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O'Casey, Sean
Oberender, Thomas
- 3/2000 | Reise durch Israel
- 1/2002 | Das Sehen sehen. Über Botho Strauß und Gerhard Richter
- 5/2008 | Wer flüstert, lügt. Laudatio auf Rolf Rothmann
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Oelze, Friedrich Wilhelm
- 1/2016 | Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt, S. 33 Leseprobe
Oelze, Friedrich Wilhelm
Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung
Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!«
Wenn der Bremer Großkaufmann und Jurist (1891–1978) eines vermeiden wollte, dann Effekte und Auffälligkeiten. Entsprechend verstört fiel die Antwort aus. In einer seinem Brief angefügten Notiz mit dem Titel »Das schwarze Trikot« sieht Oelze sich als »Hochstapler- oder Verbrechertyp« bloßgestellt: »das also steht in meinem habitus geschrieben für den, der zu sehen und zu lesen versteht? Das scheint mir unheimlich, und zwingt mich zu sehr schwierigen und peinlichen Selbstkorrekturen.« Daß Benn, der die labile Konstitution, die existentielle Unsicherheit des Freundes kannte und ihn zuweilen damit quälte, daraufhin die von seiner Tochter vermuteten Motive der obskuren Aktivitäten nachreichte (»aus Sensationsbedürfnis, aus Abwegigkeit, aus Perversion«), dürfte wenig zu Oelzes Beruhigung beigetragen haben. Er ging darauf nicht mehr ein. Dabei hatte das Bild des nächtlichen Phantoms die Sache nicht schlecht getroffen. Der 1891 geborene Oelze stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie, hatte u. a. in London Jura studiert und war nach der Promotion Teilhaber einer Handelsfirma geworden, die vor allem Kolonialwaren importierte. Schon sein Großvater hatte auf Jamaika Zuckerrohrplantagen erworben, seine Mutter war dort zur Welt gekommen, und auch Oelze selbst reiste immer wieder in die Karibik – von wo aus Ansichtskarten mit exotischen Motiven auf Benns schlichtem Schreibtisch in der Bozener Straße 20 in Berlin-Schöneberg landeten. Auch dank der Heirat mit einer vermögenden Bürgertochter verfügte Oelze, dessen einziger Sohn im Zweiten Weltkrieg fiel, über die Mittel, repräsentative Wohnsitze zu unterhalten und bedeutende Möbel-, Kunst- und Büchersammlungen zusammenzutragen (darunter fast alle Veröffentlichungen Goethes in Erstausgaben). Denn die Bilanzen seiner internationalen Handelsaktivitäten waren ihm Pflicht und Aufgabe, boten aber keinerlei Befriedigung. Oelzes eigentliche Leidenschaft galt dem Geist, der Kunst, dem Schöpferischen. Ohne selbst künstlerisch begabt zu sein (die »Gedichte sind nicht gut«, schrieb ihm Benn auf übersandte Verse), wollte er teilhaben an der Sphäre der Dichter und Denker, am besten durch direkten Austausch mit Schriftstellern, Gelehrten, Philosophen wie Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Martin Heidegger, später auch Hans Mayer. Die Bedingungslosigkeit, mit der er sich Benns absolutem Kunstanspruch und nihilistischer Weltsicht unterwarf, bedrohte immer wieder die Fassade seines bürgerlichen Lebens und verlangte nach Camouflage und Verstellung. Wie auch seine homoerotischen Neigungen, denen er allenfalls auf Geschäftsreisen und im Schutz der Anonymität nachgehen konnte. Hinzu kam ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach Selbstverkleinerung, ein Gefühl der Unwichtigkeit und Bedeutungslosigkeit, das durch den Austausch mit den als Genies empfundenen Gesprächs- und Briefpartnern nicht gemindert wurde (und auf eigentümliche Weise mit seinem großbürgerlichen, fast dandyhaften Auftreten, den von Benn als aristokratisch empfundenen Umgangsformen und Manieren kontrastierte): »Seit dem Abitur feierte er keinen seiner Geburtstage, verbrannte 1947 sämtliche Fotos von sich und vernichtete fast alle in seinem Besitz befindlichen privaten Dokumente bis hin zum ›Westindischen Tagebuch‹ von 1939 mit dem Ziel, ›sich selbst zu löschen‹, um keine ›Restbestände‹ zu hinterlassen, wie Benn in ›Chopin‹ formuliert hatte.« (Hans Dieter Schäfer, Herr Oelze aus Bremen. Göttingen 2001)
Auch als Oelze 1977 die an ihn gerichteten Briefe Benns zur Veröffentlichung freigab, ließ er die eigenen weg. Viele seiner Schreiben seien verlorengegangen oder in der Nazizeit auf seinen Wunsch hin vernichtet worden, notierte er im Vorwort der Ausgabe: »Aber meinen Briefen kommt nicht mehr zu als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen; alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters.« Ob dem tatsächlich so ist, kann man anhand der nun im Wallstein Verlag erscheinenden Edition erstmals überprüfen. In jedem Fall wird man die vierundzwanzig Jahre währende Korrespondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprünglich war: als intensives, forderndes, mit kaum nachlassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grundverschiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister. Für Oelze sind Benns Nachrichten »eine immer neu sich erschliessende, immer sich mehrende Offenbarung«, deren Auslöser zu sein er immerhin für sich in Anspruch nimmt: »Ich dachte an die Briefe grosser Männer, die ich kannte; mir fiel auf, daß selbst da wo die Empfänger unbedeutende Personen waren, oft Tieferes in den Briefen stand als in den Werken, das Abgründigste, Persönlichste, nur auszudrücken wenn einer zuhörte, aber dieser musste noch den Hauch einer Schwingung empfangen können.