Raspail pflegt seine Gattin zu siezen (die Burschen vom Rittergut tun es ihm nach) und blickt auf ein aufregendes Leben als Freigeist und Abenteurer zurück. Zwischen 1952 und 1972 legte er ein Dutzend Reiseberichte über selbstorganisierte Expeditionen vor: 4500 Kilometer mit dem Kanu durch »Französisch-Nordamerika«, von Québec bis New Orleans, diverse Reisen ums Kap Hoorn, im Auto durch Alaska, auf den Spuren der Inka und Abstecher zu den Ureinwohnern Patagoniens, Raspails Arkadien an der Südspitze Lateinamerikas. Damals entdeckte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die traurigen Tropen, deren Völker im Strudel der Modernisierung untergehen; Raspail übertrug deren Schicksal auf den in seinen Augen unaufhaltsamen Niedergang der Franzosen: »reif für den finalen Schlag«.
Reif für den Knockout, diese Art von Niedergang ist Thema des ersten großen Romans, auf den Raspail selbst den Beginn seiner Karriere datiert: »Le Camp des Saints«, zu deutsch »Das Heerlager der Heiligen«. Er erschien 1973 im renommierten Pariser Verlag Robert Laffont, erlebte bis 2013 mehrere Neuauflagen und Übersetzungen in diverse Sprachen und soll in Frankreich bis zu 200 000 Mal verkauft worden sein. Der fromme Titel geht auf Abschnitt 20/7 in der Johannes-Offenbarung zum Tausendjährigen Reich zurück: »Und wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan losgelassen werden aus seinem Gefängnisse, und er wird ausgehen und verführen die Völker in den vier Ecken der Erde, und er wird sie versammeln zum Streite, deren Zahl ist wie der Sand des Meeres. Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie.«
Diese »Apokalypse nach Jean« ist die dramatische Geschichte einer Masseninvasion elender und hungernder Inder, die zu Hunderttausenden am Ganges aufbrechen und nach vierzigtägiger Fahrt über die Weltmeere mit ihren abgetakelten Schiffen an der Côte d’Azur landen. Eine »Armada der letzten Chance« nennt ein französischer Starjournalist die Flotte, und es fehlt nicht an anspielungsreichen Bekundungen der Solidarität. Im Pariser Mai wurde gegen die von de Gaulle und der KPF erwirkte (und klar judenfeindliche) Ausweisung von Daniel Cohn-Bendit der kosmopolitische Slogan »Wir sind alle deutsche Juden!« angestimmt, analog erschallt der anreisenden Schar multikulturell entgegen: »Wir sind alle Menschen vom Ganges!« Deren Reise auf hundert überfüllten Schiffen verfolgt der Roman in Rückblenden und prangert die Verblendung derjenigen an, die sich der Invasion nicht entgegenstemmen (wie es die Regierungen von Australien, Ägypten und Südafrika tun). Im Mittelmeer zunächst voller Mitleid empfangen, werden sich die Menschen vom Ganges dafür nicht erkenntlich zeigen, sondern Frankreich fast widerstandslos übernehmen.
Diese Eroberung durch schiere Zahl spielt sich, in klassischer Einheit von Zeit, Ort und Handlung, zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt (sagen wir: heute) rund um ein Osterfest ab und enthält wunderbar bösartige Beobachtungen über das Gemunkel und Geplapper von Menschen in Notsituationen, mit denen sie nicht gerechnet haben und die sie sich schönreden: Das sind die Opportunisten an der Staatsspitze, das ist die intellektuelle Schickeria, das sind namentlich kirchliche Würdenträger unter einem Papst namens Benedikt XVI. (1973!), der eher dem Nachfolger Franziskus gleicht. Den Klerus nimmt Raspail besonders aufs Korn, auch die linksliberale Presse (deutlich erkennbar ist als Vorbild die Wochenzeitung »Le Nouvel Observateur«), die sich zu beweisen bemüht, »wie sehr die Menschen vom Ganges schon immer unsere Kultur bereichert haben«.
»Mitleid!« bricht es aus einem Protagonisten heraus. »Immer dieses erbärmliche, widerliche, hassenswerte Mitleid. Ich weiß, Sie nennen es Nächstenliebe, Solidarität, Weltgewissen und so weiter. (…) Bedenken Sie doch die Konsequenzen Ihres allzu willfährigen Mitleids! Das ist doch geradezu kriminell! Nur ein Wahnsinniger oder ein Verzweifelter kann so blind sein wie Sie!« Ungerührt lassen (ausgeschriebene) »zweiunddreißigtausendsiebenhundertzweiundvierzig Lehrer« ihre Schüler Aufsätze schreiben, wie man die Fremdlinge willkommen heißen kann … Natürlich geht die Sache schief: »Das Tier«, wie die Million Inder bei Raspail heißen, wird eine einstmals blühende, aber moralisch verrottete Zivilisation vandalisieren. Sie kopulieren wild und vergewaltigen, es kommt zu Plünderungen, die Gefängnisse werden geöffnet, der Präsident ruft den Kriegszustand aus. Doch seine Armee will nicht schießen, die stolzen Fregatten und Flugzeugträger der Grande Nation im Mittelmeer bleiben stumm. Die Franzosen machen sich feige aus dem Staub und hauen in die Schweiz ab, die dann als nächste überrannt wird. Nur eine kleine Gruppe von Desperados stellt sich dem Desaster entgegen, doch die Auflösung von allem, was Frankreichs Zivilisation einmal ausgemacht hat, können sie nicht abwenden. So ungefähr geht der Untergang des Abendlands.
[…]
SINN UND FORM 5/2016, S. 639-654, hier S. 639-643
- 1/2020 | Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington, S. 26 Leseprobe
Leggewie, Claus
Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington
»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der hohen Schule von Salamanca, Bulldozer, Planierungsmaschinen, Höhlenbohrer, Verstecke für die Angst, Unterstände für die Torheit, die alten Weinberge den Göttern und den Heiligen und dem Umsatz geweiht, das deutsche Vorfeld, die germanische Mitte, des Erdteils gebrochenes Herz, Maginots wiedererstandene Illusionen, die Kolonien der Feldoffiziere und Sergeanten mit dem Indianergesicht, Nachbarschaft und Isolierung, die Main Street mitgebracht …«
Was für ein Eröffnungssatz! Der sich dann im gleichbleibenden Stakkato über zwei weitere Seiten erstreckt und, noch ganz unter dem Eindruck eines amerikanisch besetzten und beglückten Landes, den Bericht von einer Reise durch das Land der »Weltherrschaftsaspiranten« und des »guten Gelds des Marshallplans« einleitet. Liest man Wolfgang Koeppens »Amerikafahrt« von 1959 heute wieder, bekommt man ein Bewußtsein für den Anfang und das Ende des Vorbilds, das »Amerika« nicht nur in unseren Breiten darstellte.
Genau deswegen gestattete ich mir das Vergnügen, das vor sechzig Jahren im Henry Goverts Verlag erschienene Buch zum Cicerone einer neuerlichen Reise durch die Vereinigten Staaten zu machen, wo ich im Unterschied zu Koeppen einige Jahre leben und arbeiten durfte. Manhattan war der Sehnsuchtsort des Schriftstellers, bei dem bis heute vor allem die spätere Schreibhemmung und das nicht erschienene Werk herausgestellt werden – ein Werk, dessen Gesamtausgabe nun freilich nicht weniger als sechzehn Bände umfaßt. Amerika, das Koeppen dreimal besuchte, wobei er vor allem New York mit Reiseberichten bedachte, war nicht sein einziges Ziel, zuvor hatte er von Spanien, Frankreich und Rußland erzählt, und diese literarischen Reportagen wurden zu seiner Haupteinnahmequelle. Der Schriftstellerfreund Alfred Andersch leitete damals das Abendstudio des Süddeutschen Rundfunks, der die Reise mit Unterstützung durch das State Department finanzierte.
Und dem Autor alle Freiheiten ließ. Im Fall Koeppens war das die eingangs zitierte assoziative Parataxe und Montage, deren Eigentümlichkeit einen Rezensenten wie den Schriftsteller Helmut Heißenbüttel zu dem Urteil brachte, man wolle sie wohl lieber hören als lesen. Amerika war für Koeppen ein Experimentierfeld der literarischen Moderne, deren Koryphäen er in seinen frühen BRD-Romanen meisterhaft imitiert hatte, bis hin zu dem von Gertrude Stein entlehnten Titel »Tauben im Gras«. So kam Amerika »schon zu Koeppen, bevor er nach Amerika gehen konnte«, schreibt Michael Kimmage, der Übersetzer der erst 2012 erschienenen Übertragung ins amerikanische Englisch. Koeppens eigentlicher Guide war allerdings Karl Roßmann aus Kafkas Roman »Amerika«.
Der 1906 in Greifswald geborene Romancier war kein Bewunderer der Vereinigten Staaten. Er steckte tief im Erfahrungsraum zweier Weltkriegskatastrophen und im Erwartungshorizont einer atomaren Konfrontation zwischen den Supermächten, die er gleich zu Beginn aufruft. Koeppen schaut weder auf die USA herab, wie viele seiner Generation, noch bewundert er sie, wie viele meiner und späterer Generationen. »Hier war ich Europäer, und ich wollte es bleiben.« Stereotypen und Platitüden finden sich selten beziehungsweise genau da, wo sie hingehören, wo das Land seinen Besuchern nämlich aus Film & Fernsehen ohnehin stets bekannt vorkommt. (Ein europäischer Schriftsteller bekundete mir während seines USA-Stipendiums in den neunziger Jahren seine Langweile: »Das kenn ich eh schon alles.«)
Koeppen war im April 1958 per Schiff angereist und in New York an Land gegangen. Von dort reiste er mit dem Zug nach Washington D. C. und New Orleans, mit dem Greyhound-Bus weiter durch Texas und Arizona, mit der Santa-Fe-Bahn nach Los Angeles, von dort nach San Francisco und über Salt Lake City nach Chicago und Boston. Von New York trat er im Juni den Rückflug nach Europa an. Gute zwei Monate sind länger als das berüchtigte »Europe in ten days«, das dollarschwere US-Bürger damals absolvierten, aber doch sehr knapp bemessen für etwas, das mehr als eine Tour d’horizon sein sollte. Die freilich lieferte Koeppen als luzider Beobachter, ob und gegebenenfalls mit wem er sich unterhalten hat, notiert er kaum. Mal war er amüsiert über Kindsköpfiges, mal schockiert über die strikte, kaum durchbrochene Rassentrennung, gelegentlich animiert durch Striptease und Sex und stets voller Bewunderung für US-Autoren. Die Diagnose des Soziologen David Riesman, Amerika bilde eine »einsame Masse« und kenne das aus Europa bekannte Kollektivhandeln nicht, formulierte Koeppen so: »Kein Land der Masse, ein Land der Einsamkeit.« Und einsam wollte er ja auch auf Reisen sein, sich wenigstens so stilisieren zwischen Katastrophenfurcht und Selbstentfremdungslust.
Koeppen tat gut daran, ganz Amerika zu durchreisen und es nicht bei Manhattan oder Berkeley zu belassen. Damals regierte Dwight D. Eisenhower im Weißen Haus, jener General, der die Deutschen erst besiegt und dann in die westliche Allianz aufgenommen hatte, um den Preis dauerhafter Teilung und periodischer Berlin-Krisen. Koeppen schrieb vor der Konsolidierung dieser Asymmetrie zur (niemals harmonischen) »Deutsch-Amerikanischen Freundschaft« und der Routine transatlantischer Lobby Groups. Washington erlebte er noch als hitzeschwüle, fast idyllische SüdstaatenCity, deren Hotels er sich dennoch nicht leisten konnte. Der Aufstieg von Senator John F. Kennedy aus Massachusetts stand noch bevor, ebenso das Free Speech Movement an der Universität von Berkeley, der er einen Besuch abstattete. Mit Jack Kerouac wußte er etwas anzufangen, aber nicht mit den Protesten gegen den Vietnamkrieg, die bei Teilen meiner Generation eine Haßliebe zu den USA erzeugten.
Ganz anders ist heute das Verhältnis zur rivalisierenden Großmacht: Mittlerweile ist eher von einer »collusion«, einer unappetitlichen Verquickung von Geschäftsinteressen des amtierenden Präsidenten Donald Trump mit Putins Oligarchen und versuchter Wahlmanipulation aus Moskau die Rede. Zur Zeit darf man aus europäischer Sicht beide Ex-Schutzmächte als trollartige Akteure wahrnehmen, die der EU schweren Schaden zufügen. Eine kämpferische Restrivalität zeigt sich nur, wenn der Straßenabschnitt vor der russischen Botschaft in Washington »Boris Nemtzov Plaza« getauft wird, in Erinnerung an den vor dem Kreml heimtückisch ermordeten Oppositionellen. Und der amerikanische Freiheitsdrang ist noch vital im (gescheiterten) Bemühen, die New Hampshire Avenue vor der saudischen Botschaft »Jamal Khashoggi Way« zu nennen, um das Bekenntnis der USA zur Pressefreiheit zu unterstreichen.
Von Koeppen ließ ich mich zu einer Konferenz in die Georgetown University begleiten, die »alte Jesuitenuniversität«, deren Umgebung vom »Negerslum« zum Viertel der »Diplomaten, Staatssekretäre, Stars des Journalismus« avanciert war (die mittlerweile auch weitergezogen sind). Schülerinnen und Schüler, so war ihm aufgefallen, standen »in nach Rassen getrennten Gruppen beisammen, doch ein blonder Junge interessierte sich lebhaft für eine dunkle Schönheit; ich verstand seine Begeisterung, ich fühlte mit ihm, und ich fragte Amerikaner, wie in diesem Fall die Aussichten der Liebe seien, der Liebe auf dem Schulweg, und die Amerikaner wußten es nicht zu sagen …« Diese Passage wäre heute nicht nur politisch inkorrekt, weil über racial relations (die noch so heißen dürfen) in dieser Weise nachgedacht wird (und Koeppen ungeniert das N-Wort benutzt). Aber auch die »Rassenbeziehungen« haben sich gewandelt. Als ich den GeorgetownCampus überquerte, riefen gemischte Gruppen die Kommilitonen auf, sich an einer Wiedergutmachungsaktion für die Nachfahren jener 272 Sklaven zu beteiligen, die 1838 verkauft worden waren, um die bankrotte Uni zu retten. Offenbar ist deren Genealogie noch nachvollziehbar, und so sollen Nachgeborene aller Hautfarben ihnen einen Obolus leisten. Das nicht bindende Referendum fand eine überwältigende Zustimmung. Reparationszahlungen für die Leiden und Langfristfolgen der Sklaverei sind ein häufiges, auch von den meisten demokratischen Präsidentschaftsbewerbern aufgegriffenes Thema – das die Nation immer noch spaltet.
Viel hat sich seit 1959 verändert, manches blieb. Die Mehrheit der Washingtonians ist immer noch schwarz, aber es ist eine potente schwarze Mittelschicht entstanden – und Barack Obama hat zwei Amtszeiten regiert. Dennoch ist die Neigung der Weißen, bestimmte Viertel zu besuchen, weiterhin begrenzt. Ich erinnere mich an meinen ersten Aufenthalt in D. C., als mich ein Polizeifahrzeug flankierte und die Cops mich besorgt fragten, ob ich hier wirklich weiter spazierengehen wolle. (Sie fuhren weiter, so daß mir gar nichts anderes übrigblieb, den Spaziergang habe ich unbeschadet überstanden.) Ein paar Jahre später wollten wir zur informellen Amtseinführung Bill Clintons, der sie aus Dankbarkeit für die Stimmen der Afroamerikaner an die berüchtigte Ecke von Georgia und Florida Street verlegt hatte – der indische Taxifahrer fuhr erst los, als wir ihm nachdrücklich versichern konnten, der Präsident höchstpersönlich werde dort sein. Mittlerweile hat die Gentrifizierung auch die Schwarzen Viertel östlich der 16th Street ergriffen. Die Gegend um Howard University wird von wohlhabenden Schwarzen bewohnt und hat das hippste Nachtleben, aber die ärmeren sind in andere Viertel abgedrängt worden. Weiterhin gibt es gute Gründe für die Proteste von »Black Lives Matter«, aber endlich findet man auf Washingtons Museumsmeile auch ein Museum für afroamerikanische Geschichte und Kultur.
Koeppen interessierte sich nicht sonderlich für amerikanische Innenpolitik. Er mokierte sich über die Washingtoner Wichtigtuer, ging aber fast ehrfürchtig ins Capitol, den Sitz des Kongresses, und wohnte einer Debatte zum Arbeitsrecht bei. Aus der Perspektive des Bonner »Treibhauses« war das die hohe Schule der Politik. Ins Capitol kann man, nach eher schlampiger Leibesvisitation, immer noch hinein, um Ausschußsitzungen zu lauschen, aber der Kongreß achtet nicht länger auf parlamentarische Regeln und menschlichen Anstand, sucht längst nicht mehr parteiübergreifend den Kompromiß. Die Südstaaten-Demokraten waren damals rechts von der »Grand Old Party« angesiedelt, seit Jahrzehnten hat sich das Koordinatensystem gedreht und die Republikaner haben die niedrigsten Instinkte der Politik freigesetzt. Wie Trump eine über Jahrzehnte gewachsene Gewaltenteilung demontiert und die Demokratie aufs Spiel setzt, ist wohl die größte Veränderung (und Enttäuschung) seit 1959.
Auf Koeppens Spuren wollte ich noch in die Library of Congress, doch ein privates Event sperrte die Wißbegierigen aus dem »Hohen Tempel des Alphabetentums« aus. Kein Betteln und Flehen verschaffte ihnen Zugang in die »ideale Bücherei«, wo mittlerweile elektronisch ausgeliehen wird und die Lesesäle vom Klappern der Laptops erfüllt sind. Auch das White House, das Koeppen mit »Schulen, Schulen, Schulen« besuchte, war weiträumig abgesperrt: Staatsbesuch des ägyptischen Militärdiktators Abdel Fattah El-Sisi, den Trump später ungebührlich rühmte, genau wie Bolsonaro, Duterte und andere Autokraten. Der Washington Post war dann zu entnehmen, daß der Präsident die Chefin der »Homeland Security«, die ohnehin schon schärfste Kontrollen der Grenzen und die Vertreibung von Illegalen vorantrieb, an die Luft setzte. Die Abschottung gegen Immigration, obgleich keine Neuigkeit in der US-Geschichte, hat sich seit den fünfziger Jahren gravierend verstärkt.
Die Grand Tour des 20. Jahrhunderts führte nach Amerika. Gilbert K. Chesterton hat einmal gewitzelt, von jedem, der über den großen Teich fahre, werde ein Buch erwartet. Und so war es auch in Deutschland – jedes Jahr erschien mindestens ein »großes Amerika-Buch«, das Bewunderung, Abneigung oder Grundaussage meist schon im Titel verriet. Koeppens Radioreportage hieß »Die Früchte Europas. Amerika westwärts – Amerika ostwärts«. Diese eurozentrische Sicht, wonach die Alte Welt von Amerika etwas zu lernen, sich vor ihm zu fürchten oder es zu übertrumpfen habe, haben kommentierte Editionen auch bei Koeppen diagnostiziert. Zu seiner Zeit ging die kulturelle Amerikanisierung erst richtig in die Breite. Immer noch wird »amerikanische Kultur«, neuerdings in Form von Serien, Streaming-Angeboten und Plattformen aus dem Silicon Valley, reichlich rezipiert, Anlässe für große Reiseberichte sehen aber eigentlich nur noch heimkehrende TV-Korrespondenten, die persönlich Bilanz ziehen wollen. Das transatlantische Politikgeschäft ist zur Selbstbeschäftigung verkommen, für Work & Travel nach dem Abi sind eher Australien oder Bali angesagt, das wechselseitige Desinteresse wächst rapide. Der Kontrast zwischen der weißen Suprematie im Süden und der gelebten Multikulturalität an der Westküste sollte, wie Koeppen damals meinte, aufgehoben werden im Kosmopolitismus der Vereinten Nationen, deren Gebäude am East River er vor dem Abflug seine Reverenz erwies. Das war, dreizehn Jahre nach Kriegsende, sicher auch als Aufforderung an die Deutschen zu verstehen. Und das ist sie heute für die ganze »westliche Welt«, die sich damals zur Lebensform entwickelte und gerade zum Auslaufmodell wird.
SINN UND FORM 1/2020, S. 123-127
Legler, Freymuth
- 5/1985 | Gedichte aus der DDR
Legro, Michelle
- 6/2014 | Eine Reise nach Japan in sechzehn
Minuten. Sadakichi Hartmann und sein Kunstwerk der Düfte, S. 738 Leseprobe
Legro, Michelle
Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten. Sadakichi Hartmann und sein Kunstwerk der Düfte
Ezra Pound, Dichter im Exil, geistig verwirrter Faschist und unverdrossener Träumer, befand sich in der produktiven Phase eines Nervenzusammenbruchs, als er 1945 wegen Hochverrats verhaftet und in einem amerikanischen Lager nördlich von Pisa interniert wurde. Fast den ganzen Tag über in einen Käfig von zwei mal zwei Metern gesperrt – das von der Hitze ausgedörrte Gras hatte er im ruhelosen Auf- und Abgehen niedergetreten –, wurde Pound nach einem psychiatrischen Gutachten in ein Offizierszelt verlegt und begann das Pisa- Kapitel seiner »Cantos« zu schreiben, ein episches Gedicht über Leben und Leiden der Boheme, über politische Fehlschläge und odysseisches Suchen. Der Canto birgt eine lange Liste von Menschen, die er in seiner Jugend in New York City gekannt und bewundert hatte, Künstler wie er, die im Krieg einen Großteil ihres Verstandes verloren, aber irgendwie überlebt hatten, nur um zu erfahren, daß ihre Kunst vor ihnen gestorben war. Er nannte diese Leute »die verlorene Legion«, ihr Schutzheiliger war ein Schriftsteller, den er vor Jahren aus den Augen verloren hatte. Im Canto 80 schrieb er:
Und wegen der Verschrobenheiten unseres Freundes Mr. Hartmann,
Sadakichi, ein paar mehr von dem Schlag,
Wenn so was auszudenken wär, hätten das Leben
Manhattans bereichert
Oder jeder andren Stadt und Metropole
Seine frühen Sachen sind wahrscheinlich verloren
Mitsamt den kurzlebigen ZeitschriftenPound war von seinem großen Werk besessen und verwarf eine Version nach der anderen. Im Canto, der auch die Erinnerung an Sadakichi enthält, gestand er etwas ein, das alle Künstler verfolgt: »Schönheit ist schwer.«
Ungefähr zeitgleich mit Pounds Gefangenschaft wartete der Kritiker und Dichter Sadakichi Hartmann völlig verarmt und depressiv in seinem eigenen inoffiziellen Internierungslager im Reservat der Morongo-Indianer im kalifornischen Banning auf das Ende des Krieges. Sein kleines, schindelgedecktes, verstaubtes Haus stand auf halbem Wege zwischen Los Angeles und Palm Springs, wo Filmstars auf dem Freeway vorbeifuhren, um ein kurzes Wochenende unter dem Sonnenschirm zu verbringen und dann, nach Chlor riechend, zu den Dreharbeiten zurückzukehren. Sadakichi war sechzig, und man konnte kaum noch den gutaussehenden jungen Mann erahnen, der er einst gewesen war, Liebling der Kritiker in Greenwich Village, Geistesverwandter Ezra Pounds, der von ihm entzückt war, als sie einander Anfang des Jahrhunderts zu schreiben begannen. Sadakichi verbrachte seinen Lebensabend alkoholabhängig und kränklich im selbstauferlegten Exil, zunächst abseits von den Freunden in New York, dann von denen in Los Angeles. Er hatte es sich mit fast allen Bekannten verdorben. Sein Trinkkumpan, der Schauspieler John Barrymore, bezeichnete ihn als »eine lebende Mißgeburt ... gezeugt von Mephistopheles mit Madame Butterfly«. Am äußersten Rand seiner Wahlheimat Amerika war Sadakichi nur einen Ozean weit von der Vollendung seines Lebenskreises entfernt. Die Lichter seines Geburtslandes Japan meinte man jenseits des Pacific Coast Highway fast blinken zu sehen. Er hatte nur einmal dorthin zu reisen versucht, vierzig Jahre zuvor, bei einem der verhängnisvollsten und demütigendsten Auftritte seines Lebens. Jahrelang ging ihm ein Duft nicht aus dem Sinn – eher die Idee eines Duftes, ein leiser Hauch, der sich in der kühlen Nachtluft verflüchtigt. Dieser ließ Kontinente zusammenschmelzen und erlaubte ihm, wie ein über Eis schlitternder Schädel unermeßliche Ozeane zu überqueren. Er nannte diesen Duft sein »Parfümkonzert«, die reinste ästhetische Erfahrung in seinem der Ästhetik gewidmeten Leben. Und dieser Duft trug ihn nach Hause.
Wenn Schönheit schwer war, dann wollte Sadakichi Hartmann wahrhaftig sein ganzes Leben der Schönheit widmen und in ihrer Schwierigkeit schwelgen. Carl Sadakichi Hartmann, Sohn eines Hamburgers und einer Bewohnerin Nagasakis, kam um 1867 auf der kleinen Insel Dejima zur Welt, dem einzigen Ort in Nagasaki, wo Ausländer willkommen waren. Bis zur Meiji-Restauration war Japan fast gänzlich für westliche Besucher gesperrt. Frauen aus dem Kaufmannsstand durften auf der Insel arbeiten. Einige erhielten Stellungen bei ausländischen Beamten, zunächst als Dienerinnen, später oft als Geliebte. Eine dieser Frauen war Sadakichis Mutter Osada, die den deutschen Beamten Oscar Hartmann heiratete und bald darauf zwei Söhne gebar. Sie starb vor seinem ersten Geburtstag. Der Junge war von der Vorstellung dieser Unbekannten besessen, er erfand fantastische Geschichten über sie, behauptete, sie habe wegen ihrer Ehe mit einem Ausländer nicht in Nagasaki bestattet werden dürfen und ihre Leiche habe zur Einäscherung fast tausend Kilometer weit nach Kobe überführt werden müssen. Das traf wahrscheinlich nicht zu. 1868 waren Verbrennungen in Japan noch unüblich, und der Transport einer Leiche über eine solche Entfernung wäre fast unmöglich gewesen. Osada wurde vermutlich dort beerdigt, wo sie verstorben war. Nach dem Tod seiner Frau hielt Oscar Hartmann nichts mehr in Nagasaki, und er beschloß, seine zwei Söhne in Deutschland aufzuziehen. Sadakichi verließ Japan im Alter von vier Jahren und kehrte nie zurück.
Als »Madame Butterfly« als Kurzgeschichte im »Century Magazine« erschien, war er dreißig und hatte länger in Amerika gelebt als in jedem anderen Land. Die Geschichte von John Luther Long basierte auf dem Roman »Madame Chrysanthème« von Pierre Loti, der wiederum auf Geschehnissen beruhte, die sich unter Marineoffizieren in Nagasaki ereignet haben sollen. Puccinis Oper wurde erst 1906 in New York uraufgeführt. Inzwischen waren die Hauptfiguren schon fast Mythen, gleichsam Adam und Eva des Japonismus. In der Geschichte entscheidet Leutnant Benjamin Franklin Pinkerton – ein Name wie eine harte Kante am Rande einer sanften Farbe –, während seines Aufenthalts in Japan eine Einheimische zur Frau zu nehmen, ehe er mit einer Amerikanerin einen Hausstand gründet. »Ist’s ein liebliches Mädchen?«, fragt ein Freund Pinkerton in der deutschen Übersetzung von Puccinis Libretto. »’S ist wie ein Sträußel von frischen Blumen«, lautet die Antwort. »Wie ein Sternlein mit gold’nen Strahlen. / Und so billig: Nur hundert Yen!« Pinkertons japanische Frau ist mehr Schatten als Materie: Sie ist ein Duft, der Windhauch eines Schmetterlingsflügels. Ihre Ehe ist eine auf Zeit. Seine richtige Frau soll Amerikanerin sein, eine Frau aus Fleisch und Blut, und erst mit ihr wird sein wahres Leben beginnen. Zu diesem klugen Plan sagt er: »Beugt’s ihn auch nieder / Rafft er empor sich wieder, / Fügt nach dem Sinne / Die halbe Welt sich.«
Sadakichi bezeichnete sich oft als Sohn der Madame Butterfly, als Unschuldigen, als machtloses Opfer einer Tragödie. (Offensichtlich war John Barrymore dieses Vergleichs überdrüssig geworden, als er Sadakichi eine »lebende Mißgeburt« nannte.) Doch wenn Sadakichi mit seinem unruhigen Leben überhaupt jemandem in der Geschichte ähnelte, dann dem teuflischen, pragmatischen Pinkerton, der nach Whisky riecht und von seinem japanischen Trugbild berauscht ist. Er betritt unsere Bühne mit der Behauptung, man müsse sich die Liebe dieser Welt nur nehmen; er trinkt auf seine amerikanische Zukunft. Als Zwölfjähriger erreichte Sadakichi Hartmann 1882 Amerika. Von seinem Hamburger Vater verstoßen, hatte er sich eingeschifft, um bei seinem Großonkel in Philadelphia zu wohnen. Er sprach mit einem starken Akzent, den eine Zeitung später als »halb deutsch, halb undefinierbar« beschrieb. Er war in allem, was er tat, durch und durch deutsch, sarkastisch und ernsthaft, den Kopf ständig wie unter einer kleinen Regenwolke geduckt. Und doch begrüßten ihn Freunde wie Fremde stets freudig wie jemanden, der soeben aus dem Fernen Osten kam. Als neugieriger Autodidakt tat er seinen ersten Schritt zum Aufbau eines einflußreichen Freundeskreises, indem er unangekündigt an die Tür des Dichters klopfte, der auf der anderen Seite des Flusses in Camden, New Jersey, wohnte: »Ich möchte gern mit Walt Whitman sprechen.« Der Dichter – mit langem, grauem Bart und offenem, wallendem Hemd, unter dem seine nackte Brust zu sehen war – begrüßte ihn: »Der bin ich. Und du bist ein Japanerjunge, nicht wahr?« Mochte die Literatur als Eintrittskarte in diese neuartige Gesellschaft dienen, so war Walt Whitman die Amtssprache, und in seinem Hause begann der schlaksige sechzehnjährige deutsche Japanerjunge mit dunklem Anzug und Kneifer seine amerikanische Pilgerfahrt ins dunkle Herz der Boheme. Whitman briet dem jungen Mann ein Ei, beim Frühstück sprachen sie über die Schauspielerei, über Theater, über Shakespeare (Sadakichi meinte, er sei »zu groß gewachsen«, um einen seiner Narren zu spielen), darüber, was es hieß, Amerikaner zu sein, über Japan und die »herrliche Bucht von Nagasaki«, obwohl Sadakichi zugab, sich nicht an viel zu erinnern. Whitman stimmte zu, sie müsse herrlich sein. Er schickte den Jungen mit den Korrekturfahnen eines seiner Gedichte heim und forderte ihn auf, bald wiederzukommen. Als Sadakichi zur Fähre von Camden lief, hielt er folgende Worte in seinen Händen:Schließlich nicht nur erschaffen, nicht nur gründen,
Sondern aus den Fernen bringen, was bereits erschaffen ist,
Um ihm unsere eigene Identität zu verleihen, durchschnittlich, grenzenlos, frei
Um die träge Fracht mit lebhaftem religiösem Feuer zu füllen,
Nicht abwehren oder zerstören, vielmehr annehmen, verschmelzen, wieder in Ehren setzen,
Ebenso gehorchen wie befehlen, eher folgen als leiten –
Auch dies sind die Lehren unserer Neuen Welt;
Indes, wie gering die Neue schließlich, wie groß die Alte, Alte Welt!Eine neuartige intellektuelle Einwanderungswelle hatte um die Jahrhundertwende dazu beigetragen, die billigen Mietwohnungen, Nachtcafés und leeren Schaufenster New Yorks zu füllen; eben angekommene russische Juden, Deutsche und Iren zählten ebenso dazu wie gelangweilte Hausfrauen aus Maine und Collegeabsolventen aus Iowa. Es gab eine spezielle Form der Einführung ins Leben der New Yorker Boheme, die sich von der in der Fifth Avenue wohnenden mittels Visitenkarte unterschied: ein unter den Arm geklemmtes Buch, ein für einen Freund abgeschriebenes Gedicht. Die gemeinsame Begeisterung für Tolstoi konnte einem auf einer Gewerkschaftsversammlung die Bekanntschaft mit einem Russen einbringen, ein paar Zeilen Shelley vermochten das Herz eines hartgesottenen Anarchisten zu erweichen.
Doch eigentlich schien die gemeinsame Liebe zu dem Mann, der »Vielheiten enthielt«, zu dem Proto-Bohemekünstler Walt Whitman das Treibhaus zu sein, in dem all diese blühenden Persönlichkeiten gediehen. Indem Sadakichi Whitman vor allen anderen aufsuchte, positionierte er sich geschickt sowohl als Leser als auch als jemand, von dem man lesen sollte. Er meinte, in das Pantheon von Whitmans Gesichtern in »Grashalme« zu gehören ("Das reine, ungewöhnliche, sehnsuchtsvolle, fragende Gesicht des Künstlers«). Sadakichi verfügte über einen reichen Schatz an Charaktermasken, die er sein ganzes Leben hindurch, bis zu allerletzt, wie zu einem Maskenumzug auf- und absetzte ("Das häßliche Gesicht einer schönen Seele, das hübsche, verabscheute oder geschmähte Gesicht«).
An Arbeit oder besser gesagt einer Anstellung war Hartmann nicht sonderlich interessiert. Nachdem er nach Paris gereist war und den symbolistischen Dichter Stéphane Mallarmé kennengelernt hatte (sowie als Mitarbeiter einer Zeitschrift rausgeflogen war), veröffentlichte er mit dreiundzwanzig »Christus: Ein dramatisches Gedicht in drei Akten«, das »Publishers’ Weekly« als »sinnliches und fast blasphemisches Drama« bezeichnete. Das Stück wurde umgehend verboten und von der Neuenglischen Gesellschaft zur Bekämpfung des Lasters sogar öffentlich verbrannt. Sadakichi wurde verhaftet und verbrachte Weihnachten im Gefängnis. Mit Mitte zwanzig verlor er seinen Job bei dem Architekten Stanford White, nachdem er diesem gesagt hatte, seine Gebäude könnten »nur Tauben verbessern«. Er schlug sich mehr schlecht als recht durch, indem er jede Woche zwei Kolumnen für die deutschsprachige »New Yorker Staats-Zeitung« schrieb, die drittgrößte Tageszeitung der Stadt. Er schrieb über Schauspieler, Landstreicher und Maler – Leute aus der künstlerischen und sozialen Randzone des New Yorker Lebens. (Schriftsteller landeten in der sozialen Schichtung irgendwie immer obenauf.) Seine Kolumnen unterschrieb er stets mit Pseudonymen: Caliban, Hogarth, Chrysantheme; der Rohling, der Satiriker, das Sinnbild Japans. Manchmal verärgerten seine Texte die Freunde, einschließlich seines Mentors Whitman, doch er setzte sich auch für neue Künstler wie Thomas Eakins und Alfred Stieglitz ein. Sadakichi machte als Dichterfürst einer kleinen Schar Intellektueller in Greenwich Village eine sagenhafte Karriere. In einem Artikel von 1916 bezeichnete man ihn als »die bizarrste Gestalt unter den amerikanischen Gelehrten (...) Er ist Baudelaire, Gérard de Nerval, Verlaine (...) er ist Dichter, Künstler, Autor, Kritiker, Dozent und Berufsästhet«. Er war noch ein Flaneur, als die Zeit der Flaneure längst vorüber war, und die meisten Menschen wußten nicht recht, was sie von ihm halten sollten. Freundschaften pflegte er mit Leidenschaft, bis zum Bruch. Er platzte in das Leben anderer hinein und verschwand schnell wieder – ein stürmischer, unvergeßlicher Charakter. Er verlor seine Freunde, wie er sie gewann, folgte aber damit bloß dem Lebensrhythmus der New Yorker Boheme. Der Herausgeber und Kritiker Max Eastman schrieb in seiner Rezension eines Romans aus dem Milieu russischer Juden: »Sie brennen lichterloh (...) Ihre Natur genügt sich selbst. Sie leben und sind Quell des Lebens.«
Alle, die dieses moderne Leben führten, waren auf der Suche nach einer Lebensform, einem Vorbild, nach dem man leben konnte, einer Maxime, für die es sich zu leben lohnte. Diese »Geschöpfe der Selbstverstärkung« beneideten einander um ihre Energien, schreibt die Historikerin Christine Stansell in ihrem Buch »Amerikanische Modernisten: Das New York der Boheme und die Erschaffung eines neuen Jahrhunderts«. Es genügte nicht, Kunst zu schaffen. Die Künstler hatten ein Leben ständiger Inspiration zu führen, für sich selbst und ihre Freunde, und waren in einem endlosen Kreislauf des Lesens, Schreibens und Publizierens miteinander verbunden. Den Bewohnern von Greenwich Village war das Wort ihr täglich Brot: Es war Berufung und Beschwörung. Das geschriebene Wort war das Medium der Veränderung, der Kriegsruf für Feministinnen, Kommunisten und Anarchisten – andere Kunstformen waren überflüssig. Sadakichi hatte mehr mit dem dekadenten Helden aus Joris-Karl Huysmans’ 1884 veröffentlichtem Roman »Gegen den Strich« gemein, ein Werk über einen Dilettanten, der meditatives Nichtstun zur Kunstform erhebt. Dieser träumt hinter den bedrückenden Mauern seines Landsitzes davon, die Zimmerdecken verschiedenartig zu gestalten oder seine Schildkröte mit Juwelen zu verzieren. Ohne Bindung an Familie, Nation, Glaube oder Bräuche, wollte auch Hartmann die Welt langweiliger Alltäglichkeiten in seinem eigenen, verträumten – wenn auch etwas pingelig eingerichteten – Winkel hinter sich lassen. In seinen Kritiken schrieb er über die Schönheit, die Lyrik, interessierte sich für Teetassen und Vasen, für Schauspieler und ihre Schminke, für mit Schweiß vermischte süße Düfte.