« So am 3. Oktober 1937 an Benn. Dieser wiederum hatte das Glück, in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben, mit einem feinen Gespür für jede Schwingung seiner Texte, mit der Fähigkeit, auf Fragen und Anspielungen einzugehen, und einer Aufnahmebereitschaft, die bis zur Selbstaufgabe ging. Benn erfuhr hier, anders als bei Schriftstellerkollegen und Kritikern, Widerhall ohne Widerspruch. Durch Oelzes nie nachlassendes Interesse an allem, was Benn schrieb und dachte, durch seine unverminderte Aufmerksamkeit und Anteilnahme hielt er dessen Spannung und Produktivität aufrecht und ersetzte ihm das Publikum, das es nach dem Veröffentlichungsverbot 1938 nicht mehr gab. Vor allem nach dem Krieg wird Oelze dann zum publizistischen Berater, ist einbezogen in die Zusammenstellung von Gedicht- und Auswahlbänden, läßt Journalisten und Wissenschaftler Einsicht nehmen in seine Sammlung. Denn sein größter Schatz sind jene Briefe und Aufzeichnungen Benns, deren Sicherung ihm in der Kriegs- und Nachkriegszeit zur Hauptaufgabe wird: »Das Wichtigste zunächst: Die Manuskripte sind bei mir, unbeschädigt, von keiner fremden Hand berührt.«
Begonnen hatte das alle Umbrüche und Einschnitte überdauernde Verhältnis mit einem nicht erhaltenen Brief Oelzes, den Benn am 21. Dezember 1932 mit routinierter Distanziertheit quittierte: »Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.« Oelze hatte Benns kurz zuvor in der Neuen Rundschau erschienenen Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften« gelesen und als entscheidendes Bildungserlebnis empfunden: »Bei der Lektüre dieser knappen, kaum sechzig Seiten umfassenden Darstellung erfuhr ich das spontane Betroffensein, wie es nur die Kunst zu bewirken vermag, wenn die Stunde der Bereitschaft da ist.« Und wem solches widerfährt, der läßt sich nicht so leicht abschrecken. In einem weiteren verlorenen Brief muß Oelze dann den rechten Ton getroffen haben, um Benns Interesse zu wecken und ihn zu einer ausführlichen Antwort zu bewegen. Er habe mit seiner »Frage ins Schwarze« getroffen, schreibt Benn ihm am 27. Januar 1933: »wie kann man einerseits die Wissenschaft u. ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten u. doch sie dann für wahr setzen u. zu eigenen Ideen verwerten. Scheinbar widerspruchsvoll. Aber nur scheinbar. Anstelle des Begriffs der Wahrheit u. der Realität, einst theologisches, dann wissenschaftliches Requisit, tritt ja jetzt der Begriff der Perspective.« In diesem ersten längeren Brief, in dem Benn seine Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst erläutert (»Sie ist Erkenntniss; während Wissenschaft ja nur Sammelsurium, charakterloses Weitermachen, entscheidungs- u. verantwortungsloses Entpersönlichen der Welt ist. … Das wahre Denken aber ist immer gefährdet u gefährlich.«), klingt schon vieles von dem an, was den Briefwechsel für beide Korrespondenten in den kommenden Jahren zum unersetzlichen Dialog – und noch heute zum großen Leseerlebnis macht: rückhaltlose Offenheit, scharfe Argumentation, das Spiel mit Ideen und Gedanken, das Aufnehmen von Anregungen und Fragen, die Lust an Zuspitzung und Provokation, auch eine gewisse Freude an Klatsch und Häme. Die Ungeduld und Neugier, mit der die Gegenbriefe zumeist erwartet wurden, ist auch nach Jahrzehnten noch spürbar.
Im Verlauf der Brieffreundschaft, nach ersten persönlichen Begegnungen (die Benn allerdings genau zu dosieren versteht, man blieb zeitlebens beim »Sie«) und regelmäßigen Kaffee-, Rum- und Blumensendungen Oelzes, nimmt auch das Private und Privateste immer mehr Platz ein, häufen sich Fragen nach Lebensumständen und Krankheitsverläufen, nach Reisen, Begegnungen, Familienverbindungen. Gerade Benn interessiert sich lebhaft für Oelzes großbürgerliches Milieu, für Kleidervorlieben und Eßgewohnheiten, die sich so deutlich von seinem eigenen Dasein unterscheiden – die in Hannover gemietete Wohnung sei »mehr eine Höhle für Molche u. Menschenfeinde als ein Renaissancebau «, läßt er den Bremer Villenbesitzer am 9. Dezember 1935 wissen. Als dieser ihn in seiner Garnison besucht, erhält die Geliebte Tilly Wedekind am 11. Juni 1936 ein genaues Porträt: »Oe. sah extravagant elegant aus. Wirklich ein merkwürdiger ungewöhnlicher Typ, gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit und Halluzination.« Die daran anschließende Überlegung, ob Oelze »im Unterbewußtsein doch homo« sei, hindert Benn jedenfalls nicht, in seine Briefe an den Freund gelegentliche Berichte über Liebschaften und Amouren einzustreuen und diesen zu ermuntern, es ihm gleichzutun: »Noch sind Sie nicht 50. Der Abend des Lebens hat noch nicht sein Zwischenreich begonnen. Noch ist es etwa zwischen 4 u. 5, Theestunde, u. die charmanten Achtzehnjährigen bezaubern noch u. gefährden und beglücken. Erhalten Sie sich das! Erhalten Sie es mir!« (1. Januar 1939) Oelze geht über dergleichen meist diskret hinweg. Und lenkt das Gespräch wieder auf das, was ihm das Wichtigste geworden ist: Benns Werk.