Das wesentliche Merkmal der Boheme war die Unzufriedenheit, der Wahn, alle anderen lebten »wirklich«. Ezra Pound schrieb: »Wäre man nicht man selbst, hätte es sich gelohnt, Sadakichi zu sein.« Einige seiner Freunde beschuldigten Sadakichi, er ziehe bewußt Vorteil aus ihrem Erfolg, andere wiederum sahen in ihm einen zutiefst neugierigen Menschen, nach außen hin zwar arrogant, im Grunde aber doch bescheiden. Wenn Freunde und Bekannte von ihm sprachen, klang es zuweilen wie ein Nachruf: »Sadakichi ist ein toter Autor«, schrieb ein Freund, »doch nur seine Kunst ist ›bestattet worden‹, während er noch höchst lebendig ist – zumindest zeitweise«. Fast sein ganzes Leben lang perfektionierte Sadakichi sein seltsames Talent, schon in die Geschichte einzugehen, obwohl er noch gar nicht tot war: »Eine der am meisten übergangenen Gestalten unter den amerikanischen Künstlern und Gelehrten.« In fast allem, was er tat, brachte er es zur Vollkommenheit, außer in dem einen, worauf es wirklich ankam – Kunst zu schaffen, die ihn überlebte. Obwohl sich viele junge Männer bemühten, Whitman als Mentor zu gewinnen, sah dieser gerade im neunzehnjährigen Sadakichi etwas Besonderes: »Ich setze mehr Hoffnung in ihn, habe mehr Vertrauen in ihn als in jeden anderen dieser Jungen. Sie alle scheinen ihn für einen Schwindler oder zumindest einen Effekthascher oder Abenteurer zu halten. Ich sehe das anders. Ich erwarte Gutes von ihm – ganz besonders Gutes ...« Whitman hatte Hartmanns Sicht darauf beeinflußt, wie ein Künstler durchs Leben zu gehen habe: Er sollte den Risiken des Lebens offenen Herzens entgegensehen. Daher auch das furchtbare Schicksal der Mitglieder von Pounds verlorener Legion: »Sie starben eben / Sie starben, weil sie’s eben nicht aushielten.«
Im Herbst 1902, als Sadakichi etwa fünfunddreißig war, kündigten die Zeitungen an, der exzentrische Kunstkritiker Mr. Sadakichi Hartmann werde in wenigen Monaten eine kurze Vorstellung mit dem Titel »Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten« präsentieren. Das Stück wurde als eine »Melodie in Düften« beschrieben.
Um die Jahrhundertwende experimentierte man hektisch mit den menschlichen Sinnen. 1895 wurde die Farborgel patentiert, ein Instrument mit farbigen Flächen, die sich parallel zur Musik veränderten und aufleuchteten. Wenige Jahre später sollte eine der ersten elektrischen Orgeln, das Telharmonium, in einem eigens dafür errichteten Konzertsaal in New York erstmalig präsentiert werden. Man hatte die Musik mechanisiert, gespeichert und durch Drähte geschickt – es gab keinen Grund anzunehmen, daß sie nicht auch in parfümierte Luft umgesetzt werden könnte. Doch niemand hatte je von einem Parfümkonzert gehört. Das war eine so verstiegene Erfindung, daß sich die Zeitungsschreiber vor Aufregung mit Tinte naß machten und doch in der zweiten Spalte schon wieder Gleichgültigkeit demonstrierten. »Alle Liebhaber guter Gerüche sollten das Konzert besuchen«, begann ein Feuilleton. Doch »könnte es sein, daß der Geruchssinn des New Yorker Publikums allmählich abstumpft und immer schärfere Gerüche benötigt«. Man schlug Mr. Hartmann vor, einen Ausflug zu Brooklyns Gowanuskanal zu unternehmen.
Sadakichi war kein Chemiker. Er wußte wenig über die Erzeugung von Gerüchen, nur über den Eindruck, den sie in seinen Träumen hinterließen. »Der Geruchssinn ist der emotionalste aller menschlichen Sinne«, schrieb er. »Rascher als jeder andere ruft er emotionale und intellektuelle Assoziationen hervor ...«. In den Monaten der Planung war Sadakichi in bezug auf die Vorstellung ungewöhnlich verschwiegen. Er hatte das Theater gebucht und ein paar Freunden davon erzählt, die ihm halfen, die Intensität der Düfte zu prüfen, die er einsetzen wollte. Das regte die Phantasie der Öffentlichkeit an: Würde es mit Rosen vollgestopfte Violinen geben, mit zwei brüchigen Zimtstangen geschlagene Rhythmen? Wie würde die Musik riechen, oder besser gesagt, wie würden die Gerüche klingen?
Der letzte Abend im November 1902 war ungemütlich und kalt – am nächsten Tag sollte es einen Schneesturm geben. Das Parfümkonzert war der Höhepunkt einer zwanglosen Sonntagabend-Show, die in dem riesigen Unterhaltungskomplex »New York Theatre« am Broadway zwischen der vierundvierzigsten und fünfundvierzigsten Straße stattfand. Es war ein außergewöhnlicher Vergnügungspalast mit Varieté, Dachgarten, Bowlingbahn, Türkischem Bad und zwei Theatern. Das Programm des Abends war nicht eben bemerkenswert: eine Ragtime-Kapelle, gefolgt von zwei schwarzgeschminkten Varietésängern. Nur der letzte Programmpunkt des Abends versprach etwas aufregend Neues: »Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten«, aufgeführt von einem Mr. Hartmann mit Unterstützung zweier »Geishas«.
Als dieser auf die leere Bühne schlurfte, hinter sich zwei stark gepuderte Frauen, hatte er noch das lange, schmale Gesicht seiner Jugend mit dem ausdrucksstarken, breiten Mund. Doch verrieten seine Züge jetzt etwas Endgültiges, wie bei einem ehemaligen Kabuki-Darsteller, der noch immer mit seinem Make-up verheiratet ist. Mit seinen offenkundig japanischen Zügen und dem blütenweißen Hemd, an dem sein Erkennungszeichen, eine riesige gelbe Chrysantheme, steckte, wirkte er nervös und verlegen. Auch seine beiden Geisha- Assistentinnen schienen sich unbehaglich zu fühlen. Als es im Saal ruhig wurde, räusperte sich Sadakichi und begann in seinem gebrochenen Englisch mit deutschem Akzent zu sprechen. Er erklärte, er wolle das Publikum auf eine Reise von einigen tausend Meilen mitnehmen. »Und«, sagte er, »als Transportmittel ins Märchenland werden uns Düfte dienen. Cook hat niemals mehr Passagiere mit weniger Gepäck befördert.«
Das Publikum hatte ein Instrument erwartet, das gleichzeitig Orchester und Ozeandampfer war. Etwas Großes, Elektrisches, Goldglänzendes, mit Schiffsglocken und Pfeifen, winzigen Schaltern und einem Mahagonisitz, auf dem dieser Mann hocken und mit Elfenbeinknöpfen hantieren würde, bis jeder sein Duftkonzert riechen könnte und über Land und See zu den Lavendelfeldern Frankreichs getragen würde, zu den Küsten des Ägäischen Meers und weiter. Doch kein solches Orchester war auf der Bühne zu sehen, kein einziges Instrument; dort standen nur zwei Mädchen mit dickem Make-up in Kimonos neben zwei Ventilatoren und zwei Kisten mit parfümgetränkten Laken.
»Der erste Duft ist der von Rosen, der uns umgibt, wenn der Dampfer vom Kai ablegt.« Er gab den Geishas ein Zeichen, die das Laken vor den Ventilator hielten, als wäre es eine Vorstellung mit der Laterna magica. Aus dem Orchester ertönte ein weiches Hornsignal, um deutlich zu machen, daß man sich auf einem Dampfer befand. Innerhalb einer Minute füllte sich der Zuschauerraum unbestreitbar mit Rosenduft, der den typischen »Raucherabteil-Geruch« des Theaters überdeckte und den Mief der Kleider auf den billigen Rängen neutralisierte. Die Vorstellung folgte der Logik, daß der Geruch bestimmte Erinnerungen wachrufen würde, ganz ähnlich, wie das Sadakichis Meinung nach die Musik vermochte. »Jeder hat schon einmal erlebt, daß ein plötzlich wahrgenommener Duft – zum Beispiel einer Blume, die auf dem Hof wuchs, wo wir unsere Kindheit verbrachten – unsere Gedanken schneller und lebhafter in die Vergangenheit zurückversetzt als jedes andere Medium der Kunst.« Die Nase, erklärte er, sei das am wenigsten geförderte unserer Sinnesorgane. Die Augen haben gelernt, eine Marmorskulptur zu bewundern, die Ohren, eine raffinierte Symphonie aufzunehmen. Die Nase aber sei ein wildes Tier, das Nahrung, Gefahr oder einen attraktiven Geschlechtspartner erschnüffle. »Es ist seltsam, daß ein Sinn, der so leicht auf Reize anspricht, in diesem primitiven Schlummerzustand gehalten wurde, denn unsere Riechnerven könnten zweifellos so weit entwickelt werden, daß die künstlerische Manipulation von Düften ähnliche ästhetische Genüsse hervorriefe wie die Musik oder die bildende Kunst.« Neurowissenschaftler haben dem Phänomen inzwischen einen Namen gegeben: den Proust-Effekt. Der legendäre Biß in eine teegetränkte Madeleine inspirierte eine Reihe von Untersuchungen über die Verknüpfungen zwischen Geruch und Erinnerung. Das Riechzentrum im Gehirn besitzt eine enge Verbindung zu den Erinnerungszentren, und Wissenschaftler haben herausgefunden, daß die olfaktorischen Komponenten eines Erlebnisses oft die dauerhaftesten Eindrücke sind – solche von Bildern, Geräuschen und taktilen Wahrnehmungen verblassen dagegen schnell. Die Gerüche, an die man sich am besten erinnert, sind die ältesten, intensivsten, gefühlsbeladensten. Es war nur natürlich, daß ein Künstler wie Sadakichi, der in einer Kultur des Gesamtkunstwerks aufwuchs, etwas schaffen wollte, in dem Kunst und Leben verschmolzen. Bei sorgfältiger Inszenierung könnte ein Konzert von Gerüchen die schlafenden Erinnerungen wecken, so daß man die verlorene Zeit praktisch noch einmal erleben würde.
Zu jener Zeit betrachtete man den Versuch, durch Gerüche Gefühle oder Erinnerungen wachzurufen, meist als billigen Zaubertrick. Die Zeitungen spekulierten, das Parfümkonzert könnte eine ganze Industrie von Erinnerungshilfen ins Leben rufen. »Produktion von Anti-Heimweh-Parfüms folgt auf neueste New Yorker Marotte«, hieß eine Schlagzeile der »Chicago Daily«. In dem Artikel stand, Bürger der Stadt könnten mit Geruchskapseln verreisen, so daß sie bei Langeweile in Paris oder Rom nur ein Päckchen mit der Aufschrift »Schlachthöfe extrastark« zu öffnen hätten, um flugs nach Hause versetzt zu werden.
1906 hoffte man in einem Kino in Pennsylvania, das Interesse an einer Wochenschau zur Rosenparade zu steigern, indem man im Zuschauerraum Rosenöl versprühte, worauf sich sämtliche Gäste beschwerten. Bei dem Film »Scent of Mystery« (Der Duft des Rätsels, 1960) setzte man zum ersten und letzten Mal eine Erfindung namens »Smell-O-Vision« ein, ein patentiertes System mit der Filmhandlung synchronisierter Gerüche. In Disneylands kalifornischem Abenteuer-Themenpark, der fast hundert Jahre nach Sadakichis Vorstellung eröffnet wurde, werden die Besucher mit einem leichten Zitrusduft besprüht, während sie scheinbar über einen Orangenhain schweben.
Die Erfindung des Parfümkonzerts war eine hervorragende Leistung; mit der Ausführung verhielt es sich anders. Sadakichi behauptete, sein Konzert stelle einen technologischen Fortschritt dar, ein solches Vorhaben sei bis dato niemals vollständig realisiert worden, vor allem mangels eines Apparates, der »Gerüche mit hinreichender Kraft von der Bühne bläst, um einen großen Raum fast augenblicklich zu füllen und beim Publikum die gewünschten Eindrücke zu erzeugen«. Ein solcher Apparat sei kürzlich erfunden worden. Der »Apparat«, ein elektrischer Ventilator, blies nun ein beißend starkes Rosenparfüm ins Parkett, das sich schnell über den Orchesterraum ausbreitete und zum Balkon aufstieg. Ein Mann rief, daß er »den Geruch der Speigatten« nicht möge und »zu viele an Bord schon seekrank« seien. Sadakichi erwiderte, man komme nun in England an und nehme den Geruch der dort heimischen Wildrosen wahr. Jemand rief, dieser gruselige Geruch erinnere ihn daran, daß seine Gasuhr einmal undicht war. Die Stimmung schlug um. »Nun erreichen wir Deutschland«, fuhr Sadakichi fort. Die Mädchen führten ein zweites Leintuch an den Apparat, und eine als lang empfundene Minute später verbreitete sich unverkennbar Veilchenduft. »Wir alle erinnern uns doch, wie es ist, wenn man an einem schönen Morgen am Rheinufer Veilchen pflückt«, sagte er. »Das Veilchen ist die deutsche Blume.« Doch niemand im Theater erinnerte sich ans Veilchenpflücken. Veilchen standen für Seife und billiges Eau de toilette, Bonbons und die Hure der vergangenen Nacht. Rosen, das waren Frauen im Fuchspelz und mit Perücke oder Ehemänner, die um Vergebung baten. Die Düfte, die Landschaften des kleinstädtischen Europa heraufbeschwören sollten, hatten kaum Wirkung auf das Publikum. Die Sehnsucht danach verspürte nur Sadakichi selbst.
Die Vorstellung sollte sechzehn Minuten dauern, wurde aber schon nach vier Minuten abgebrochen. »Unter Trampeln und Spottrufen begann das Publikum, das Theater zu verlassen«, schrieb ein Reporter. »Die arme ›Chrysantheme‹, wie sich der Erfinder selbst nennt, wirkte bleicher als das Hemd, das er trug. Er stammelte noch ein paar Worte und floh.« Eine andere Zeitung berichtete: »Er verbeugte sich mit dem Ausdruck tiefer Qual und bat mit versagender Stimme darum, daß man ihn nun entschuldigen möge; er könne unter diesen Bedingungen das Konzert nicht fortsetzen.« Sadakichis große und markante Züge waren so leicht zu lesen wie ein Zifferblatt. In seinem Schmerz ähnelte sein Gesicht auf fast komische Weise der starren Maske eines Tragöden. Als sich die Türen des Theaters öffneten, entwichen die Düfte in die Nachtluft. Es begann zu schneien, und bald war die Stadt mit dickem, weißem Puder bedeckt. Alles geriet in Vergessenheit außer dem Schnee; die Umrisse der Stadt wurden zu Schnee, der Geruch der Luft wurde zu Schnee, es gab nichts mehr, das nicht weich, ruhig und still war.
Sadakichi Hartmann kam nur einmal, in dem 1913 erschienenen Essay »Im Land der Düfte«, auf das Thema zurück. Darin stellte er recht bedrückt fest, daß das Konzert nie das hätte sein können, was er sich vorgestellt hatte: ein Orchester von Düften, das über bloße Assoziationen hinausging und Landschaften und Feenreiche heraufbeschwor. »Die Unverbundenheit der verschiedenen Wellen angenehmer Empfindungen macht es unmöglich, die Sache zur gleichen Perfektion wie in Musik und Malerei zu bringen.« Der Duft war einfach Mittel zum Zweck. Was er an jenem Abend wirklich angestrebt hatte, war ein Konzert des reinen Gefühls, Wellen angenehmer Empfindungen, die sich über dem Publikum brechen wie ein großer symphonischer Akkord. Unwillentlich hatte er seinem Publikum gesagt, was es fühlen sollte, und dachte, da er es selbst so intensiv fühlte, würde womöglich etwas davon überspringen und sein Ziel erreichen. Während Proust in Paris drauflosschrieb, verlor Sadakichi zunehmend das Vertrauen in seine olfaktorische Theorie. »Das fehlende Gedächtnis ist zweifellos der Grund für die Flüchtigkeit aller Geruchseindrücke; es raubt uns den ›Nach-Duft‹, jene mentale Wiederholung des Genusses, die bedeutenden Anteil am ästhetischen Vergnügen hat.«
1916 schloß Sadakichi mit seiner Jugend im Osten ab. Er war kurz, aber folgenreich verheiratet gewesen und hatte mit seiner Frau fünf Kinder gezeugt, dazu noch ein uneheliches aus einer Affäre. Die nächste Partnerin heiratete er nicht, zeugte aber sieben weitere Kinder. Wie Pinkerton in »Madame Butterfly« schien auch er sich mit Frauen auf »japanisch« zu verbinden ("Für neunhundert und neunundneunzig Jahre: / Freilich darf ich kündigen / jeden Monat«) und die Warnung von dessen Freund Sharpless zu mißachten. »So leichtgeschürzte Weisheit / Macht’s Leben uns wohl heiter / Doch läßt sie’s Herze kalt.« Und wie Pinkerton ließ er sie fast alle sitzen.
Sadakichi ging in den Westen, gründete in San Francisco eine Theatertruppe und zog dann weiter nach Los Angeles, wo er mit dem gut vernetzten John Barrymore auf ganz ähnliche Weise Freundschaft schloß wie Jahre zuvor mit Walt Whitman. In Hollywood kannten ihn die Schauspieler, Produzenten und Regisseure als den traurigen Clown aus Barrymores Kreis. Es fiel schwer sich vorzustellen, daß er je so jung und gutaussehend wie die Filmstars gewesen war, die er in Hollywood unterhielt. Er ließ sich die Haare lang wachsen, trug überweite Kleidung und gab sich als groteske Figur. Seine Visitenkarte zeigte einen langgliedrigen Mann in schwarzem Mantel und Melone, die dünnen, spinnenartigen Arme standen vom buckligen Rumpf ab. Sadakichi hatte die Zeichnung selbst gemacht, und ein Freund meinte, er sehe darauf aus wie »ein Teufel auf Fronturlaub«. Ein anderer fand, daß er »die warmen Zufluchtsorte mittelmäßiger Menschen« bewohne: »Er setzte Liebeserfüllung mit Vergessen und Tod gleich (...) er scherzte über das Leben, brachte einen Trinkspruch auf den Tod aus.« Leute vom Film, die sein Scharfsinn beeindruckte, luden ihn zu sich ein – der alternde Dichter und Kritiker verlieh den Cocktailpartys in Brentwood einen intellektuellen Anstrich. Er war der geheimnisvolle Asiat und spielte pflichtschuldig seine Rolle. Douglas Fairbanks hatte ihm 1924 in seinem Mantel-und-Degen-Film »Der Dieb von Bagdad« eine im Abspann nicht erwähnte Rolle als Hofzauberer des Mongolenprinzen gegeben. Als Entgelt verlangte Sadakichi nur 250 Dollar und jede Woche eine Kiste Whisky.
Als der Krieg kam, wurde der Sohn von Mephistopheles und Madame Butterfly von den US-Behörden behelligt, weil er gleich ein doppeltes Gift im Blut hatte, und zog sich in die kleine Hütte zurück, die er sich in Banning gebaut hatte. Er starb im Herbst 1944, als in Europa der Krieg in seine letzte Phase ging. Schwer zu sagen, was aus der Ruhestatt seiner Mutter geworden ist; im Sommer nach Sadakichis Tod wurde die Fat-Man-Bombe über Nagasaki abgeworfen, legte die gesamte Stadt in Schutt und Asche und wohl auch alle Spuren ihres kurzen Lebens. Hier endet Pinkerton und beginnt Sadakichi. Seine lebendigen amerikanischen Frauen waren für ihn weniger wirklich als diese japanische Geistergestalt. Seine wahre Liebe galt Erinnerungen, die er niemals gehabt hatte: die herrliche Bucht von Nagasaki, die wilde Chrysantheme, der Körper seiner Mutter, der unbeerdigt über ein uraltes Land reist. Es gibt keine Düfte, die ein ungelebtes Leben in Erinnerung rufen können.
Ein Foto zeigt ihn mit siebenundsiebzig, an ein verrostetes Tor vor seiner Ein-Raum-Hütte gelehnt, mit langem, an der Taille geschnürtem Jackett, steifem Kragen und Schlips. Ein grauer Filzhut mit schwarzem Band schützt das faltige Gesicht vor der Wüstensonne. Als er das Foto sah, betitelte er es mit tiefster Melancholie »Auf der Straße Ausschau haltend nach Besuchern, die nie kommen«.Aus dem Englischen von Alexander Brock
SINN UND FORM 6/2014, S. 738-749
Legutko, Ryszard
- 1/1996 | Schwierigkeiten mit der Toleranz. Aporien des postmodernen Fundamentalismus
- 3/1997 | Die Gesellschaft als Kaufhaus
- 1/1999 | Gedanken über Gegenkultur
Lehman, David
- 6/1990 | An der Verlagsfront
Lehmann, Günther K.
- 5/1988 | Das Schöne und der Widerstand oder die Aporie der Schönheit
Lehmann, Harry
- 3/2009 | Geschichten aus dem blinden Fleck. Zur Erzählpshilosophie Ingo Schulzes
Lehmkuhl, Tobias
- 1/2016 | Ursuppe des Sinns. Laudatio zum Peter-Huchel-Preis auf Paulus Böhmer
- 2/2024 | Tiere in der Matrix. Über Nico Bleutge
Lehnert, Christian
- 2/1999 | Der Augen Aufgang
- 4/2001 | Finisterre. Notizen vom Ende des Jakobswegs
- 2/2009 | Gedichte
- 4/2013 | Ein Licht, das uns nicht kennt
- 6/2014 | Unter Null. Gedichte
- 5/2016 | Tiefer, wo Schatten ist. Gedichte
- 2/2017 | Glaube und Gedicht. Dankrede zum Eichendorff-Literaturpreis
- 3/2020 | Ein anderer Atem, eine andere Welt. Trauerrede auf Christoph Meckel
- 4/2020 | Mikroben
- 4/2021 | Die jungen Aale. Gedichte
Lehr, Thomas
- 5/2014 | Der verborgene Sisyphos
- 5/2015 | Die Tage ohne Kopf
- 2/2016 | Der Schmetterling der Zeit. Versuch über die literarische Gegenwart
- 4/2018 | Der Künstlerbesuch, S. 678 Leseprobe
Lehr, Thomas
Der Künstlerbesuch
Ich besuche mich wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, mit Äpfeln, Bananen, Orangen, einem neuen Buch. Doch nichts davon kann ich annehmen. Mein Gesicht scheint gegen eine Wand gepreßt, und wenn ich den Kopf heben will, um etwas zu sehen, muß ich ihn weit ins Genick biegen. Gute Besserung! rufe ich mir zu, bin mir aber nicht sicher, ob dieser Satz aus dem Mund des Besuchten oder dem des Besuchers kommt. Meine Arme scheinen nach unten zu hängen. Beim mühevollen Blick hinab kann ich etwas Unruhiges, sich matt Bewegendes erkennen, schwarzes Wasser anscheinend, auf dem sich nichts widerspiegelt. Ich besuche mich wie einen Freund, mit einer Flasche Rotwein. Auf dem Etikett ist zu lesen: Vorsicht! Enthält Gift der bittersten Stunden! Enthält Triumph! Die hängenden Arme scheinen mich eher zu stützen. Meine Hände greifen in den Fels einer Wand. Ich scheine eine Art Handstand zu machen. Allerdings berührt meine gesamte Vorderseite den Fels, so daß ich, wenn ich es recht bedenke, kopfüber, mit dem Gesicht zur Wand, abstürzen müßte, was jedoch nicht geschieht. Ich klebe an der Wand wie ein abwärts kletterndes Insekt. Der Krankenbesucher und der Freund, der ich mir zu sein versuche, bewundern meine Haltung. Du scheinst voranzukommen, sagen sie tröstend. Tatsächlich habe ich das Gefühl, daß sich das schwarze Wasser von mir entfernt, daß ich nicht stürze, nicht hinabgleite, sondern langsam und stetig aufwärts strebe. Nichts stimmt mich fröhlicher. Offenbar fürchte ich auch nichts mehr als dieses Wasser. Nur weil ich jederzeit in der Lage sein will, einen Blick darauf zu werfen, bewege ich mich auf eine solch groteske Weise nach oben. Ich besuche mich wie eine Geliebte. Da ist die Wand, sie reibt gegen mein Geschlecht. Was ich hinter mir gelassen habe, eine vertikale Kriechspur, ist alles, was von mir bleiben wird. Glücklicherweise ist es nichts Persönliches. Man könnte sagen, die Wand habe zuvor schon dieses Aussehen gehabt. Alles, was ich wollte, war, Teil des Steins zu werden. Ich besuche mich wie einen Irren. Niemand bewegt sich auf eine solche Weise fort, keiner versucht dem Wasser des Vergessens auf eine derart aufwendige, einzigartige und bizarre Weise zu entkommen. So scheint es mir wenigstens, in meiner selbstsüchtigen Isolation. Aber den Besuchern, die auf den Kähnen vorbeigleiten, bietet sich das gesamte Bild, wenn sie es wagen, sich von der Wand zu entfernen. Manche waren wohl so unvorsichtig, eine Hand oder einen Fuß in das Wasser zu halten, dessen stumpfe Oberfläche das Gegenteil eines Spiegels zu sein scheint. Große Gruppen von Amputierten stehen auf den Kähnen, klaglos, staunend. Es ist schwer vorstellbar, daß so viele den Fehler gemacht haben, ihre Gliedmaßen ins schwarze Wasser zu tauchen, da sie doch die Verluste der anderen direkt vor Augen hatten. Nicht nur Hände, Arme, Füße und Beine sind verschwunden, sondern auch Teile der Schultern, des Torsos. Bei einigen fehlt schon der halbe Kopf. Etwas wie Strahlung scheint von dem flüssigen Medium auszugehen, durch das sich die Kähne bewegen, und unerbittlich löscht es die Fahrgäste einen nach dem anderen aus. Ich besuche mich ein letztes Mal, nachdem ich – wie mir scheint, ein Leben lang – in der unendlich mühsamen Art einer kopfüber und rückwärts emporkriechenden Eidechse an Höhe gewonnen und an Kraft verloren habe. Meine Spur ist nichts als ein schwach glimmender Streifen am Fels. Ich dachte mir einmal, es müßte ein vertikaler silberner Balken sein, eine Klinge, ein Pfeiler, ein Turm. Kurz bevor ich loslasse und endlich genauso schrecklich hinabstürze wie befürchtet, sehe ich die anderen Künstler, gleichfalls rückwärts emporkriechend, zitternd an die Wand geklebt. Ich bin nicht weit genug gekommen in der Senkrechten, um einen guten Überblick zu haben. Nur von den Kähnen aus, auf denen sich unaufhaltsam das Löschwerk vollzieht und ein Zuschauer nach dem anderen zu Teilen und schließlich ganz eliminiert wird, ausradiert von der Schattenstrahlung, kann man das große Schauspiel der Kletterkunst genießen. Nur von dort sieht man Hunderte, gar Tausende von Künstlern, kopfüber, immer nur auf das schwarze Wasser starrend und nie auf den Nebenmann, grotesk an der Wand emporzucken. Lautlos fallen sie hinab, sobald ihre Zeit gekommen ist. Wenn sich die Besucher auf den Kähnen fragen, was die Kletterkünstler ihnen voraushaben, dann müssen sie nur an die grandiose Tiefe denken, die allein die Aufgestiegenen infolge ihrer lebenslangen Bemühung beim Hinabstürzen und Eintauchen ins Vergessen erreichen. Besonders Wagemutige und Glückliche, heißt es, gelangten sogar bis zum Grund. Von dort könnten sie, für Äonen auf dem Rücken liegend wie tote Kaiser, mit neuen, ungeheuren Augen versehen, zuschauen, wie sich die Kähne an der Oberfläche bewegten und mit welch anrührenden, arabesken Silberspuren ihre Kollegen von oben herab in die Namenlosigkeit einschlügen. Natürlich ertaucht kaum einer den Grund. Fast jeder treibt empor zu den Kähnen, wird von dort hinaufgezogen und verschwindet dann langsam, auf die übliche Art. Immerhin sieht er als gewöhnlicher Passagier und Teil des Publikums noch eine Zeitlang das wunderbare, erbarmungswürdige Bild, das die Kletterkünstler formen, und er könnte auf die Idee kommen, einen von ihnen zu besuchen wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Orange oder einem Buch.
SINN UND FORM 4/2018, S. 460-461
- 5/2022 | Der Freund, der zuhören konnte. Totenrede für Friedrich Christian Delius, S. 678 Leseprobe
Lehr, Thomas
Der Freund, der zuhören konnte. Totenrede für Friedrich Christian Delius
Wenn ich mutig wie Christian wäre, würde ich seine Totenrede mit einem Geständnis beginnen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen! Schon sehe ich ihn schmunzeln, auf seine unnachahmliche Grandseigneur- Art, und es könnte sogar sein, daß er mir leicht und salopp mit der Hand auf die Schulter klopft.
»Allerdings«, würde er mir dann empfehlen, »solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen und also besser sagen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen, aber von den wichtigen die meisten. Und füge locker hinzu: Ich habe sie auch verstanden.«
Zurückhaltend, aber nicht falsch bescheiden sein, präzise, aber nicht pedantisch, nicht die Zuhörer oder Leser damit langweilen, daß man in die Breite wirtschaftet – solche Dinge hat mein großer Freund und Kollege Christian versucht mir beizubringen. Bei einem der vielen Freundes- und Werkstattgespräche, die ich in den vergangenen zehn Jahren mit ihm geführt habe, schilderte ich ihm ein akutes Problem mit meinem neuen, umfangreichen Roman. Ich fühlte mich getrieben, das bereits Geschriebene, Hunderte von Seiten, immer wieder durchzugehen und zu perfektionieren, so daß ich kaum noch vorankam. Da hob er kurz den Kopf, sah auf seine zugleich oberlehrerhafte und lausbübische Art durch die Brillengläser und sagte ohne eine Sekunde zu überlegen: »Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.« »Du alter Pfarrerssohn«, sagte ich ergriffen, »schon wieder hat dich Gott als sein Instrument benutzt.«
Die Belesenen werden leicht Lukas 9,62 erraten. Wir beide stritten im folgenden darüber, ob es Pflug oder Pflugschar heißen müsse oder ob man die oder seine Hand daran lege. Geeinigt haben wir uns, glaube ich, nicht.
Wenn ich in diesem Rahmen einen unserer bibelkundigen Dialoge wiedergebe, dann in der Hoffnung, Christian möge sich darüber freuen und ironisch applaudieren, mit der linken Hand des Papstes und der rechten seines von ihm so knapp wie furios beschriebenen gestrengen Priester-Vaters. Christian hat lange gebraucht, um die heitere Gelassenheit des Agnostikers zu erreichen, das Paradies des Nichtglaubens, wie er es einmal mit Lichtenberg sagte. Und niemand außer Christian selbst kann so knapp und treffend seine Kindheit zusammenfassen im Rückblick auf seine berühmte Erzählung »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde«: »Meine Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus sollte ausgeleuchtet werden, der Einfluß der Bibelsätze, Gebete, Choräle usw. auf die Seele des Elfjährigen und die subtile Herrschaft des wortmächtigen und gotteswortmächtigen Vaters über seinen stotternden Sohn, der vorübergehend in der Fußballanbetung sein Glück findet.«
»Was war denn gut an ihm?« habe ich Christian einmal über seinen frommen Erzeuger gefragt. »Ach, doch auch einiges, zum Beispiel, daß er einmal ein Dutzend Kinder in sein Auto packte und mit ihnen zum Eisessen über den nächsten Hügel fuhr.« Und einmal schrieb er auch: »Bei aller Distanz zu meiner christlichen Erziehung weiß ich inzwischen, was ich ihr an Bildung, Sprachkraft, Empathiekultur verdanke.« Christian konnte die Dinge von zwei und von drei Seiten sehen, und auch das machte ihn zu einem großen Freund.
In den letzten Jahren fanden unsere Zweiergespräche vor allem in Charlottenburg statt, im zwei- oder dreiwöchigen Abstand, zur Lunchzeit, als Arbeitsessen, das wir nicht steuerlich absetzten. Es konnte der Amerikaner in der Sophie-Charlotte-Straße sein, der uns beide an unsere New-York- Aufenthalte erinnerte, oder der Luxemburger in der Leonhardtstraße. Zum Schluß war es das Café Manstein, wenige Meter von Christians Wohnhaus entfernt, »an der Ecke« gelegen, an der wir uns davor auch trafen, um bereits im Gehen über unsere Bücher, unsere Frauen oder unsere Töchter zu sprechen. Ich muß sofort hinzufügen: Nur wenn es um Bücher ging, war Christian indiskret. Auf Ulla, Mara und Charlotte und erst recht auch die kleine Dalia war Christian nur stolz. Ich habe ihn auch nie – das fiel mir erst beim Schreiben auf – über irgend jemanden schlecht reden hören im Sinne einer Verurteilung der gesamten Person, nicht einmal über seine schlimmsten Kritiker. Er verzieh ihnen den Angriff nur schwer, aber er machte aus ihnen keine Monstren. Und wie sollte man jetzt nicht darauf kommen: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!
Der glänzende und freudig-polemische Stilist, denke ich heute, war auch ein stiller Moralist – und damit gingen Tugenden wie Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Dezenz ganz leicht einher. Christian war old school, im allerbesten Sinne. Wenn er seinen Borsalino aufsetzte, einen Trenchcoat aus den neunziger Jahren anlegte oder in Sakko und gestreiftem Hemd in seinem Arbeitszimmer saß, dann paßte das eben ganz genau für jemanden, für den Form keine Frage des aktuellen Mitlaufens war.
Zur guten Form gehörte auch etwas, das all seine Freunde an Christian kennen, nämlich seine Fähigkeit zuzuhören, die eine Facette seiner Offenheit und Neugierde war. Über die Fußgängerbrücke seiner Toleranz, möchte ich sagen – und ich markiere hier das wichtige Wort Fußgänger –, habe ich ihn, haben ihn viele jüngere Autoren kennengelernt. In meinem Fall war es eine Autorentagung im Literarischen Colloquium vor etwa zwanzig Jahren, bei der Christian, damals schon renommiert und berühmt, als so ziemlich der einzige ältere Autor sich zwanglos unter uns Jüngere mischte und hören wollte, was wir zu sagen hatten. Noch dazu beließ er es nicht beim Zuhören. Er las die jüngeren Autorinnen und Autoren auch! Unter allen Schriftstellern, die ich kenne, habe ich keinen so großen Leser wie Christian getroffen und niemanden, der so konsequent, noch im vergangenen schweren Jahr der Krankheiten, so empathisch und aufmerksam die Entwicklung der Gegenwartsliteratur verfolgte.
Wenn Autoren prima miteinander auskommen, dann zumeist, weil sie sich nicht lesen. Wenn sie aber eine lange und enge Freundschaft führen wollen, dann kommen sie nicht drumherum, des andern Bücher aufzuklappen und tatsächlich hineinzusehen. In unserem Falle war dieser doppelt prekäre Vorgang ganz ungefährlich. Schon Jahre bevor ich Christian kannte, war ich ein staunender und begeisterter Leser seiner kühnen Romantrilogie zum Deutschen Herbst gewesen – und als wir uns richtig anfreundeten, im Sommer 2011 in Rom, als ich bei seiner lieben Frau und vollendeten Gastgeberin Ulla Bongaerts in der Casa di Goethe meinen Roman »September« vorstellte, legten wir beide so richtig los und lasen uns, was das Zeug hielt.
Vielleicht kann ich ganz einfach geographisch begründen, weshalb das gutging: Christian und Ulla zogen 2013 nach vielen gemeinsamen römischen Jahren nach Berlin, ans nördliche Ufer des Lietzensees, während ich mit meiner Familie gerade an das südliche gezogen war. Die beiden Ufer liegen nicht weit auseinander – und so kamen der 68er Friedrich Christian Delius und der 79er Thomas Josef Lehr, der agnostische Protestant und der entlaufene Katholik, der ältere, aber viel schnellere literarische Kurz- und Mittelstreckenspezialist und der langsame vergrübelte Marathon-Man spielend zusammen. Wir lasen unsere neuen Bücher, besprachen die entstehenden und studierten, wenn es uns darauf ankam, Werke des anderen auch ein zweites Mal.
Im übrigen empfahlen wir uns auch etwas, denn wir wurden ja in guter Freundschaft zehn Jahre älter, und bei allem, was uns unvermeidlicherweise zu fehlen begann, halfen wir uns auch, die Lücken zu stopfen. »Es kann nicht sein, daß du Joseph Roths ›Radetzkymarsch‹ noch nicht gelesen hast!«, konnte man Christian inmitten der engstehenden Tische beim Amerikaner ausrufen hören. Ich dagegen fand, daß man nicht siebenundsiebzig werden könne, ohne Georges Perecs »Das Leben. Gebrauchsanweisung« studiert zu haben. Im letzteren Fall verblüfften mich Christian und Ulla gleichermaßen: Sie kamen aus einem kurzen Urlaub zurück und hatten sich den Roman gegenseitig vorgelesen. Wer das 850seitige Buch kennt, wird mir beipflichten, daß dies eine große Liebe gewesen sein muß!
Am Ende ziehen immer wieder die Begegnungen mit Christian vorbei, nicht nur die zahlreichen Zweier-Tischgespräche, sondern auch die großen Gesellschaften, die Ulla und Christian in ihrer schönen Dachgeschoßwohnung in der Witzlebenstraße gegeben haben, denn ausgezeichnete Gastgeber waren sie beide – von Natur aus, möchte ich fast sagen. Ich will und kann nicht schildern, was meine Frau und ich dort alles an wunderbaren Gesprächen geführt haben. Statt dessen gehe ich noch einmal im Geist in Christians Arbeitszimmer, in dem ich ihn in seinen letzten Lebenswochen besucht habe, mittwochnachmittags zumeist, auf einen Kaffee, für den wir oft zwei Stunden brauchten. Unter der Dachschräge steht sein Schreibtisch vor dem Fenster, von dem aus man das wuchtige Gebäude des ehemaligen Kammergerichts und Reichskriegsgerichts sehen kann, umfunktioniert zu Luxus-Eigentumswohnungen. Wer hätte eine solche Ironie der Geschichte besser in Worte fassen können als Christian?
Doch schauen wir zurück auf sein Regal. Beim Anblick der zahlreichen Belegexemplare und der dichten Reihe von Dutzenden stets schwarz eingebundener Notizhefte muß auch ich immer wieder staunen, und ich denke: Was hast du nur alles geschrieben, Christian! Bücher, die aus dem kecken satirischen Geist entstanden sind, wie »Unsere Siemenswelt« oder schon die gedruckte Dissertation »Der Held und sein Wetter«. Bücher, die aus deiner großen Kunst des Zuhörens zu kommen scheinen, wie »Der Spaziergang nach Syrakus« oder »Mein Jahr als Mörder«. Bücher, die sich deiner Musikalität verdanken, wie »Die Zukunft der Schönheit«, oder solche, die flammend aus dem Protest hervorgingen wie die »Himmelsfahrt eines Staatsfeindes«. Wo du eben noch als in sieben Sprachen Schweigender still und ehrerbietig während des Irakkriegs neben Imre Kertész durch Jena gewandert bist, holst du dir morgen, zum fünfhundertsten Jahrestag des Thesenanschlags, den bronzenen Martin Luther vom Podest, um ein Bier nach unverändertem deutschen Reinheitsgebot mit ihm zu trinken und ihm in einer 96. These den Kopf dafür zu waschen, daß er mit der Übernahme des Augustinischen Konzepts der Erbsünde und der Schuldbeladung von Sexualität im Grunde die Reformation versemmelt hat.