Für solch emphatischen Zuspruch dürfte Benn gerade zu Beginn ihrer Bekanntschaft besonders empfänglich gewesen sein. Seit Anfang der dreißiger Jahre hatten die politischen Auseinandersetzungen unter Schriftstellern und Künstlern noch einmal an Schärfe gewonnen, prallten die weltanschaulichen Gegensätze mit zunehmender Wucht aufeinander. Thea Sternheim, Exfrau Carl Sternheims und Freundin Benns, notiert am 28. November 1931 in ihrem Tagebuch nach einem Besuch Franz Pfemferts und Heinrich Schaefers, wie schwer es sei, den »Jargon der Klassenwahnsinnigen aller Kategorien zu ertragen. Ob sie nun über Benn herziehen oder mit nicht misszudeutender Befriedigung für die kommenden Monate die Diktatur des Proletariats ankündigen – was kann man in dieser mit Bluträuschen aller Art durchzogenen Welt anders tun als sich auf sein Martyrium vorbereiten.« (Gottfried Benn / Thea Sternheim, Briefwechsel und Aufzeichnungen. Göttingen 2004) Wie groß die Enttäuschung unter vielen von Benns Freunden über seine Versuche war, die politischen Umwälzungen nach 1933 als geschichtliche Notwendigkeit zu deuten und mit Reden wie »Der neue Staat und die Intellektuellen«, »Zucht und Zukunft « oder der berüchtigten »Antwort an die literarischen Emigranten« zu verteidigen, läßt sich in Thea Sternheims Tagebüchern in erbitterten Eintragungen nachlesen (»Welch ein Jammer ein ganzes Volk sich dem Veitstanz der absoluten Entmenschung einreihen zu sehen. Und zu diesem Reigen erniedrigt sich ausgerechnet Gottfried Benn aufzuspielen! «). Mit dieser Begleitmusik hatte es allerdings bald wieder ein Ende. Die Akademie der Künste (»eine glanzvolle Angelegenheit«), in die er 1932 gewählt worden war und für die er, im Glauben, so deren Souveränität sichern zu können, noch im März 1933 eine Loyalitätserklärung zum neuen Regime mitverfaßt hatte (woraufhin Thomas Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann, Ricarda Huch und etliche weitere Mitglieder austraten oder ausgeschlossen wurden, nachdem zuvor schon Käthe Kollwitz und Heinrich Mann hinausgedrängt worden waren), betrat er von 1934 bis zum Ende des Krieges nicht mehr. Was von dort komme, schreibt er Oelze am 5. September 1935, zeige einen »Tiefstand an Moral, innerer Makellosigkeit, aber auch rein gesellschaftlichem Schliff, dafür Überfluss an formellem Knotentum, läppischer Gesinnung, auch Unverschämtheit, dass ich ganz bestürzt bin. ›Auslese nach unten‹, Darwinismus rückwärts – das wäre die Formel, die über allem schwebt.« Viele der alten Bekannten und Kollegen waren emigriert, ein offener Austausch nicht mehr möglich. Am 1. September 1935 antwortete Benn auf eine von Oelzes Ergebenheitsadressen: »Bitte schreiben Sie doch nicht davon, dass ich Sie geistig entwickelt habe u. s. w. Ich bedarf Ihrer ja viel mehr. Sie machen sich nicht klar, wie völlig isoliert ich bin, ohne jede Beziehung geistiger Art zu meiner Umwelt. Meine Umwelt ist z. Z. nicht in diesem Land.« Schon nach Hitlers Juni-Morden hatte er am 27. August 1934 an Ina Seidel geschrieben: »Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich u. äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.« Benn gibt 1935 seine Praxis auf und wird, als »aristokratische Form der Emigrierung« (an Oelze am 18. November 1934), Oberstabsarzt der Wehrmacht in Hannover. 1936 erscheint ein Angriff gegen ihn in der SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps«, 1938 wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält damit Veröffentlichungsverbot. Schon 1937 hatte er sich als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen nach Berlin ins Oberkommando der Wehrmacht versetzen lassen; 1943 wird die Dienststelle nach Landsberg an der Warthe verlegt, von wo aus Benn 1945 nach Berlin flieht. Seine zweite Frau Herta schickt er am 5. April vor der heranrückenden Front nach Neuhaus an der Elbe, wo sie sich am 2. Juli das Leben nimmt.
Mit der von Oberst Fritz Ohmke nach Kriegsende auf Benns Bitte versandten Nachricht setzt der hier abgedruckte Ausschnitt des Briefwechsels ein. Nach der im Chaos der Nachkriegstage unterbrochenen Verbindung stehen zunächst die Schilderung des Überlebens, das Resümee der Verluste im Vordergrund. Doch schon bald geht es darum, geistig Bilanz zu ziehen, erste Ausblicke auf das Kommende zu wagen. Die drängenden Fragen der Zeit spielen in diesen auf ein vertrautes Gespräch gestimmten, um ein Werk und seinen Schöpfer kreisenden Briefwechsel, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, immer wieder hinein, wie die durch Walter von Molos offenen Brief an Thomas Mann ausgelöste Kontroverse zwischen Exil-Schriftstellern und Autoren der sogenannten Inneren Emigration, wer über die Nazijahre und Deutschlands Niederlage überhaupt zu reden berechtigt sei. Doch Politik und Moral, schreibt Oelze am 12. Dezember, böten längst keine Hilfe mehr: »Die alten Schemen wollen nicht mehr passen, die politischen nicht mehr, und die moralischen nicht mehr; die Ideologien aller Parteien sind von der Wirklichkeit längst überholt, aus ihnen ist kein revolutionärer Auftrieb mehr möglich.« Die Zukunft, davon ist er überzeugt, liegt allein im Geistigen, in der Kunst. Und Kunst, hatte er von Benn gelernt, ist »Herstellung von Wirklichkeit« (22. Dezember 1943). Die dafür notwendigen Gründungsurkunden und Geheimpapiere befinden sich ohnehin in seinem Besitz, nun geht es darum, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und ihre Wirkung tun zu lassen. Er glaube, schreibt Oelze am 16. November 1945 an Benn, »daß die grosse Periode Ihrer öffentlichen Anerkennung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird«. Eine allen persönlichen Wunschgedanken zum Trotz sehr hellsichtige Prophezeiung. 1949 erscheinen vier Bücher Benns, 1951 erhält er den Büchner-Preis, 1953 das Bundesverdienstkreuz. Am wiedererwachten öffentlichen Interesse hatte auch »Bennpartner« Oelze großen Anteil, als Berater, Freund, Mäzen. Doch der Mann im schwarzen Trikot scheute zu Lebzeiten das Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Abdruck seiner Briefe hat er die Tarnkleidung endlich abgelegt.