»Als die Bücher noch geholfen haben« … In dem Verlust eines einzigartigen Freundes gibt es nur ein Glück: daß man ihm in seinen Werken wiederbegegnen und sich von ihnen helfen lassen kann. »Er ging voran, ich folgte seinen Schritten«, heißt es bei dem von Christian so benannten frechsten Dichter der Welt, Dante Alighieri, der den größten Fußweg oder extremsten Spaziergang der Weltliteratur unternommen hat. Wie ein Vergil wird Christian, mit wiedergewonnener sonorer Stimme, durch seine Romane, Gedichte, Aufsätze, Erzählungen und inspirierten Polemiken geleiten. Und oft wird es einem dann ganz genau so vorkommen, wie es Christian bei der Beschäftigung mit Dante erging: »Als wäre die Dichtung, als wäre die Kunst das einzige Konstante in einer taumelnden Welt.«
SINN UND FORM 5/2022, S. 689-692
Leidel, Hans-Joachim
- 5-6/1954 | Gedichte
Leino, Eino
- 5-6/1954 | Der Sohn der Sklavin
Leiser, Erwin
- 1-2-3/1957 | Nach dem letzten Mal
Leistner, Bernd
- 4/1982 | Im Zeichen der Mittelbarkeit. Friedrich Döppe: »Holtekamp oder Der Weg nach Gutenberg«, Roman. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1980
- 3/1983 | Versprochenes. Andreas Albrecht: »Unter Umständen die Liebe«, Erzählungen; »Entfremdung zu einem Ort«, Gedichte. Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1981 und 1982
- 5/1983 | »Freie Liebe«. Paul Wiens: »Einmischungen«, Publizistik 1949-1981; »Innenweltbilderhandschrift«, Gedichte und Zeichnungen, beide Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1982
- 1/1985 | »...und alle Tage wäre das Fest«
- 5/1985 | ...Dich zu treiben bis aufs Blut
- 3/1986 | Improvisierter Grossversuch in Prosa
- 4/1987 | Sixtus Beckmesser
- 6/1987 | Skeptischer Realist und Menschenfreund
- 1/1988 | Schreiben als Selbstversuch
- 6/1988 | Wiederbegegnungen
- 5/1989 | Von Becher bis Mensching
- 1/1990 | Hacksens Gedichte
- 4/1990 | Vierzig Jahre
Lelchuk, Alan
- 4/2007 | Hommage für Saul Bellow
Lem, Stanislaw
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Über das Modellieren der Wirklichkeit im Werk von Thomas Mann
Lengyel, József
- 1/1969 | Lösen und Binden
Lenhard, Philipp
- 4/2019 | Adornos letzte Postkarte, S. 567 Leseprobe
Lenhard, Philipp
Adornos letzte Postkarte
Ende Juli 1969 bricht Adorno mit seiner Frau Gretel in den Sommerurlaub in die Schweiz auf. Es liegen anstrengende Tage und Wochen hinter ihm. Mit Herbert Marcuse war es zu einem heftigen Streit über die Haltung zur Studentenrevolte gekommen. Im Sommersemester hatte Adornos Vorlesung aufgrund von permanenten Störaktionen abgebrochen werden müssen. Einige Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes Frankfurt hatten Ende Januar das Institut für Sozialforschung besetzt, und Adorno hatte es polizeilich räumen lassen. Sein Student Hans-Jürgen Krahl wurde als Rädelsführer verhaftet. Unmittelbar vor der Abfahrt war es zum Prozeß gekommen, in dem Adorno gegen ihn aussagen mußte. »Nach dem Staatsanwalt stand der ehemalige Schüler auf«, berichtet ein Zeitgenosse, »und nahm den Zeugen ins Kreuzverhör. Ob er sich wirklich bedroht gefühlt habe, wollte er wissen, und was er eigentlich gesehen habe, das ihn veranlaßte, die Polizei zu rufen? Studenten, die heranmarschierten. In Reih und Glied? Nein, das nicht, aber … ein skurril-bösartiger Dialog.« All das setzt Adorno zu. In den Bergen sucht er nun Erholung und Zerstreuung, denn er hat in den kommenden Monaten viel vor. Eine Reise nach Venedig, wo er auf einer Tagung über die Kritische Theorie der Kunst referieren soll, steht für September auf dem Programm. Gershom Scholem hat ihn nach Israel eingeladen, außerdem sind Rundfunkauftritte geplant. Vor allem aber schreibt er an seiner »Ästhetischen Theorie«, die er in den nächsten Monaten abschließen will. Anders als in den vergangenen Jahren geht es dieses Mal nicht nach Sils Maria in Graubünden, ins berühmte Hotel Waldhaus, wo sich schon Hermann Hesse, Thomas Mann und Friedrich Dürrenmatt wohlfühlten. Gretel schmeckt das Essen dort nicht, auch die anderen Gäste sind ihrer Laune abträglich. Also reist das Paar ins Hotel Bristol nach Zermatt, zum Matterhorn, das der angeschlagene Philosoph in der »Ästhetischen Theorie« das »Kinderbild des absoluten Berges« nennt, »wie wenn es der einzige Berg auf der ganzen Welt wäre«. Hier will er sich von den Frankfurter Strapazen erholen. »Lieber Fred«, schreibt er am 25. Juli 1969 an Friedrich Pollock, den Mitbegründer und langjährigen Vizedirektor des Instituts für Sozialforschung, »tausend Dank für die Sendung, deren heilige Frühe uns ganz besonders erfreute. Wir sind gut respektiert, leiden nur noch ein wenig unter der fast unerträglichen Hitze und einer crowd, die damit nur allzugut sich vereint. Aber wir schalten alles ab, so gut es geht, und beginnen uns jetzt zu erholen. Hoffentlich habt Ihr’s recht schön in dem Wald-Häusl. Sag allen das Herzlichste von seinem getreuen Teddie.« Darunter kritzelt seine Frau »Alles Liebe, Gretel«. Auf der Rückseite der Postkarte prangt eine monumentale Schwarzweißaufnahme des Matterhorns. Das Dokument war bis jetzt gänzlich unbekannt. Es ist nicht im Adorno-Archiv verzeichnet, auch im Horkheimer-Pollock- Nachlaß in Frankfurt ist die Karte nicht vorhanden – genausowenig wie zwei weitere aus den sechziger Jahren. Alle drei sind Teil eines bislang kaum beachteten Teilnachlasses von Friedrich Pollock, der über Umwege in der Universitätsbibliothek Florenz landete – der Nachlaßverwalter von Pollocks Ehefrau hatte die Materialien nach ihrem Tod an Professor Furio Cerutti gegeben, einen der wichtigsten Kenner der Kritischen Theorie in Italien. Der auf mehrere Kisten verteilte Bestand gibt Einblick in die Nachkriegsgeschichte der »Frankfurter Schule« sowie in Theodor W. Adornos Gefühlswelt. Die Postkarte an Pollock ist nur ein kurzer Urlaubsgruß, aber sie steckt voller Anspielungen. Das läßt sich der Bildungsbürger »Teddie« Adorno nicht nehmen. »Heilige Frühe« ist ein Goethe-Zitat, aus der »Achilleis«; die Verwendung des Begriffs »crowd« für die anderen Urlaubsgäste spielt vielleicht auf David Riesmans Buch »The Lonely Crowd« an, in dem die spätbürgerliche konformistische Massengesellschaft seziert wird, vielleicht aber auch auf die eigenen Untersuchungen zur Kulturindustrie – freundlich gemeint ist es jedenfalls nicht; und die grammatikalisch etwas rätselhafte Formulierung »von seinem getreuen Teddie« ist eine ironische Übertragung des »getreuen Eckart« aus dem Nibelungenlied. Es sollte Adornos letzte Postkarte sein, denn er überlebt die Reise nicht. Am 26. Juli schreibt er Herbert Marcuse einen Brief, in dem er sich als »schwer ramponierten Teddie« bezeichnet. Knapp eine Woche später fahren die Adornos mit dem Lift auf die Spitze eines 3000 Meter hohen Berges. Die Höhenluft bekommt ihm nicht, sein Herz beginnt zu rasen. Er leidet unter Atemnot und Brustschmerzen, so daß sich das Paar entschließt, das Krankenhaus St. Maria im nahen Visp aufzusuchen. Dort, wo 1954 schon sein Freund und Kollege Franz Neumann gestorben war – Pollock hatte die Grabrede gehalten –, erliegt er am Morgen des 6. August einem Herzinfarkt. Gretel ist bei ihm, als er stirbt. Adornos letzte Postkarte erreicht Pollock im Luxushotel Waldhaus in Flims. Als er einige Tage später die Nachricht vom Tod des Freundes erhält, steht er unter Schock. Schon seit dem gemeinsamen Exil in Amerika – Pollock kam 1934 nach New York, Adorno folgte 1938 – waren sie mehr als nur Kollegen gewesen. Mit der Zeit war die Beziehung immer enger geworden, und so mag es kein Zufall sein, daß gerade Pollock kurz vor dem Tod noch einmal Post erhielt. Obwohl sich die beiden gegenseitig »Teddie « und »Fred« nannten, siezten sie sich bis zuletzt. Das war kein Ausdruck von Fremdheit, sondern etwas anderes, wie Adorno am 20. Mai 1964 in einem (bislang unpublizierten) Brief anläßlich von Pollocks 70. Geburtstag schreibt: »Es ist ja zwischen uns beiden, Ihnen und mir, eine nachgerade ehrwürdige Tradition, Gefühle nicht gar zu unmittelbar auszudrücken. Ich weiß nicht, ob diese Tradition, ganz ernst genommen, wirklich das Beste ist; ob man nicht manchmal eben doch es sagen sollte und all die Tabus verletzen, die mit Begriffen wie Reife, Männlichkeit, Unsentimentalität und ähnlichem verbunden sind, und denen unsereiner ja selber nicht über den Weg traut.« Die bisweilen verkrampft und steif wirkenden Umgangsformen Pollocks nahm Adorno in dem Brief aufs Korn – so »ganz ernst« könne man das bürgerliche Getue nicht nehmen, dahinter versteckten sich letztlich verdrängte Triebregungen. Doch zu nahe treten wollte er Pollock auch nicht: »Mag es sich damit verhalten wie es wolle – es ist eine schwierige Sache, über der man tiefsinnig werden kann. Aber eines möchte ich doch. Sie sollen wissen, daß, wenn ich auch heute diese Tradition respektiere und Ihnen nicht all das sage, was mich bewegt in dem Augenblick, da Sie siebzig Jahre alt werden, diese Haltung nichts von dem hat, was sie so oft ist, nämlich von der Prätention, zu stark Gefühltes zu verschweigen, wo in Wirklichkeit nur die Kälte ist. Ich denke an Sie mit all der Wärme und Freundschaft, hinter der nicht nur Stimmung und subjektives Verhalten steht, sondern die ihre Substanz hat an einem langen Leben, das ich mir nicht ohne Sie vorstellen kann und das, so bin ich eingebildet genug zu glauben, auch Sie nur schwer ohne mich sich vorstellen könnten, jedenfalls in dem Sinn, daß unser beider Leben sonst das nicht geworden wäre, was es ist. Daß diesem Gefühl auch das einfache der Dankbarkeit sich gesellt; daß ich, wären Sie nicht, mit großer Wahrscheinlichkeit zugrunde gegangen wäre, das wollen Sie zwar, schamhaft wie Sie sind, wohl nicht hören, aber lassen Sie es mich doch, dies eine Mal, with so many words, Ihnen sagen.« Daß Adorno schreibt, er könne sich ein Leben ohne Pollock nicht vorstellen, mag zunächst erstaunen. Bislang war er nur einigen Experten ein Begriff. In der Forschungsliteratur taucht er fast ausschließlich als administrativer Verwalter des Instituts auf und hat folglich wenig Interesse geweckt. Wenig bekannt ist seine wissenschaftliche Rolle innerhalb des Instituts, in dem er vor allem als Erneuerer der Marxschen Theorie und politökonomischer Prognostiker auftrat, der untersuchte, »wohin die Reise geht«. Der habilitierte Volkswirtschaftler leistete Grundlagenforschung für seine philosophisch und kulturwissenschaftlich arbeitenden Kollegen, die sich als historische Materialisten verstanden, sich aber mit wirtschaftlichen Fragen nur am Rande beschäftigten. Auf diese wechselseitige Befruchtung spielt Adorno an. Neben Pollocks wissenschaftlicher Arbeit war aber auch seine Verwaltungstätigkeit von großer Bedeutung. Gemeinsam mit Horkheimer repräsentierte er über fast drei Jahrzehnte »das Institut« und schuf im Exil einen Hafen vor allem für jüdische Intellektuelle, die aus Europa entkommen waren. Pollock, der Deutschland 1933 verlassen hatte und 1939 ausgebürgert wurde, dessen Haus »arisiert« worden war und dessen Familienangehörige teilweise dem Holocaust zum Opfer fielen, half anderen Verfolgten, wo er nur konnte. Er kümmerte sich um Affidavits, besorgte Bürgschaften, zahlte Stipendien und Honorare aus, vermittelte Wohnungen und Jobs und war für Dutzende ein rettender Anker in einer schier ausweglosen Situation. Einer von diesen war Theodor Adorno. Als getaufter »Halbjude« war ihm im Wintersemester 1933 die Lehrbefugnis entzogen worden. Trotz des anfänglichen Optimismus, Hitlers Zeit könne bald vorüber sein, ging er 1934 nach Oxford, um dort den akademischen Grad eines Ph.D. zu erwerben. 1937 kam seine jüdische Freundin und spätere Ehefrau Margarete »Gretel« Karplus nach. War Adorno bis 1938 immer wieder nach Deutschland gereist, um seine Eltern und Freunde zu besuchen, so schien ihm das nun fast unmöglich. Anfang Februar dieses Jahres stellte er in einem Brief an Max Horkheimer fest: »Es ist kaum mehr daran zu zweifeln, daß in Deutschland die noch vorhandenen Juden ausgerottet werden: denn als Enteignete wird kein Land sie aufnehmen. Und es wird wieder einmal nichts geschehen: die anderen sind ihres Hitlers wert.« Auch Horkheimer und Pollock, die 1934 das Institut für Sozialforschung in New York wieder errichtet hatten, waren bezüglich der Entwicklung in Deutschland pessimistisch. Sie luden Adorno ein, als fester Mitarbeiter nach Amerika zu kommen – und dieser akzeptierte das Angebot. Am 16. Februar 1938 stach das frisch vermählte Ehepaar mit der S. S. Champlain in See. Pollock vermittelte eine hübsche Dreizimmerwohnung im Greenwich Village in Manhattan. Adorno wurde zum wichtigsten Mitarbeiter des Instituts und verfaßte mit Horkheimer die berühmte »Dialektik der Aufklärung«. Nach 1945 kehrten Horkheimer, Pollock und Adorno zurück, um das Institut in Frankfurt wieder aufzubauen und ihren Teil zur demokratischen »Reeducation« beizutragen. Stand in der frühen Nachkriegsgesellschaft zunächst noch Horkheimer als Repräsentant der Kritischen Theorie in der Öffentlichkeit – unter anderem erhielt er 1950 die renommierte Goethe-Plakette und war von 1951 bis 1953 Rektor der Frankfurter Universität –, so wurde Ende der fünfziger Jahre Adorno zum Gesicht der nun Frankfurter Schule getauften kritischen Sozialwissenschaft. Als Horkheimer und Pollock 1958 / 59 ins schweizerische Montagnola zogen, wurde Adorno zum Institutsleiter ernannt. Als public intellectual und geschätzter Hochschullehrer vertrat er weiter die Frankfurter Schule, die einen nicht eben kleinen Beitrag zur »intellektuellen Gründung der Bundesrepublik« leistete. Oft wünscht man sich, er könnte noch das Wort ergreifen.
SINN UND FORM 4/2019, S. 567-570
- 2/2020 | Die Legendenbildungslegende
Lenin, Wladimir Iljitsch
Lenya, Lotte
- 2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck, S. 180 Leseprobe
Lenya, Lotte
»Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck
Vorbemerkung
Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes amerikanisches Bühnenwerk, »Lost in the Stars«, erlebte am Broadway nicht weniger als 281 Aufführungen und stand auch in seinem Todesjahr – ohne ihre Mitwirkung – noch immer auf dem Spielplan. Nun dämmerte Lenya, die sich von einer außerehelichen Beziehung zur nächsten gehangelt hatte und sich erst allmählich an ihre neue Rolle als »Witwe Weill« gewöhnte, zwischen Apathie und Hoffnungslosigkeit vor sich hin. In ihrem Domizil Brook House in New City vor den Toren New Yorks suchte die einst so Unternehmungslustige, im Grunde eine echte Großstadtpflanze, nach den bangen, schweren Stunden im Flower Hospital eine Zukunftsperspektive.
Untätig herumzusitzen war ihre Sache nie gewesen, die Bühnenkompositionen ihres in den USA zuletzt so populären Mannes Staub ansetzen zu lassen kam ebenfalls nicht in Frage. Doch stand sie, im Showbusineß ihrer Wahlheimat de facto ein Nobody, vor einem unüberwindbaren Dilemma: »Die Amerikaner«, so urteilte sie im Januar 1959 in dem Aufsatz »Kurt Weill’s Universal Appeal«, »hatten seine Musik geliebt, aber kannten nur seine hiesigen Werke, nichts dagegen aus seinen Jugendjahren. Sie wußten nichts von der Art und Weise, wie er die bittere Realität, die Unsicherheit des Deutschlands in den Zwanzigern in seiner Musik einzufangen verstanden hatte.« In der jungen Bundesrepublik wie in der neugegründeten DDR hingegen galten lediglich Weills Werke aus der späten Weimarer Republik etwas, waren seine im Exil entstandenen Musicals und seine Beiträge für eine erst im Entstehen begriffene »American Opera« weitgehend unbekannt, fanden wenig Anklang oder wurden ignoriert, verschmäht oder gar abqualifiziert. »Also entschloß ich mich, wenn auch sehr widerwillig, dort anzufangen.«
Eine doppelte Herkulesaufgabe zeichnete sich ab – den »amerikanischen«, vorgeblich oberflächlichen und regressiven Weill in Europa und den »deutschen«, vorgeblich anspruchsvollen und progressiven Vorkriegs-Weill in der Neuen Welt bekannt zu machen, um seine innovativen Zeitopern, Operetten und Einakter auch bei den nachfolgenden Generationen durchzusetzen. Hinzu kamen die immensen Schwierigkeiten, mit denen Lenya sich als Nachlaßverwalterin konfrontiert sah. Jahraus, jahrein mußte sie sich fortan mit Urheber- und Aufführungsrechten, Partituren, Verlegern, Produzenten, Abrechnungen, Tantiemen, Details von Schallplattenproduktionen und Vertragsstreitigkeiten herumschlagen. Am wichtigsten war freilich, daß sie wieder an Statur gewann: »Zuallererst mußte ich mir selbst einen Namen machen.« Um englischen Zungen die Aussprache zu erleichtern, hatte sie schon 1937 die Schreibweise ihres – an eine Tschechow-Figur angelehnten – Künstlernachnamens (ursprünglich Lenja) abgeändert. Nun wurde aus Lotte Lenya schlicht Lenya, im Big Apple kam sie mit zwei Silben und ohne Vornamen aus. Weitere Markenzeichen waren ihre markante, zusehends dunkler und rauher werdende Stimme und, wie sie ihrem Briefpartner Adorno sogleich mitteilte, ihr neuerdings rotgefärbtes Haar.
Lenyas tiefe Verunsicherung war persönlicher wie künstlerischer Natur und reichte bis in die Kriegsjahre zurück: Im Frühjahr 1945 hatte Weills Operette »The Firebrand of Florence« nach einem Libretto von Ira Gershwin, in der sie als Duchess aufgetreten war, in Boston und New York City teils vernichtende Kritiken bekommen, und das steckte ihr noch in den Knochen. Ihr Selbstbewußtsein als Weill-Interpretin war ins Wanken geraten, sie hatte sich in der Folgezeit von der Bühne zurückgezogen. Während ihr Mann sich im Kollegenkreis durch Fleiß, Kreativität, Erfindungsgabe und eine erstaunliche Assimilierungsbereitschaft rasch Anerkennung verschaffte und auf dem besten Weg war, ein echter Amerikaner zu werden, hatte sie in der Musical- und Showszene der Neuen Welt nie richtig Fuß gefaßt. Ihr Vortragsstil und ihre Gestik, ihr eigenwilliger Sprechgesang, ihre wienerisch-berlinerische Intonation, ihr teils ruppiger, teils lasziver Ausdruck und ihre unvollkommene Beherrschung des (bei ihr stets akzentbehafteten) Englischen entsprachen nicht der Erwartungshaltung der an Entertainment und Wohlklang gewöhnten US-Theatergänger. Alles, was Lenya ausmachte, befremdete sie. Erst später, als die amerikanische Fassung der »Dreigroschenoper« zum Kassenschlager wurde und sie das Musical »Cabaret« mit aus der Taufe hob, stellte sich der Erfolg ein, und sie konnte einen Triumph nach dem anderen feiern. Dann auch wieder als Filmschauspielerin.
Maßgeblichen Anteil an dieser zweiten, internationalen Karriere, die 1961 in einer Oscar- und Golden-Globe-Nominierung sowie 1963 in der Mitwirkung in einem James-Bond-Film gipfelte, hatte ihr nächster Ehemann, der acht Jahre jüngere Romancier und ehemalige Chefredakteur illustrer Zeitschriften (wie »Harper’s Bazaar« und »Mademoiselle«) George Davis (1906 – 57). Dieser vielgereiste frankophile Europakenner hatte schon Carson McCullers und Truman Capote gefördert und sah sich, obwohl vorübergehend mittellos und beruflich desorientiert, imstande, ihrer Bestimmung als authentische Weill-Interpretin Nachdruck zu verleihen.
Lenyas Isolation und Depression endeten rasch, als sie Davis, der sie schon zu Weills Lebzeiten in verschiedene New Yorker Künstlerkreise eingeführt hatte, im Mai 1950 wiederbegegnete. Seinerzeit hatte er zur legendären und auch experimentellen Wohngemeinschaft in der Brooklyner Middagh Street, dem sogenannten February house, gehört, wo sich Berühmtheiten, Bohemiens und Avantgarde-Figuren wie Benjamin Britten und Peter Pears, Jane und Paul Bowles, Christopher Isherwood, W. H. Auden oder die Thomas-Mann-Kinder Klaus und Erika die Klinke in die Hand gaben. Nun wurde der homosexuelle Davis zu Lenyas ständigem Begleiter und zum zweiten von insgesamt vier Gatten. Das Verhältnis war keineswegs frei von Konflikten, doch mit seiner Hilfe und Begeisterungsfähigkeit vermochte sie den Kopf wieder aus dem Sand zu ziehen. Diese »neue Lenya« war ganz und gar seine Schöpfung. Beide boten alle Kräfte auf, um für Weills genuines Konzept eines zeitgenössischen Musiktheaters jenseits von U- oder E-Kategorien zu kämpfen, es am Leben zu erhalten und ihm ein neues Publikum zu erschließen.
Auf die Eheschließung im Juli 1951, ein zaghaftes Comeback im Sprechtheater und einige Hommage-Konzerte für Weill in der New Yorker Concert Hall folgte die sensationell erfolgreiche Off-Broadway-Produktion der »Threepenny Opera« in einer Fassung von Marc Blitzstein. Sie kam, ab März 1954, auf die Rekordzahl von 2 600 Vorstellungen und brachte Lenya einen Tony Award ein. Das war weit mehr als eine Ehrenrettung für den in Amerika verkannten »Berliner« Weill, und dabei ging das Tandem, was dessen Ästhetik betrifft, keine kommerziellen Kompromisse ein und verwahrte sich gegen leichtfertige Vereinfachungen oder ästhetische Zugeständnisse: Im Frühjahr 1955, fünf Jahre nach seinem Tod, setzte Lenya in Begleitung von Davis erstmals seit 1934 wieder ihren Fuß auf deutschen Boden (und zwar auf beiden Seiten der Grenze), spielte maßgebliche Soloalben ein und überwachte mit ihrer historischen Kompetenz die Produktion weiterer Brecht-Weill-Stücke. In Düsseldorf kam 1955 Weills Musical »Street Scene« als westdeutsche Erstaufführung heraus, an der Städtischen Oper Berlin 1957 seine frühe Oper »Die Bürgschaft«. Mit dem Dirigenten Wilhelm Brückner-Rüggeberg wirkte sie in maßstabsetzenden Gesamtaufnahmen von »Mahagonny« und »Die sieben Todsünden« mit, in den Vereinigten Staaten spielte sie unter Maurice Levine »American Theatre Songs« ein. Zusätzlich beaufsichtigte sie dort die Schallplattenpremiere von »Johnny Johnson«. Auf diese Weise etablierten Davis und Lenya geradezu vorbildlich eine authentische und stimmige Weill-Interpretation, die auch für die folgenden Jahrzehnte verbindlich blieb. Ein Glücksfall.
Vor diesem Hintergrund setzt zum Jahresende 1956 der Briefwechsel mit Theodor W. Adorno ein, der sich über das gesamte Jahr 1957 – den Höhepunkt ihrer Bemühungen um Weills musikalisches Erbe in Deutschland – erstreckt und dann erst wieder im Februar 1960 eine Fortsetzung findet. Die Bekanntschaft der beiden geht auf das Berlin der späten Zwanziger zurück, wie eine handschriftliche Widmung der jungen Lenja (sic!) für »Th. Wiesengrund-Adorno« vom September 1929 auf einem Druckexemplar von Marieluise Fleißers Drama »Pioniere in Ingolstadt« belegt. Sie spielte damals in Brechts umstrittener Inszenierung im Theater am Schiffbauerdamm an der Seite von Peter Lorre und Hilde Körber die Rolle der Alma. »Eine Liebe muß keine dabei sein« – das von Lenja für die Widmung ausgewählte Zitat stammt aus Fleißers Stück.
In den Briefen von 1957 – Lenya und Davis pendeln damals zwischen Deutschland und den USA hin und her – ist viel von Weills Brecht-Vertonungen die Rede, den »Sieben Todsünden«, »Happy End«, der »Dreigroschenoper« und den verschiedenen »Mahagonny«-Fassungen. Zum einen, weil sie zu Adornos bevorzugten Weill-Bühnenwerken zählten, zum anderen, weil Lenya sie just in jenem Jahr einspielte, Songs daraus vortrug oder Pläne für Neuinszenierungen schmiedete. Der Leser begegnet in diesem anregenden Austausch, durchweg in liebevoll-zärtlichem Ton gehalten, gespickt mit geistreichen Aperçus und stellenweise auch mit englischsprachigen Einsprengseln versehen, prominenten Zeitgenossen wie den Tänzerinnen und Choreographinnen Irene Mann und Tatjana Gsovsky, den Regisseuren Harry Buckwitz, Heinz Tietjen und Hans Curjel, der Schauspielerin Hannelore Schroth und einer Dame namens »Helli«, der Brecht-Witwe Helene Weigel also, über deren Gier nach Tantiemen ausgiebig gelästert wird und an deren Unnachgiebigkeit so manches von Lenya und Davis angestoßene Projekt zu scheitern droht. Brechts Tod liegt ja noch nicht lange zurück.
Lenya ist merklich daran gelegen, daß Davis bei »Teddy« bzw. »Teddie« und Gretel einen guten Eindruck hinterläßt – ein Wunsch, der in Erfüllung geht –, und äußert mehrfach ihre Besorgnis um seine Gesundheit. Mehrere Herzattacken und -infarkte in immer kürzeren Abständen sind Vorboten seines Todes am 25. November 1957 in Berlin – zwei Wochen nur, nachdem sie im Westteil der Stadt mit der prestigereichen Friedensglocke ausgezeichnet wurde und nur wenige Wochen, bevor sie die »Dreigroschenoper« einspielt. Eine weitere Aufnahme, für die sie bereits den Vertrag unterzeichnet hat, »Das Berliner Requiem«, wird in Anbetracht der Umstände fallengelassen. Davis ist bei seinem Ableben nur unwesentlich älter als seinerzeit Weill, und Lenya erlebt es als Schock und Katastrophe, zumal die gleiche Todesursache vorliegt. Sie resümiert (1962 in der Theaterzeitschrift »Playbill«): »Mein Herz war gebrochen, aber noch viel schlimmer als damals, als es Kurt zugestoßen war. In diesen sechs Jahren unserer Ehe hatte George mich laufen gelehrt, so wie man es einem kleinen Kind beibringt.« Im vorliegenden Briefwechsel mit Adorno findet Davis’ Tod keine Erwähnung, da Lenya das letzte Schreiben vor der mehrjährigen Pause zweieinhalb Wochen vorher verfaßte. Wieder einmal geht es um eine im letzten Moment nicht zustande gekommene Begegnung: »Schade, daß ich nicht ein paar Tage in Frankfurt bleiben konnte. Aber ich lasse George sehr ungern allein mit seiner Furcht vor dem Alleinsein, das typisch für herzkranke Menschen zu sein scheint. So konnte ich also nur schnell noch Gretel anrufen zwischen Zug und Flugzeug.«
Daß Adorno und Lenya auf solch warmherzige, ja fürsorgliche Weise miteinander kommunizieren und auch in künstlerischer Hinsicht völlig übereinzustimmen scheinen, nimmt, gelinde gesagt, wunder: Im Briefwechsel der Eheleute Weill / Lenya trat nämlich, insbesondere in den frühen vierziger Jahren, ein ganz anderes, negatives Adorno-Bild zutage. Dort firmierte der jetzt so Verehrte als »der Wiesengrund« und wurde mit wenig schmeichelhaften, ja beleidigenden Attributen belegt. Hintergrund war vor allem eine Intervention Adornos im März 1942 zugunsten Brechts, dem eine Neubearbeitung der »Dreigroschenoper« mit exklusiv schwarzer Besetzung in Los Angeles vorschwebte. Weill, dessen Ehrgeiz längst dem amerikanischen Musiktheater galt und dem die Angelegenheit »zum Hals heraushing«, hielt jedoch nichts von Wiederbelebungsversuchen der vermeintlich goldenen Berliner Zeit. Er fürchtete um sein Mitspracherecht und witterte ästhetische Verfälschung, erregte sich in einem auf englisch verfaßten Antwortschreiben über Adornos pauschale Abqualifizierung des Niveaus zeitgenössischer Broadwayproduktionen und sprach ihm jegliches Urteilsvermögen in der Angelegenheit ab. Tags darauf, am 8. April 1942, informierte er Lenya per Brief: »Nun, dem Wiesengrund habe ich einen Brief geschrieben, den er lange Zeit nicht vergessen wird. Ich schrieb ihm: es ist eine Schande, daß ein Mann von seiner Intelligenz so falsch informiert sein soll. Und dann erklärte ich ihm, daß das amerikanische Theater nicht so schlecht ist wie er denkt.« Lenya, die gerade in Atlanta mit Maxwell Andersons Stück »Candle in the Wind« auf Tournee war, erwiderte am 9. April: »Eigentlich zu komisch, um sich darüber aufzuregen. Ich bin so froh, daß Du ihm den richtigen Brief über das amerikanische Theater geschrieben hast. Aber bitte Darling, bestehe darauf, daß sie das außerhalb von Hollywood nicht zeigen dürfen. Gib bloß nicht nach. Zum Teufel mit denen.« Lenya warnte ihn, daß Brecht mit Adornos Schützenhilfe »die Musik in Fetzen schneiden« und das Werk »billig und lächerlich machen« würde. Weill hatte es geärgert, daß Adorno als erklärter Jazzfeind und Verfechter absoluter Musik für Brecht Partei ergriff. Von »Fachleuten «, die sogenannte Unterhaltungsmusik als »dekadent« verunglimpften, habe er keine Belehrungen nötig, wie »wichtig« und »wertvoll« seine »Dreigroschenoper« sei. Die Eheleute zogen in dieser Hinsicht also an einem Strang. Dabei hatte Adorno einlenkend noch um Nachsicht mit einem alten Weggefährten gebeten und den Beweis antreten wollen, daß er in der Zeit seines »Schweigens musiksoziologisch noch nicht ganz vertrottelt« sei. Vergebens.
Für Weill stand seit 1931 fest, daß Adorno einen Großteil seiner Musik ablehnte und ihr die Avantgarde-Tauglichkeit absprach, daher erblickte er in ihm einen ideologischen Gegner seines Schaffens. Der Eindruck verfestigte sich noch mit der Publikation von Adornos »Philosophie der neuen Musik« (1949): In der Dichotomie zwischen dem Neoklassizismus Strawinskyscher Provenienz und der zum Ideal erhobenen Zweiten Wiener Schule Schönbergs war für einen dritten Weg, wie ihn Weill beschritt, kein Raum. David Drew, der Doyen der Weill-Forschung, konstatierte 1975, Adornos Abkehr von seiner Musik habe »lange vorher stattgefunden, nämlich zu einer Zeit, als sie beide noch in Deutschland lebten«. Während er über die »Dreigroschenoper« und »Mahagonny« noch Aufsätze publizierte, schwieg er sich über Weills späteres Werk aus. Drew urteilt: »Weill war ohne Reue als Broadwaykomponist gestorben und als solcher in der amerikanischen Presse geehrt und betrauert worden«, Adorno hingegen habe die »zersetzenden und explosiven Elemente« in Weills Brecht-Phase zum Maß aller Dinge erhoben, sei davon nicht mehr abgerückt und habe ihr Fehlen als Manko empfunden, ohne den veränderten Gesetzmäßigkeiten der in den USA entstandenen Kompositionen Rechnung zu tragen.
Von Ressentiments findet sich in der Korrespondenz zwischen Lenya und Adorno keine Spur, wobei man fragen kann, inwieweit letzterer überhaupt Kenntnis von der früheren Verachtung für seine Person und Haltung hatte. Letztlich trug aber auch Lenya durch ihre meisterhafte, ja prototypische Interpretation weiblicher Figuren aus den Weill-Brecht-Werken (Prostituierte, Halbweltdame, Rächerin, burleske Verführerin) zur Verengung der Rezeption auf jene Phase bei. Im September 1955 nahm sie die Moritat von Mackie Messer, den Weill-Hit schlechthin, in einer Dixieland-Fassung mit Louis Armstrong auf; der in der USA geschätzte »September Song« oder die melancholische Ballade »Speak Low« erreichten nie dieselbe Durchschlagskraft – denn sie erfüllten ja auch kein Klischee. Es ging viel Zeit ins Land, bis Weills amerikanischen Opern, Operetten und Musicals (deren Frauengestalten Lenya eben nicht automatisch auf den Leib geschneidert waren) ein vergleichbarer Rang eingeräumt wurde und auch seine übrigen Werke seit den frühen zwanziger Jahren wieder die Spielpläne erobern konnten. Mittlerweile ist eine gewisse Balance in der Beurteilung des »Berliner«, »Pariser« und »New Yorker« Stils zu beobachten, hat sich die Auffassung einer annähernden Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Schaffensphasen durchgesetzt.
In den verbleibenden drei Briefen vom Februar 1960 werden andere Sachverhalte erörtert. Lenya möchte eine Verbindung zum Suhrkamp Verlag herstellen und bittet ihren deutschen Freund um Hilfe, sie setzt sich für David Drew ein und denkt darüber nach, eine autobiographische Skizze zu schreiben. Zur Sprache kommt auch ihre Beteiligung an einem Konzert der Musica-viva-Reihe in München unter der Ägide von Karl Amadeus Hartmann. Freunde des frühen Weill können sich im April 1960 darüber freuen, daß bei einer mehrteiligen Produktion an den Städtischen Bühnen Frankfurt neben den »Sieben Todsünden«, in denen Lenya die Anna I verkörpert, zwei seiner Kurzopern mit auf dem Programm stehen, die Einakter »Der Protagonist« und »Der Zar läßt sich photographieren « (beide auf Libretti von Georg Kaiser).
Lediglich am Rande thematisiert wird in der Korrespondenz ein Gespräch, das die Briefpartner im selben Jahr dem Journalisten und Musil-Herausgeber Adolf Frisé für den Hessischen Rundfunk gewährten. Naturgemäß gilt beider Augenmerk wieder den berühmt-berüchtigten zwanziger Jahren und ihrem Hauptschauplatz Berlin – 1960 schon ein Mythos. Während Adorno sich über »Legenden und Ärgernisse« jener an Widersprüchen so reichen Epoche ergeht, spürt man bei praktisch jeder Verlautbarung Lenyas ihre Unbekümmertheit, ihre Nonchalance und ihre Weigerung, die Dinge zu verklären, sowie ihre Freude, zu diesem Mythos beigetragen zu haben, ohne sich dessen nur ansatzweise bewußt gewesen zu sein. Es lohnt sich (besonders nach Lektüre des Briefwechsels), dieses lebhafte, knapp einstündige Doppelinterview wieder anzuhören, und sei es nur, um sich vom unnachahmlichen Klang der Stimme Lenyas betören und von Adornos leichtfüßiger Eloquenz beeindrucken zu lassen.
Jens Rosteck
(…)
SINN UND FORM 2/2022, S. 180-194, hier S. 180-185
Lenz, Daniel
- 6/1998 | Gespräch mit Robert Gernhardt, Bernd Kreuziger und Eric Pütz
- 4/2000 | Gespräch mit Thomas Hürlimann und Eric Pütz
Lenz, Nina
- 3/2022 | Salamander. Gedichte
Lenzen, Manuela
- 5/2019 | Der elektronische Spiegel, S. 703 Leseprobe
Lenzen, Manuela
Der elektronische Spiegel
Der »Nächste Rembrandt«, neue Choräle im Stil von Johann Sebastian Bach, die sechste Staffel von »Game of Thrones«, eine Geschichte über Einhörner, aus zwei vorgegebenen Sätzen gesponnen: Seit Beginn der Künstliche-Intelligenz-Forschung bedienen sich auch Künstler der mehr oder weniger klugen Systeme und schaffen mit ihrer Hilfe Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke, Performances, Bilder und Musik. Zum Teil erzielen sie damit abenteuerliche Preise – 432 000 Euro zahlte ein anonymer Sammler im letzten Jahr für das von einem Algorithmus errechnete »Portrait von Edmond Bellamy« –, oft erfahren sie aber auch harsche Kritik: seelenlos, kalt, nervtötend, häßlich, ohne ästhetischen Wert seien diese Werke.