Matthias Weichelt
SINN UND FORM 1/2016, S. 33-37
Offutt, Chris
- 4/1998 | Moscow, Idaho
Ognjow, Wladimir
- 3/1972 | Dialog über Kritik
Ohrtmann, Fritz
- 4/1952 | Neue Lyrik. Nach Hause
Okljanski, Juri
- 3/1967 | Gespräch mit Leonid Leonow
Okudshawa, Bulat
- 5/1975 | Der Morgen leuchtet in zartem Rot
- 4/1977 | Alexander Puschkins Privatleben oder der Nominativ im Schatten Lermontows
- 5/1983 | Gespräch mit Leonhard Kossuth
- 3/1987 | Die Frau meiner Träume
- 1/1990 | Gespräch mit Katja Lebedewa
Olbracht, Ivan
- 6/1949 | Der unbekannte Soldat (1922)
Oldemeyer, Ernst
- 4/2006 | Das Brausen des Meeres und das Brausen der Erde. Zwei kosmische Gedichte von Alfred Mombert
Olescha, Juri
- 1/1979 | Engel
Olijnyk, Borys
- 2/1977 | Für Pablo Neruda
Oliveira, Mário António Fernandes de
- 2/1967 | Liebe und Zukunft
Olschowsky, Heinrich
- 5/1983 | Peiper, Malewitsch und das Bauhaus
- 6/1986 | Ein polnisches Lesebuch
- 3/1989 | Poetische Bilder von Polen
Onasch, Konrad
- 5/1993 | Dostojewskis alternative Orthodoxie
Ooka, Makoto
- 1/2000 | Renshi
Opel, Anna
- 6/2022 | New Yorker Recherchetagebuch, S. 775 Leseprobe
Opel, Anna
New Yorker Recherchetagebuch
Vor den falschen Sachen Angst haben. Daß die Immigrationsbehörde am Flughafen JFK mich wegen irgendeines Formfehlers nicht einreisen läßt. Daß ich mit Corona auf dem Flur eines New Yorker Krankenhauses liege und weiße Kittel an mir vorüberflattern. Daß ich in einem Kühl-LKW auf meine Bestattung warte. Im Zinksarg ausgeflogen werde. Daß die Kreditkarte nicht funktioniert. Daß der Koffer zu schwer, zu groß, zu klein ist. Daß ich friere. Daß mein Handy gestohlen wird. Alles unbegründet. Ich hätte vor etwas völlig anderem Angst haben müssen.
Als ich mit einem Abstand von achtzig Jahren den Exilanten Erwin Piscator und Judith Malina hinterherreise, kriecht ein kilometerlanger Militärkonvoi aus Rußland auf die ukrainische Grenze zu, aber alle sagen: Nein, es wird schon nichts passieren. Nur eine Übung, nein, der russische Präsident Putin hat nichts Besonderes vor. Und ich will ihnen glauben.
Monate bevor Deutschland Polen überfiel, kam Piscator nach New York. Im Pariser Exil hatte er Tolstois »Krieg und Frieden« fürs Theater bearbeitet. Wollte den Stoff erst in London, dann am Broadway auf die Bühne bringen. Noch bevor er in New York eintraf, hatten sich diese Aussichten zerschlagen. Er mußte warten und konnte es auch. Erst zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gelang es ihm, das Stück am Berliner Schiller-Theater aufzuführen. Statt aber am Broadway zu inszenieren, gründete Piscator 1940 in New York an der New School for Social Research die Schauspielschule Dramatic Workshop. Für Lehrkräfte gab es nämlich ein Visum. Gut zehn Jahre lang, bis 1951, unterrichtete er Schauspielerinnen und Regisseure.
Judith Malina, die mit ihren Eltern 1929, also frühzeitig, aus Kiel nach New York gekommen war, lernte ihn 1945 als ihren Lehrer kennen. Malinas Mutter war Schauspielerin gewesen und hatte schon von Kiel aus den jungen Piscator verehrt, der mit seinem dokumentarischen Theater im Berlin der zwanziger Jahre Furore machte. Judith sollte nach dem Willen der Eltern die Theaterlaufbahn einschlagen, die ihrer Mutter als Frau eines Rabbiners verwehrt geblieben war. In New York gründete Max Malina eine deutsch-jüdische Gemeinde. Er tat, was er konnte, und das war viel, um die New Yorker Öffentlichkeit über die Situation in Deutschland aufzuklären. Mit zwölf Jahren saß Judith bei seinen Treffen mit Kongreßabgeordneten dabei und spürte die Verantwortung, die ihr Vater für die Juden in Deutschland übernommen hatte. Im Februar 1945, kurz nachdem ihr Vater an Leukämie gestorben war, begann Malina ihre Ausbildung am Dramatic Workshop. Piscator wurde ein Vater der anderen Art. Einer, der mit dem Mittel des Theaters für Frieden und Gerechtigkeit kämpfte. Der die Welt aufrütteln, das Publikum erreichen wollte. Judith Malina gründete mit ihrem Mann Julian Beck 1948 das Living Theatre mit der Vision, die Kunstform Theater zu modernisieren: ein freies, antibürgerliches und pazifistisches Theater mit improvisierten Live-Elementen. Das Publikum sollte in das Bühnengeschehen einbezogen und aktiviert werden. Mit ihrer Version der »Antigone«, dem antimilitaristischen Stück »The Brig« und »Frankenstein« tourte das Theaterkollektiv ab 1964 durch Europa und Südamerika.
In Berlin hatte ich mich gefragt, warum Judith Malina bei Theaterproben und auch in ihren Tagebüchern bis ins hohe Alter immer wieder auf Piscator zurückkam. Warum sie gegen Ende ihres Lebens, um 2005, so viel Arbeit in den Plan investierte, ihr Notizbuch aus Studientagen zu veröffentlichen. Sechzig Jahre zuvor hatte sie die Lektionen der ersten Monate eifrig mitgeschrieben. Hellwach sitzt sie da, stelle ich mir vor, alle Antennen auf Empfang, alles im Wortlaut mitnehmen, keinen dieser Sätze je wieder vergessen. Weil sie wichtig sind. Weil sie Theater als politische Kraft verstehen. Sie hört diesem Mann, der lässig, witzig, charismatisch ist, gebannt zu. Aus den Notizen wird »The Piscator Notebook« (2012). In meinem Domizil in Brooklyn recherchiere ich den Eintrag im Katalog der New York Public Library, weiß aber nicht, ob es sich um das Original handelt. Ich gebe die Signatur ein und vereinbare einen Termin im Lincoln Center.
Gegen Piscators Überzeugung, gegen seine Regeln hat Judith Malina sich in seine Regieklasse gedrängt. Frauen gehören da nicht hin, findet er. Die Studenten in der Regieklasse müssen Erfahrung im Inszenieren mitbringen. In dieser Zeit kellnert sie in Valeska Gerts legendärer Beggar Bar an der Ecke Morton Street / Bleeker Street. »V. G. bildet für ihr Cabaret junge Talente in Tanz und Chanson ohne Honorar aus«, heißt es in einer Anzeige im New York Weekly. Wie Piscator, Brecht, wie viele andere, die in Deutschland verfolgt wurden, kommt die Avantgardetänzerin in New York nur mit Kompromissen über die Runden. Es geht immer irgendwie weiter. Erwin Piscator inszeniert als Hochschullehrer auf den kleinen Bühnen des Studio Theatre, Rooftop Theatre und President Theatre mit seinen Studenten. »War and Peace« im Jahr 1942.
In Manhattan streife ich durch die Straßen, mache die Adressen dieser Orte ausfindig. Ich lege den Kopf in den Nacken, schaue an den Fassaden empor.
Im Bryant Park ist die Eislauffläche aufgebaut. Es ist kalt in diesem Februar im Central Park, in den Avenues, dem Finanzdistrikt. Aus den Gullideckeln steigt malerisch der Wasserdampf. Vom Battery Park aus blicke ich hinüber zur Freiheitsstaue, die von hier aus klein ist und fast im Wasser verschwindet. »City of Ships«, Walt Whitmans Gedicht als Buchstabenband im Geländer vor dem Hudson River, auf dem die Schiffe kreuzen. Whitman spricht die Stadt als Gegenüber an: »Incarnate me, as I have incarnated you!« Nimm mich in dich auf, wie ich dich aufgenommen habe. Der Trost, der im Austausch liegt. Im Dialog. Amerika, sagt Whitman in seinem literarischen Testament, müsse allen Asyl geben, die Heimat suchen. (…)
SINN UND FORM 6/2022, S. 775-781 , hier S. 775-777
Opitz-Wiemers, Carola
- 5/2014 | »Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt«. Gespräch mit Christine Koschel, S. 525 Leseprobe
Opitz-Wiemers, Carola
»Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt» Gespräch mit Christine Koschel
MICHAEL OPITZ, CAROLA OPITZ-WIEMERS: Sie haben 1961, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit dem Lyrikband »Den Windschädel tragen« debütiert. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
CHRISTINE KOSCHEL: Mit etwa fünfzehn, als der alte Fürst von Thurn und Taxis starb. Ich besuchte in Regensburg eine Internats-Klosterschule, und wir mußten in der Kirche an dem aufgebahrten Fürsten vorbeidefilieren. Für uns Kinder war das ein schockierendes und berührendes Erlebnis. Aus dieser Begegnung mit dem Tod ist mein erstes Gedicht entstanden.
OPITZ/WIEMERS: Hat Sie jemand ermutigt, diese ersten Texte zu veröffentlichen?
KOSCHEL: In der »Zeit« wurde ganz früh etwas gedruckt, das habe ich neulich im digitalem Archiv wiedergefunden. Teilweise sehr lustige Texte, ich war erstaunt, daß ich das mal geschrieben haben soll. Diese ersten Veröffentlichungen verdanke ich Wolfgang Liebeneiner. Er war während der Nazizeit Produktionschef der UFA-Film. Eigentlich wollte ich ja Schauspielerin werden, und er hat mich zum Vorsprechen und danach zum Essen eingeladen. Dabei habe ich ihm wohl erzählt, daß ich Gedichte schreibe. Er hat sie dann an Rudolf Walter Leonhardt, den damaligen Feuilletonchef der »Zeit«, weitergegeben, der fünf oder sechs davon gedruckt und sogar ein Honorar gezahlt hat, worüber ich sehr glücklich war, da ich kaum Geld hatte.
OPITZ/WIEMERS: Wann war das?
KOSCHEL: Das muß 1957/58 gewesen sein, vor meinem Kontakt mit Heinrich Ellermann. Ich lebte in München, und man hatte mir gesagt, daß es dort einen Verleger für neue Lyrik gebe, bei dem ich es versuchen solle. Ich bin also nach Schwabing in seinen Verlag gegangen und habe ihm meine Manuskripte gezeigt. Und er meinte: Schreiben Sie weiter und kommen Sie in einem Jahr noch mal zu mir. Nach einem Jahr habe ich ihm wieder etwas geschickt. Darauf bekam ich ein Telegramm von ihm, in dem stand: Ich drucke Sie. Das war der Vertrag. Ich durfte mitbestimmen, wie das Buch aussah, japanische Blockbuchheftung, und habe einhundert Freiexemplare bekommen sowie die Zusicherung, daß ich immer zu ihm kommen dürfe, wenn ich Geld brauche. Das habe ich zweimal gemacht. Das war Herr Ellermann, ein Traumverleger. Durch ihn ist auch die Beziehung zu Nelly Sachs zustande gekommen, denn er war der erste, der ihre Gedichte in Westdeutschland veröffentlichte. Er schickte ihr mein Buch, woraufhin sie mir sofort schrieb. Daraus ist unser Briefwechsel entstanden. Später, 1969, wollte sie mich auch in Rom besuchen – sie sollte in der Villa Sciarra lesen. Leider haben ihr die Ärzte die Reise verboten. So haben wir uns nicht persönlich kennengelernt.