Wie viele solcher Urteile sich nur dem Wissen über den Entstehungsprozeß dieser Werke verdanken, bliebe zu prüfen. Interessanter als der Streit um die Qualität der Computerkunst ist etwas anderes: Wenn sie nicht so gut ist wie vom Menschen geschaffene Werke, woran liegt das? Was unterscheidet das Treiben der Rechner von »echter« Kreativität? Welche Entwürfe eines Algorithmus sind interessant, welche banal oder völlig mißlungen? Was hätte ein Mensch nie kombiniert, getrennt oder vermischt? Und warum?
Im aktuellen Hype um Chatbots und Fakenews, maschinelle Übersetzung und soziale Roboter geht verloren, daß Künstliche Intelligenz immer auch ein großes Experiment in Sachen Selbsterkenntnis war und bis heute ist: ein elektronischer Spiegel. Von Anfang an sollten die intelligenten Maschinen uns nicht nur anstrengende, gefährliche, langweilige oder ungesunde Arbeit abnehmen. Sie waren immer auch Hilfsmittel, um die menschliche Intelligenz besser zu begreifen: Nur was man nachbauen kann, hat man auch verstanden. Wenn wir heute einen viel breiteren Begriff von Intelligenz haben als in den fünfziger Jahren, dann auch, weil sich entsprechende Computermodelle immer wieder als zu einfach erwiesen haben.
»Die Forschung wird auf der Annahme basieren, daß jeder Aspekt des Lernens oder jeder andere Aspekt von Intelligenz im Prinzip so genau beschrieben werden kann, daß eine Maschine dazu gebracht werden kann, sie zu simulieren«: so präsentierten der junge Mathematiker John McCarthy und seine Kollegen 1955 ihr Vorhaben in einem Förderantrag an die Rockefeller Foundation. Mit zehn Forschern wollten sie in nur zwei Monaten »signifikante Fortschritte« darin machen, »herauszufinden, wie man Maschinen dazu bringen kann, Sprache zu verwenden, Abstraktionen und Begriffe zu bilden, Probleme zu lösen, die zu lösen bislang dem Menschen vorbehalten waren, und sich selbst zu verbessern«. Dieses Unternehmen nannten sie »Künstliche Intelligenz«.
Der Weg vom Denken zur Datenverarbeitung war damals nicht weit und der Rückweg auch nicht: Wenn Denken sich – der damals vorherrschenden Annahme gemäß – als mentales Manipulieren von Symbolen nach Regeln beschreiben läßt, müßte man es auch im Computer realisieren können. Umgekehrt galt: Wenn Datenverarbeitung ein gutes Modell für das Denken ist, besteht kein Grund mehr, das kognitive Geschehen für nebulös und die Beschäftigung damit für ein unwissenschaftliches Unterfangen zu halten. Das Computermodell des Geistes – das Gehirn ist ein Computer, der Geist sein Programm –, das uns heute hölzern erscheinen mag, war seinerzeit ein Befreiungsschlag gegen die Black Box, in die der Behaviorismus die Kognition gesperrt hatte. In Begriffen der Datenverarbeitung durfte wieder von inneren Zuständen gesprochen werden.
Viele frühe Arbeiten zur KI verstanden sich explizit auch als psychologische Theorien; die »psychischen Maschinen« sollten die Psychologie wissenschaftlich machen. Für die nach ihm benannte Maschine orientierte sich Alan Turing am menschlichen Rechnen mit Stift und Papier; die elektrischen Schaltkreise der Rechenmaschinen, dachte er, teilen eine zentrale Eigenschaft mit den Nervenzellen: sie übertragen Informationen und speichern sie. Warren McCulloch und Walter Pitts entwickelten ihre Neuronenmodelle, um zu prüfen, was das Gehirn berechnen könne, und postulierten in Analogie zur Aktivität ihrer formalen Neuronen das »Psychon« als elementare Einheit der menschlichen Kognition. Allen Newell und Herbert Simon beschrieben ihren »General Problem Solver« als »ein Programm, das menschliches Denken simuliert«.
Die Idee, man müsse nur genau hinschauen, um die menschliche Kognition nachbauen zu können, bescherte der Welt die ersten Dialogprogramme, die schon in den siebziger Jahren helfen sollten, Krankheiten zu diagnostizieren und die richtige Therapie zu finden. Sie hießen Expertensysteme, weil die Forscher Experten, etwa Mediziner, bei der Arbeit beobachteten, nach ihrem Vorgehen fragten und dieses in der Maschine nachbildeten, Schritt für Schritt. Auf der Basis dieses expliziten, »symbolisch« genannten Programmierens entstanden auch große Datenbanken, die beeindruckendste unter ihnen Cyc, kurz für Encyclopedia. Über dreißig Jahre verwandten Forscher um Douglas Lenat darauf, dem Programm eine halbe Million Begriffe einzugeben und Millionen von Sätzen, die diese Begriffe verbinden: Vögel sind Tiere, die fliegen, sie haben Federn und schlagen mit den Flügeln. Flugzeuge fliegen auch, haben aber keine Federn und schlagen nicht mit den Flügeln. Intelligent wurden diese Systeme nie. Vielleicht, weil sie nur den Teil der menschlichen Kognition nachbilden, den der Mensch sich bewußtmachen, den er ausbuchstabieren kann, das, was er selbst mit Hilfe von Erklärungen gelernt hat. Alles, was sich mehr oder weniger unbewußt abspielt, wird davon nicht erfaßt. Wie etwa erkennt man ein vertrautes Gesicht in einer Menschenmenge? Und was genau unterscheidet einen Hund von einer Katze?
Hier glänzt das Verfahren, das derzeit am meisten von sich reden macht: das »tiefe Lernen«, Deep Learning, auf der Basis Künstlicher Neuronaler Netze (KNN). Diese werden nicht im Detail programmiert, niemand muß ihnen die Welt ausbuchstabieren. Statt dessen wird eine Grundstruktur eingerichtet und in Trainingsläufen anhand vieler Daten optimiert. Dabei rüttelt sie sich ihre Feinstruktur selbst zurecht.
Als elektronischer Spiegel taugt dieses Verfahren allerdings nicht. Der aktuelle Boom der KI beruht nicht auf neuen Erkenntnissen über die menschliche Kognition, sondern auf der Einsicht, daß diese gar nicht nötig sind. Wie Flugzeuge erst flogen, als die Konstrukteure aufhörten, sie flattern zu lassen, hebt die KI ab, seit sie auf die Simulation der menschlichen Intelligenz verzichtet. Der augenfälligste Unterschied zur menschlichen Kognition ist ihr Datenhunger. Ein Kind sieht ein Bild einer Giraffe oder vielleicht zwei, danach kann es Giraffen sicher erkennen. Wie es aus so wenigen Daten so effizient lernen kann, ist eine der großen ungelösten Fragen – und die KNN tragen nicht dazu bei, sie zu beantworten, denn sie brauchen Tausende von Trainingsdaten, um sich eine ähnliche Fähigkeit zu erarbeiten. Zudem ist schwer zu durchschauen, was sie genau tun, wenn sie Zigtausende Parameter optimieren. Auch Experten verstehen nicht, warum die Gewichtungen zwischen den Rechenknoten nun genau so verteilt sind und nicht anders.
Dem Nutzen dieser Systeme tut ihre Undurchsichtigkeit keinen Abbruch, im Gegenteil: Manche von ihnen, etwa Übersetzungs- oder Spielprogramme, funktionieren um so besser, je weniger man sie mit menschlichem Wissen behelligt und je mehr Daten man ihnen statt dessen zur Verfügung stellt. AlphaZero, das aktuellste System der Alpha-Reihe aus Googles Forschungslabor DeepMind, das nur vier Stunden brauchte, um besser Schachspielen zu können als das bis dato beste Schachprogramm, lernte, anders als die Vorgängermodelle, nicht mehr anhand menschlicher Trainingspartien, sondern spielte nur gegen sich selbst.
Haben KI-Forscher also eine ganz andere Art gefunden, Intelligenz zu realisieren, eine, die nicht beim Menschen abgeschaut ist? Eher nicht. Wie die Flugzeuge hinter den Fähigkeiten der Vögel bleibt auch diese Form der KI hinter den Fähigkeiten des Menschen zurück. Die »tiefen Lerner« funktionieren nur in eng begrenzten Welten wie dem Schach- oder dem Go Spiel, bei der Bilderkennung, dem Rating von Suchergebnissen oder der Übersetzung. Sie sind extreme Spezialisten, können so gut wie nie von einer Aufgabe zu einer anderen wechseln und kombinieren lassen sie sich auch nicht. Je komplexer und uneindeutiger die Situation ist, in der ein künstliches intelligentes System sich bewähren soll, um so mehr ist das menschliche Wissen dann doch wieder gefragt. Und solche Situationen machen den Großteil unseres Alltags aus.
Wahrscheinlich muß die Forschung für flexiblere intelligente Systeme noch einmal ganz anders ansetzen und den elektronischen Spiegel wieder blank putzen. Alan Turing hatte schon 1950 visionär die Simulation des ganzen Menschen statt nur seines Denkens empfohlen: »Ebenso kann man behaupten, daß es das beste wäre, die Maschine mit den besten Sinnesorganen auszustatten, die überhaupt für Geld zu haben sind, und sie dann zu lehren, Englisch zu verstehen und zu sprechen. Dieser Prozeß könnte sich wie das normale Unterrichten eines Kindes vollziehen. Dinge würden erklärt und benannt werden usw.« Developmental Robotics heißt das Unterfangen, das diese Idee heute umzusetzen versucht. Menschen zeigen Robotern in Kindergestalt, ausgestattet mit Augen, Ohren und Tastsinn, Gegenstände und benennen sie. Wenn ein solches System in der Lage ist, seine Sensordaten mit den gelernten Wörtern zusammenzubringen, so die Überlegung, wird es vielleicht auch einmal verstehen, was mit diesen Wörtern gemeint ist, statt sie nur statistisch zu sortieren und nachzuplappern. Die Vertreter der Developmental Robotics haben alle philosophischen Überlegungen und einige neurophysiologischen Erkenntnisse über die Bedeutung des Körpers, der Umwelt und der Mitmenschen für das Denken auf ihrer Seite. Allerdings befindet sich dieses Unternehmen in einem frühen Forschungsstadium und krankt an immer wieder versiegenden Fördergeldern.
Vielleicht setzt es in der evolutionären Hierarchie auch zu weit oben an. In bescheideneren Projekten erforschen kopflose Roboter erst einmal ihre Möglichkeiten, sich zu bewegen und ihre Gliedmaßen zu koordinieren, bevor sie mit Höherem, etwa der Entdeckung der Umwelt oder der Handlungsplanung beginnen. Dabei lernen die Forscher viel über Selbstorganisation, die Bedeutung der Körperarchitektur und darüber, wie komplexes Verhalten ohne eine zentrale Steuerinstanz möglich ist.
Mit einem guten Experiment trickst man die eigenen Voreingenommenheiten aus, mit den mehr oder weniger intelligenten Maschinen auch die Voreingenommenheiten über die menschliche Intelligenz. Am Ende könnte es sein, daß eine Künstliche Intelligenz, die diesen Namen verdient, deren Ergebnisse nicht mehr seelenlos, kalt, nervtötend und häßlich sind, nicht nur einen Körper, sondern auch eine Evolutionsgeschichte und eine Kindheit benötigt.
Ob wir dann besser verstehen, was vor sich geht, wenn eine solche Maschine einmal überzeugende Geschichten, Gedichte, Musikstücke oder Bilder verfertigt, oder ob wir nur einen Prozeß anstoßen, dessen Ergebnis uns so wenig durchschaubar ist wie die menschliche Kreativität, ist allerdings eine offene Frage. Unser elektronisches Spiegelbild könnte uns so rätselhaft bleiben, wie Spiegelbilder es von jeher gewesen sind.
Sinn und Form 5/2019, S. 703-706
Leonhard, Rudolf
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- Sonderheft Probleme des Romans/1966 | Hölderlin
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Leonow, M. A.
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- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Ja aus nein
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Lessler, Toni
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Lethen, Helmut
- 3/2014 | Zeitspeicher der Entleerung. Carl Schmitts Tagebücher als Quelle der Werkdeutung
- 3/2019 | Unter dem Pflaster die Kanalisation. War das Böse das wirklich Reale der historischen Avantgarden?, S. 293 Leseprobe
Lethen, Helmut
Unter dem Pflaster die Kanalisation. War das Böse das wirklich Reale der historischen Avantgarden?
Unter dem Pflaster ist die Kanalisation – mit diesem Titel visiere ich kein verborgenes Terrain an, kein unterirdisches System, durch das die Abfälle des oberirdischen Systems der sozialen oder moralischen Hygiene zuliebe abgeführt wurden. Im 20. Jahrhundert lag die finstere Kanalisation aufgedeckt vor uns, was auch eine Leistung der Avantgarden war. Dort befand sich keine geheime Tiefenstruktur mit Plantagen verbotener Drogen und versteckten Waffenlagern. Nein, das 20. Jahrhundert hatte den Vorteil, daß es im Scheinwerferlicht technisch hochmoderner Apparate den moralischen Untergrund und die Schauplätze des Gemetzels ausleuchtete, die auf niedrigerem technischen Niveau auch im 17. Jahrhundert, aus dem die Avantgarden viele Inspirationen empfangen hatten, schon ins Licht gerückt worden waren.
I. Neolithische Kindheit
Im heißen Sommer 2018 konnte man im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die fabelhafte Ausstellung »Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930« besichtigen. Der Katalog beginnt mit einer Kritik der Avantgarde forschung. Sie habe nach dem Zweiten Weltkrieg die »radikalsten Elemente der Avantgarde« neutralisieren müssen, um sie »für den neuen westlich bürgerlichen Kanon reklamieren zu können«. Man denkt oft, die Demokratie sei ein »Allesfresser« (Heiner Müller). Das ist nur insofern wahr, als sie Brisantes in der Regel ausscheidet.
»Neutralisiert« wurden in der Nachkriegsrezeption krasse Merkmale der Avantgarden wie ihre Abwertung des Humanen, ihre Feier des teuflischen Chaos, ihr Einsatz der Sprache als Desinfektionsmittel der Moral, ihr faschismusaffiner Biologismus und ihre Verachtung demokratischer Tugenden, wie der Balance oder des Austauschs, das heißt ihre Liebe zum Absturz in Zonen, in denen Gefahr die Berührung mit dem Realen garantieren sollte. Orte archaischer »Naturvölker «, Stierkampfarenen, Schlachthöfe, Schauplätze der Revolution, Boxringe, Schützengräben oder Bordelle und Psychiatrien – waren solche mit Vorliebe aufgesuchte oder imaginierte Zonen. Wahrscheinlich hätte man sich darauf einigen können, daß, wie Heiner Müller einmal bemerkte, hinter den Kulissen der Demokratie eine stabile Sphäre »des Bösen, also eine gewisse Menge an Bestialität, eine gewisse Menge von Gewalt« versteckt sei, die der Avantgardist aufspüren müsse, um ihren ästhetischen Reiz mit Erkenntnisgewinn oder Vergiftungswillen auszustellen.
Die historischen Avantgarden zerlegten jedenfalls die Grundfesten einer aus ihrer Sicht schwachen, das heißt humanistisch gefärbten Anthropologie, die die Natur des Menschen als demokratiekompatibel begreifen wollte. Der einzelne als Individuum und moralische Größe wurde von ihnen demontiert. 1931 schrieb Carl Einstein, der den Begriff der »Neolithischen Kindheit« geprägt hat: »Der Mensch war nicht mehr ein stabiler Typus sondern ein Bündel schwer überschaubarer Vorgänge, die man allzulange verheimlicht hatte, um das Ebenbild Gottes intakt zu halten.« Diese Kränkung hatten im 19. Jahrhundert schon der Darwinismus, der Marxismus und die Psychoanalyse dem humanistischen Menschenbild zugefügt. Jetzt wendet man die aus dieser Verletzung resultierende Wut gegen den »Liberalismus«, ein diffuses, aber allgegenwärtiges Feindbild der Avantgarden. Dieser habe, so Einstein, die »Fähigkeit zum Notwendigen« eingebüßt. Es gelte nun, aus dem »trüb wogenden Schlamm« einem »neuen gewaltsamen Geschick« zum Durchbruch zu verhelfen. Ernst Bloch ergänzt 1935: Der Relativismus der Liberalen habe eine »allgemeine Müdigkeit« erzeugt, so daß jetzt die antihumanen archaischen Bestände wie »Magma der Vorzeit« durch die dünne Eisdecke der Zivilisation brechen können.
Die Bannflüche gegen den Liberalismus klingen verdächtig nach Parolen der Konservativen Revolution. Bekanntlich waren die Avantgardisten in Frankreich und Italien enger mit den faschistischen Bewegungen verbunden als in Deutschland, George Sorels revolutionärer Mythos hat aber auch viele Intellektuelle in Deutschland angesteckt. Waren die Avantgardisten durch ihren biologistischen Bildraum grundsätzlich anschlußfähig an faschistische Strömungen? Eigentlich nicht, meint der Kurator der Berliner Ausstellung, Tom Holert, obwohl »die Ideologien des Imperialismus und Faschismus in doktrinärer Unverfrorenheit mit biologistischen Theoremen und Sprachbildern ausgestattet waren«. Hätte man den Vitalismus besser in dem geschützten Raum der Kunstautonomie des Surrealismus eingehegt, statt ihn in den politischen Raum auszuwildern? Oder anders gefragt: War die historische Avantgarde so etwas wie die ästhetische Auswilderung lebensgefährlicher Strömungen? Wurde in ihr die menschliche Scham im Ofen des Bösen verbrannt?
Jedenfalls hatten die Kuratoren der Berliner Ausstellung große Mühe mit Werken, die keine »kritische Figuration« der Gegenwart leisten, sondern sich in einen »faschistischen Kosmos« eingliedern lassen, in dem »das Volk in einem monumentalen und nach allen Seiten hin phobischen Volkskörper verschmilzt«. Carl Einstein ist frei von diesem Verdacht. Immerhin war er Sozialist und Spanien kämpfer, auf der Flucht vor den Nazis beging er 1940 Selbstmord; das macht es schwer, die finsteren Dimensionen seines Denkens um 1930 wahrzunehmen. Die Kuratoren neutralisieren radikale Elemente der Avantgarde, oder genauer: Sie spalten eine politisch gefährliche Avantgarde von einer Spielavantgarde ab. Damit gerät die Wirklichkeit der Entscheidungen auf die moralisch diskreditierte Seite.
Das weist auf ein Dilemma der Avantgardeforschung hin: Einerseits verbündet sie sich mit den wilden Attacken gegen den Liberalismus, natürlich nur als ästhetisch reizvolles Unternehmen; andererseits benutzt sie dessen Grundwerte zur Abgrenzung gegen politisch tabuisierte Bewegungen.
II. Das Aussetzen der Evolution
Als Marcel Mauss 1938 in einem Vortrag die Entwicklung der Fundamental-Kategorie »Person« von der Maskerade der ausgefüllten Rolle in heiligen Vorzeit-Dramen zur individuellen Figur mit moralischem Wert verfolgte, schloß er nicht aus, daß diese Entwicklung auch rückgängig gemacht werden könnte: »Wir haben große Güter zu verteidigen«, warnt er am Schluß seines Vortrags, »mit uns kann die Idee (des Individuums, HL) verschwinden«. Die Avantgardisten hatten sie bereits weitgehend eliminiert. Eines ihrer Spiele im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestand darin, die Stufenleiter der Herausbildung der »Person « im moralischen Verstande bis in die Zeit der »Masken-Zivilisation« hinabzusteigen, in der sich der Mensch in Ritualen seine Person erstellt.
Das Konzept der Evolution hatte aus der Vorgeschichte eine hinter uns liegende Zeitspanne gemacht, einen Raum in Australien oder Südafrika, wo lebende Fossilien der Steinzeit, die »Wilden«, zu finden waren. Die Avantgardisten liebäugelten mit der Idee, die Stufenfolge der Zivilisation außer Kraft zu setzen, die Barbarei schien ihnen als Endpunkt der Entwicklungsgeschichte nicht unwahrscheinlich. Zumindest erschien ihnen dieser Zustand als ästhetisch reizvoll.
1933 entdeckte der Fotograf Brassai in den Graffiti auf Pariser Fabrikmauern Gesten von Menschen, die einst auf Höhlenwände gemalt hatten. Er glaubte, in ihnen den Sieg der Ethnologie über die Geschichte des Fortschritts zu erkennen, aber auch den Triumph der Fotografie über das normale Sehvermögen. 1933 schrieb er: »Allein durch das Eliminieren des Faktors Zeit führen lebendige Analogien zu schwindelerregenden Annäherungen durch alle Zeitalter hindurch. Im Lichte der Ethnografie (…) wird die Steinzeit zu einem Geisteszustand«. Unter den Automatismen des modernen Lebens habe die Steinzeit »überlebt«. Sie war ein Jungbrunnen, eine »Neolithische Kindheit«, wie Einstein fand.
Es geht Avantgardisten wie Brassai nicht um die Rekonstruktion eines linearen Progresses der Kulturen, sondern um die Eliminierung des Faktors Zeit, wie Maria Stravinaki im Kommentar zur Ausstellung erläutert, um die schwindelerregende Präsenz der Vorzeit. Darum konnten Avantgardisten die dreißiger Jahre mit der Steinzeit identifizieren. Hat man erst einmal den Evolutionismus verabschiedet, zeigen sich Analogien zwischen den vermeintlich »Zivilisierten« und den »Primitiven«. Dunkel, rätselhaft und nur bruchstückhaft erschlossen, bot sich die Vorgeschichte als offener Horizont an, ohne spezifischen Ursprung, mit ungenauen Anfängen, ohne organische Abfolge: »Niemandes Herkunft und niemandes Erzeuger«. Daran wird erkennbar, wie sich die Verdikte der Konservativen Revolution, die im Wortlaut ähnlich klingen wie die oben zitierten Aussprüche der Avantgardisten, von diesen unterscheiden. Vertreter der Konservativen Revolution dringen in den von der Avantgarde hergestellten Hohlraum der Herkunftslosigkeit ein, besetzen ihn mit Mythen des Ursprungs, Genealogien des Blutes, Heldenliedern der Nation und der Gewißheit der Identität eines Volkes. Je genauer man den Anfang eines »Ursprungs« untersucht, desto mehr zerstreut er sich in viele Anfänge, die sich im historisch dunkeln verlieren. Diesen desillusionierenden Blick haben die Konservativ-Revolutionären nie riskiert.
[…]SINN UND FORM 3/2019, S.382-390, hier S. 382-385
Lettau, Reinhard
- 1/1972 | Täglicher Faschismus
- 5/1981 | Gespräch mit Helmut Baldauf
- 1/1992 | Wiederholung der Reise
- 3/2006 | Der Freund des Landes und andere Fragmente aus dem Nachlaß. Vorbemerkung Alexander Karasek
Lévi-Strauss, Claude
- 2/2009 | Die westliche Kontamination. Gespräch mit Boris Wiseman, S. 180 Leseprobe
Lévi-Strauss, Claude
Die westliche Kontamination. Gespräch mit Boris Wiseman
BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine bewußte Wahl?
LÉVI-STRAUSS: Ich wünschte das nicht, weil ich ehrlich gesagt wenig Geschmack an gesellschaftlichen Kontakten finde. Mein erster Impuls ist immer, die Leute zu fliehen und nach Hause zu gehen.
WISEMAN: Man hat Ihnen mitunter eine sehr kritische Sicht auf die Kultur, der Sie angehören, zugeschrieben. Weisen Sie diese Kultur zurück?
LÉVI-STRAUSS: Der Kultur selbst bin ich zutiefst verbunden. Ich empfinde mich als Produkt dieser Kultur. Es ist vielmehr die Gesellschaft, die mich abstößt.
WISEMAN: Was stößt Sie insbesondere ab?
LÉVI-STRAUSS: Tausenderlei Sachen. Aber mir scheint, daß sie sich alle auf eine einzige zurückführen lassen: Als ich zur Welt kam, gab es eine Milliarde Menschen auf Erden, und als nach dem Staatsexamen mein aktives Leben begann, waren es eineinhalb Milliarden; es sind nun sechs Milliarden und morgen werden es acht oder neun sein. Diese Welt ist nicht mehr die meine.
WISEMAN: Wie stellt sich Ihnen das Alltagsleben im Paris des 21. Jahrhunderts dar?
LÉVI-STRAUSS: Es ist so leicht für einen Greis, zu sagen, es sei alles besser gewesen, als er jung war, daß man sich verbieten müßte, auf solche Fragen zu antworten. Aber sei’s drum, wenn Sie möchten, daß ich mich gehenlasse, würde ich sagen, abgesehen vom unbestreitbaren Fortschritt der Medizin, der für jeden von uns von Vorteil ist, bot das Leben für jemanden meines gesellschaftlichen und intellektuellen Milieus in jeder Hinsicht mehr Annehmlichkeiten.
WISEMAN: Würden Sie sich als wesentlich nostalgisch beschreiben?
LÉVI-STRAUSS: Nicht nur nostalgisch im Hinblick auf meine Jugend, sondern auf viele Epochen, die ich nicht gekannt habe.
WISEMAN: Welche zum Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Das hängt von dem Buch ab, das man liest, dem Gemälde, das man betrachtet, der Musik, der man lauscht, oder der Stimmung des Augenblicks. Meistens fühle ich mich als Mensch des 19.Jahrhunderts. Die Epoche zu wechseln ist ein frivoles Spiel: was man auf der einen Liste zu gewinnen glaubt, verliert man auf der anderen.
WISEMAN: Wie nehmen Sie die aktuelle Situation der Anthropologie wahr?
LÉVI-STRAUSS: Es gibt noch jede Menge zu tun, weil es in der Welt noch viele Dinge gibt, die wenig oder schlecht erforscht sind. Aber zuletzt wird es sich nur noch darum handeln, Krümel aufzuklauben.
WISEMAN: Denken Sie, daß die Anthropologie unausweichlich dem Untergang geweiht ist?
LÉVI-STRAUSS: Eher einer Transformation. Die Aufgabe der Anthropologie hing ganz von einer historischen Konstellation ab: dem Augenblick, in dem der abendländischen Kultur bewußt wurde, daß sie die ganze Welt beherrschen würde. Man mußte sich also beeilen, um alle menschlichen Erfahrungen einzusammeln, die ihr nichts schuldeten und deren Kenntnis unentbehrlich ist, wenn man sich von einer Menschheit einen Begriff machen wollte, die nicht auf eine persönliche Betrachtung reduziert werden kann oder gar auf die abendländische Zivilisation selbst. Ich denke, die Anthropologie hat ihre Pflicht, sagen wir mal in den letzten beiden Jahrhunderten, gut erfüllt, aber wir haben den Zeitpunkt erreicht, an dem keine der menschlichen Erfahrungen, die wir noch kennenlernen werden, von der westlichen Kontamination frei sein wird, so daß uns diese Erfahrungen nicht mehr über das unterrichten können, was zu suchen wir ehedem ausgezogen waren.
WISEMAN: Obwohl man das Objekt der Anthropologie in gewissem Sinne als etwas erachten kann, das im Verschwinden begriffen ist, das zerbröselt, entstehen auch neue Objekte. Sie sagen selbst irgendwo, daß, wenn die Unterschiede der Kulturen aufgrund dieser westlichen Kontamination dahinschwinden, andere Unterschiede entstehen können, gleichsam unsichtbare, im Inneren der Kultur, welcher man angehört, Unterschiede, die zum Objekt anthropologischer Studien werden können.
LÉVI-STRAUSS: Das waren freundliche Worte der UNESCO zuliebe, aber man darf sich keinen Illusionen hingeben. Es gab nun einmal Schätze des Glaubens und der Sitten, der Gebräuche und Institutionen, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden waren und sich entwickelt hatten wie seltene tierische und pflanzliche Arten. Es wird neue Unterschiede geben, aber anderer Art.
WISEMAN: Welche Vorstellung machen Sie sich von der Transformation der Anthropologie?
LÉVI-STRAUSS: Es wird sich eine Disziplin herausbilden, dem Studium der neuen Unterschiede gewidmet, die hier und da entstehen werden, aber das ist nicht mehr mein Problem. Ansonsten wird sich die Anthropologie in eine Philologie verwandeln, eine Geschichte der Ideen, so wie die antike Welt, Griechenland, Rom, das vedische Indien verschwunden sind, aber uns seit Jahrhunderten beschäftigen, und das wird noch Jahrhunderte anhalten. Der Umfang an bestehendem anthropologischem Material, das noch nie gesichtet oder publiziert wurde, ist immens.
WISEMAN: Es ist eine Besonderheit der französischen Anthropologie, tief in der Philosophie zu wurzeln. Zahlreiche französische Ethnologen haben eine philosophische Ausbildung. Meinen Sie, daß diese Beziehung zur Philosophie für die Anthropologie ebenso nachteilig wie vorteilhaft sein kann?
LÉVI-STRAUSS: Ich bin überzeugt, daß es ein Vorteil ist.
WISEMAN: Einverstanden, aber meine Frage war: Ist es auch ein Nachteil?
LÉVI-STRAUSS: Es könnte insofern ein Nachteil sein, als es zu voreiligem Theoretisieren einlädt, doch das gilt nicht für alle … Aber sagen wir mal, es rüstete die französischen Ethnologen mit einer allgemeinen philosophischen Bildung aus, die umfassender war als die vieler unserer ausländischen Kollegen.
WISEMAN: Gibt es anthropologische Probleme, die Sie ohne diese philosophische Bildung, ohne den Beitrag der Philosophie, nicht hätten lösen können?
LÉVI-STRAUSS: Schwer zu sagen. Der Beitrag der Philosophie war eine allgemeine Bildung, aber vor allem eine gewisse Gymnastik des Geistes, eine bestimmte Art, die Reflexion zu lenken.
WISEMAN: Welcher philosophischen Tradition fühlen Sie sich in dieser Hinsicht zugehörig?
LÉVI-STRAUSS: Man hat oft gesagt, ich sei Kantianer, was wahrscheinlich wahr ist.
WISEMAN: Die strukturale Anthropologie ermöglicht es unter anderem, die Phänomene zu erhellen, die den Ethnologen interessieren. Welche Typen von Phänomenen entziehen sich der strukturalen Erhellung? Was kann der Strukturalismus am schwersten erkennen?
LÉVI-STRAUSS: Das sind keine Typen von Phänomenen, eher Ebenen, die man einnimmt, um irgendwelche Phänomene zu beobachten.
WISEMAN: Wären Sie einverstanden mit der Feststellung, daß die vom Strukturalismus bevorzugten Ebenen der Beobachtung diejenigen sind, die dem Unbewußten am nächsten sind?
LÉVI-STRAUSS: Ja, aber vor allem gibt es Phänomene, für die wir hoffen, bereits die passende Ebene der Beobachtung gefunden zu haben, und andere, für die sie sich uns entzieht. Vielleicht werden wir sie niemals finden.
WISEMAN: Haben Sie dafür ein Beispiel?
LÉVI-STRAUSS: Ich würde sagen, die Ebenen, auf denen es unerläßlich ist, dem Individuum einen Platz einzuräumen.
WISEMAN: In dem Maß, in dem der Geist mit einer kleinen Anzahl rekurrenter Strukturen funktioniert, bilden diese Erzeugnisse eine geschlossene kombinatorische Einheit. In »Traurige Tropen« beschwören Sie die Möglichkeit eines periodischen Systems bestehender oder möglicher sozialer Strukturen. Was erwidern Sie den Kritikern, die sagen, daß eine derartige Auffassung des Geistes den Menschen eines seiner fundamentalen Werte beraubt: der Freiheit?
LÉVI-STRAUSS: Das ist eine Sprache, die mir so dunkel ist wie eine Fremdsprache. Ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich sagte Ihnen soeben, daß, wenn man das Individuum in Rechnung stellen will, es viele Annäherungen gibt, die legitim wären, aber nicht der Strukturalismus, denn dieser bedingt, daß wir imstande sind, vom Individuum zu abstrahieren. Wenn Sie ein Mikroskop mit verschiedenen Vergrößerungen haben und eine schwache Vergrößerung wählen, werden Sie in einem Wassertropfen kleine Tierchen sehen, die sich ernähren, kopulieren, sich lieben, sich hassen und für die die Freiheit existiert. Wenn Sie sich einer etwas stärkeren Vergrößerung bedienen, werden Sie nicht mehr die Tiere sehen, sondern die Moleküle, aus denen ihre Körper zusammengesetzt sind. Das Thema der Freiheit verliert dann seinen Sinn. Es ist nur auf einer anderen Ebene der Realität anwendbar.
WISEMAN: Ich glaube, meine Frage war: bis zu welchem Punkt determinieren die strukturalen Ebenen unsere Erfahrungen, unsere Wahrnehmungen, so wie wir sie auf der Ebene erleben, auf der wir als Individuen funktionieren, in der Welt handelnd und lebend.
LÉVI-STRAUSS: Es gibt so viele Determinismen, die auf allen Ebenen wirken, auf den Ebenen, die zur Molekularbiologie gehören oder zur Tierphysiologie, und was sonst noch alles, so daß die Art und Weise, in der all diese Faktoren ineinandergreifen, ungeheuer komplex ist und diese Art Frage jeglichen Sinn verliert.
WISEMAN: Glauben Sie an die Möglichkeit vollkommen freier Handlungen, die sich den von Ihnen beschriebenen Determinismen entziehen?
LÉVI-STRAUSS: Ich weiß nicht, was das heißen soll.
WISEMAN: Sie wissen nicht, was das heißen soll, eine freie Handlung?
LÉVI-STRAUSS: Nein, ich weiß nicht, was das heißen soll. Ich fühle mich frei, wenn ich nichts in mir verspüre, was sich in mir gegen das, was ich tun will, sträubt.
WISEMAN: Es gibt eine etwas heikle Frage, die ich gern mit Ihnen erörtern würde. Montaigne sagte, Philosophieren heißt Sterben lernen. Hat Philosophieren für Sie auch diese Bedeutung?
LÉVI-STRAUSS: Das ist die Betrachtung eines Greises. Montaigne ist nicht alt gestorben, aber er erachtete sich als Greis, weil man damals häufig jung starb. Jedenfalls hört der Tod am Ende des Lebens auf, eine Abstraktion zu sein, was er die meiste Zeit unseres Daseins ist, und wird dann zu etwas sehr Konkretem. Also ja, gewiß. Man kann sich den Fragen, die sich die Menschen stellen, seit es sie auf Erden gibt, nicht nicht stellen. Und die Philosophie lehrt uns zu versuchen, auf diese Fragen eine Antwort zu geben, die uns annehmbar erscheint.
WISEMAN: Denken Sie oft an den Tod?
LÉVI-STRAUSS: Oft.
WISEMAN: Mit Zufriedenheit?
LÉVI-STRAUSS: Ich rufe den Tod nicht herbei, aber ich sehe nicht recht, was noch mein Platz auf dieser Erde ist.
WISEMAN: Warum das?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich mein Werk vollendet habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach werde ich dem, was ich geschrieben habe, nichts mehr hinzufügen. Was ich hinzufügen könnte, wäre von minderer Qualität und also entbehrlich.
WISEMAN: Ist die Tatsache, dieses Werk geschrieben zu haben, für Sie mit großer Befriedigung verbunden?
LÉVI-STRAUSS: Sie ist mit der Befriedigung verbunden, mich nicht gelangweilt zu haben.
WISEMAN: Sie schreiben nicht mehr?
LÉVI-STRAUSS: Das ist nicht so einfach. Es kommt vor, daß ich noch an kleinen Sachen arbeite. Aber es ist keine Frage von Schreiben oder Nichtschreiben, es ist die Frage, ob das Denken noch fruchtbar ist oder aufhört, es zu sein.
WISEMAN: Sie haben wiederholt über die Riten geschrieben, die die Völker erfanden, um die Beziehung zwischen der Welt der Lebenden und der der Toten zu symbolisieren. Was halten Sie als Anthropologe von der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft ihre Beziehungen zur Welt der Toten darstellt?
LÉVI-STRAUSS: Ich erinnere mich, daß mir in dem kleinen Dorf, in dem ich meine Ferien verbringe und das keinen ständigen Pfarrer hat, derjenige, dersechs oder sieben Gemeinden betreut, eines Tages sagte, daß den Franzosen als einzige Religion der Totenkult verblieben ist.
WISEMAN: Die Religion als religiöse Praxis ist verschwunden?
LÉVI-STRAUSS: Wenigstens ist es im bürgerlichen Leben die Form, in der die Religion ihre Realität bezeugt.
WISEMAN: Ich glaube, hier können wir aufhören.
LÉVI-STRAUSS: Das ist ganz in meinem Sinn. Allmählich finde ich keine Worte mehr, um Ihnen zu antworten.Aus dem Französischen von Anita Albus
SINN UND FORM 2/2009, S. 180-185
Levi, Carlo
- 5-6/1959 | Worte sind Steine
Levi, Primo
- 1/1961 | Ist das ein Mensch?
Lévinas, Emmanuel
- 1/1995 | Das sinnlose Leiden
Levy, Oscar
- 3/2007 | Die Exkommunizierung Adolf Hitlers. Ein Offener Brief, S. 348 Leseprobe
Levy, Oscar
Die Exkommunizierung Adolf Hitlers. Ein Offener Brief
Mein Führer,
es wird Sie erschüttern, bis ins Mark erschüttern, daß jemand, der noch nicht einmal deutscher Staatsbürger ist oder sich rühmen kann, einen Tropfen Ihres edlen arischen Blutes in seinen Adern zu haben, Sie in dieser Weise anredet. Doch ich muß Sie so anreden, weil wir dieselbe Weltanschauung haben, wir sind Brüder im Geiste, wir nennen uns beide stolz Schüler des Philosophen Friedrich Nietzsche.
Zumindest werden Sie als ein solcher von Ihren deutschen Anhängern verehrt; sie bezeichnen Sie als seinen fleischgewordenen Geist, sie rühmen Sie als eine Annäherung an den Übermenschen, wenn nicht gar als dessen Verkörperung. Das glauben Sie bestimmt selbst nicht – doch Sie haben gewiß großes Interesse an Nietzsche und bemühen sich, auch ihre Landsleute für ihn zu interessieren.