OPITZ/WIEMERS: Aus dem Briefwechsel stammt auch Nelly Sachs‘ Formulierung, Sie hätten »viele Blitze aus den Nächtigkeiten der Worte geschlagen«, die im Nachwort Ihres jüngsten Bandes »Bis das Gedächtnis grünet« wieder auftaucht.
KOSCHEL: Das hat sie mir auf einer Briefkarte geschrieben. Es ist eine unmittelbare empathische Reaktion, die mir damals sehr half, denn ich war wahnsinnig unsicher und hatte keinerlei Rückendeckung. Meine Mutter hat immer gesagt, ich schreibe, wie es im Telefonbuch steht.
OPITZ/WIEMERS: Ein seltsamer Vergleich. Sie hatte also eine eher ablehnende Haltung?
KOSCHEL: Ja, eine zutiefst negative. Ich bin auch von zu Hause weggegangen, wir haben uns nie wiedergesehen. Sie hatte nur einen Maßstab, und der war Utta Danella.
OPITZ/WIEMERS: 1963, zwei Jahre nach Ihrem Debüt, waren Sie bei der Gruppe 47 eingeladen.
KOSCHEL: Ich war überhaupt nicht eingeladen. Aber ich kannte Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger und hoffte, daß sie mir helfen würden, eine Einladung zu bekommen. Ein Freund aus München meinte dann, fahr doch einfach hin, und packte mich ins Auto nach Saulgau. Weder die Bachmann noch die Aichinger waren da, dafür aber Alexander Kluge, den ich aus dem »Schwabinger Nest« kannte, einem Café, in dem sich damals alle trafen, die irgend etwas mit Kunst, Film und Theater zu tun hatten. Mit Kluge war ich ein bißchen befreundet, obwohl wir ganz unterschiedliche Menschen waren. Ich hatte meinen Ellermann-Band dabei und sagte: Alexander, ich bin jetzt hier und würde gerne lesen. Kannst du mir eine Lesung verschaffen? Er hat gesagt, ich solle warten, ist mit dem Buch ins Hotel zu Hans Werner Richter gegangen, hat mich dort eingeführt, und sofort habe ich die Einladung erhalten. Ich habe dann als Vorletzte gelesen, es gibt auch ein Bild von mir auf dem Stühlchen. Die Lesung wurde positiv aufgenommen, ich hatte nur gute Kritiken, von Walter Jens und Günter Grass und Johannes Bobrowski, der im Vorjahr den Preis der Gruppe bekommen hatte. Ich war damals furchtbar schüchtern. Bobrowski machte mir ständig Zeichen, ich solle doch mein Manuskript herzeigen, was ich schließlich auch tat. Am letzten Abend hat mich Unseld mit den Suhrkamp-Autoren an seinen Tisch geholt, aber ich bin mit meinem Buch schließlich zu Piper gegangen. Im Nachlaß von Ingeborg Bachmann habe ich einen Brief gefunden, in dem Piper ihr von meinem Auftritt in Saulgau berichtet. Er hat für mich votiert.
OPITZ/WIEMERS : Das war ja schon eine der letzten Tagungen der Gruppe 47. Haben Sie als Neuankömmling überhaupt bemerkt, daß Veränderungen im Gange waren?
KOSCHEL: Nein, gar nicht, für mich war alles neu und interessant. Peter Weiss, der aus seinem Stück »Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats« las, fand ich sehr komisch, weil er sich immer als Schriftsteller und Maler vorgestellt und einem gleich die Hand gegeben hat. Ein wunderbarer Autor, was ich damals aber noch nicht wußte. Mir waren eigentlich all diese Leute unbekannt. Ich bin als junge Autorin, die auch mal lesen durfte, dort reingekommen und habe mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Es gab auch einen Abschlußball, bei dem ich mit Günter Grass einen Tango getanzt habe. Er hat mich an sich gerissen und übers Parkett geschleudert, und ich glaube, ich habe es ganz gut hinbekommen.
OPITZ/WIEMERS: 1965 sind Sie von München, wo Sie als Regieassistentin für Film und Theater arbeiteten, nach Rom gegangen. Welche Gründe gab es für Sie, Deutschland zu verlassen?
KOSCHEL Das hing unmittelbar mit meiner Arbeit zusammen. Schauspielerin wollte ich nicht mehr werden, da mir das Schreiben wichtiger war. Ich hatte aber das Glück, eine Regieassistenz bei Kurt Hoffmann zu bekommen, der damals ein bekannter Filmregisseur war. Bei Theater und Film war ich Assistentin von Hans Dieter Schwarze. Ich wollte etwas ganz anderes. Einen Bruch mit dem traditionellen Theater. Das »Arme Theater« von Jerzy Grotowski aus Breslau, der später nach Berlin kam, wäre meine Richtung gewesen. Aber die Deutschen mochten ihn nicht, auch nicht nach seinem Tod. Die Italiener dagegen haben ihn gefeiert. Auch die geistige Atmosphäre in München hat mich nicht befriedigt. Obwohl ich damals noch nicht politisch gedacht habe, hat es mich doch gewundert, daß in den Gedichten der hofierten Autoren und Preisträger der Krieg kaum vorkam. Günter Eich war damals die bestimmende Figur, aber auch in seinen Gedichten ist von der Katastrophe des Dritten Reichs eigentlich nichts zu spüren. Als Regieassistentin habe ich seine Frau, Ilse Aichinger, kennengelernt. Ich habe sie verteidigt, als sie während einer Hörspielproduktion vom Dramaturgen und von Schwarze angegriffen wurde. Daraus entstand unsere langjährige Freundschaft. Sie lud mich nach Lenggries ein, wo ich auch Eich kennenlernte. Wir tauschten dann unsere Gedichte aus, und sie schrieb das Nachwort zu meinem Band »Pfahlfuga«. Aber Eich blieb mir ein Rätsel.
OPITZ/WIEMERS: Warum entschieden Sie sich für Italien, Sie hätten doch auch nach Frankreich oder Norwegen gehen können?