Bereits vor Ihrer Machtergreifung waren Sie oft zu Gast bei Elisabeth Förster-Nietzsche, in deren Villa in Weimar, wo Nietzsche seine letzten Jahre verbrachte. Sie ließen sich neben Klingers Nietzsche-Büste fotografieren, und diese malerische Einheit »verwandter Geister« wurde in vielen deutschen Publikationen abgebildet. Als Nietzsches Schwester starb, waren Sie so liebenswürdig, ihr die letzte Ehre zu erweisen und sie zu ihrer letzten Ruhestätte zu geleiten. Seit ihrem Tod haben Sie durch großzügige Spenden das Nietzsche-Archiv unterstützt, welches sich dank Ihrer fortdauernden Anteilnahme vergrößern und unter fachmännischer baulicher Anleitung zu einem würdigen Wallfahrtsort für weitere deutsche Nietzscheaner entwickeln kann.
Wer Nietzscheaner sein will, muß, laut Nazi-Ideologie, Deutscher sein. Andere Völker werden vielleicht stillschweigend geduldet, aber absolut ausgeschlossen ist die jüdische Rasse, der es nicht einmal gestattet ist, das Wasser deutscher Kurbäder zu trinken, und die diesen neuen Tempel und die offiziellen Quellen Nietzschescher Weisheit in Weimar keinesfalls verunreinigen darf.
Wie also, frage ich, kommt es, daß diese jüdische Rasse sich so für Nietzsche interessiert? Daß sein Entdecker, der Mann, der ihn als erster einer unwissenden Welt präsentierte, und zwar zu einer Zeit, als Nietzsche in seinem Vaterlande nur verlacht wurde, daß dieser Mann, Georg Brandes aus Kopenhagen, weder Deutscher noch Arier war? Ohne ihn hätte den »Zarathustra« sehr leicht das Schicksal von Schopenhauers »Welt als Wille und Vorstellung« ereilen können: er wäre von einem enttäuschten Verleger womöglich eingestampft worden und hätte nie die Auferstehung erlebt, die Schopenhauers berühmtes Buch vorm ewigen Vergessen bewahrte. Und wie kommt es, daß ich, der Nietzsche-Pionier der angelsächsischen Welt, ebenfalls Jude bin, der, das können Sie mir glauben, immer wieder staunt, daß Sie, der Held der Volksversammlungen und Massenkundgebungen, sich das exklusive Credo des Einsamen von Sils Maria aneignen. Politik, heißt es, macht seltsame Bettgenossen, aber die Philosophie auch?
Wie kommt es, daß Sie und ich dieselbe Weltanschauung haben? Nach Ihren Glaubenssätzen zählt nur das Blut und nicht der Geist. Sie sagen, schon das Blut eines einzigen jüdischen Großelternteils genüge, den Geist für immer zu verderben und den Sprößling für höheres Denken, Fühlen und Handeln untauglich zu machen. Falls Abstammung überhaupt feststellbar ist – denn gegen Versuchungen sind Frauen aller Rassen nicht gefeit –, so habe ich seit Moses ausschließlich jüdische Vorfahren, ja, da ich Levit bin, kann ich meine Herkunft bis zu diesem Gesetzgeber zurückverfolgen, der Mitglied meines Stammes war. Wie also ist es möglich, daß wir, wiewohl verschiedenen Rassen zugehörig und einander so fern wie Himmel und Hölle (wobei Sie natürlich im Himmel sind), doch übereinstimmen in unseren Moralvorstellungen, in unseren Ansichten hinsichtlich dessen, was gut und böse ist, also in den geheimsten Fragen von Herz und Hirn, Wille und Vision?
Entweder ist Ihre (und auch Nietzsches) Theorie, daß »Blut Geist ist«, falsch, oder Nietzsche ist nicht der, für den Sie und Ihre literarischen Berater ihn halten.
Ich denke, letzteres trifft zu.
Ich denke, daß Nietzsche die von Ihnen vertretenen Werte zutiefst zuwider wären – da es nicht seine sind, sondern die einer längst vergangenen Zeit, die Sie, in typisch deutscher Manier, wiederbeleben wollen.
Nietzsche war kein Nationalist, aber Sie sind einer. Nietzsche war kein Sozialist, aber Sie sind einer. Nietzsche war kein Antisemit. Falls aber doch, dann nicht in Ihrem Sinne des Wortes, denn er schätzte die Intelligenz jener Menschen, die Sie jetzt aus dem Lande treiben. Er sah in ihnen die wahren Jünger seiner Botschaft, denn er besaß, schon während seines bewußten Lebens, zahlreiche Anhänger unter ihnen. Prophetisch schrieb er an einen Freund: »Man wird nicht unsterblich ohne diese unsterbliche Rasse.« Die Antisemiten nannte er »Schlechtweggekommene«; und wohl aus Groll über seine Vereinsamung erklärte er, »welche Wohltat ist ein Jude unter Deutschen«. Ein andermal schrieb er: »Der Himmel erbarme sich des europäischen Verstandes, wenn man den jüdischen Verstand davon abziehen wollte!« Ja, er hat diesen Verstand wohl überschätzt, zumindest was die deutschen Juden und deren Mangel an Weitblick betrifft, der es Ihnen relativ leichtgemacht hat, sie um ihr Hab und Gut zu bringen.
Wie dem auch sei, Nietzsche interessierte sich mehr für die Juden (und hat dies zugegeben) als für sein eigenes Volk. Er wußte, Blut ist wichtig, freilich nicht das Blut der Nazis. Er wußte, daß nicht jeder das Reich des Geistes betreten dürfe, daß für das Studium der Philosophie, und mehr noch für die Reform von Philosophie und Theologie, eine lange Ausbildung und ererbte Fähigkeiten notwendig seien. Vermutlich hat er vorausgesehen, daß die Rasse der Psalmisten, Propheten und Apostel – nachdem sie die ganze Welt zu ihrem Ideal bekehrt hatte –, oder zumindest einige davon, auch neue Werte anerkennen würde, nun, da ihre alten sich als unzureichend, ja als gefährlich erwiesen hatten. Er würdigte die Juden nicht nur als eine konservative, sondern auch als eine revolutionäre Rasse – nur nicht in Ihrem Sinne, Herr Hitler! – und glaubte, etliche von ihnen würden, mit Ihrem Landsmann Goethe, dereinst erkennen:
Alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.»Im Sein beharren!« Ach, hätten Sie dies nur getan! Statt dessen haben Sie, wie Nietzsche prophezeite, einen »Schleichweg zum alten Ideal« zu finden gewußt, zu den alten Werten, zu den Gespenstern der finsteren Zeiten – zum Mittelalter und Vor-Mittelalter!
Das war mitnichten das Ideal des Friedrich Nietzsche! Er kannte die Feinde seines Ideals: Ihr Volk.
Man nennt Sie, was zu Bedenken Anlaß gibt, den Wohltäter dieses Volkes. Aber sind Sie auch der Wohltäter Europas?
Nietzsche war, wie Sie wissen, ein »guter Europäer«. Und sind Sie der Wohltäter der Welt? Das wollte Nietzsche sein, wie Sie sich wohl erinnern. Der Wohltäter meines Volkes sind Sie jedenfalls nicht. Doch darum sorge ich mich weniger, als Sie denken. Die Juden sind Unheil gewöhnt, sie brauchen es sogar, weil sie sonst einschlafen würden, so wie die Juden Ihres Landes. Was deren Zukunft betrifft: Das einzige Volk, dem Sie vielleicht noch nützen, sind die Juden. Was mich viel mehr bedrückt, das ist der ungeheure Schaden, den Sie meiner Missionsarbeit für Nietzsche zugefügt haben und weiter zufügen. Ich sage Ihnen auch, warum.
Als ein Beförderer von Nietzsches Botschaft in der angelsächsischen Welt hatte ich es sehr schwer. Ich hatte es mit einer Öffentlichkeit zu tun, die halb imperialistisch, halb calvinistisch war – und wie Sie wissen (oder nicht wissen), war keine dieser Eigenschaften nach Nietzsches Geschmack. Ich übertreibe nicht, wenn ich erkläre, alles, was »unser« Meister zu sagen hatte, war gänzlich unvereinbar mit dem, was jeder brave Brite in seinem tiefsten Innern fühlte und dachte. Und deshalb ist der erste Versuch, Nietzsche in England einzuführen, auch fehlgeschlagen, und zwar dermaßen, daß sein Verleger vors Konkursgericht kam. Als Frankreich bereits zehn Jahre über eine vollständige Nietzsche-Übersetzung verfügte, kannte England das Werk nicht einmal flüchtig. Öffentlichkeit und Verleger hatten seinen Namen nie gehört: Ich mußte ihn buchstabieren, und die vielen Konsonanten belustigten sie, so daß sie den Klang von »Nietzsche« mit Niesen verglichen.
Ich jedenfalls, des seien Sie versichert, fand es nicht lustig, mit meinem Angebot von einem Verlag zum anderen zu laufen und überall nur höflichem Achselzucken zu begegnen. Manchmal auch bloß Achselzucken ohne Höflichkeit, und mindestens ein Verleger hat mir erklärt: »Wir wollen diese Deutschen hier nicht haben.« Deutsches Denken, das sollten Sie, der Bewunderer Ihres Volkes, wissen, war im Ausland schon damals sehr unbeliebt. Die Gründe dafür werde ich noch nennen.
Da ich überall nur eisig empfangen wurde und ein Ende meines Ärgers nicht in Sicht war, entschied ich, Übersetzung und Edition selbst zu finanzieren. Nach meines Vaters Tod war ich zu etwas Geld gekommen und beschloß, es in der einzigen Weise zu verwenden, die ich seines Andenkens und meiner Überzeugung für würdig hielt – für die Verbreitung eines Denkens, das ich, so wie auch Sie, für edel und heilsam erachte. So kam Nietzsche in die englischsprachige Welt, mit Hilfe jener dunklen, diabolischen internationalen Macht, in der Sie den Ruin unseres Universums sehen: mit Hilfe des jüdischen Kapitals.
Ich hatte einen kleinen schottischen Verleger aufgetan, der, da ich alle Kosten übernahm, bereit war, mein Mittelsmann zu sein und nichts dagegen hatte, sein Impressum auf meine Edition zu setzen. Allerdings mußte ich eine (nach englischem Recht nötige) Erklärung unterzeichnen, daß meine Übersetzung weder Verleumdungen noch Gotteslästerungen enthielte. Nietzsche-Adepten können sich vorstellen, daß ich nicht ganz ohne Zweifel und Zögern unterschrieb. Dies ist vielleicht nicht gar so wichtig – ich erwähne es bloß, damit Sie sehen, welch feindliche Welt sich mir entgegenstellte, als ich eine, nach meiner, und auch Ihrer, Ansicht wahre Botschaft des »Deutschtums« propagierte. Und leider muß ich ihnen berichten, daß der Verleger, obzwar gegen Verluste abgesichert, seinen moralischen Ruf dermaßen ruinierte, daß er, wie sein Vorgänger, bankrott ging wegen seines, wie er mir sagte, »unbedachten Nietzsche-Abenteuers«. Vom Verlust meines Rufes rede ich nicht.
Doch alle meine Sorgen und Bedenken waren verschwunden, als an einem sonnigen Junitag der achtzehnte Band meiner Übersetzung in den Schaufenstern der Londoner Buchhandlungen auftauchte. Ich weiß noch, wie ich erhobenen Hauptes durch den Hyde Park schritt, in dem Gefühl, einen großen Sieg errungen zu haben – einen Sieg über den allgemeinen Aberglauben und Stumpfsinn, denn ich hatte Nietzsches erhabenes Denken in englischer Sprache auf alle fünf Kontinente getragen. Eine schwere Last war mir vom Herzen gefallen – ich fühlte mich wie neugeboren. Das war 1913.
Ein Jahr später erfolgte Ihre »Erlösung« (wie Sie in Ihrem Buch schreiben). Der Krieg von 1914 war erklärt worden. Und Sie fahren fort: »Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen.«
Natürlich waren Sie damals noch kein Nietzscheaner, und es war gut, daß auch die Welt noch nichts von Ihnen wußte. Wären Sie gewesen, was Sie heute sind, ein Nietzscheaner und eine Berühmtheit, hätten Sie mich noch mehr kompromittiert als heute. Es war so schon schlimm genug, denn Ihre nietzscheanischen Landsleute sind für Sie tatkräftig eingesprungen.
Die deutsche Literatur war, wie gesagt, schon vor dem Kriege sehr unbeliebt im Ausland – besonders die von Ihren Professoren inspirierte politisch-philosophische Literatur der Rechten. Europa hatte vieles von Ihren patriotischen Schriftstellern gelesen und argwöhnte langsam, was in Ihrem Kopf vorging, im Kopf des »Volkes der Dichter und Denker«. Allmählich dämmerte den Europäern, daß Ihr Alldeutschtum eine Ideologie war, die auf der Philosophie von Fichte und Hegel fußte: eine Ideologie mit einer Botschaft an das heilige und auserwählte Volk, das sich bereits damals als Rasse, als Arier, als Germanen (so hießen die germanischen Erobererstämme des Mittelalters) bezeichnete. Diese Botschaft mußte verbreitet werden, auf daß andere, mindere Völker daran teilzuhaben vermochten. Sie hat Ihnen ungeheuer geschadet. Als Sie 1914 vier Staaten den Krieg erklärten, erschallte ein Aufschrei: Ihre verrückte nationalistische Literatur habe Ihnen den Kopf verdreht, und unter den Hauptübeltätern machte die Propaganda Ihrer Feinde als erste Treitschke, Bernhardi und Nietzsche namhaft.
Es war offenbar eine offizielle Propaganda, denn die großen englischen Zeitungen und Zeitschriften stimmten in die Schmähungen ein. Und obendrein eine ganz dumme, denn sie verdammte zwei echte Großdeutsche, Treitschke und Bernhardi, in einem Zuge mit ihrem Erz- und Todfeind: Nietzsche. Doch diese Propaganda war wirksam: Nietzsches mutige Worte, sein »Seid hart, Freunde«, sein »Immoralismus«, sein »Wille zur Macht«, seine »Philosophie mit dem Hammer« waren mühelos gegen ihn selbst zu richten und leicht verständlich für eine Öffentlichkeit, die keine Zeile von ihm gelesen hatte, und falls doch, mit dieser Propaganda durchaus einverstanden gewesen wäre. Sie war also dumm, aber das wissen Sie, und in »Mein Kampf« schreiben Sie ja auch, Propaganda müsse beschränkt und borniert sein, um bei der breiten Masse durchschlagenden Erfolg zu haben.
Wenige Tage nach der Kriegserklärung an England lag im Schaufenster einer Londoner Buchhandlung meine Übersetzung mit folgender Aufschrift versehen: »Der Euro-Nietzscheanische Krieg – lesen Sie den Teufel, um ihn besser zu bekämpfen«. Die Zeitungen druckten Leserbriefe und die Zeitschriften Artikel, die Nietzsches Freidenkertum als die Zerstörung von Heim und Heimat, als die Vernichtung Europas und der Religion anprangerten. Der Poeta laureatus Sir Robert Bridges schrieb an die Times und verkündete seinem Volk, Deutschland kämpfe für den Teufel, Nietzsche, und England für den Erlöser Jesus Christus. Sogar Punch, der geniale Punch, mußte in den Chor einstimmen und offerierte die witzige Zeile: »One touch of Nietzsche makes the whole world sin«.
Die Zensur wurde immer strenger, und da ich die Suppe allein auslöffeln mußte, konnte ich gegen die zustimmenden wie auch gegen die ablehnenden Töne nur wenige Erwiderungen anbringen. Dann, mitten in meinem einsamen Kampf, fiel man mir heimtückisch in den Rücken, weil ich Nietzsche gegen die angelsächsische Propaganda verteidigte. Und wer? Mein eigenes Volk, eben jenes, von dem Sie in Ihren Schriften sagen, es sei »das höchste Ebenbild des Herrn« und die »höchste Rasse«, mit der Gott in seiner Güte die Erde gesegnet habe.
Etliche Ihrer großen Geister, die Zierde des »höheren Menschen«, eilten meinen Feinden zur Hilfe. Einer von ihnen, der hochberühmte Gerhart Hauptmann, erklärte, die Deutschen seien deshalb so tüchtige Soldaten, weil sie die Bibel, Faust und »Also sprach Zarathustra« im Tornister mit sich trügen. An andere Patrioten kann ich mich nicht mehr erinnern, und ich bin stolz darauf. Aber die schlimmste, weil »offizielle« Verleugnung kam aus jenem Hause, das unter Ihrem besonderen Schutz steht: aus dem Nietzsche-Archiv in Weimar. Hier hatte der »Zeitgeist« sofort alles infiziert, und ein heftiger Anfall von Patriotismus hatte die Lehren von Sils Maria zu einer Stärkung für die Schützengräben in Flandern gemacht. Ein Sonderdruck, eine Kriegsedition, heute eine Rarität auf dem Buchmarkt, erschien, herausgegeben von Nietzsches geschäftstüchtiger und erleuchteter Schwester: eine Kriegsausgabe des »Zarathustra«, geziert von einem Vorwort mit zahlreichen aus dem Zusammenhang gerissenen und dadurch sinnentleerten Aphorismen, die das durch und durch großdeutsche Wesen dieses Philosophen bezeugen sollten, den ich an qualvollen Tagen und in schlaflosen Nächten in eine zutiefst feindselige Welt eingeführt hatte.
Das »Bekenntnis« von Weimar wurde mir vorgehalten, und es bedeutete das Ende meiner Arbeit in England. Jetzt gab es für den Förderer Nietzsches nur noch Ironie, und nach dem Krieg, als Deutschland gedemütigt im Staub lag, fragte die Times voller Verachtung: »Blonde Bestie, was nun?« Heiterer reimte ein bekannter Verseschmied:
The funny feature
About this Nietzsche
Is that the creature
Thought himself a teacher!Hier ist anzumerken: Der Schlag gegen mein Lebenswerk kam nicht unerwartet. Seit meiner Jugend waren mir Deutschland und seine philosophisch-politischen Verlautbarungen und Vorsätze verdächtig gewesen. Da war vor allem ein Buch, dessen Erfolg in Deutschland am Ende des Jahrhunderts mir die Augen geöffnet hatte. Ein Buch, Herr Hitler, das Ihnen wohlbekannt ist und Sie in Ihrem Glauben gewiß befestigt hat: Es war Chamberlains »Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts«.
Gegen diesen »philosophischen« Engländer und eingebürgerten Deutschen, diesen neuesten Verkünder des geheimsten Denkens Vorkriegsdeutschlands, hatte ich in England meine Stimme erhoben – und zwar noch vor dem Kriege. Denn Chamberlain war, ohne jede Subvention, ins Englische übersetzt worden, und das 1911 veröffentlichte Buch hatte sofort überall Erfolg gehabt. Ich kann mich, bis hin zu Bernard Shaw, an keine echte Gegenstimme im Chor der Rezensenten erinnern: Keiner von ihnen ahnte auch nur, daß er hier eine Ladung Zündstoff importiert und hoch gelobt hatte, die, via Deutschland, Europa zerstören sollte. Nein, für sie hatte nicht Chamberlain, sondern Nietzsche das Pulvermagazin unseres Kontinents angesteckt. Der Mensch ist eisig gegen die Wahrheit und Feuer und Flamme für die Falschheit!
Die Warnung an England stand in meiner Einleitung zu Gobineaus »Die Renaissance«, 1912 geschrieben und 1913 bei Heinemann veröffentlicht. Eine zweite Edition erschien 1921 bei Allen & Unwin. Meine Einleitung war auch gedacht als eine Warnung an Deutschland vor gesellschaftlichem Größenwahn, vor der Todsünde des Stolzes, welcher, wie ich (auf S. 13) schrieb, der Hochmut sei, der »vor dem Fall« komme. Natürlich vermochte allein diese leise Stimme unseren dazu fest entschlossenen Kontinent nicht zu hindern, in sein Unglück zu laufen.
Im übrigen verteidigt mein Vorwort Gobineau, den Verfasser des »Versuchs über die Ungleichheit der Menschenrassen«: Ich wollte nachweisen, daß er, einer der wenigen tiefen Denker des 19. Jahrhunderts, mißverstanden worden war von Wagner, der ihn entdeckte und propagierte, vor allem aber von den Wagner-Jüngern und -Interpreten. Gobineau war ein Autor, dessen Wertvorstellungen aristokratisch und deshalb seiner und unserer Zeit fremd waren: Er glaubte nicht mehr an gleiche oder auserwählte Völker. Aber er erkannte, daß diese Werte unvermeidlich dominieren würden, und sah deshalb seine Zeitgenossen genauso pessimistisch, wie Chamberlain sie weiter optimistisch sah. Gobineau verspottete Darwins Wissenschaft, indem er sagte: »Nous ne descendons pas du singe, mais nous y allons«, während Chamberlain an den Fortschritt glaubte und daß zumindest die Teutonen vom unaufhaltsamen Abstieg zu den Affen ausgenommen seien. Gobineau prophezeite seiner Zeit ein schmähliches Scheitern, Chamberlain jedoch hielt diese für verheißungsvoll, sofern nur Deutschland eine neue Religion hervorzubringen vermochte.
Chamberlain, mit einer Tochter Wagners verheiratet, kannte Gobineaus Ideen, aber – und das gereicht dem Autor der »Grundlagen« zur Ehre – er lehnte sie ab, weil er irgendwie doch Christ geblieben war, Gobineau hingegen, obwohl nach außen hin weiter Katholik, war innerlich ein Skeptiker, ein Freidenker und hochgebildeter Mann von Welt, der lediglich aufzeichnete, was er mit ansah, und der den Mut besaß, einer Zivilisation die Stirn zu bieten, die immer rascher in ihr Verderben lief.
Mein Vorwort wies nach, daß Chamberlain, obwohl er es bestritt, von Gobineau erheblich beeinflußt war, daß er dessen Begriffe Rasse, semitisch, arisch, germanisch im Sinne der Modernität verfälscht hatte, vor allem aber im Sinne jener innig geliebten Nation, in der er ein Domizil gefunden hatte und etwas galt.
Das größte Renommee besaß er bei Wilhelm II. Durch das Aufsehen, das sein Buch in Deutschland erregt hatte, war auch der Kaiser auf ihn aufmerksam geworden. Man lud ihn ein, das Werk Seiner Majestät persönlich vorzustellen. Das scheint ihm eindrucksvoll gelungen zu sein, und die »Grundlagen« wurden für den frommen Monarchen zu einer Art Bibel. Er ließ sie kostenlos an höheren Schulen verteilen; er las den Damen am Hofe daraus vor, bis sie einschliefen; und bei einer Auslandsreise rügte er den britischen Premier Asquith, der »bloß mal reingeschaut« hatte. Während des Krieges verlieh er Chamberlain das Eiserne Kreuz. Nach dem Krieg wurde sein Briefwechsel mit ihm in Deutschland publiziert.
Das also ist der Autor, Herr Hitler, der Wilhelm II. mit seinen »Aufschneidereien« inspiriert hat – von der »gepanzerten Faust« bis hin zu »meine Humanität endet an den Vogesen« –, der Autor , der eine der wichtigsten geistigen Quellen der Kriegskatastrophe darstellte, bei dem auch Sie Auskunft und Rechtfertigung suchten. Es war Chamberlain, der Ihnen den Wunsch nach einer neuen Deutschen Religion eingab, welche die Welt retten und von einem Messias, von Ihnen, verkündet werden sollte.
Sie haben Chamberlain nicht bloß gelesen und bewundert: Sie haben ihn auch um ein Gespräch gebeten, und ein paar Jahre vor seinem Tode haben Sie den berühmten Autor der »Grundlagen« sogar besucht. So wie Chamberlain den Kaiser, so haben Sie Chamberlain beeindruckt. Sie hätten ihm, so schrieb er Ihnen, einen so langen erquickenden Schlaf geschenkt, wie er »einen ähnlichen nicht erlebt habe seit dem verhängnisvollen Augusttag 1914 … Sie sind ja gar nicht, wie Sie mir geschildert worden sind, ein Fanatiker … Sie sind aufgezehrt von der Glut der Vaterlandsliebe … Sie haben den Zustand meiner Seele mit einem Schlage umgewandelt … Gottes Schutz sei bei Ihnen«.
Kurzum: Johannes der Täufer gibt Jesus Christus seinen Segen. Dieser Vergleich, Herr Hitler, aus dem Neuen Testament, das Sie zu einem »nicht arischen « Buch erklären, wird Ihnen nicht gefallen. Und vermutlich erst recht nicht jener Satz aus dem Alten Testament, der diese Begebenheit sowie Ihren und den Rückfall Ihres Volkes in den alten Fehler einer neuen Patriotitis noch besser trifft: »Wie ein Hund sein Gespeites wieder frißt, also ist der Narr, der seine Narrheit wieder treibt.«
Dies alles aber stört mich im Grunde wenig. Folgen Sie ruhig, wie einst der Kaiser, Ihrem Chamberlain, und folgen Sie ihm zum selben Ende und Schlimmeren.
Deutschland interessiert mich nicht. Mich interessieren auch keine anderen Nationen und Völker, auserwählte inbegriffen. Der Begriff Auserwähltes Volk ist ein Widerspruch in sich, und zwar ein hanebüchener: Es gibt lediglich auserwählte Menschen, und auch davon nur ganz wenige, die sich in allen Nationen finden. Übrigens habe ich das Recht, Nationen, Völker und Rassen als belanglos abzutun. Meine eigene Rasse hat nicht auf meine Warnungen gehört. Und auch die Nation, an die ich sie vor allem richtete, hat sie in den Wind geschlagen. Ich war nicht nur ein Rufer in der Wüste, ich war ein Brüller im Universum, einer, der gegen das Schicksal anschrie. Gegen das Schicksal unserer Zeit. Ich kenne es, denn es ist mühelos aus seinem Ideal zu erschließen, und sei es noch so geheim. Heute stürzt sich alles in die Sklaverei, denn das ist der modernen Menschheit innigstes Begehren. Ein Sprichwort Ihres Landes lautet: »Wer nicht hören will, muß fühlen.« Heute fühlen die Menschen, sogar ganz tief, aber hören tun sie noch immer nicht … Nun ja, meinen Segen haben sie!
Was mir indes Sorge macht, und sogar große, ist die neue Religion, die Sie nicht in Ihrem, sondern im Namen eines höheren Menschen aufzurichten gedenken. Vor Ihrer Religion habe ich, trotz ihres großen Erfolges, keine Angst: Mich ärgert nur der Mißbrauch des Namens Nietzsche und daß Sie Verwirrung stiften, indem Sie dieses ruhmreiche Banner an sich reißen. »Wahrheit«, sagt Bacon, »geht eher aus Irrtum denn aus Verwechslung.«
Andere nennen diesen Mißbrauch vielleicht nur Frechheit infolge von Unwissenheit, denn sie behaupten, Sie hätten Nietzsche nie gelesen. Der Meinung bin ich nicht. Ich denke, Sie haben Nietzsche doch gelesen, aber wie ein Politiker, und zwar ein ganz vulgärer. In »Mein Kampf« schreiben Sie: »Nicht darauf kommt es an, was der geniale Schöpfer einer Idee im Auge hat, sondern auf die Form und den Erfolg, mit denen die Verkünder dieser Idee sie der breiten Masse vermitteln.« Ja, Sie haben wunderbar vermittelt! Ich muß Sie jedoch warnen, daß selbst Vermittlern und Weglassern Ihres Schlages Grenzen gesetzt sind und selbst populäre Politiker den Namen Nietzsche nicht ohne Gefahr für Ihren Ruf im Munde führen dürfen. Nietzsche ist Prüfstein und Falle in einem. Sogar Ihr Lehrer Chamberlain hat, wirrer Philosoph, der er doch war, diese Falle vermieden und zwischen sich und Nietzsche streng getrennt. Schon daß Sie als Schüler sowohl von Nietzsche als auch Chamberlain auftreten, zeigt Ihre Begriffsstutzigkeit beim geistigen Erfassen, aber auch Ihre rasche geistige Verdauung: eine Verdauung, wie sie im Tierreich nur einer Spezies vorbehalten ist, durch die Sie aber fraglos und endgültig aus dem Reich Nietzsches ausgeschlossen sind.
Europa indes nimmt alles, was Sie sagen, für bare Münze, und abermals behindert die unselige Nation, auf die Sie so stolz sind, mein Lebenswerk. Und abermals erschallt der Aufschrei ausländischer Politiker – zum Beispiel von Sir Herbert Samuel (inzwischen Lord Samuel) im Unterhaus (am 21. März 1935), »Deutschland befindet sich nach wie vor unter Nietzsches verhängnisvollem Einfluß«. Niemand widersprach dem Lord (der in der Philosophie einen Namen hat), und das ist das Zeichen, daß ein neuer Feldzug gegen die »blonde Bestie« bevorsteht. Falls sie diesmal schwarz ist – wird man sagen –, ist sie nicht minder gefährlich als 1914, sondern noch gefährlicher, denn anders als der Kaiser und Chamberlain, die noch Christen waren, stolziert sie jetzt unter der Fahne des Atheisten Nietzsche und unter dem heidnischen Symbol des Hakenkreuzes.
Ja, Herr Hitler, Sie können alles Mögliche sein: Erlöser, Mörder, Volksredner, Schlafwandler oder alles vier auf einmal: Aber ich sage Ihnen, Sie sind es nicht wert, Nietzsche den Staub von den Schuhen zu wischen. Ihr Deutschtum ist das alte, falsche, beliebte Deutschtum – das 1918 geschlagen wurde –, das Deutschtum, das verurteilt wurde, nicht nur durchs Schwert, sondern auch durch die Feder aller großen Deutschen: von Goethe, Heine, Hölderlin, Grillparzer, Schopenhauer, Burckhardt, Spitteler genauso wie von Nietzsche. Es ist das Deutschtum des Markplatzes und der Massen, das Deutschtum der Lautredner und Seichtdenker. Sie sind der Messias all dieser Armen, die durch Geburt und Bildung außerstande waren, sich zu entdeutschen, was laut Nietzsche immer das Kennzeichen eines guten Deutschen gewesen ist. Einen guten Deutschen von heute muß es tief betrüben, Ihrer Nation anzugehören, und bestimmt errötet er jedesmal, wenn er an der Grenze seinen Paß vorzeigt. Vom nietzscheanischen Standpunkt betrachtet, sind Sie einfach ein schlechter Deutscher: Sie gehören nicht zur Welt des höheren Menschen, sondern zur Welt des Untermenschen. Denn so hoch der Himmel sich über die Erde erhebt, so hoch steht Nietzsches Denken über den besten Ideen, die Sie jemals in Ihrem erlauchten Kopfe hegten.
Aber weil Sie zur Unterwelt gehören, schenkt die Welt, die heute nur aus Unterwelt besteht, Ihnen Gehör. Und diese Unterwelt umfaßt nun auch die Intellektuellen. Über sie wäre vieles zu sagen, hauptsächlich aber dieses: Sie sind ein Fluch und Ursache unseres Unglücks. Sie haben den Geist der Wahrhaftigkeit verraten. Wahrhaftigkeit ist in der Politik nicht immer nötig und mitunter sogar unmöglich – eine Tatsache, deren Sie sich in nachgerade unanständiger Weise bewußt sind! –, doch im Reiche von Wissenschaft und Philosophie ist Wahrhaftigkeit wesentlich, ja absolut notwendig. Denn der Verrat der Intellektuellen führt zum Versagen der Politiker, und das Versagen der Politiker führt zu unsinnigem Blutvergießen unter den Völkern. Nicht aufgeklärt von jenen, die sie aufklären sollten, halten die Nationen sich an die Messiasse, die nun keine klugen »Schriftgelehrten« mehr finden, die dem Königreich des Himmels entgegenwirken, das ein Reich von dieser Welt sein muß.
Die »Schriftgelehrten« von heute stellen sich nicht mehr wie die von damals gegen die Messiasse: Sie sind selbst Teil des Volkes, genau wie Sie. Und sie sind abhängig vom Volke, auch genau wie Sie. Sie haben noch weniger Zeit als Sie für Nietzsche, und selbst wenn sie Zeit hätten, hätten sie kein Gespür für ihn. Denn Gespür und Blut, Herr Hitler, das allein zählt: Das ist der einzige von allen Ihren Glaubenssätzen, den man uneingeschränkt und besten Gewissens gutheißen kann. Als Nietzscheaner wird man geboren, ein Nietzscheaner läßt sich nicht züchten, auch nicht in Ihren Napolas und Führerschulen. Nur ein einziger Nazi-Großvater – und wie Sie wissen, gab es schon vor Ihnen viele Nazis –, und kein Nachkomme taugt noch zum ehrlichen Schriftgelehrten und zum ehrenwerten Gast im Hause Zarathustras in den Bergen.
Geist formt das Blut, und Blut den Geist: den Geist der Wahrhaftigkeit. Aber diese Wahrhaftigkeit ist ein Produkt jüdischen Denkens und christlichen Bewußtseins: Nietzsche war nicht umsonst der Sproß einer langen Reihe protestantischer Pastoren. Ihre Frömmigkeit, ihre Ehrlichkeit kamen in ihm zur Blüte und zum Vorschein und trieben ihn schließlich dazu, sich gegen unsere Religion und unsere Moral zu wenden: Es sind demnach der Geist des Christentums und die christliche Disziplin von Generationen, die unseren Gott und seine Moral getötet haben. Sie wurden der strengen, aber berechtigten Zensur eines höheren Menschen unterworfen, der die Konsequenzen aus seiner Religion zog, der dem Glauben seiner Ahnen entwachsen war und deshalb alle Fanatiker und Messiasse verabscheute – die bis dahin die Hauptakteure und Hauptdarsteller, die Sprachrohre und Boten dieses Glaubens waren.
Wie konnten Sie, Herr Hitler, ein Bote, ein Erlöser, nur ein Patriot, es wagen, den Tempel Nietzsches zu betreten und an seinem heiligen Altar Ihre Andacht zu verrichten: Sie, der Erwählte des Volkes, schlimmer noch, der Erwählte Ihres Volkes? Sie, der vom Volk Erwählte? Wo sind Ihre Ahnen, wo ist Ihr Stammbaum, wo ist der Ausweis Ihrer Rasse und Ihrer Religion? Sie verabscheuen Judentum und Christentum gleichermaßen, aber glauben Sie tatsächlich, daß jeder Neuling das Recht hat, über eine Religion zu urteilen, die zweitausend Jahre lang die Welt regiert hat? Glauben Sie denn, was ein Nietzsche darf, dürften auch Sie? … Es gibt keine Gleichheit der Menschen, Herr Hitler: Das ist auch einer von Ihren Glaubenssätzen, dem wir uns voll und ganz anschließen können und es auch tun.
Aber Nietzsche, wahrer Prophet und Dichter, der er war, ahnte, daß seinen Altar dereinst unliebsame Besucher entweihen würden: »Ich will Zäune um meine Gedanken haben und auch noch um meine Worte: daß mir nicht in meine Gärten die Schweine und Schwärmer brechen!« sagte Zarathustra.
Nun ja, sie sind in seine Gärten gebrochen; Sie, Herr Hitler, sind eingebrochen: Sie sind kein Schwein, aber sein viel gefährlicheres Gegenteil: ein Heiliger und ein Schwärmer!
Und hier noch eine düstere Ahnung Nietzsches, eine, die auf die nazistischen Eindringlinge genau zutrifft. Sie findet sich in einem Brief des Philosophen von Mitte Februar 1884 an seine Schwester: »Und dann selbst noch macht mir der Gedanke Schrecken, was für Unberechtigte und gänzlich Ungeeignete sich einmal auf meine Autorität berufen werden.«
Ja, sie haben sich auf seine Autorität berufen, sie sind eingedrungen, doch sie sollen sich nicht auf Nietzsche berufen können, ohne daß wir einen Protest und eine Bitte äußern.
Der Heilige Vater in Rom, Herr Hitler, hat, sosehr ihn Ihre Lehren erzürnen und auch erzürnen sollten, bislang noch nicht die für eine Exkommunizierung erforderlichen Maßnahmen ergriffen. Für dieses Zögern gibt es politische Gründe, aber selbstredend auch Bedenken, ob eine solche vom religiösen Standpunkt aus betrachtet sinnvoll ist. Natürlich kennt man in Rom Ihren Typus und dessen Gefahren, aber man weiß dort auch, daß man mit ihm verbunden, ihm nah verwandt ist. Denn Rom ist auf dem Boden Zions errichtet, und die Göttin Roms ist jene heilige Jüdin, die den Messias Roms, und nicht nur Roms, gebar. Daher das Zögern der Kirche gegenüber diesem nördlichen, neuzeitlichen Messias, der sich für einen Neu-Heiden hält und auch als solcher geschmäht wird. Doch an Ihnen ist weder Neues noch Heidnisches. Ein Heide fürwahr! Ein Heide mit Ihren Vorstellungen von Rassenunreinheit (wie der Jude Esra sie bereits vor 2500 Jahren verdammt hat – siehe das zehnte Kapitel seines Buches), mit Ihren Vorstellungen vom »Auserwählten Volk« (das »Salz der Erde«, wie das Evangelium die Nazis von damals nannte), mit Ihren Vorstellungen von einem »Königreich des Himmels«, das von dieser Welt sein soll und heute Großdeutschland heißt! Nein, Herr Hitler, Sie sind kein Heide – wir wollen doch nicht die Heiden beleidigen! – Und die Kirche tut unrecht daran, Sie durch dieses Wort herabzusetzen oder auch zu ehren. Ich sage Ihnen, was Sie sind: Sie sind ein Jude, ohne es zu wissen, ein Jude, der sich selbst nicht kennt, ein Jude, um dessentwillen wir zwei Jahrtausende zurückgehen müssen, bis zum Brief des Apostels Paulus an die Römer: »Denn das ist nicht ein Jude, der auswendig ein Jude ist, auch ist das nicht eine Beschneidung, die auswendig am Fleisch geschieht; sondern das ist ein Jude, der’s inwendig verborgen ist, und die Beschneidung des Herzens ist eine Beschneidung, die im Geist und nicht im Buchstaben geschieht.« Auf solche Juden unter den Heiden ist der Hl. Paulus besonders begierig … Er soll Sie haben!
Falls diese Bezeichnung Sie schaudern macht, Herr Hitler, kann ich es auch nicht ändern: Sie trifft trotzdem zu. Ihre Ketzerei ist eine jüdische.
Sie stehen der Kirche daher gar nicht so fern, wie Sie meinen. Die Kirche kennt oder ahnt zumindest diese Verbindung: und sie weiß auch, wie man Ketzer wie Sie benutzt. Die Kirche braucht Ketzer, und sie profitiert von ihnen: Denn eine Reaktion erfolgt immer, und deren Nutznießer ist regelmäßig die Kirche. Sie profitierte auch von Ihrem Landsmann, dem Ketzer Martin Luther: Er, den Sie so bewundern, restaurierte und erneuerte die katholische Kirche, welche im Untergang begriffen war. Deshalb kann oder wird die Kirche nicht hart gegen Sie vorgehen. Selbst die alten Juden, Sie erinnern sich doch (?), zögerten, ehe sie seinerzeit die Höchststrafe verhängten, und ohne die Römer wäre »das Lamm, das hinwegnimmt die Sünden der Welt«, nie geopfert worden. Aber jetzt sind keine Römer mehr im Lande – außer romantischen, Ihren Verbündeten.
Doch wir – die paar wahren Nietzscheaner in Ihrer falschen Welt – können und dürfen derlei Bedenken nicht tragen. Wir haben mit Ihnen nichts gemein. Was für Sie gut ist, ist für uns nicht gut, und was Ihnen als böse gilt, gilt uns nicht als böse. Unser Himmel ist nicht Ihr Himmel, und unsere Hölle nicht Ihre Hölle. Ja, Ihre Hölle ist sogar unser Himmel, und Ihr Himmel ist unsere Hölle. Es gibt eine Gemeinsamkeit – nämlich die gleichen Werte – zwischen Ihnen und der Kirche: Es gibt keine Gemeinsamkeit, sondern sogar eine tiefe Kluft – zwischen Ihnen und uns. Im Gegensatz zur Kirche profitieren wir nicht von den Ketzern. Wir sind, im Gegensatz zur Kirche, kein Hospital für neuzeitliche Heilige. Durch Nationalinvaliden wie Sie werden wir nicht endlich getröstet, sondern schwer kompromittiert. Und um ehrlich zu sein: Auch wir sind nicht immun gegen Ihre Jahrtausendkrankheit. Deshalb können wir Sie nicht nur mit gutem Gewissen exkommunizieren, sondern auch mit den besten Gründen: weil es notwendig ist.
Wir bitten Sie daher, verlassen Sie unseren Garten und gehen Sie wieder dorthin, wo Sie hergekommen sind, wo man Sie gerne sieht und Sie sich heimisch fühlen: zum Gelärme und Geschrei Ihres Marktplatzes. Wir verzichten auf härtere Maßnahmen, Ihre Maßnahmen: auf das Köpfe-rollen-lassen, wie Sie es nennen. Wir verzichten darauf, nicht weil wir machtlos, sondern weil wir anders sind: Ihre Maßnahmen können nicht unsere Maßnahmen sein, und unsere Mittel werden wirksamer sein als Ihre. Der Liktor, der uns begleitet, hat kein Beil in seinem Rutenbündel, aber er hat eine scharfe, tödliche Waffe: Unser Liktor ist das Lachen. Schluß mit den Kreuzigungen von Göttern oder Lämmern, Heiligen oder Sündern.
Denn Sie sind letztlich nicht Sünder, sondern Opfer. Ein Opfer unserer religiösen Werte. Ein Opfer der Juden, die diese Werte geschaffen haben. Nicht sie sind Ihre Opfer, sondern Sie das ihre.
Sie sind geschlagen mit dem Fluch des Idealismus (und noch stolz darauf), aber der Idealismus ist jüdischen Ursprungs, und diesen jüdischen Idealismus, nicht etwa die neuzeitlichen Juden, hat Nietzsche zeitlebens angegriffen und in seinen besten Büchern bekämpft. Vor diesen Werten hat er uns gewarnt, besonders wenn sie in religiös-politischem deutschem Gewand auftreten. Er kannte ihre Gefahr, und Sie sind der Beweis, daß seine Befürchtungen berechtigt waren. Diese Werte haben jetzt ihren Höhepunkt erreicht und kommen mit Ihnen und an Ihnen zur Entladung.
»Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus«, sagt Zarathustra. Sie sind der Wahnsinn, wir sind die Vernunft. Und unsere Vernunft, nicht unsere Ohnmacht, macht uns gegen Sie nachsichtig und verständnisvoll. Verständnis vertreibt Haß: Haß ist Mangel an Verständnis.
Wenn Sie dann unseren Garten verlassen, Herr Hitler, gehen Sie hin in Frieden und unbehelligt von Verwünschungen und Racheschreien. Wir wollen Ihnen nicht ans Leben, wir wollen nur, daß Sie gehen.
Doch gehen müssen Sie!
Mein Führer, darf ich Sie zur Tür geleiten?
Paris, 21. Juni 1938
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 3/2007, S. 348-362
- 6/2008 | Nietzsche und die Juden
Lewin, Waldtraut
- 1/1988 | Sinds gute Kind, sinds böse Kind?
Lewis, Oscar
- 3/1973 | Ein Todesfall in der Familie Sánchez
Lewitscharoff, Sibylle
- 2/2010 | Steine, die fliegen, Worte, die fallen. Literatur und menschliche Schuld, S. 571 Leseprobe
Lewitscharoff, Sibylle
Steine, die fliegen, Worte, die fallen. Literatur und menschliche Schuld
Nicht der Ostwind, nicht der Westwind, nicht Nord- noch Südwind haben mir die folgenden Ideen zugeweht oder ihnen zumindest aufgeholfen, vier Herren waren es.
Vier Herren, vier Bücher: die »Philosophie des Traums« von Christoph Türcke, einem Philosophen, der höchst ergiebig über die Anfänge der Menschwerdung nachgedacht hat, sodann »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz« von René Girard, einem Anthropologen, der genau das Buch zum Erweis der eminenten Botschaft des Christentums schrieb, welches die Theologen versäumt haben zu schreiben, ferner die Lektion über Abraham und Isaak von Stéphane Mosès aus »Eros und Gesetz. Zehn Lektüren der Bibel«, diesem glanzvollen Literaturwissenschaftler, der leider vor zwei Jahren verstorben ist, und nicht zuletzt die Fragmente meines immerwährenden Beraters – Franz Kafka, der so fledermausfein in sich hineinhorchte und vom Seeleninnenflug mit erschreckender Botschaft für sein »Tagebuch« zurückkehrte – »immer ängstlicher im Niederschreiben, jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister, wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher«.
Wenn ich mir jetzt die kleine Schar von Interessenten vorstelle, die den Aufsatz vielleicht zur Hand nimmt, sehe ich da lauter Spieße sitzen, die nur darauf warten, sich in meine mehr behaupteten und aufgelesenen denn eigens erforschten und erwiesenen Argumente zu bohren. Trotzdem, ich riskier’s und hoffe auf den einen oder anderen geneigten Leser.
Was trennt den Menschen vom Tier? Nicht so sehr die Anfänge der sprachlichen Verständigung, Botschaftslaute der Erregung, des Beutefindens, des Wohlbehagens oder der Gefahr, es ist die Fähigkeit des Erzählens. Erzählen ist bekanntlich ein vielseitiges, mitunter raffiniertes Vermögen. Im Lauf unzähliger Generationen hat es sich zu einem komplexen Vorgang entwickelt, wie wir ihn seit etwa zwei- bis dreitausend Jahren kennen.
Das Vergangene, das Künftige, das Gegenwärtige in Sätze zu ziehen, sogar das zwischen Möglichem und Unmöglichem, zwischen Wahrheit und Lüge schwankende Geistgeflacker darin unterzubringen, das alles können eine gelenkige GrammatikundeinendlosesGewimmelvonWörternscheinbarmühelosleisten; und – Wunder über Wunder – der eine erzählt oder schreibt eine Geschichte auf, ein anderer versteht sie und spinnt sie vielleicht fort. Ich vermag mir die Anstrengung, die Rückschläge und das Vorwärtstasten nicht vorzustellen, die es Wesen aus Fleisch, Knochen und Blut gekostet haben muß, in einer langen, langen Kette ihrer sich selbst mit Sinn anfüllenden Seinswerdung diese diffizile Fähigkeit zu entwickeln. Beim Erzählen geht es um Sinn, einen mörderischen Sinn zumeist. Was sich darum herumrankt, sind Ornamente, die der Beruhigung dienen, Aufflüge zum Erhaschen der Schönheit und Transzendenz inbegriffen.
Wozu in der Welt, woher gekommen, wohin bestimmt zu gehen, wieso leiden; schuldhaft oder schuldlos, gestraft, ungestraft oder gar erlöst, von wem, weshalb, wofür – das sind Fragen, die beim Erzählen untergründig mitschwingen, auch dann, wenn sie sich nicht lauthals bemerklich machen. Die großen Mythen, die religionsstiftenden Bücher, sie erzählen davon explizit, enthüllend, aber auch verhüllend. Weil einige davon mit großer Intensität und hoher Intelligenz an diese Urfragen rühren, sind sie tradiert worden, haben immer neue Auslegungen erfahren und dadurch ihre Kraft bis heute bewahren können.
Nicht nur ein Liebhaber der Bücher, sondern jeder einzelne heute lebende Mensch zehrt von dieser über Generationen entwickelten Geschicklichkeit, einen Sinnfaden durch die Welt sich schlängeln zu lassen bis zu sich hin, und nun sind wir dabei, durch neue mediale Techniken die damit verbundenen Fähigkeiten zu verlernen und das gewaltige Erbe zu vertun, indem wir es im Meer der unendlichen Sinnzerstückelung versenken.
Sinn stiften, erzählend Sinn in den unerträglichen Wirrwarr des Lebens der Generationen vor uns, neben uns und nach uns zu bringen, das ist bei allen Nebeneffekten, die ein ästhetischer Genuß haben mag, vor allem ein grandioses Mittel gegen die Angst. Obwohl eine radikal mit Sinn erfüllte Welt, die jede Schuld und jedes Glück und jedes Verhängnis unumstößlich zu interpretieren wüßte, vielleicht noch unerträglicher wäre als eine, deren Sinn ständig zu entgleiten droht.
Erzählen war nie ein harmloser Zeitvertreib, schon gar nicht, als es auf mühsamen Wegen und Umwegen entstand. Aus fließendem Blut und zertrümmerten Knochen ist es gemacht. Der innere Kern, der Glutkern der Erzählung kündet von Mord, verschleiert den Mord, sucht die aufgeregten Gemüter zu beruhigen und eine mehr oder weniger die Gemeinschaft entlastende Vernunft oder Weisheit daran zu knüpfen. Ich spreche vom Menschenopfer, nicht vom heutigen Kriminalroman, obwohl es interessant wäre, zu ihm hin eine zittrige Linie zu ziehen.
Menschenopfer, das haben die Ethnologen, Anthropologen und Mythenforscher herausgefunden, standen an allen Ecken und Enden der Welt am Beginn der menschlichen Kultur. Die mörderische Praxis ist bereits die Antwort auf die Katastrophe, der Versuch, einer mörderischen Natur sinnvoll zu begegnen, indem man ein Opfer aus der Gemeinschaft aussondert und es der bösen Natur, dem bösen Dämon oder den bösen Toten, die diese Natur repräsentieren, zur Besänftigung in den Rachen wirft. So abstrus das aus der Rückschau klingen mag: in dieser Praxis liegt bereits der Keim der Vernunft. Eine nicht beherrschbare Gewalt findet ein blutiges Gegenmittel. Überhaupt ein Mittel zu finden, zumal ein so komplexes, an das sich die Repräsentation knüpft, bedeutet, daß die Menschen ihre Köpfe einen Millimeter über das gegebene Schicksal hinausreckten.
Hoch müssen die Wellen der Erregung in einer solchen Gemeinschaft geschlagen haben, in der alle mehr oder minder an der Tötung beteiligt waren, darüber hat Christoph Türcke sehr einprägsame Gedanken versammelt. Ein wirksames Mittel der Beruhigung wird die allmählich sich entwickelnde Fähigkeit gewesen sein, den Schrecken der Tötung mit Hilfe von Erzählformen zu bändigen, die der Tat im nachhinein einen gemeinschaftsbindenden Sinn verleihen. Wie das genau zugegangen sein mag, ist natürlich nur durch Spekulation zu ergründen, wissen können wir es nicht. Vom Stammeln über die Aneinanderreihung einfacher Wörter bis hin zu einer komplexen Grammatik führt ein windungsreicher, höchst mühsamer Lernweg, der durch kein Quellenstudium nachzuvollziehen ist.
In diesen frühen Erzählungen, die uns als ausgeschmückte, angereicherte Mythensysteme überliefert wurden, also in ihren späten Formen, gibt es das Phänomen des Enthüllens und Verhüllens. Der mörderische Glutkern wird zwar berührt, aber sogleich wieder verdeckt – man denke an die vielfältigen Zerstückelungsfiguren, aus denen, so sie wieder zusammengesetzt werden, eine neue Welt entsteht oder mit deren Hilfe die Welt zumindest in der Balance gehalten wird. Die Sinngebung mit ihren vielfachen Techniken der Verschleierung hält Einzug. Sie weiß die verstörten Gemüter zu beruhigen und Entlastung zu verschaffen von der Schuld. Aus schrecklichen Bluttaten werden gemeinschaftsstiftende Gründungsmorde, die der äußeren und inneren Konfliktabfuhr dienen.
Sinngebung, Sinnstiftung, das ist nicht zu trennen von einem keimenden Schuldempfinden, das heißt, über der Schuld wird ein Sinngewölbe errichtet, das eine Handlung aus der anderen folgen läßt und zu einer Entwicklungslogik führt, die beruhigenden Charakter hat. Das Unheimliche, eine Vorform der gefühlten inneren Schuld, wird nach außen transportiert und einem Erzählstrom überantwortet. Das archaische Erzählen ist trotzdem voll, ja übervoll der verstörenden Momente von plötzlich einbrechender Grausamkeit. Natürlich auch, weil die Erzählungen oft in Bruchstücken überliefert sind, Handlung und Deutung unvermittelt nebeneinander stehen.
Im Vermögen der verschleiernden Erzählung, ihrem bisweilen aus vielen Strängen gedrehten Sinnfaden, sind die Schwindelkünste enthalten, die zum Handwerk des Schriftstellers gehören. Sie sind aber in weniger raffinierter Form so allgemein verbreitet, daß sie in jedem Monolog, in jedem Geplauder, in jeder launigen Bemerkung, jedem Selbstgespräch auftauchen. Denn die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als sie, verkraftet kein Mensch. Es gehört zur schier übermenschlichen Anstrengung der beiden biblischen Testamente, daß sie allmählich die Wahrheit über das Menschenopfer ans Licht brachten. Eine erschöpfende, tiefschürfende Bergwerksarbeit, betrieben in den dunklen Stollen der menschlichen Seelengeschichte.
Ich glaube nicht, daß die Leiden der Juden schlüssig erklärt werden können. Wir sollten uns davor hüten, diese Leiden einer allzu beruhigenden Formel zu unterwerfen. Warum sie so viel haben leiden müssen, steht vielleicht – aber das ist ein sehr zögerndes Vielleicht – damit in Verbindung, daß sie sich als eines der ersten Völker aufmachten, den schwierigen Weg der Zivilisation zu beschreiten, in der das Menschenopfer tabu ist. Und nicht nur das: indem die Juden die Lügen dahinter, die Schwindelmärchen, die diese grausame Praxis verdecken sollten, zu entlarven begannen, wurden sie allen verhaßt oder zumindest suspekt, für die diese Wahrheit und die damit aufgepackte ethische Bürde eine Zumutung bedeutete.
Menschenopfer im Alten Testament, da sind wir sofort bei Abraham und Isaak, dieser intrikaten Geschichte vom Fehlhören und Hören, vom Opfern und Verschonen. Und wir sind beim Stammvater dreier Religionen, der jüdischen, der christlichen, der islamischen.
Wer eine Geschichte erzählt, wer einen Befehl gibt, wer eine Weisheit verkündet, ist darauf angewiesen, daß jemand ihn hört. Will Gott sich bemerklich machen, und sei es in kürzestem Kurzbefehl, in einem Laut, in einer Silbe nur, kommt es darauf an, daß jemand ihn hört. Bekanntlich kann sich der Gott der Bibel in Seiner unmittelbaren Gestalt dem Auge des Menschen nicht zu erkennen geben; der Mensch könnte Seinen Anblick nicht verkraften. Gott legt daher Seine Botschaften in das Ohr einzelner, herausragender Menschen, oder Er schickt einen Engel, etwas schwächer als Er selbst und darum dem Auge des Menschen gerade noch zumutbar, als Mittler.
Auf den ersten Blick scheint es so, als habe Abraham den Befehl von Gott erhalten, seinen langersehnten Sohn Isaak zur Opferstätte zu führen und ihn dort zu binden, will heißen: mit dem Messer niederzumachen. Ein extremer Befehl trifft auf einen Mann des extremen Gehorsams. Man kann diese Geschichte aber nach mindestens zwei Seiten hin auslegen. Man kann mehr vom Anfang her in sie hineinhören oder vom Ende.
Kierkegaard hat es in »Furcht und Zittern« aus der Anfangsrichtung getan. Für ihn lag die Pointe der Geschichte im absoluten Gehorsam Abrahams, seiner Bereitschaft, eine Schreckenstat, die dem Vaterherzen zuwiderläuft, als gottbefohlene auszuführen.
Diese Auslegung basiert auf einer geradezu ekstatischen Überhöhung des Gehorsams, sie bebt und deliriert gleichsam vor dem mysterium tremendum, dem Gottesschrecken, der hier darin besteht, daß der unbegreifliche, unerforschliche Gott vom Menschen das absolut Widersinnige, Unmenschliche verlangen kann und verlangt. Indem sich Abraham, der gottesfürchtige Modellmensch, ohne zu fragen, ohne zu zögern dem Befehl ergibt, stellt sich – was freilich in dem Augenblick, da der Befehl ergeht, keinesfalls sicher ist – die Rettung ein. Auf der Rettung selbst aber liegt bei dieser Auslegung wenig Gewicht, das Rettungsgewicht wiegt leichter als eine Feder.
Bei solcher Auslegung geraten wir natürlich in gefährliche Nähe zum Terrorismus, dessen Täter, anscheinend gottbefohlen, ohne zu zögern, die widrigsten Greuel verüben. Es sei ehrenhalber aber gesagt, daß Kierkegaard hier äußerst raffiniert argumentiert. Er will durch die Absolutheit des Glaubens die immerfort nachwachsenden Widersprüche des Ethischen, wo die Ansprüche verschiedener Pflichten sich im Streit auftummeln können, zur Ruhe bringen. Abraham rettet sich vor diesen Pflichten gleichsam in seinen Glauben hinein, er wird fügsam.
Ganz anders, wenn wir die Pointe der Geschichte im Verschonen und nicht so sehr in der Gotteshörigkeit erkennen. Da stellt sich nämlich die Frage: hat Abraham, als er den Befehl zur Tötung seines Sohnes erhielt, richtig gehört? Hat er erst falsch gehört, dann aber im entscheidenden Moment, als der Engel des Herrn den Tötungsfahrplan unterbricht, richtig? Wurde Abraham von einer düsteren Sehnsucht ergriffen, seinem Geschlecht ein Ende zu machen, und damit aller Verheißung, die auf seinem Geschlecht in der Zukunft ruhte? Hatte ihn der Todestrieb im Griff, wie man mit einem modernen Wort sagen würde, und verwechselte er deshalb eine morbide innere Stimme mit der Stimme Gottes?
Für einen Augenblick kommt die Geschichte vom Segen, der auf dem Volk Israel, auf Abrahams Nachfahren liegen soll, ins Stocken. Würde Isaak tatsächlich getötet, wäre es mit dieser Geschichte aus. Und Gott hätte sich auf aberwitzige Weise selbst widersprochen. Schließlich hatte Er Abraham ja versprochen, auf ihm und seinen Nachkommen liege der Segen. Vergessen wir nicht: Abraham wird, als er den Befehl vernimmt, nichts versprochen, gar nichts. Nicht etwa: wenn du deinen Sohn tötest, wird dieses oder jenes Glückverheißende geschehen.
Aus. Keine Zukunft. Keine messianische Vaterschaft mehr. Kein Sohnesfolger, der Abraham ja erst zum Stammvater dreier Religionen machen wird. Stéphane Mosès hat die Kommentare beleuchtet, die von der Zweideutigkeit der Stimme ausgehen, welche Abraham hört. Gewiß, er soll auf den Berg Morija steigen, aber soll er da hinaufsteigen, um seinen Sohn zu opfern oder um ihn dort in den Dienst Gottes zu initiieren? Es gibt sogar Auslegungen, die davon sprechen, beim Geschehen auf dem Berg habe es sich um ein heiliges Spiel gehandelt, ein täuschend echtes zwar, aber die Protagonisten, Abraham und Isaak, hätten doch im Geheimen gewußt, daß es nicht zum Äußersten kommen würde. Mir kommt diese Interpretation schlaff vor, weil sie den anstößigen Kern der Geschichte verharmlost.
Im babylonischen Talmud wird insistiert, das Menschenopfer an sich sei Gott verhaßt. Die Opferideen sind nicht durch Gott in die Hirne der Menschen gelangt, auch in das Hirn Abrahams nicht; es geht dabei um die Konfrontation mit dem Bösen. Abraham wird, nachdem er von Gott bisher nur Gutes erfahren hat, dem Bösen ausgesetzt und auf die Probe gestellt.
Nach dieser Auslegung hat Abraham zwar geglaubt, den Befehl Gottes zu vernehmen, und darin fehlgehört, indem er womöglich das zwittrige Stimmchen einer teuflischen Einmengung in den Segensplan vernahm, während er aber im entscheidenden Moment, da der Engel des Herrn dazwischentritt und Abraham beim Namen ruft, und dieser antwortet: hier bin ich! richtig hört, und ein Ausweichen ins Tieropfer möglich wird.
Abraham widersteht der Tötungsversuchung, das ist das Wichtige. Was die Feinauslegung der Geschichte betrifft, gäbe es hier mit Hilfe von Stéphane Mosès noch viel zu rapportieren, doch belassen wir es dabei. Erwähnt sei nur, daß die christliche Überlieferung immerzu vom Opfer Isaaks spricht, die jüdische Überlieferung hingegen von der Bindung Isaaks, was ungleich stärker den Aspekt betont, ihn in den Dienst Gottes zu stellen.
Halten wir fest: Isaak wird verschont, und damit ist ein Riesenschritt hin zur Zivilisierung, zur generellen Abkehr vom Menschenopfer getan. Gott will solche Opfer nicht mehr, hat sie vielleicht nie gewollt. Was in der Bibel in wenigen kurzen Sätzen zusammengedrängt steht, ist ein unendlich schwieriger und mühevoller Prozeß in der Geschichte der Menschheit. Wie bedeutsam diese Geschichte ist, erkennt man schon daran, welche Fülle an Kommentaren sie hervorgelockt hat und noch immer hervorlockt.
Und hier mengt sich die Stimme Franz Kafkas dazwischen, der das allzu Sichere, den mit Müh und Not erwischten Sinn, wieder ins Wacklige überführt: »Alles erscheint mir als Konstruktion. Jede Bemerkung eines anderen, jeder zufällige Anblick wälzt alles in mir auf eine andere Seite. Ich bin unsicherer als ich jemals war, nur die Gewalt des Lebens fühle ich. Und sinnlos leer bin ich. Ich bin wirklich wie ein verlorenes Schaf in der Nacht und im Gebirge oder wie ein Schaf, das diesem Schaf nachläuft.«
Schaf, das dem Schaf nachläuft, das leitet über zum reinsten der reinen Schafe, dem Lamm Gottes, dem ich mich bisweilen mühe hinterherzulaufen, wenn auch meistens erfolglos. Hinterherlaufen wiederum, das ist ein Wort, das gut zu den Gedanken von René Girard paßt, der die Mimesis, die Nachahmung zum Herzstück seiner Theorie über das Menschenopfer erwählt hat.
Überzeugend konnte er erklären, wie geschickt einige Mythen darin sind, die Wahrheit über das Menschenopfer systematisch in ihr Gegenteil zu verkehren. Das Opfer hat Schuld auf sich geladen, heißt kurz gesagt die mythische Begründung.
Die Verfolger wurden also in die Pflicht genommen, es umzubringen. In einem mimetischen, will heißen ansteckenden Furor überzeugen sich die Verfolger wechselweise davon, daß sie recht tun und recht getan haben. Sie wälzen alle angehäufte Schuld auf das Opfer ab und stiften darüber ein neues Gemeinschaftsbündnis. Ein Massenphänomen, ein kollektiver Gewaltexzeß. Und niemand kommt und klärt die Mörder über ihren verbrecherischen Irrtum auf. Der menschliche Sündenbock ist tot. Das Opfer wird erst dämonisiert, danach vergöttlicht. Vorübergehend kehrt Ruhe ein. Bis sich der mimetische Furor wieder entzündet und ein neues Opfer unter die Steine oder unters Messer kommt. Dafür kommt jeder Außenseiter in Frage, mit niederem oder hohem sozialen Rang. Oder ein Ausnahmemensch, der verblüffende Sätze spricht und eine verblüffende Haltung vorlebt – wie Jesus Christus.
Warum Mimesis? Warum Furor? Dahinter steht die immer wieder neu sich entzündende und verschärfende Rivalität des menschlichen Begehrens, Rivalität, die sich am Nächsten mißt, der mehr hat, der anscheinend begünstigt ist. Von der zerstörerischen Kraft dieses Begehrens weiß das Zehnte Gebot, das alle Arten solchen Messens und Begehrens verbietet, ein kluges Lied zu singen. Ein aggressiver, sich wechselweise anstachelnder Furor befällt die Rivalen, die sich ihrer Aggression entledigen, indem sie gemeinsam ein Opfer niedermachen. Stünde das eine Opfer nicht zur Verfügung, müßten sie übereinander herfallen.
Und, wie gesagt, nach dem Mord kehrt Entspannung, kehrt erst einmal wieder die Ruhe des Friedhofs ein.
Mimesis ist aber nicht an sich schlecht oder gefährlich. Auch Jesus fordert unentwegt zur Mimesis auf. Es ergeht bei seinem Handeln, seinem Sprechen ja fortwährend die Einladung, ihn nachzuahmen, so wie er selbst versucht, Gott nicht in Seiner göttlichen Egozentrik, sondern in Seiner Vorbildlichkeit des Gewährenlassens nachzuahmen. Aber es gibt den Gegenspieler, Satan, wenn auch nicht unbedingt als Person, so doch als zerstörerische Potenz, die ebenfalls zur Mimesis einlädt. »Satan sät Ärgernisse und erntet den Sturm der mimetischen Krisen«, wie René Girard so treffend schreibt.
Einzig in ihrer Art ist die Zusammenkunft von Jesus’ und der Ehebrecherin, festgehalten im Johannes-Evangelium. Sie hat auch mit dem Schreiben zu tun. Wie ein sich entzündender kollektiver Furor, der kurz davor steht, sich zu entladen, aufgehalten und zur Ruhe gebracht werden kann, davon erzählt die Geschichte. Unter Anführung der Schriftgelehrten ist eine aufgebrachte Menge drauf und dran, eine Ehebrecherin zu steinigen. Jesus aber gibt zunächst keine Antwort, er bückt sich nieder und schreibt mit dem Finger in den Sand. Es ist eine grandiose Ablenkungsgeste. Jesus setzt sich dem aufgebrachten Begehren nicht Aug in Aug aus, er tritt nicht an die Seite der Ehebrecherin und nimmt Partei, was ihn zweifellos in Gefahr bringen würde, gleich mit gesteinigt zu werden. Er vermeidet alles, was ihn selbst zum Mittäter oder zur Beute des mimetischen Furors machen könnte. Vergessen wir nicht, auch einem aufgebrachten Tier darf man nicht geradewegs in die Augen schauen, es wird dadurch nur noch mehr gereizt.
Zauberhaft an dieser Geschichte ist, wie der Furor an Jesus Finger wie an einem Blitzableiter hinab in den Sand fährt, in einen geschriebenen Text hinein, dessen Rätsel schwer zu lüften ist. (Manchen Kommentatoren zufolge lautet der Text: terra terram accusat, die Erde richtet die Erde, aber das ist ein anderes Thema.) Erst jetzt, wo der Erregung schon die Spitze genommen ist, kann die wunderbare Dämpfungspointe folgen: »Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«.
Wirklich, ein außerordentlicher Satz, der ins Mark unserer Selbstgerechtigkeit zielt. Jesus schreibt in den Sand. Der erste Stein, der den Bann brechen könnte, fliegt nicht. Als Masse sind die Leute gekommen, einzeln ziehen sie wieder ihrer Wege. Jesus bleibt mit der Frau allein zurück und verdammt sie nicht. Bringen wir den Unterschied zwischen Mythos und Bibel noch einmal auf den Punkt. Verdient es das Opfer, geschlachtet zu werden?
René Girard schreibt: »Der Mythos antwortet stets mit ›Ja‹, die biblische Geschichte mit ›Nein‹.« Nein und abermals nein, die gesteinigten Propheten, Johannes der Täufer, Jesus, sie alle waren unschuldig, daran läßt die Bibel keinen Zweifel.
Von der Bibel wird die Kollektivgewalt nicht mehr sanktioniert. Gott ist woanders, jedenfalls nicht bei der aufgereizten, schlachtenden Menge. Mehr und mehr, in den übereinanderliegenden Schichten der Bibel, trennt sich Gott von der Gewalt. Schon die Psalmen geben den Opfern, denen schreckliche Gewalt angetan wurde, eine Stimme, und nicht ihren Verfolgern. Auch dazu noch einmal Girard: »Die Psalmen (…) setzen mythische Situationen in Szene, aber sie lassen uns an einen Menschen denken, der auf die ausgefallene Idee käme, einen prächtigen Pelzmantel mit der Innenseite nach außen zu tragen, und der, statt Luxus, Stille und Wollust auszustrahlen, das noch blutige Fell der gehäuteten Tiere zur Schau stellen würde.« Der Tod am Kreuz und die Auferstehung, sie sind das Herzstück, das die Wahrheit über das jesuanische Opfer und damit über alle je geschlachteten Menschenopfer aufdeckt: das Opfer ist unschuldig. Keinerlei Schuld kann an diesem Menschen gefunden werden. Die Klarheit der Offenbarung erlöst vom Nichtwissen der mythologischen Erzählungen, worin die Verfolger nicht wissen, was sie getan haben, und ihre Nachfolger nicht wissen wollen, was sie tun.
Franz Kafka schrieb: »Die Wirkung eines friedlichen Gesichts, einer ruhigen Rede, besonders von einem fremden, noch nicht durchschauten Menschen. Die Stimme Gottes aus einem menschlichen Mund.« Werden wir also ein bißchen ruhiger, schauen wir friedlich umher, ohne einander durchschauen zu wollen, sprechen wir aber dennoch von der Schuld.
Seit den Tagen, da die Teile des Neuen und des Alten Testaments verschriftet wurden, ist nicht nur viel Wasser den Jordan hinuntergeflossen, auch Laufrichtung, Laufgeschwindigkeit, das Hakenschlagen, die Hopser, die Bruchkanten, wann wo welche Stützpfosten in die Erzählung eingeschlagen werden, das alles hat sich gewaltig geändert. Von verschwindend geringen Ausnahmen abgesehen wird aber, wenn überhaupt erzählt wird, immer auch von schuldhaften Verwicklungen erzählt. In weiten Teilen des Alten Testaments bildet die genealogische Reihenfolge das narrative Korsett, anhand dessen die Helden die Bühne betreten, wo sie von einer schuldhaften Erbschaft entweder erstickt werden oder sich emporwinden zu neuer, erfrischender Gottesbereitschaft.
Im Neuen Testament tritt diesbezüglich eine sehr weitreichende Wende ein. Mit dem Auftritt Jesu, der zwar selbst noch durch die genealogische Reihe legitimiert ist – er ist durch seinen weltlichen Vater Josef ein Abkömmling des davidischen Königshauses –, bricht die verwandtschaftliche Kette entzwei. Jesus bewegt sich provozierend außerhalb der Familie, indem er mit einer Schar Jünger umherzieht, die zwar eine Ersatzfamilie bilden, wodurch aber keine Sippe mit Söhnen und Töchtern aus eigenem Fleisch und Blut begründet wird.
Das hat nicht nur Folgen für die religiöse Gemeindebildung, es hat auch Folgen dafür, wie erzählt wird nach dem Wirksamwerden der jesuanischen und vor allem der paulinischen Botschaft – besonders Paulus war Familienskeptiker, wenn nicht ein Familienzerstörer par excellence. Zwar spielen genealogische Herleitungen auch weiterhin eine Rolle, aber sie schrumpfen zu Kürzeln, die allenfalls noch zwei oder drei Generationen umspannen, zu Zeitausschnitten, wie wir sie aus den umfangreicheren der modernen Familienromane kennen.
Der Strom der Erzählungen schwoll, sobald er sich von archaischen Urtexten löste und allmählich zu Literatur wurde, gewaltig an, und auch die Erzählhaltungen gingen gewissermaßen in die Breite. Man schlage das Buch »Hiob« auf und lege Goethes »Wahlverwandtschaften« daneben, der Unterschied springt sofort ins Auge. Da nimmt sich »Hiob« in seiner Kargheit zunächst aus, als sei er mit zusammengebissenen Zähnen geschrieben, obwohl einige Passagen darin auch schon eine literaturhafte Blähung erleben, besonders wo Gott in ein Selbstlob über seine Schöpfung ausbricht. Das Meisterwerk von Goethe aber, das erzählt her, das erzählt hin, und liest in einer schier unmerklichen Suchbewegung Steinchen für Steinchen auf, aus denen ein reizvoll komponiertes Mosaik entsteht, bis alle Ingredienzien beisammen sind und das Unheil seinen Lauf nimmt.
Natürlich kann man die beiden Texte schwerlich vergleichen, sie haben wenig oder gar nichts miteinander zu tun. Und dennoch – zwar ist »Hiob« der Text im Alten Testament, der die Schuld- und Leidensfrage mit höchster Schärfe und Dringlichkeit stellt, fast kreischend laut, so laut, daß Gott immerhin dazu verlockt wird, Antwort zu geben – und das hat mit den gedämpften Tönen, die Goethe anschlägt, nicht das geringste zu tun. Aber untergründig geht es auch in den »Wahlverwandtschaften« um schuldhafteVerstrickungen, obwohl sich der Autor davor hütet, Urteile zu fällen, und die den Paaren innewohnende Liebesschuld zu Teilen dem Ähnlichkeitsstreben der Natur überantwortet. Die Schuld ist nicht mehr allzu konkret, sie ist osmotisch mit dem Text verbunden und streckt ihre verhängnisvollen Leimfingerchen nach allen Personen aus.
Auch Marcel Proust verstand viel von Schuld, was man bei seiner »Suche nach der verlorenen Zeit« über den in so vielen Licht- und Schatteneffekten schillernden Landschafts- und Objektbeschreibungen, dem Blütenschaum von Weißdorn und Flieder gern vergißt. Madame Verdurin, die wie eine Spinne in der Mitte des Romans sitzt, ist zweifellos eine böse, böse Frau. Ihr Schuldkonto ist gewaltig. Die meisten Figuren in diesem Buch sind bösartig. In äußerst feinen Abstufungen ist das Böse dargestellt, das in den Binnenkämpfen um eine ins Wanken geratene gesellschaftliche Rangordnung zum Austrag kommt. Wie Charles Swann von Madame Verdurin kaltgestellt wird, und wie der Herzog von Guermantes über Swanns Sterben hinweggleitet, das ist von exquisiter Bosheit. Der Gipfel ist erreicht, als die Verdurin den Baron de Charlus aus der Gesellschaft ausstößt. Das ist eine ganz große, den Leser direkt an den Herzmuskel fassende Szene. Proust bringt das Kunststück zuwege, einen höchst zweifelhaften Helden, den wir bereits in all seinen exaltierten Albernheiten und natürlich auch Bösartigkeiten kennen, im Moment der Ausstoßung als völlig unschuldiges Opfer erscheinen zu lassen. Emphatisches Ja! In diesem Moment ist Charlus absolut unschuldig, ein Homosexueller, dem auf brutale Weise der gesellschaftliche Prozeß gemacht wird, und alle Getreuen Madame Verdurins werden von der bösen Mimesis in die kollektive Gewalt gezogen. Zwar fliegen keine Steine, aber die Worte, die fallen, sind ungeheuerlich.
Was ich damit sagen will?
Daß fast alle bedeutenden Erzählungen bis auf den heutigen Tag – wie versteckt, wie scheinbar unbeteiligt von seiten des Autors auch immer – die intrikaten Schuldfragen verhandeln, die unser mühsam gezimmertes Gesellschaftsgerüst bedrohen. Intelligente Romane und Erzählungen weisen nicht mit dem Finger auf die Schuld, sie arbeiten mit feinsten Schabemesserchen und Sticheln an der Erkenntnis des Bösen, arbeiten unmerklich, aber um so wirksamer daran, den Leser selbst darin zu verstricken, auf daß er in sein pöbelhaftes, rachsüchtiges Herz blicke. Das Wunderbare an der eben aufgerufenen Romanszene ist: schlagartig werden wir zum Guten verlockt. Es ist kaum ein Leser denkbar, der im Moment der höchsten Not Charlus nicht beispränge, obwohl er auf den vorangegangenen Seiten die Demontage dieses exaltierten Mannes durchaus genossen hat.
In der Regel werfen wir nicht mit Steinen nach unseren Opfern, mit Worten hingegen schon. Achtzig Prozent dessen, was Menschen privat oder halbprivat miteinander bereden, dürfte auf Klatsch beruhen. Klatsch ist unausrottbar, er ist köstlich, er ist die Würze des Geselligen. Ich glaube, ich bin selbst ziemlich gewieft darin, meine Gegner in dramaturgisch gut aufgebauten Anekdoten zur Strecke zu bringen. Meine Anekdoten sind gehüllt in ein Bescheidenheitsmäntelchen – das zieht man in Schwaben gern an –, so daß der, der mir zuhört, meiner Selbstgefälligkeit, all dem, was beiherspielend die eigene Dominanz zur Schau stellt, vielleicht nicht sofort auf die Schliche kommt. Aber die Selbstgerechtigkeit behält das Ruder fest in der Hand. Daran besteht kein Zweifel. Das ist einfach nicht abzustellen. Und die allermeisten Menschen reden nach demselben Muster, mehr oder minder raffiniert oder eben öde, wenn sie das Zuspitzen von Pointen nicht beherrschen und ihre Selbstgefälligkeit allzu vordergründig exponieren. Wer’s aber witzig tut, der kommt damit durch und erntet Beifall.
Man stelle sich bitte einmal selbst auf die Probe und versuche, sich auch nur eine Woche lang aller Bemerkungen zu enthalten, die etwas Abfälliges über einen anderen Menschen und eine indirekte Selbsterhöhung in sich bergen, und sei es noch so versteckt – man wird sehen, das ist in Gesellschaft kaum durchzuhalten.