KOSCHEL: Meine erste Reise nach Italien machte ich 1959. Ich hatte kein Geld, aber man konnte damals in Rom ganz billig von Trauben und Brot leben. Ich wohnte bei einem Schneider, der sehr gut Deutsch sprach und Fichte las, was ich wunderbar fand. Ich mietete ein Bett bei ihm und schlief hinter einem Vorhang. Und beim Frühstück erzählte er mir begeistert von Fichte, über den ich gar nichts wußte. So habe ich den Nachkriegsglanz von Rom erlebt, das noch einen ganz anderen Zauber hatte, auch hinsichtlich der Menschen und ihrer Lebensweise. Das gibt es heute gar nicht mehr. Im Rückblick hat diese Faszination mit dazu geführt, daß ich mich 1965 entschieden habe, nach Rom überzusiedeln. Damit begann das Sich-Einlassen auf Italien, auf die Luft, die Gerüche, die Dinge, ohne irgendwelche politischen oder sprachlichen Vorkenntnisse.
OPITZ/WIEMERS: Als Sie zum Treffen der Gruppe 47 nach Saulgau fuhren, kannten Sie Ingeborg Bachmann bereits. Wie war es dazu gekommen?
KOSCHEL: Das passierte im Oktober 1958, im Münchner Studio Fink in der Kaulbachstraße, einer privaten Villa, in der viele Lesungen stattfanden. Ingeborg Bachmann las »Was ich in Rom sah und hörte« – das wurde natürlich bedeutsam für mich – und sie las Gedichte aus ihrem Band »Anrufung des Großen Bären«. Ich war von dieser schönen jungen Frau und ihren Texten so fasziniert, daß ich zu meinem damaligen Freund sagte: Du, ich würde sie gerne kennenlernen. Und dieser Freund hat – ohne es mir zu sagen – die Bachmann angerufen, von meiner Begeisterung erzählt und gefragt, ob sie mir nicht ein Treffen gewähren würde. So hatte ich plötzlich eine Verabredung mit ihr in einem Café am Elisabethplatz. Wir haben uns zwei oder drei Stunden intensiv unterhalten und unsere Adressen ausgetauscht.
[…]
SINN UND FORM, 5/2014, S. 638-646, hier S. 638-641
- 4/2017 | »Ich könnt vielleicht ein Geheimnis haben«. Leben und Werk Christine Lavants
Opitz-Wiemers, Carola, und Michael Opitz
- 5/2014 | »Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt«. Gespräch mit Christine Koschel, S. 638 Leseprobe
Opitz-Wiemers, Carola
»Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt» Gespräch mit Christine Koschel
MICHAEL OPITZ, CAROLA OPITZ-WIEMERS: Sie haben 1961, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit dem Lyrikband »Den Windschädel tragen« debütiert. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
CHRISTINE KOSCHEL: Mit etwa fünfzehn, als der alte Fürst von Thurn und Taxis starb. Ich besuchte in Regensburg eine Internats-Klosterschule, und wir mußten in der Kirche an dem aufgebahrten Fürsten vorbeidefilieren. Für uns Kinder war das ein schockierendes und berührendes Erlebnis. Aus dieser Begegnung mit dem Tod ist mein erstes Gedicht entstanden.
OPITZ/WIEMERS: Hat Sie jemand ermutigt, diese ersten Texte zu veröffentlichen?
KOSCHEL: In der »Zeit« wurde ganz früh etwas gedruckt, das habe ich neulich im digitalem Archiv wiedergefunden. Teilweise sehr lustige Texte, ich war erstaunt, daß ich das mal geschrieben haben soll. Diese ersten Veröffentlichungen verdanke ich Wolfgang Liebeneiner. Er war während der Nazizeit Produktionschef der UFA-Film. Eigentlich wollte ich ja Schauspielerin werden, und er hat mich zum Vorsprechen und danach zum Essen eingeladen. Dabei habe ich ihm wohl erzählt, daß ich Gedichte schreibe. Er hat sie dann an Rudolf Walter Leonhardt, den damaligen Feuilletonchef der »Zeit«, weitergegeben, der fünf oder sechs davon gedruckt und sogar ein Honorar gezahlt hat, worüber ich sehr glücklich war, da ich kaum Geld hatte.
OPITZ/WIEMERS: Wann war das?
KOSCHEL: Das muß 1957/58 gewesen sein, vor meinem Kontakt mit Heinrich Ellermann. Ich lebte in München, und man hatte mir gesagt, daß es dort einen Verleger für neue Lyrik gebe, bei dem ich es versuchen solle. Ich bin also nach Schwabing in seinen Verlag gegangen und habe ihm meine Manuskripte gezeigt. Und er meinte: Schreiben Sie weiter und kommen Sie in einem Jahr noch mal zu mir. Nach einem Jahr habe ich ihm wieder etwas geschickt. Darauf bekam ich ein Telegramm von ihm, in dem stand: Ich drucke Sie. Das war der Vertrag. Ich durfte mitbestimmen, wie das Buch aussah, japanische Blockbuchheftung, und habe einhundert Freiexemplare bekommen sowie die Zusicherung, daß ich immer zu ihm kommen dürfe, wenn ich Geld brauche. Das habe ich zweimal gemacht. Das war Herr Ellermann, ein Traumverleger. Durch ihn ist auch die Beziehung zu Nelly Sachs zustande gekommen, denn er war der erste, der ihre Gedichte in Westdeutschland veröffentlichte. Er schickte ihr mein Buch, woraufhin sie mir sofort schrieb. Daraus ist unser Briefwechsel entstanden. Später, 1969, wollte sie mich auch in Rom besuchen – sie sollte in der Villa Sciarra lesen. Leider haben ihr die Ärzte die Reise verboten. So haben wir uns nicht persönlich kennengelernt.
OPITZ/WIEMERS: Aus dem Briefwechsel stammt auch Nelly Sachs‘ Formulierung, Sie hätten »viele Blitze aus den Nächtigkeiten der Worte geschlagen«, die im Nachwort Ihres jüngsten Bandes »Bis das Gedächtnis grünet« wieder auftaucht.