Erst recht nicht durchzuhalten ist es in unseren Monologen, die wir laut oder halblaut oder still zu uns selbst sagen. Was wir uns vorerzählen, wenn wir begierig uns lauschen, das dient unablässig der Selbstvergewisserung, und der Erzählfaden schlingert dabei in der Vergangenheit herum, und ein loses Ende reicht in die Zukunft. Allen Schaden, den wir genommen, alle Kränkungen, die wir erlitten haben – in einem inneren Redestrom, in mehr oder minder kohärenten Erzählungen wird das repariert und unser Selbstbewußtsein damit wieder neu abgedichtet. Sich dabei in die Zange zu nehmen und zu fragen, worin der eigene Schuldanteil an den widrigen Vorkommnissen besteht, das ist eine schwierige Übung, bei der unsere Kräfte schnell erlahmen. Manchmal dient die Erkenntnis eigener Schuld nur dazu, uns mit unserer feinfühligen Delikatesse zu brüsten und in dem Glauben zu wiegen, die anderen seien zu eigenem Schuldempfinden unfähig.
Kein Zweifel, wir sind schuldig und böse, und nur in seltenen Momenten ist unser Herz frei für die Güte. Ein ganzer Mensch zu sein heißt schuldfähig zu sein. Ich bin tief davon überzeugt, daß alles Erzählen, das den Namen Literatur verdient, unsere immer neu sich anhäufende Schuld beäugen und umschleichen muß. Daß darin Erkenntnis steckt, die zwar nicht erlösen, aber Linderung verschaffen kann, Linderung durch ästhetisches Vergnügen.
Jedesmal, wenn ich ein Buch von Kafka aufschlage und mich für eine Weile darin festlese, schwebt über mir ein Tröster und tupft mit lindem Finger an meine Stirn. »Das Kind mit den zwei kleinen Zöpfchen, bloßem Kopf, losen weißpunktierten rotem Kleidchen, bloßen Beinen und Füßen, das mit einem Körbchen in der einen, mit einem Kistchen in der andern Hand zögernd den Fahrdamm beim Landestheater überschritt.«
Ein fragiles Bild, es lebt und vibriert, obwohl es vor langer Zeit aus dem Strom der Erinnerung gegriffen und in die Schrift gerettet wurde. Noch immer will es in die Hut des Lesers genommen werden, auch wenn der Autor und wohl auch der Mensch, der damals ein kleines Mädchen war, inzwischen längst gestorben sind.
Leider will es mir nicht recht gelingen, einen fröhlichen Schluß zu finden. Das Unbehagen, das ich fühle, sei hier nur angedeutet: eine Prosa, die sich mehr und mehr auf den Kurzsatz versteift, der sich ans Gegenwärtige klammert, ist gedanklich nicht in der Lage, eine sublime Erkundung der Schuld zu betreiben. Dabei kann man nicht auf die Vergangenheit verzichten, auch Konjunktiv und Futurform müssen ihre hochmögenden Spieldienste leisten. Eine weitere Gefahr sehe ich in den allzu zerbrochenen Erzählformen, die das Schwirren einer mehr und mehr zum Fragment verkommenden Wahrnehmung nachahmen wollen.
Das moderne Freiheitsdenken vermag immer weniger in der Schuldfähigkeit des Menschen sein Eigentliches zu erkennen. Wer immerzu vor sich hin psychologisiert oder aber auf genetische Modelle fixiert ist, sucht die Schuldfähigkeit des Menschen zu minimieren. Dabei haben die klügsten und edelsten Köpfe vieler Generationen ihre geistige Spannkraft darauf gewendet, uns in unserer Schuld zu erkennen, Mittel zu finden, wie wir der Selbstzerstörung, dem Menschenopfer, entkommen.
Eine immer mehr punkthaft auseinanderfahrende Zeit, in der es den göttlichen Aufhalter nicht gibt, in der die Kette der Generationen in winzige Stücke zerbrochen ist und wir von den Wassern des Jordan her erzählend keinen tröstenden Sinn zu uns leiten, läßt uns ängstlich und nervös, vor allem: bitterlich allein zurück. Die Erzählfäden sind mürbe geworden, sie kommen nur mehr selten aus dem Woher und reichen kaum in das Wohin. Wohin das führen mag? Mögliche Antworten seien den spekulationswilligen Köpfen überlassen. Mir jagt das Driften in vollendeter Sinnlosigkeit jedenfalls Angst ein. Aber, wer weiß, vielleicht ist es für jüngere Menschen befreiend?
SINN UND FORM 2/2010, S. 251-263
- 4/2012 | Ich versus Wider-Ich. Selbstvorstellung in der Akademie der Künste, S. 571 Leseprobe
Lewitscharoff, Sybille
ICH VERSUS WIDER-ICH Selbstvorstellung in der Akademie der Künste
Hundert Euro für den, der überzeugend darlegen kann, daß er haarscharf als die Person nachts die Augen schließt und sich in die Kissen wühlt, von der gemeinhin angenommen wird, er sei ebendiese Person und keine andere.
Was gemeinhin als eine bestimmte Person mit Namen, Lebensdaten, etcetera verstanden wird, ist natürlich das, was im Paß verzeichnet ist und in einem kurzgefaßten Lebenslauf stehen könnte, vor allem aber sind es die abertausend, vielleicht Millionen Blicke, die diese Person von anderen Personen empfangen hat, welche sie fortlaufend interpretiert, einige davon ignoriert, Blicke, die zu einem immerzu leicht in Veränderung begriffenen Etwas versammelt werden, seiner nicht recht habhaft werdend, aber auch nicht bloß aus Luft bestehend, ein etwas, das die betreffende Person vielleicht als ihr Ich bezeichnen würde. Was immer dieses Ich sein mag, in seinen wesentlichen Teilen setzt es sich aus den verwandelten Blicken anderer zusammen.
Kommen wir zum Ich. Kommen wir zu mir. Will heißen, zu meinem Ich und Wider-Ich, wobei sich letzteres nicht aus den Blicken anderer zusammensetzt, sondern aus Blicken, die von meinem Inneren auf es geworfen werden. Es sind nämlich mindestens zwei Ichs, und sie vertragen sich nicht unbedingt. Ein Tag-Ich und ein Nacht-Ich, oder, genauer gesagt: ein Sitzen-Stehen-Gehen-Ich und ein Bett-Ich.
Es wird viel behauptet. Darum muß ich jetzt deutlicher werden.
Es wird zum Beispiel behauptet, ich, dieses geheimnisvoll hochmögende Ich, das jetzt vor Sie hintritt, sei in Stuttgart-Degerloch geboren, habe einen Bulgaren zum Vater und eine Schwäbin zur Mutter. Ein bulgarischer Vater ist wahrlich kein Sechser im Lotto, und eine kleinbürgerliche schwäbische Mutter mit blonden Locken und dezentem Silberblick auch nicht.
Es stimmt ja auch vorne und hinten nicht. Ungefähr mit zehn, vielleicht schon früher, aber davon weiß ich nichts Genaues mehr, habe ich mein wahres Ich entdeckt und seine Möglichkeiten auf dem Kopfkissen fortentwickelt und ausgeformt, zuweilen geschah es auch indolent hingefläzt in der Schulbank.
Frei herausgesprochen: an einem so öden Ort wie Stuttgart-Degerloch konnte ich nicht geboren worden sein, von so erzgewöhnlichen Eltern konnte ich nicht herstammen. Definitiv nicht! Da hätte ich mich ja gleich an einem Nagel im Universum aufhängen können. Nein. Mein Vater, mein richtiger, nicht der mir angedichtete Pseudovater – Sie hören, wenn von meinem richtigen Vater die Rede ist, wird die Stimme gleich anders – mein richtiger Vater war ein Abkömmling des Hauses Rothschild, ein Komponist und Ethnologe, den es nach Amerika verschlagen hat, und der wiederum von seinem Vater verstoßen worden war, weil er sich mit einer Indianerin zusammengetan hat, nämlich meiner Mutter. Lachen Sie nicht. Die Apachen, wie Karl May sie gezeichnet hat, sind ein ehrenwertes Volk. Halten wir fest: jüdischer schwerreicher Bankiersohn aus Frankreich, der sein Erbe ausgeschlagen hat, Indianerin.
Ich kann Ihnen nun nicht in allen Einzelheiten schildern, wie es dazu kam, daß alle, auch mein drei Jahre jüngerer Bruder, auf höchst grausame Weise ums Leben kamen, und ich als einzige Zuschauerin und Zeugin übrigblieb. Schon höre ich die üblichen kleinlichen Einwände. Es wird behauptet, ich hätte einen großen Bruder, acht Jahre älter, was ich jetzt nicht bestätigen kann und will. In puncto Familienvernichtung bin ich radikal – gewesen und geblieben. Familien verdienen es, vernichtet zu werden. Nur diese eine, kopfkissenerzeugte, hatte es eben nicht verdient, und daher rührt der wissende Glanz in meinen Augen, die Unbeugsamkeit meines Charakters, die Strafbefehle, die er aussendet, die Strafen, die er mit eigener Hand ausführt.
Genannt sei dieses bedeutsame Ich mein Wider-Ich. Wobei – merkwürdig, es kommt mir erst jetzt in den Sinn – dieses Wider-Ich ohne Namen auskommen muß. Es heißt jedenfalls definitiv nicht Sibylle Lewitscharoff. Es heißt aber auch nicht sowieso-sowieso-Rothschild. Weil mein verstoßener Vater in der Fremde einen anderen Namen angenommen hat. Aber welchen?
Kopfzerbrechen hat mir schon öfter bereitet, daß bei meiner Wider-Familie, bei den werdenden Schritten meiner sich aus ihr entwickelnden Ichheit, die historischen Zeiten etwas durcheinandergeraten – sie reichen von den amerikanischen Indianerkämpfen im 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, sie reichen in die sechziger und knapp in die siebziger Jahre hinein, was bedauerlich ist, weil sonst doch alles wie an der Schnur, mit kleinen Ausbuchtungen zwar, aber überaus logisch und plausibel erzählt wird. Auf Logik, zumindest die Logik der Gefühle und der von ihnen angeregten Handlungen, legt mein Wider-Ich allerhöchsten Wert. Nun, diese kleinen historischen Unschärfen wird man eben hinnehmen müssen, weil man einer so hochmögenden Persönlichkeit verzeihen muß, daß sie wilder als übliche Personen die Zeiten durchstreift und in den Zeiten blüht.
[...]
SINN UND FORM 4/2012, S. 571-574, hier S. 571-572
- 2/2018 | »Menschliches Wesen / Was ist’s gewesen«. Über Paul Gerhardt
- 1/2019 | Erich Auerbach liest Dante als Dichter der irdischen Welt
- 3/2020 | Die Hölle als Hölle beschreiben. Flann O’Briens »Der dritte Polizist«
Lewtschew, Ljubomir
- 3/1972 | Lied auf García Lorca
- 4/1973 | Die Glocken von Isla Negra
- 5/1984 | Für Anna Seghers. Das Grab von Marx
Lezama Lima, José
- 2/1991 | Zusammenflüsse
- 5/1992 | Geschichtsschreiber des Regens
- 2/1999 | Inferno
- 2/2005 | Briefe an Eloísa
Lian, Yang
- 6/2013 | Die Poetik des Raumes. Eine zeitgenössische Antwort auf die Herausforderungen des klassischen chinesischen Gedichts
Lichtenstein, Erwin
- 5/2007 | Briefwechsel mit Günter Grass. Mit einer Vorbemerkung von Elisabeth Unger
Liebermann, Doris
- 4/2011 | Auf dem kalten Asphalt von Berlin. Über Vera Lourié, S. 499 Leseprobe
Liebermann, Doris
Auf dem kalten Asphalt von Berlin. Über Vera Lourié
Vera Lourié war achtzig Jahre alt, als sie sich noch einmal leidenschaftlich verliebte: in eine jüngere Frau, die Gattin ihres Hausarztes. Dreißig Jahre lang hatte sie kein Gedicht mehr geschrieben, nun begann sie, Liebesgedichte auf deutsch zu verfassen.
Die Angebetete erwiderte die fordernde, besitzergreifende Liebe nicht. Sie sah in Vera eine Freundin, sorgte sich um ihr Wohlergehen, brachte ihr Medikamente. Hin und wieder tranken die beiden ein Glas Champagner zusammen. Vera Lourié begann damals, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in Form der hier erstmals veröffentlichten Briefe, die an die Geliebte adressiert sind. »Tagebuch einer Seele« sollte die Briefsammlung als Buch heißen. Die kleine, gebrechliche russische Dichterin hatte zu dieser Zeit schon nicht mehr die Kraft, sich über Stunden zu konzentrieren. Sie konnte nicht mehr lange sitzen, ein Bein und die Hüfte schmerzten ständig. Das Laufen fiel ihr schwer, und die Wohnung konnte sie nur noch in Begleitung verlassen. Aber sie klagte nicht. »Alte Klamotte«, so nannte sie sich selbst. Ihre Briefe schildern Fragmente eines Lebens voller Brüche, sie sind Stimmungsbild, Berliner Stadtgeschichte und Autobiographie in einem. Als sie während der Berliner Festwochen 1995 im Deutschen Theater daraus las, bekam sie stürmischen Applaus. Einen Verlag konnte sie indes für ihre Aufzeichnungen nicht gewinnen.
Sie kam erst spät zu Ehren, die letzte Angehörige des legendären »russischen Berlins« der zwanziger Jahre. Lange trug Vera Lourié ihr Wissen mit sich, ohne daß sich jemand in Berlin dafür interessiert hätte. Es war folgerichtig auch ein Amerikaner, der die russische Dichterin Anfang der achtziger Jahre in West-Berlin »entdeckte«. Der Slawist Thomas R.Beyer vom Middlebury College (Vermont) war während seiner Arbeit an einer Monographie über den russischen Symbolisten Andrej Bely, der von 1921 bis 1923 in Berlin gelebt hatte, auf die Spur der russischen Emigrantin gestoßen. In Amerika hatte Beyer die russische Schriftstellerin Nina Berberowa gefragt, wer von den Russen der zwanziger Jahre noch in Berlin wohnen und Bely gekannt haben könnte. Die Berberowa hatte Vera Lourié genannt, es aber für unwahrscheinlich gehalten, daß sie die Nazizeit überlebt hatte. Und wenn doch, war sie womöglich nach dem Krieg als »Weiße« ein Opfer der Roten Armee geworden. Als »bourgeois« abgestempelt, wurden russische Emigranten nach dem Einmarsch der Roten Armee in Berlin 1945 oft erschossen oder auf Jahre in Lager deportiert – von den eigenen Landsleuten. Beyer suchte die alte Dame im Telefonbuch zunächst, korrekt aus dem Kyrillischen transkribiert, unter Luré, Lurie, Lurje. Vergeblich. Er wollte schon aufgeben, als ihm die französische Schreibweise in den Sinn kam. Tatsächlich fand er unter »Lourié« die Dichterin, die in den zwanziger Jahren zur russischen Boheme Berlins gehört hatte. Beyer machte sich nach Berlin auf und erfuhr von ihr nicht nur unbekannte Details über Andrej Bely und viele andere Schriftsteller, die sie gekannt hatte. Beyer war es auch, der Vera Louriés eigene Gedichte veröffentlichte. In Rußland hatte sie nur drei davon publizieren können, ihre Hefte mit den Strophen hatten die Wirrnisse der Zeit überstanden. Dank Thomas R. Beyer erschien der Band 1987 in einer Reihe der Staatsbibliothek Berlin. Überwiegend sind es russische Gedichte, ausgenommen das letzte. Es ist das Gedicht an die Freundin »Es war, es ist!« mit den Versen: »Da plötzlich das Wunder, das Wunder zu lieben! / Vergessen das Alter, nicht denken an Schmerzen! / Nach Dir nur geblieben / Die Sehnsucht im Herzen! / Das ist! // Gefallen die Schranken, / Die Leere genommen. / Dem Himmel ich danke, / Die Fee ist gekommen! / Nur Du!« Als Professor Beyer an der Universität Göttingen über Andrej Bely und dessen Berliner Zeit referierte, erwähnte er auch Vera Lourié. Er ermutigte die Slawistik-Studenten, sie in Berlin zu besuchen. Eine Freundin, die in Göttingen studierte und Beyers Vortrag gehört hatte, erzählte mir davon. Ich studierte damals am Osteuropa-Institut der Freien Universität, vom »russischen Berlin« erfuhr ich dort nichts. Ich glaube, auch die Professoren hatten noch nichts oder wenig davon gehört. Die 300000 Russen, die zu Beginn der zwanziger Jahre in der Stadt Verlage, Zeitungen, Theater, Geschäfte, Schulen und Restaurants betrieben hatten, waren längst in alle Winde zerstreut, ihre Geschichte war im geteilten Nachkriegs-Deutschland in Vergessenheit geraten. Bücher wie Karl Schlögels »Der große Exodus« und »Berlin Ostbahnhof Europas« waren zu dieser Zeit noch nicht erschienen, die Quellen waren verstreut und in den Ländern des Ostblocks nur schwer oder gar nicht zugänglich. Zusammen mit der Göttinger Freundin rief ich Vera Lourié an. Sie lud uns zum Tee ein, und bald gehörten wir zu ihrem Freundeskreis.
Schon seit 1933 lebte sie in einer bescheidenen, heruntergekommenen Hinterhofwohnung im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Ein Klavier, Bilder mit dem Porträt der Mutter und russischen Landschaften an den Wänden, Katzen. Weil sie nicht alle Kosten von ihrer Rente bestreiten konnte, vermietete sie zwei Zimmer an junge Leute, Studenten, die ihr im Alltag zur Hand gingen. Man fühlte sich an die Notgemeinschaften russischer »kommunalkas« erinnert. Die Studenten kamen aus dem Iran oder aus Amerika. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren es meist russischsprachige, aus der Ukraine, aus Kasachstan, aus Turkmenien. Sie nahm Anteil am Schicksal ihrer Mieter und wußte über die politischen Zustände der jeweiligen Länder Bescheid. Sie selbst nahm mit dem Durchgangszimmer vorlieb. Nie hörte man sie über die Enge und Unbequemlichkeit klagen, darüber, daß die jungen Leute erst ihr Bett passieren mußten, wenn sie in die vermieteten Räume wollten. Einsam zu sein, wäre für sie schlimmer gewesen. Ich nahm lange Interviews mit ihr auf, aus denen Radiosendungen entstanden, ich befragte sie auch für einen Dokumentarfilm über das »russische Berlin (Rußland an der Spree. Ein Film von Doris Liebermann und Dennis Weiler, SFB 1988). Vera Lourié erinnerte sich lebhaft, und sie konnte gut erzählen. Sie sprach mit energischer, tiefer, dunkler Stimme. Ihr Deutsch war russisch gefärbt.
[...]
SINN UND FORM 4/2011, S. 499-504
Im selben Heft erschienen von Vera Lourié »Erinnerungen an das russische Berlin«.
Liebermann, Max
Liebermann, Mischket
- 6/1984 | Nachforschungen über Elly Schließer
Liebers, Peter
Liebmann, Irina
- 1/2016 | Über den Geist. Dankrede im Scharbausaal der Lübecker Bibliothek
Liebmann, Rolf
- 5/1976 | Gespräch mit Fritz Cremer
Liebs, Elke
- 2/1994 | Eine jüdische Antigone
Liedtke, Klaus-Jürgen
- 1/2024 | Lapponia
Liersch, Werner
- 1/1984 | Nichts gegen Homer - Wortmeldungen zu Erich Köhlers gleichnamigem Aufsatz.
Lietz, Hans-Georg
- 3/1983 | Zirkus und kein Ende. Nach einem Besuch im »Haus Malmström«
Lifschiz, Emmanuel
- 2/1991 | Abschied von Pasternak
Ligeti, György
- 4/1993 | Gespräch mit Adelbert Reif
- 4/2023 | »Neue Wege, die mit Sicherheit alle in den Abgrund führen«. Ein Brief an Theodor W. Adorno. Mit einer Vorbemerkung von Jörn Peter Hiekel
Liliencron, Detlev
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Lin, Din
- 6/1950 | Zeitgenössische chinesische Prosa. Aus »Sonne über dem Sangan«
Lindhorst, Johannes
- 4/1998 | Literaten und Komödianten
- 6/1998 | Ausbruch nach Afrika. Versuch über »Roberto Zucco« und das Mythische bei Bernard-Marie Koltès
Lindsay, Jack
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Der Zeitbegriff im »Zauberberg«
Lindtberg, Leopold
- 6/1963 | In memoriam Hans Otto. Hans Otto zum Gedächtnis
- 1/2003 | Briefe zur Uraufführung von »Arthur Aronymus und seine Väter« in Zürich 1936
Linkow, G.M.
- 2/1953 | Im Rücken des Feindes
Links, Roland
- 3/1972 | Gebrauchsanweisung für einen Erstling
Lipecky, Heide
Litten, Hans
Ljang, Li
- 6/1985 | Gedichte
Llywelyn-Williams, Alun
- 1/2016 | In Berlin – August 1945. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Schamoni, S. 60 Leseprobe
Llywelyn-Williams, Alun
In Berlin – August 1945
1. Lehrter Bahnhof
Heledd und Inge im roten Fackelschein –
Inge oder Heledd, wer ist wer? Die Jahre betrügen uns –
Sieh nur, wie dort, wo eilig Fäden ineinanderlaufen,
wir fernen Reisenden zusammenkommen, durch Zufall unter der Uhr.
Wirklich durch Zufall? Auf diesem Bahnhof beginnt keine
Reise, es endet auch keine, es sei denn, man sieht
in seinen zerborstenen Bahnsteigen das Ende aller Reisen.
Kauft eure armselige Fahrkarte wohin auch immer;
lang, lang ist das Warten dieser Menschenmenge,
groß ihre Geduld und ohne Murren,
weil das blinde Geschoß, das meinen tumben Kadaver
zum Schmollen auf den Rost der Schienen warf,
abprallte und das runde Glas zerschlug,
die Zeiger wegriß, die das Hin und Her gewiesen
dem würdevollen Lärm der harten Räder.
Der Sturmwind ging vorüber –
und aus der Spalte in der Wand, dem Riß im Pflaster
quillt Wasser, doch ohne
das Lied des Bergbachs.
Um uns tröpfelt Nacht herab.
Ihr vergessenen Reisenden, weil ihr so still seid,
will ich all meinen Schrecken sammeln und ihn für eine Weile
hier am Saum des Lebens niederlegen, will ihn
vom feuchten Boden heben
und mit euch warten auf den Bahnhofsvorsteher.
Stille fließe zwischen uns; wir wollen wieder,
nach den vergeblichen Jahrhunderten,
sehen, wie Lava langsam die Straße niederrinnt,
wie Sand die Gräber der Herrschenden bedeckt,
und preisen die Schönheit dieser Herdstatt unter grauem Flechtenschorf.
(Lang ist es her, undeutlich die Erinnerung, ob jedesmal
das gleiche Schicksal uns beschieden war;
doch bevor die Brücken gesprengt wurden, wart auch ihr auf der Flucht.)
Scharf ist der Wind; Heledd, zittre nicht, weine nicht;
habe Mut, versteckt auf dem bequemen Bett im Schutt,
als Gegengabe
für den Genuß einer Zigarette,
für eine Tafel Schokolade,
magst du deine Liebe geben dem einsamen Eroberer.
Erbarmungslos tröpfelt die Nacht.
Wann kommt er, wann, der blaue Beamte,
im eleganten Anzug, von erlesenem Geschmack,
sein Signalhorn zu blasen und die Menge wieder in Bewegung zu setzen?
Stolz und feist war diese Stadt schon immer,
wie geschaffen für die Zerstörung;
hast du gehört, Heledd – nein, du, verwundete Inge –
das wilde Lachen des gierigen Adlers,
hast du gesehen in seinen halbgeschlossenen Augen
das vorbestimmte Schicksal all unserer brüchigen Städte?
2. Zehlendorf
Der Tod kam zum öffentlichen Garten:
Das flache Grab sah ich, das winzige Holzkreuz
zwischen Fußweg und Seeufer,
auf der kleinen Landzunge, wo hohe Kiefern stehen.
Wie seltsam wäre im Roath Park oder in den Gärten von Kensington
diese vergebliche, hilflose Geste.
Knie nieder, Inge, und küsse die Erde:
Wenn du magst, streu zärtlich Blumen aus über dem Helden,
gib keinen Namen ihm –
die Kinder haben lange schon den Ort geflohen, ein Spielzeug nur,
ein Segelboot, der Mast gebrochen, ist übrig noch von ihrem Treiben.
Vertraut ist sicherlich der Tod, wenn er kommt,
tröstend in unser Bett steigt am Ende eines langen Tages,
auf uns wartet in den fernen Regionen unseres Bewußtseins,
auf dem höchsten Gipfel des Everest, um unsere Stärke zu begrüßen:
Er gab in fern vergangenen Tagen
langen Schlaf und ewiges Lied dem Wächter der Furt,
dem Schützer der Grenze.
Ach, der Kerl hat nicht gesagt, ob hier, bei diesem unbenannten Kreuz,
Angst auf der Flucht ihn niederstreckte, ob
die hoffnungslose Verzweiflung einsamen Widerstands
oder die gierigen Feuerzungen Bergen-Belsens an ihm zehrten.
Unscheinbar ist das Grab, und über ihm
wagt der prophetische Wald nicht
zu versprechen, daß es je wieder Frühling wird.
3. Theater des Westens
Es regnet weiter. Unter dem Dache irgendwo
fließt ein verborgener Stausee über in einen Deckenspalt,
rinnt Tropfen um Tropfen durch das gefesselte Dunkel,
unglücklich, unablässig den losen Teppich nässend.
Was soll's – wir freuen uns an Inges Tanz,
sie tanzt im konzentrierten Licht der strengen Lampe;
stärker als Furcht, versteckt im Trommelregen,
ist die Musik, die den geschmeidigen Arm mit Stolz erfüllt,
den Jubel einer jeden wohlerlernten Körperneigung lenkt.
In ihrer flinken Schritte Spuren wächst der Klee –
die Brust von Last befreit, daß wieder Freude sei der Mutter,
daß fröhlich sei der müde Arzt beim Abschied von den Freunden.
Denn lang war ihre Ausbildung und gründlich die Schulung
in so mancher alten Stadt, und viele Zeiten
haben ihr feines Spiel geformt, die Kunst, die Fleisch fügt
zum Gespinst der Noten, die reinigt das ererbte Leid.
Hier ist ein Garten zu hegen, ist eine Seuche einzudämmen;
nachdem wir schworen einen Eid, unlöslich, ihrer hohen Würde
sind uns die Schritte leichter auf der harten Bühne, wir fühlen
die Macht des Firmaments, die Kraft der grünen Knospen.
Aus dem Walisischen von Wolfgang Schamoni
Nachbemerkung
Alun Llywelyn-Williams (1913-1988) wurde in Cardiff als Kind walisischsprachiger Eltern geboren, wuchs jedoch in englischsprachiger Umgebung auf. Er studierte Geschichte und Walisische Literatur und arbeitete zunächst für das walisischsprachige Programm der BBC. Von 1935 bis 1939 gab er die Literaturzeitschrift „Tir Newydd“ (Neuland) heraus, in welcher zum ersten Mal in der walisischen Literatur ein dezidiert städtisches Lebensgefühl (verbunden mit einer undogmatisch linken Einstellung) artikuliert wurde. Als der Krieg näherrückte, war er nicht froh über die Aussicht, »den Faschismus zu bekämpfen, um ein verkommenes System zu stützen«, meldete sich aber gleichwohl nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande und dem Beginn der »Battle of Britain« Ende 1940 zur Armee und blieb bis 1945 Soldat. Als solcher nahm er an den Kämpfen am Niederrhein teil und wurde am 1. März 1945 verwundet. Danach war er Presseoffizier u. a. in Berlin und von 1948 bis zu seiner Pensionierung Direktor der »Extra Mural Studies« (Programme für das allgemeine Publikum) der Universität Bangor in Nordwales. Llywelyn-Williams’ dichterisches Werk umfaßt nur drei schmale Bände (1944, 1956, 1979) und zeichnet sich durch ästhetische Konzentration sowie einen humanen Grundton aus. Außerdem hat er eine Studie über walisische Romantiker (Der Nebel, die Nacht und die Insel, 1960), eine Biographie des walisischen Historikers R. T. Jenkins, zwei Reisebücher über walisische Landschaften, eine Autobiographie (Frühling in der Stadt, 1975) und Essays, meist zu literarhistorischen Themen, veröffentlicht. Bis auf die (englische) Arbeit über Jenkins bedient sich Llywelyn-Williams in allen genannten Publikationen des Walisischen.
In seinen ab 1934 veröffentlichten Gedichten orientierte er sich zunächst an der englischen Avantgarde (T. S. Eliot, W. H. Auden), die mit ihrer Urbanität, ihren zuweilen schroffen Fügungen und der oft schwierigen Sprache einen Gegenentwurf bot zur bis weit ins 20. Jahrhundert wirksamen Tradition spätromantischer walisischer Dichtung mit ihrer klangvollen Eingängigkeit und der Idealisierung des ländlichen Lebens. In seinem Spätwerk kehrte der Autor zu einer einfacheren Sprache und weniger avancierten poetischen Verfahren zurück, blieb jedoch seiner Thematik treu.
Die hier abgedruckten Gedichte beruhen auf Erlebnissen im zerstörten Berlin, entstanden allerdings mit einigem Abstand: Die beiden ersten wurden 1949 geschrieben, das dritte 1951. Sie beziehen sich gleichzeitig auf eine Reihe früher walisischer Gedichte, die ins neunte oder zehnte Jahrhundert datiert werden und die Niederlagen der Briten (Waliser) im Kampf gegen die Angelsachsen im 7. Jahrhundert zum Hintergrund haben: So sind etwa »diese Herdstatt«, »scharf ist der Wind« und »Wächter der Furt« wörtlich aus jenen frühen Gedichten übernommen. Zudem ist der Bezug durch die Gleichsetzung von »Inge« (der Name läßt das walisische Wort »ing« = »heftiger Schmerz« anklingen) mit »Heledd« augenfällig. Letztere ist die einzige überlebende Schwester von Cynddylan, dem im Kampf getöteten Herrscher von Pengwern im heutigen Shropshire. Immerhin stand der Autor 1945 auf der Siegerseite, während die Waliser einst ihre Niederlage betrauerten. Aus dieser Konstellation heraus gelingt es ihm, in der zerstörten Stadt die gescheiterte Hybris »all unserer brüchigen Städte« zu erkennen und das Elend der Unterlegenen und Entwurzelten mitzuempfinden. Das dritte Gedicht schließlich feiert die Kunst als Retterin inmitten der Zerstörung.
Wolfgang Schamoni
SINN UND FORM 1/2016, S. 60-63
Lochner, Eberhard von
- 6/2007 | T.S. Eliot und Eric Voegelin
Locke, John
- 6/2021 | Weihnachten in Deutschland (1665). Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff, S. 777 Leseprobe
Locke, John
Weihnachten in Deutschland (1665)
Vorbemerkung
Der englische Philosoph John Locke, der sein schriftstellerisches Hauptwerk innerhalb weniger Jahre an der Schwelle zum 18. Jahrhundert veröffentlichte, war einer der wichtigsten Vordenker und Stichwortgeber der Aufklärung. Deren Zielsetzungen und politische Diskurse prägte er so nachhaltig wie kaum jemand sonst. Ausgangs- und Bezugspunkt seiner gesellschaftsverändernden Überlegungen war die »Glorreiche Revolution« von 1688 / 89, die er als Gefolgsmann des neuen Monarchen William III. nach Kräften unterstützte. Diese Befreiung von der absolutistischen Regierung des exilierten Stuart-Königs James II., die zu einem gewaltigen Modernisierungsschub führte, erhob Locke auch für andere Nationen zum Vorbild. Stets kreisten seine Schriften um die Frage, was einen liberalen Staat in seinem Innersten auszeichnet. In seinem »Sendschreiben von der Toleranz« (1689) forderte er radikale Glaubens- und Gewissensfreiheit, die er in den Mittelpunkt des Projekts der Aufklärung stellte; sein »Versuch über den menschlichen Verstand« (1690) avancierte zum Grundbuch einer sensualistisch-empirischen Philosophie, welche die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Menschen als unverzichtbare Voraussetzung für alles Nachdenken über seine intellektuellen Möglichkeiten und seelischen Bedürfnisse beschrieb; in den beiden »Abhandlungen über die Regierung« (1690) propagierte er den repräsentativen Parlamentarismus, den er als Lebenselixier eines freiheitlichen Gemeinwesens deutete; mit seinen »Reflexionen über die Folgen der Absenkung des Zinssatzes und die Zunahme des Geldwertes« (1691) verteidigte er die Regeln der freien Marktwirtschaft; und in seinen »Gedanken über Erziehung« (1693) formulierte er die pädagogischen Prinzipien des spielerischen Lernens und des mündigen Gebrauchs des eigenen Verstandes.
Nicht ohne Grund feierte der erste deutsche Pädagogikprofessor Ernst Christian Trapp aus Halle den Universalgelehrten Locke noch 1782 als »Urquelle« des modernen Denkens: »Man liest nichts neues mehr, wann man Locke gelesen hat. Entwickelter findet man wohl manche seiner Gedanken bei denen, die nach ihm gekommen sind: aber was Neues, von Locken nicht gedachtes, schwerlich. Locke, welch ein Mann!« Auch die Feministin Mary Wollstonecraft beschrieb ihren Landsmann Locke in ihrer 1792 erschienenen Schrift »Verteidigung der Rechte der Frau« als Vorkämpfer eines auf umfassende Gleichberechtigung zielenden Denkens, das Mädchen und Frauen ganz neue Chancen auf Entfaltung ihrer Talente eröffnete. Schließlich ist das in der amerikanischen Unabhängigkeitsverfassung von 1776 formulierte Recht auf ein ungehindertes »Streben nach Glück«, das am Anfang des heutigen Gesellschafts- und Staatsverständnisses steht, ohne Lockes literarische Vorarbeit nicht zu denken. Gelesen und rezipiert wurde er gleichermaßen intensiv in Europa und Nordamerika, zumal die meisten seiner Schriften schon frühzeitig in alle Weltsprachen übersetzt wurden. Als gebildeter Mensch kam man im Zeitalter der Aufklärung an Locke kaum vorbei, man mußte sich mit ihm und seinen Theorien auseinandersetzen und tat dies meist mit Gewinn. Die Zustimmung der aufklärerischen Avantgarde war dem Engländer dabei gewiß. Sogar der sonst so zivilisationskritisch auftretende Jean-Jacques Rousseau ließ in seinem Erziehungsroman »Emile« (1762) auf den kühnen Wegbereiter der modernen Gesellschaft nichts kommen: Als »exakter Denker« war der »weise Locke« für ihn unübertroffen.
In deutscher Übersetzung wurde Locke bereits in der ersten Dekade des 18. Jahrhunderts im gesamten Heiligen Römischen Reich gelesen, wobei es vor allem seine Reflexionen über eine zeitgemäße Erziehung waren, die durch Vermittlung des Hamburger Frühaufklärers Hermann Samuel Reimarus und dessen Schülers Johann Bernhard Basedow flächendeckende Verbreitung fanden. 1708 veröffentlichte der Leipziger Verlag von Thomas Fritsch »Herrn Johann Locks Unterricht von Erziehung der Kinder«. Dieser Ausgabe folgten dann viele weitere Übersetzungen des populären Werkes. Erst danach erschienen auch Lockes Toleranzschrift (1710) und sein Essay über den menschlichen Verstand (1757) in deutscher Sprache. Was das hiesige Lesepublikum an den Arbeiten des Autors so sehr schätzte, war neben dem Inhalt die Sprache, die an lakonischer Klarheit kaum zu überbieten war. Die logische Ordnung und glückliche Reihung seiner Argumente, sein immer faßlicher Stil und nicht zuletzt auch der besonnene Vortragston seiner Traktate, denen alles Gestelzte oder Gekünstelte vollkommen abging, luden zum ruhigen Nachdenken ein. Locke war das Musterbeispiel des hellen Denkens, das dem Geist aufhalf und zum guten Gebrauch der Vernunft erzog.
Verborgen blieb Lockes Anhängern allerdings eine Seite seines literarischen Schaffens, die der Philosoph der Öffentlichkeit bis zu seinem Tod nicht darbieten wollte: seine als junger Mann verfaßten Reisebriefe, in denen er sich – im Unterschied zu den Abhandlungen und Traktaten – als hinreißend talentierter Plauderer präsentierte, übrigens auch als sarkastischer Beobachter fremder Sitten und Gebräuche, die er mit viel Witz und im Gestus der grotesken Übertreibung zu seinem eigenen Vergnügen skizzierte. Da er sie wohl nur als Gelegenheitsarbeiten betrachtete, als bloße Kapricen, hielt er sie der späteren Veröffentlichung nicht für wert. Deshalb ließ ihn der Leipziger Dichter und Professor Christian Fürchtegott Gellert, der Locke in seinen 1770 erschienenen »Moralischen Vorlesungen « als prototypischen Aufklärer und Pädagogen unentwegt lobte, in seiner »Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen« (1751) unerwähnt, obwohl er den leichten und ironischen Briefstil der besten Engländer und Franzosen auch den Deutschen zur Nachahmung empfahl und dabei vorzugsweise auf Alexander Pope, Voltaire und Rousseau verwies. Seinen handschriftlichen Nachlaß vermachte Locke, der unverheiratet geblieben war, einem Sohn seiner Cousine Anne Locke, Sir Peter King, dessen gleichnamiger Enkel, Lord Peter King, einen Teil des in Abschrift erhaltenen Briefwechsels 1829 veröffentlichte. Erst 1947 gingen die Manuskripte aus den Händen der Familie King in den Besitz der Oxforder Bodleian Library über. Zwischen 1976 und 1989 wurde Lockes Briefwechsel von Esmond Samuel de Beer, einem neuseeländischen Publizisten und Philanthropen, der Zugang zum Nachlaß hatte, mit dem Anspruch auf lückenlose Vollständigkeit veröffentlicht – in einer historisch-kritischen Ausgabe der Clarendon Press. Eine deutsche Übersetzung der Briefe wurde nicht unternommen, nicht mal in einer kleinen Auswahl.
Tatsächlich gehören die Briefe, die Locke im Dezember 1665 im niederrheinischen Kleve verfaßte, zu den stilistisch brillantesten und kulturhistorisch interessantesten Dokumenten seiner Korrespondenz. Es handelte sich für den dreiunddreißigjährigen Locke, dessen Leben bis zu diesem Zeitpunkt in überschaubaren Kreisen verlaufen war, um die erste Auslandsreise. Der Sohn eines Gerichtsbeamten aus Somerset war als begabtes Kind auf die renommierte Westminster School in London gegeben worden, erlangte dort ein Stipendium und studierte am Christ Church College in Oxford Philologie, Philosophie und Medizin. Zwar erlangte er die Approbation als Arzt, doch betätigte er sich nach Abschluß seiner Studien zunächst als Dozent für Griechisch und Rhetorik. Ab 1663 hielt er auch Vorlesungen über Ethik. Die Oxforder Gelehrtenwelt war sein Bezugsrahmen, was in den Briefen aus Kleve wiederholt zum Ausdruck kommt, etwa wenn er einen dicken und gutmütigen Franziskanerprior, mit dem er tafelt und höfliche Konversation betreibt, als einen Mann beschreibt, der »dem Rektor eines College« jedenfalls »nicht unähnlich« sei. Noch war Locke – der erst 1667 in den Dienst der hochrangigen Adelsfamilie des Earl of Shaftesbury wechselte und zwischen 1683 und 1689 in Holland lebte – nicht jener weltläufige Gentleman, der im Zuge der »Glorreichen Revolution« zu einem der herausragenden Schriftsteller seines Landes werden sollte.
Locke verließ die Universitätsstadt, um den englischen Gesandten Sir Walter Vane zu Verhandlungen mit dem brandenburgischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm nach Kleve zu begleiten. »Am Montag, den 13. November 1665, bestiegen wir in Oxford die Kutsche nach Deutschland«, notierte er am Tag der Abreise in einem Erinnerungsbuch, in dem er seine Reiseerlebnisse in knappen Notizen festhielt. Sir Walter Vane, dem Locke Schreibdienste zu leisten hatte, wurde nach Deutschland beordert, um im Krieg gegen die Niederlande, den der englische Monarch Charles II. bereits einige Monate zuvor im März erklärte hatte, einen neuen Bündnispartner zu gewinnen. Den Fürstbischof von Münster, Christoph Bernhard von Galen, hatten die Engländer schon als Alliierten auf ihre Seite ziehen können. Nun ging es darum, auch den Großen Kurfürsten, den Herrscher Brandenburgs, der als solcher auch Herzog von Kleve war, der Koalition gegen Holland zuzuführen. Die deutschniederländische Grenzstadt Kleve war im 17. Jahrhundert neben Berlin und Königsberg die dritte brandenburgische Residenz. Friedrich Wilhelm, der großartige Parks und Gärten anlegte, hielt sich dort besonders gern auf. Es ist heute nicht mehr zu ermitteln, warum ausgerechnet Locke, der in Auslandsangelegenheiten völlig unerfahrene Dozent für Moralphilosophie, ausgewählt wurde, den englischen Chefunterhändler nach Deutschland zu begleiten. Vielleicht hatte ihn der König selbst dazu ausgesucht, als er sich im Frühjahr auf der Flucht vor der Pest – die Daniel Defoe in seinem 1722 veröffentlichten »Journal of the Plague Year« später so eindrucksvoll aus der historischen Rückschau beschrieb – von London aus nach Oxford aufmachte, wo er im Christ Church College mit seinem Hof Quartier nahm. Dort könnte er Locke begegnet sein. Dieser wiederum erblickte in der diplomatischen Mission, zu der er im Auftrag des Königs eingeladen wurde, eine willkommene Gelegenheit, seinen Horizont zu erweitern. Das politische Ziel der Reise wurde zwar nicht erreicht, da die englische Regierung nach langwierigen Verhandlungen nicht bereit war, dem Kurfürsten die für seine Unterstützung verlangten hohen Subsidien zu gewähren, weshalb er letztlich den zahlungswilligeren Holländern zuneigte. Doch Locke verbrachte bis zum Abbruch der Mission im Februar 1666 immerhin mehr als zwei Monate im winterlichen Kleve, wo er auch das Weihnachtsfest feierte.
Die Briefe aus Kleve waren unterschiedlicher Natur. In der Hauptsache fertigte er auf Vanes Geheiß die offiziellen Schrei ben an die englische Regierung an. In diesen Berichten, in denen vom Fortgang des Krieges und den Verhandlungen mit dem Kurfürsten die Rede ist, agiert Locke ganz als Sekretär seines Auftraggebers. Daneben haben sich aber noch ein Dutzend privater Briefe erhalten. Auch in einigen von ihnen schildert er die Lage vor Ort aus Diplomatensicht. Diese Schreiben sind zumeist an William Godolphin gerichtet, den Sekretär des Lord Arlington, einen Mann von beträchtlichem Einfluß beim König. Hier erlaubt sich Locke in der Deutung der politischen Geschehnisse mehr Freiheiten als in den offiziellen Schrei ben, wobei er im wesentlichen Vanes Anschauungen teilt. Vier Briefe schrieb er zwischen Dezember 1665 und Januar 1666 dann noch an einen seiner besten Freunde, John Strachey. In ihnen kommen zuweilen zwar auch ganz kurz die neuesten Kriegshandlungen zwischen den Niederlanden und dem Hochstift Münster zur Sprache, doch läßt Locke hier vor allem seiner Erzählkunst in der Beschreibung von Land und Leuten freien Lauf. Zwei dieser Briefe schildern in einem leicht dahinplaudernden, immer amüsanten und in manchen Passagen auch hochkomischen Ton die diversen Weihnachtsbräuche in Kleve und gehören zum Witzigsten, was Locke der Nachwelt hinterlassen hat. Vor allem seine Darstellung des Festmahls beim brandenburgischen Kurfürsten, zu dem er eingeladen wird, erinnert in ihrer Drastik an die üppig gedeckten Tische, die Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem Schelmenroman »Der abenteuerliche Simplicissimus« (1668) beschreibt. Über die kalte Jahreszeit sagt dessen närrisch-naiver Held Simplicius: »da fängt bei uns Teutschen das Fressen und Saufen an«. Auch Locke staunt darüber, »daß die fröhlichen Deutschen selber so mannhaft tafelten«, als ginge es ums Überleben, während er selber eher kleinere Portionen bevorzugt. Die Sottisen und Spötteleien, die sich in Lockes Ausmalung der Kochkünste der Deutschen finden, brauchen den Vergleich zu ähnlichen Schilderungen des großen Satirikers Charles-Louis de Montesquieu, der auf seiner Europareise 1728 und 1729 ebenfalls das Herzogtum Kleve bereiste und den Menschen dort beim Speisen zuschaute, nicht zu scheuen.
Als Verfasser von Briefen orientierte sich Locke übrigens schon früh an einem bedeutenden französischen Vorbild. In einem im August 1659 verfaßten Schrei ben an Godolphin bekannte er einmal, daß er gerne über das Genie »von Balzac« verfügen oder zumindest dessen einschlägige Publikationen zur Hand haben würde, um selbst möglichst gut schreiben zu können. Damit spielte er auf Jean-Louis Guez, sieur de Balzac (1597–1654) an, dessen Briefe im 17. Jahrhundert in ganz Europa als modellhaft und nachahmenswert gepriesen wurden. Guez de Balzacs berühmter Briefsteller »Lettres« erschien erstmals 1624 (1636 dann in einer erweiterten Fassung als »Recueil de nouvelles lettres«), eine englische Übersetzung wurde 1634 veröffentlicht. Der Franzose empfahl seinen Lesern, Briefe stets in einer zwanglosen und klaren Sprache zu verfassen, die auch ungebildete Frauen und Kinder verstehen konnten. Locke hielt sich daran und schuf eine englische Prosa, wie man sie erst in den satirischen und humoristischen Stücken eines Jonathan Swift oder in der Reiseliteratur eines Joseph Addison wiederfindet. Dennoch fühlte sich Locke nicht bemüßigt, seine Briefe zu veröffentlichen. Es ist nicht einmal sicher, ob er sie an Strachey abschickte. Die Abschriften (möglicherweise sind es auch nur Entwürfe) im Nachlaß der Oxforder Bodleian Library geben darüber keine Auskunft. Vielleicht wollte er sie wirklich als alternatives Reisejournal bis zu seiner Rückkehr aufbewahren, um dann, wie er schrieb, mit Strachey am Kaminfeuer »darüber (zu) lachen, denn es wird mir vielleicht (…) Sachen in Erinnerung rufen«.
Trotz der humoristischen Tonlage enthalten die Briefe auch ernsthafte Reflexionen, die
Locke zum Nachdenken über Fragen der Religion und Gewissensfreiheit anregten. Denn in Kleve fand er, der selbst ein presbyterianischer Calvinist war, eine Stadt vor, in der sich Religionen und Konfessionen jener friedlichen Eintracht befleißigten, die er in seinem Sendschreiben über die Toleranz später überall verwirklicht sehen wollte. Brandenburg war ein Staat, der seinen Untertanen und Bürgern im 17. Jahrhundert bereits weitreichende religiöse Freiheiten gestattete. Die regierende Dynastie der Hohenzollern war calvinistischen Glaubens, während die meisten Brandenburger der lutherischen Konfession anhingen. Doch gab es dort, wie Locke hervorhob, auch Katholiken – die auf ihn einen überaus freundlichen Eindruck machten – sowie »Juden, Wiedertäufer und Quäker«. Besonders beeindruckte Locke, daß gerade die Quäker, die zu dieser Zeit in England erbarmungslos unterdrückt und verfolgt wurden, trotz eines auch in Brandenburg ergangenen Verbots unbehelligt leben konnten und sogar reich wurden: »sie achten des Verbots ihrer Versammlungen durch den Kurfürsten nicht«. Es waren dies dieselben standhaften Quäker, die dann auch William Penn auf seiner Missionsreise im September 1677 in der Umgebung von Duisburg und Düsseldorf antraf.Jürgen Overhoff
(…)
SINN UND FORM 6/2021, S. 777-790, hier S. 777-781
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Loschütz, Gert
Vom Schreiben über verlassene Orte
Zwei Schreib-Orte
Einmal wohnte ich auf einer Insel in einem wunderschönen Haus, das ein Freund gemietet und mir für die Zeit, in der er es nicht brauchte, überlassen hatte. Es lag in einem großen Garten, in dem Äpfel, Wein und Aprikosen wuchsen. Dreimal in der Woche kam ein Gärtner, kippte einen Schalter neben der Terrassentür herunter, und schon schoß aus überall am Boden versteckten Düsen das Wasser. Es war im Frühsommer, Juni, so heiß, daß ich mich, wenn ich arbeiten wollte, in das kühlste Zimmer des Hauses zurückzog. Es lag im Erdgeschoß. Ich saß an einer Geschichte, einer Novelle, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterschrieb. Wenn ich aufschaute, sah ich meine Frau und eine Freundin, die uns begleitete, im Liegestuhl am Swimmingpool. Und wenn ich den Blick wieder senkte, las ich die Sätze, die ich grade in die Maschine getippt hatte:
»Es schneite immer heftiger. Der Schnee blieb liegen und bildete bald eine geschlossene Decke über dem Asphalt … Die Straße führte durch ein Waldstück. Hier und da sah ich im Licht der Scheinwerfer junge Birken, die unter der Last des Schnees umgeknickt waren. Der Scheibenwischer schabte über das Glas, und die Reifen surrten.«
Ich erinnere mich so gut daran, weil ich mir der Absurdität der Situation völlig bewußt war: draußen das südliche Paradies, brüllende Hitze, zwei junge Frauen im Bikini – und innen, am Schreibtisch, eine deutsche Winterlandschaft, Schneetreiben, und eine Erzählfigur, die so gestört war, daß sie sich einen toten Gegenstand, einen Computer, zur Frau umdenken mußte.
Ein anderes Mal saß ich im siebten Stock eines Hochhauses in der Nähe des Washington Square. Diesmal war es nicht ein Swimmingpool, auf den ich schaute, sondern das Flachdach einer Schwimmhalle, auf dem ein Sportplatz angelegt war, ein mit Maschendraht eingezäuntes Basketballfeld. Dahinter sah ich die Häuserzeile der Mercer Street und über dieser die oberen Geschosse der Häuser am Broadway mit den auf hohen Spinnenbeinen stehenden Wassertanks auf den Dächern. Es war im Herbst, die Zeit der langen Sonnenuntergänge, die die Straßen in ein unwirkliches rotes Licht tauchten.
Ich war für drei Monate in New York, auch diesmal hatte ich eine Geschichte dabei, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterarbeiten wollte: die ersten sechzig Seiten eines Romans, daneben viele Notizen, Beschreibungen des Ortes, an dem die Geschichte angesiedelt war, und Portraits von Leuten, die darin vorkamen. Sie war so gut vorbereitet, daß ihr der Ortswechsel nicht das geringste anhaben konnte. Dachte ich. Doch dann zeigte sich, daß das ein Irrtum war. Nachdem ich wochenlang versucht hatte, wieder in sie hineinzufinden, habe ich sie beiseite gelegt und bin bis zu meiner Abreise mit dem Schreibheft rumgerannt, um, wenn schon nicht mit dem Roman, dann doch wenigstens mit einem Vorrat von Notizen nach Hause zu kommen. Ich bin kreuz und quer durch die Stadt gefahren, meistens aber war ich zu Fuß unterwegs, blieb, wenn mir etwas auffiel, stehen und trug es in mein Heft ein, während ich gleichzeitig wußte, daß ich nie etwas davon verwenden würde. Oder zumindest nicht gleich, sondern erst nach einer Weile, einer Art Schamfrist. Über diese Stadt war so oft geschrieben worden, daß jeder weitere Versuch eines plausibleren Grundes bedurfte als bloße Anwesenheit.
Zwei Beispiele: das erste zeigt, daß die Umgebung nicht den geringsten Einfluß aufs Schreiben hat. Das zweite genau das Gegenteil.
Nun könnte man sagen, daß die Wirklichkeit New Yorks bedrängender war als die der Ferieninsel. Und daß dies der Grund dafür sei, warum es gelang, an der einen Geschichte weiterzuarbeiten und an der anderen nicht. Mag sein. Wichtiger aber ist, denke ich, etwas anderes: Die Ferieninsel konkurrierte mit einem erfundenen Ort, New York aber mit einem konkreten. Die Orte der Novelle waren eine namenlose Kleinstadt und ein Dorf irgendwo in Deutschland, der Ort des abgebrochenen Romans aber hatte einen Namen und seinen Platz auf der Landkarte, es war ein bestimmter Ort in der Nähe von Frankfurt, den ich so gut kannte, daß ich ihn zu Hause beim Schreiben vor mir gesehen habe und nun, in New York, nicht mehr sah.
Der erfundene Ort ließ sich überallhin mitnehmen, der konkrete nicht: er war trotz der mitgebrachten Notizen an die Erinnerung gebunden, und diese war durch den Ortswechsel beschädigt worden.
Soll das heißen, daß es zwar keine Bedingung, aber ein Vorteil ist, wenn man in der Stadt, über die man schreibt, wohnt? Daß man durch ihre Straßen gehen, ihre Häuser betrachten, ihre Geräusche hören und ihre Luft atmen kann? Keineswegs. Und doch ist klar, daß jeder Ort (und erst recht jeder Ortswechsel) seinen Tribut fordert. Das heißt, bei mir ist es so.
Ost-West-Passage
Daß es – für die Literatur – kein Vorteil sein muß, wenn Wohn- oder gar Herkunftsort und literarischer Ort identisch sind, zeigt sich schon daran, daß die schönsten und eindringlichsten Bücher über Orte, Städte und Landschaften nicht selten von Autoren geschrieben wurden, die diese verlassen haben – in der Regel nicht freiwillig, sondern unter dem Zwang der Umstände, die mal Krieg, mal Vertreibung, mal Flucht, mal unerträglich gewordene Enge heißen. Vier Gründe, von denen jeder seine Zeit hat, was nicht bedeutet, daß sie wie die Jahreszeiten nacheinander auftreten müssen.
Ich denke, zum Beispiel, an das Danzig von Günter Grass, an die Memellandschaften von Johannes Bobrowski, an das Mecklenburg von Uwe Johnson, an die Mark Brandenburg von Helga M.Novak, aber auch an das Dublin von James Joyce. Allen, scheint es, hat die Sehnsucht nach ihrem Ort die Erinnerung geschärft, womit weniger die Erinnerung an Ereignisse gemeint ist als vielmehr die an Gerüche, Farben, Geräusche, Spracheigentümlichkeiten, Landschaftsformationen, an eine bestimmte Vegetation, eine bestimmte Architektur, eine bestimmte Anordnung der Häuser und Straßen zueinander und – nicht zu vergessen – an ein bestimmtes Licht.
Dies zusammen ist es, was einen Ort ausmacht und sich einem in Kindheit und früher Jugend mit einer solchen Schärfe in die Netzhaut, ins Gehör, in die Geruchs- und Geschmacksnerven einbrennt, daß es noch für den Erwachsenen das Maß der Dinge darstellt. Das ist bei allen so, freilich, aber bei denen, zu deren Beruf das Erinnern gehört, vielleicht noch ein bißchen mehr. Man sieht es daran, mit welcher Ausdauer sie beim Schreiben an ihren verlassenen Ort zurückkehren.
»Das Becken des Mediterranean Swimming Club, zwanzig Meter lang, achtbahnig, ist vielleicht geräumiger als das der ›Mili‹ in Jerichow, in dem Gesine Cresspahl schwimmen gelernt hat, das Kind, das ich war …«, heißt es in Band 2 der »Jahrestage« von Uwe Johnson. Oder: »So bedeckt wie heute morgen über dem Hudson war der Himmel im Sommer vor 24 Jahren über Ribnitz und dem Saaler Bodden, als die Paepckes ihre letzten Ferien anfingen.«
Das ist nicht nur das Muster, nach dem sich das Erinnern in Romanen richtet, sondern das des Erinnerns überhaupt. Eine winzige Beobachtung, ein Geruch, ein bestimmtes Licht reichen aus, um es in Gang zu setzen. Und die Richtung, in die es geht, steht fest: es ist die des verlorenen Ortes. Durch das Weggehen hat er bei Johnson (wie bei Grass und Novak) ein Gewicht erhalten, das er sonst nicht hätte, er ist von so zentraler Bedeutung, daß ohne ihn das Werk selbst nicht denkbar wäre. Auch wenn von anderem die Rede ist, ist die Rede doch immer auch von ihm.
Noch einmal Johnson: »Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier. Das ist mehr als 4500 Meilen entfernt, und mehr, noch nach acht Stunden Flug muß man dahin gehen, bis man in die Nacht gerät, und kommt nicht an.«
Grass, Johnson, Novak haben in vielen Städten gewohnt. Und es ist, nehme ich an, kein Zufall, daß sie sich, älter geworden, wieder Orte zum Wohnen ausgesucht haben, die ihren Herkunftsorten vergleichbar sind: Bei Johnson war es zuletzt eine Insel in der Themsemündung; Novak, die in Deutschland nicht mehr leben mochte, zog nach Polen; und Lübeck, wo Grass heute lebt, ist Danzig sicherlich ähnlicher, als es Berlin oder Wewelsfleth waren.
Es gibt ein Wort, um das ich immer einen großen Bogen gemacht habe, nun benutz ich es doch: das Wort Heimat. Faßte man den Begriff der Heimatliteratur weiter, als man es gewöhnlich tut, und nähme ihm den Geruch des Engen, Spießbürgerlichen, Trivialen, der ihm anhaftet, ließe sich die These aufstellen, daß der Heimatverlust geradezu die Voraussetzung für die Entstehung großer Heimatliteratur ist. Denn: Die Entfernung vom eigenen Ort bedeutet ja nicht nur Verlust, sondern auch Zuwachs von Erfahrung, Kenntnis und, geht es weit genug weg, Welthaltigkeit, was wiederum den Blick auf den verlassenen Ort verändert und vielleicht erst den Abstand schafft, der es erlaubt, ihn in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zu erfassen.
»Fremdheit als die Bedingung für genaue Beschreibung, Heimat-Literatur aus Heimatlosigkeit geboren«, hat das der Trondheimer Germanist Bernd Neumann, über Johnson nachdenkend, genannt. Dennoch: Mit wie viel Schmerz diese aus dem Verlust gewachsene Literatur erkauft wird – davon erhält man eine Ahnung, wenn man liest, was Helga M. Novak anläßlich eines Besuchs in ihrer Kindheits- und Jugendlandschaft in einem Gedicht festgehalten hat. Es war die Zeit, in der die Mauer noch stand und man über Friedrichstraße nach Ostberlin einreiste, und es war, da das Tagesvisum nur für das Territorium der Hauptstadt galt, eine verbotene Reise, denn sie führte über deren Grenzen hinaus: »von Grünheide nach Fangschleuse 2 km …« Und dann heißt es:
»Gedränge im Bus dampfende Raglanärmel
es riecht nach angeschossenem Wild …
links verbirgt sich der Wupatzsee
unter Entenfedern rechter Hand der Wacholder
wie ein betrunkener Zimmermann mit Pelerine
gleich falle ich auf die Knie
und bitte die Frau neben mir
bevor sie ganz verdunstet
alle Kleider mit mir zu tauschen
bis runter zum Liebestöter Strumpfhalter
einfach alles zu wechseln
damit ich fürderhin mein Leben friste
in einem Nest wie Fangschleuse z.B.
unauffällig
wie der Schatten des Wacholders bei Nacht?«
Das ist keineswegs ironisch, dahinter steckt der ernste Wunsch, bleiben zu dürfen. Freilich wird – das Fragezeichen am Gedichtende weist darauf hin – auch erwogen, um welchen Preis das geschähe: den der Unsichtbarkeit, des Einverständnisses und der Unterordnung. Das Fragezeichen ist es, das den Grund für das Weggehen und den für das Nichtzurückkommen- bzw. Nichtbleibenkönnen benennt.
Heimatliteratur – wäre der Begriff nicht zu einem Synonym für etwas geworden, das sich vornehmlich in Heftchenformat an den Ständern der Supermärkte findet oder als paarig gereimte Gedichte und vergangenheitsselige Anekdoten in den Sonntagsbeilagen von Regionalzeitungen, zählte ich das Gedicht von Helga M. Novak ebenso dazu wie die Danzig-Romane von Grass oder die Jerichow-Romane von Johnson.
[…]
SINN UND FORM 1/2015, S. 54-65, hier S. 54-58
- 6/2017 | Prag, November 2016
- 5/2018 | Herburgers Lachen, S. 344 Leseprobe
Loschütz, Gert
Herburgers Lachen
Seit langem überlege ich, was das ist: ein glückliches Leben. Oder ein geglücktes. Sagt man: Ein Leben war glücklich, wenn einer erreicht hat, was er sich in frühen Jahren vorgenommen hatte? Ist ein glückliches Leben also ein erfolgreiches? Oder ist es eins, in dem die glücklichen Tage überwiegen? Und: Welchen Zeitraum zieht man für diese Berechnung in Betracht? Welchen Lebensabschnitt? Nimmt man alle zusammen? Oder beschränkt man sich auf einen? Einen frühen? Einen mittleren? Den späten? Gar den letzten, der ja kaum jemals zu den glücklichen zählt? Nimmt man die letzten zehn Jahre, in denen bei Herburger ein Unglück zum anderen kam und – wie bei Hiob – das letzte das vorangegangene jeweils übertraf, müßte man wohl von einem sehr unglücklichen Leben sprechen. Was natürlich Unsinn ist.
Und doch … da ist das Abdriften aus der Mitte des literarischen Lebens an den Rand; der notgedrungene Wechsel vom großen zu immer kleineren Verlagen (deren Mut und Fürsorge ausdrücklich zu würdigen sind); die trotz unverminderter Produktivität kaum noch vorhandene Aufmerksamkeit von Kritikern und Lesern; da sind die ausbleibenden Einladungen zu Lesungen und Diskussionen oder auch nur zu einem Kneipenabend mit Kollegen.
Eine Weile versuchten wir, Hans Christoph Buch und ich, ihn wieder hineinzuziehen in den alten Freundeskreis. Wir riefen ihn an, er sagte zu und kam dann nicht. Meistens jedenfalls, neun von zehn Verabredungen gingen so aus, fast immer kam ihm im letzten Moment etwas dazwischen, manchmal teilte er uns den Grund dafür mit, in der Regel aber schwieg er sich aus oder gab so seltsame, eher literarischen als realen Mustern folgende Begründungen an, daß wir nicht wußten, was davon zu halten war. Dann ließ er eine Weile nichts von sich hören, bis er erneut anrief und sich über seine Vereinsamung beklagte.
Es war – wir wußten es, auch ohne daß er darüber sprechen mußte – schwer für ihn auszugehen. Das Geld, das fehlte; das aufeinander Angewiesensein der Gemeinschaft, in der er mit Frau und behinderter Tochter lebte und aus der er sich kaum fortbewegen konnte, ohne daß es wie Flucht aussah und ihm Schuldgefühle eingab. Nicht zu vergessen: Die erst Jahr für Jahr, dann Woche für Woche spürbar abnehmende Kraft und die damit wachsende Sorge um die Tochter, die Frage, was aus ihr werden würde, wenn sich die Eltern einmal nicht mehr um sie kümmern könnten. Also blieb er in der Enge der gar nicht kleinen, aber durch die Anzahl der alten, oft über Jahrzehnte mitgeschleppten Möbel doch eng gewordenen Blissestraße-Wohnung.
Und da waren die ein Leben lang mit Hilfe von Antidepressiva in Schach gehaltenen und sich dennoch immer wieder meldenden Ängste und Panikattacken, gegen die nur eins half: Schreiben, Schreiben, und wenn auch das nicht mehr half, größere Mengen von Antidepressiva, und wenn auch die versagten: die Flucht in die Klinik.
Einmal – es muß vor etwas mehr als zehn Jahren gewesen sein – saßen wir da, abends im Park einer dieser im Westend gelegenen Psychokliniken für Menschen, die mit ihrem Leben nicht mehr zurechtkamen, alte Menschen zumeist, denen in Gesprächs- oder Malgruppen wieder zu ihrer verlorengegangenen Mitte verholfen werden sollte. Es war im Herbst, eben dunkel geworden. Wir hockten draußen auf einer Bank und sahen durchs Fenster die Alten, Verlorenen durch den großen Vorraum in den Eßsaal schlurfen. Er sprach mit Aufmerksamkeit von ihnen, mit einem durch genaues Hinschauen geschaffenen Abstand, dabei durchaus liebevoll. Doch dann brach – trotz der Sedativa, mit denen er ruhiggestellt wurde – wieder dieses Gelächter aus ihm hervor, dieses aus dem Schrecken, der Angst oder der Angstüberwindung und Schreckensabwehr geborene Gelächter, das seit jeher zu ihm gehört hatte.
Wir sprachen über früher, die Zeit in Friedenau, in der Schwabinger Elisabethstraße, wo ich ihn nach seinem Umzug öfter besucht hatte, es war die Zeit, in der der zweite Band der Birne-Bücher vorbereitet wurde, wir lasen zusammen die Fahnen; die Zeit auch, in der er seine (dritte) Frau, dieselbe, mit der er noch zusammenlebte, gerade kennengelernt hatte (sie arbeitete beim Fernsehen und hieß damals seltsamerweise Gabi und nicht Rosemarie), über die Geburt der Tochter, das Laufen. Alles zog an uns vorbei, die lebenden und die schon toten Freunde. Als uns kalt wurde, standen wir auf. Ich brachte ihn zur Tür, und als ich danach zur Bushaltestelle am Spandauer Damm ging, dachte ich, daß es so enden würde, wie es nun geendet hat: in einer Katastrophe. Da im Grunde keiner der drei allein zurückbleiben konnte und sollte, blieb nur – ja was?
Einen der letzten, nun schon wieder ein Vierteljahr zurückliegenden Anrufe eröffnete er, fast übergangslos, mit den Worten: Erzähl mir was von deiner Frau, und nachdem ich zu berichten begonnen hatte, unterbrach er mich mit den Worten: Meine spricht nicht mehr mit mir. Zuerst glaubte ich, er wolle mir von einem Streit erzählen, aber dann sagte er, daß sie ihn nicht mehr erkenne. Wie, fragte ich. Er: Weil nun das eingetreten sei, wofür es seit langem Anzeichen gegeben habe – Demenz, das Schreckenswort. Sie sei dement geworden, endgültig, nicht zurückholbar.
Ich kannte Herburger seit den späten Sechzigern, also seit über fünfzig Jahren, und glaube, daß er sich trotz der vielen Veränderungen, die ein so langer Zeitraum mit sich bringt, gleich geblieben ist. Immer war da dieser abwartende, von der Seite auf einen gerichtete Blick, er beobachtete einen, wie um den Moment nicht zu verpassen, in dem er mit seinem Witz zuschlagen konnte. Immer aber auch diese Freundschaftsfähigkeit, ja, die Bereitschaft zum Aussenden von Freundschafts- und Liebesbekundungen sowie andererseits die auf Unabhängigkeit schließende Fähigkeit, Erwartungen zu enttäuschen, bzw. die Weigerung, ihnen zu entsprechen; und der Hang, das für selbstverständlich Genommene nicht für selbstverständlich anzusehen; seine von nervöser Energie gespeiste Lachbereitschaft, die Freude am Lästern. Er konnte auf eine Weise witzig und übermütig sein, daß es wehtat.
In den frühen Siebzigern wurde mir der Blinddarm entfernt, am Tag nach der OP kam er ins Krankenhaus, stellte sich ans Kopfende des Betts und riß einen Witz nach dem anderen, so daß ich aus dem Lachen nicht mehr herauskam, nur daß ich wegen der frischen Bauchnaht nicht lachen durfte und mich gleichzeitig, während ich nicht aufhören konnte zu lachen, vor Schmerzen krümmte. Ein anderes Mal klingelte er an der Haustür in der Bachestraße und rief, als ich hinausschaute, ohne sich um mögliche Mithörer zu scheren, lachend zum Fenster hinauf: Valium, Valium, ob wir ihm, da schon alle Apotheken geschlossen seien, mit Valium aushelfen könnten.
Er lebte damals, zusammen mit seiner (zweiten) Frau Ingrid und seinem kleinen Sohn Daniel, in der Friedenauer Handjerystraße, keine Minute Fußweg von der Niedstraße entfernt, in der Grass wohnte, und vielleicht fünf Minuten von der Dickhardtstraße, in der sich die Literarische Dependance des Luchterhand Verlags befand. Jeden Nachmittag (oder jeden zweiten) tauchte er dort auf, erschöpft aber aufgekratzt, und verkündete, daß er wieder zehn Seiten geschrieben habe, an einem Tag wohlgemerkt – was ich, da ich ihn noch nicht gut kannte, für völlig unmöglich hielt, für eine seiner liebenswürdigen Aufschneidereien, was sein Lektor aber, der an seinem eigenen Schreiben verzweifelnde Klaus Roehler, mit spöttischsaurer Miene benickte.
Es war die Zeit, in der »Jesus von Osaka« entstand, der (wenn ich mich richtig erinnere) erste Roman Herburgers, in dem er den gepflegten Realismus der bei seinem vorigen Verlag, Kiepenheuer & Witsch, erschienenen Bücher gründlich hinter sich ließ. Er streifte die Fesseln des mit der Wirklichkeit rückkoppelbaren Schreibens ab, um sich von nun an nie wieder an die Gesetze der Wahrscheinlichkeit gebunden zu fühlen. Wann immer es ihm nötig schien, ließ er Jesus inmitten einer Schar japanischer Mädchen auf Skiern einen dem Fujiyama nachempfundenen, tatsächlich aber im Schwäbischen liegenden Berg hinunterwedeln oder – wie im letzten Buch – Meerschweinchen zwischen den geöffneten Beinen einer Madonna genannten Frau Männchen machen und deren Schamhaare auszupfen, die sie dann in das Heu ihrer Nester flochten.
Die Wirklichkeit oder besser: die die Wirklichkeit abbildende Sprache war Spielmaterial, mit dem er je nach Laune umging. Das konnte gutgehen und die wunderbarsten Blüten treiben, aber auch so weit ins Ungefähre führen, daß man nicht umhinkam, ihm das eigene Unverständnis mitzuteilen, was er durchaus übelnahm, eine Weile jedenfalls, bis man wieder eine Nachricht von ihm auf dem Anrufbeantworter fand: Ja, wo steckst du denn, Hergottsacra?!
Die wird es nun nicht mehr geben.
So sehr ich den Menschen mochte, den Verrückten aus dem Allgäu, der nach dem Abitur in München an der Uni Sanskrit belegte, wissend, daß er das Studium nie zu Ende bringen würde, der es eigentlich auch bloß tat, um sich von den anderen, den im braven Nützlichkeitsdenken gefangenen Idioten, zu unterscheiden; der als früher Aussteiger in den Süden trampte, mal in Ibiza am Strand schlief, mal in Madrid die Nächte am Bahnhof verbummelte, der über Spanien bis nach Algerien gelangte, nach Oran, ehe er nach Europa zurückkehrte, nach Paris, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt, also weitgehend mittellos durch die Lichterstadt trieb, als deutsche Variante der zur selben Zeit im New Yorker Greenwich Village herumspukenden Beatniks, bis er irgendwann Josef Breitbach traf oder bei ihm vorstellig wurde und daraufhin die Gelegenheit erhielt, für ihn zu arbeiten … (Als was? Sortierte er dessen Bücher? War er sein Sekretär? Erledigte er für ihn kleine Besorgungen? Ich habe es, wenn er, immer nur andeutungsweise, davon erzählte, nie wirklich verstanden. Aber warum, dachte ich später, hat er eigentlich nie den im Namen seines früheren Gönners eingerichteten Preis erhalten, der ihm eine Weile Luft zum Leben verschafft hätte?) … So sehr ich ihn also mochte, diesen frühen Herburger, der immer noch auch in dem späteren, in den sechziger Jahren längst im Literaturbetrieb angekommenen und bloß dem Anschein nach verbürgerlichten enthalten war, so zwiespältig ist mein Verhältnis zu seinem Werk, diesem gewaltigen Bücherberg, den er uns hinterlassen hat, diesem Buchstabengebirge, das künftige Germanistengenerationen zu durchqueren versuchen werden, bloß um sich in den Seitentälern und Gletscherspalten zu verlieren oder, sich schon in Gipfelnähe wähnend, doch noch abzustürzen.
Zwiespältig, ja, es läßt sich nicht leugnen, denn anders als seine Bewunderer, die in der Thuja-Trilogie noch immer ein utopisches Romanwerk sehen wollen, während es mir mit seinem romantisierend-unkritischen Blick auf die DDR als eine gewaltige Ansammlung von Irrtümern erschien und erscheint, schätze ich mehr die zurückgenommenen Erzählungen aus der »Eroberung der Zitadelle« oder den schönen Text »Hauptlehrer Hofer«, in denen er weniger aufs Gas drückt und mehr seinem Stoff vertraut. Aber das Überbordende war nun mal seine Sache, das Zuviel, das er sich eine Zeitlang im Vertrauen auf die Richtigkeit des ersten Einfalls wieder wegzustreichen oder zu verbessern weigerte.
Während ich ihm seine Unkontrolliertheit vorhielt, seinen – in der Lyrik vor allem – gelegentlich wild zusammengemixten, also nicht mehr entschlüsselbaren, einer Privatmythologie folgenden Metaphernsalat, warf er mir das genaue Gegenteil vor: Spontaneitätsmangel, Beckmesserei, Langeweile, Glätte. In einer Kiste auf dem Dachboden gibt es einen Ordner mit unserem frühen Briefwechsel, in dem dieser Streit abgelegt ist. Aus Übermut oder um ihm zu zeigen, wie leicht sich diese Art von Gedichten herstellen ließ, hatte ich einen Text verfaßt, ein ellenlanges, mit plattesten Reimen durchsetztes Poem, das seine damalige Schreibweise parodierte, woraufhin der Streit zwischen uns richtig in Fahrt kam – Schnee von gestern, aber damals, in den Siebzigern, mit einer Ernsthaftigkeit betrieben, als ginge es nicht um Worte, sondern ums Leben. Und so war es ja auch. Es ging und geht bei der Literatur, so wie wir sie verstanden / verstehen, um nicht weniger als das Leben.
SINN UND FORM 5/2018, S. 709-712
Lourié, Vera
- 4/2011 | Erinnerungen an das russische Berlin
Lovas, Ildiko
- 5/2008 | Mau-Mau am Adriastrand
Lowenfels, Walter
- 4/1962 | Abschiedsjargon. Elegie für eine kleine Presse
Löwenthal, Heinrich
- 6/1952 | Der Mann im Mond
Löwith, Karl
- 1-2/1965 | Hegel und die Sprache
- 2/2006 | Der Japanische Geist (1943). Ein Porträt der Mentalität, die wir verstehen müssen, wenn wir siegreich sein wollen
- 6/2007 | Karl Löwith und Eric Voegelin. Briefwechsel. Mit einer Vorbemerkung von Peter J. Opitz
Lubka, Andrij
- 4/2023 | Das erloschene Europa. Gedichte
Lübke, Micaela
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Ludemis, Menelaos
Lühr, Hans-Peter
- 6/2023 | Rufer in welche Räume? Willi Sitte und die Literatur
Lukács, Georg
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Gruß an Arnold Zweig
- 2/1985 | Über aristokratische und demokratische Weltanschauung
- 5/1988 | Lenin - Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken
- 2/1990 | Gespräch mit Ilse Siebert
Lumumba, Patrice
- 2/1967 | Aus dem Kongo eine Nation machen
Lunatscharski, Anatoli
- 4/1988 | Über das Lachen
Lund, Joachim
- 1/2010 | Den Feind bekämpft man nicht mit Vaterlandsliedern. Martin A. Hansen und die Spitzelmorde in Dänemark
Lundkvist, Artur
- 3/1958 | Gedichte
- 4/1961 | Quell und Landschaft der Erinnerung
- 5-6/1961 | Eine Windrose für Island
- 2/1976 | Ausblicke und Veränderungen in der zeitgenössischen schwedischen Literatur
Lüning, Mette
- 3-4/1965 | Brief an die Redaktion
Lunz, Lew
- 1/1978 | Die Stadt der Gerechtigkeit
Lupescu, Valentin
Luschnat, David
- 5/2013 | Die Nacht schmilzt wie Wachs. Gedichte
Lustig, Arnost
- 1/1968 | Warum ich schreibe
Lustiger, Jean-Marie
- 6/2005 | Dem Fremden begegnen als Herausforderung des 21. Jahrhunderts
Luthardt, Thomas
- 4/1983 | Aus Tagebuchnotizen
Luther, Martin
- 2/1981 | Hier stehe ich, ich kann nicht anders
Luuk, Lilli
- 2/2024 | Jungen im Schnee
Luxemburg, Rosa
- 6/1988 | Um den Vollzugsrat
Luzi, Mario
- 1/1994 | Die Farbe der Poesie
Lwow, Sergej
Lwow, Wilen
- 2/1966 | Trickser
Lypp, Bernhard
- 3/2003 | Der Geist und die Schachteln. Einige dantoeske Reflexionen zum Verhältnis von Kunst und Leben
Lysohorsky, Óndra
- 4/1960 | Drei Gedichte