KOSCHEL: Das hat sie mir auf einer Briefkarte geschrieben. Es ist eine unmittelbare empathische Reaktion, die mir damals sehr half, denn ich war wahnsinnig unsicher und hatte keinerlei Rückendeckung. Meine Mutter hat immer gesagt, ich schreibe, wie es im Telefonbuch steht.
OPITZ/WIEMERS: Ein seltsamer Vergleich. Sie hatte also eine eher ablehnende Haltung?
KOSCHEL: Ja, eine zutiefst negative. Ich bin auch von zu Hause weggegangen, wir haben uns nie wiedergesehen. Sie hatte nur einen Maßstab, und der war Utta Danella.
OPITZ/WIEMERS: 1963, zwei Jahre nach Ihrem Debüt, waren Sie bei der Gruppe 47 eingeladen.
KOSCHEL: Ich war überhaupt nicht eingeladen. Aber ich kannte Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger und hoffte, daß sie mir helfen würden, eine Einladung zu bekommen. Ein Freund aus München meinte dann, fahr doch einfach hin, und packte mich ins Auto nach Saulgau. Weder die Bachmann noch die Aichinger waren da, dafür aber Alexander Kluge, den ich aus dem »Schwabinger Nest« kannte, einem Café, in dem sich damals alle trafen, die irgend etwas mit Kunst, Film und Theater zu tun hatten. Mit Kluge war ich ein bißchen befreundet, obwohl wir ganz unterschiedliche Menschen waren. Ich hatte meinen Ellermann-Band dabei und sagte: Alexander, ich bin jetzt hier und würde gerne lesen. Kannst du mir eine Lesung verschaffen? Er hat gesagt, ich solle warten, ist mit dem Buch ins Hotel zu Hans Werner Richter gegangen, hat mich dort eingeführt, und sofort habe ich die Einladung erhalten. Ich habe dann als Vorletzte gelesen, es gibt auch ein Bild von mir auf dem Stühlchen. Die Lesung wurde positiv aufgenommen, ich hatte nur gute Kritiken, von Walter Jens und Günter Grass und Johannes Bobrowski, der im Vorjahr den Preis der Gruppe bekommen hatte. Ich war damals furchtbar schüchtern. Bobrowski machte mir ständig Zeichen, ich solle doch mein Manuskript herzeigen, was ich schließlich auch tat. Am letzten Abend hat mich Unseld mit den Suhrkamp-Autoren an seinen Tisch geholt, aber ich bin mit meinem Buch schließlich zu Piper gegangen. Im Nachlaß von Ingeborg Bachmann habe ich einen Brief gefunden, in dem Piper ihr von meinem Auftritt in Saulgau berichtet. Er hat für mich votiert.
OPITZ/WIEMERS : Das war ja schon eine der letzten Tagungen der Gruppe 47. Haben Sie als Neuankömmling überhaupt bemerkt, daß Veränderungen im Gange waren?
KOSCHEL: Nein, gar nicht, für mich war alles neu und interessant. Peter Weiss, der aus seinem Stück »Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats« las, fand ich sehr komisch, weil er sich immer als Schriftsteller und Maler vorgestellt und einem gleich die Hand gegeben hat. Ein wunderbarer Autor, was ich damals aber noch nicht wußte. Mir waren eigentlich all diese Leute unbekannt. Ich bin als junge Autorin, die auch mal lesen durfte, dort reingekommen und habe mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Es gab auch einen Abschlußball, bei dem ich mit Günter Grass einen Tango getanzt habe. Er hat mich an sich gerissen und übers Parkett geschleudert, und ich glaube, ich habe es ganz gut hinbekommen.
OPITZ/WIEMERS: 1965 sind Sie von München, wo Sie als Regieassistentin für Film und Theater arbeiteten, nach Rom gegangen. Welche Gründe gab es für Sie, Deutschland zu verlassen?
KOSCHEL Das hing unmittelbar mit meiner Arbeit zusammen. Schauspielerin wollte ich nicht mehr werden, da mir das Schreiben wichtiger war. Ich hatte aber das Glück, eine Regieassistenz bei Kurt Hoffmann zu bekommen, der damals ein bekannter Filmregisseur war. Bei Theater und Film war ich Assistentin von Hans Dieter Schwarze. Ich wollte etwas ganz anderes. Einen Bruch mit dem traditionellen Theater. Das »Arme Theater« von Jerzy Grotowski aus Breslau, der später nach Berlin kam, wäre meine Richtung gewesen. Aber die Deutschen mochten ihn nicht, auch nicht nach seinem Tod. Die Italiener dagegen haben ihn gefeiert. Auch die geistige Atmosphäre in München hat mich nicht befriedigt. Obwohl ich damals noch nicht politisch gedacht habe, hat es mich doch gewundert, daß in den Gedichten der hofierten Autoren und Preisträger der Krieg kaum vorkam. Günter Eich war damals die bestimmende Figur, aber auch in seinen Gedichten ist von der Katastrophe des Dritten Reichs eigentlich nichts zu spüren. Als Regieassistentin habe ich seine Frau, Ilse Aichinger, kennengelernt. Ich habe sie verteidigt, als sie während einer Hörspielproduktion vom Dramaturgen und von Schwarze angegriffen wurde. Daraus entstand unsere langjährige Freundschaft. Sie lud mich nach Lenggries ein, wo ich auch Eich kennenlernte. Wir tauschten dann unsere Gedichte aus, und sie schrieb das Nachwort zu meinem Band »Pfahlfuga«. Aber Eich blieb mir ein Rätsel.
OPITZ/WIEMERS: Warum entschieden Sie sich für Italien, Sie hätten doch auch nach Frankreich oder Norwegen gehen können?
KOSCHEL: Meine erste Reise nach Italien machte ich 1959. Ich hatte kein Geld, aber man konnte damals in Rom ganz billig von Trauben und Brot leben. Ich wohnte bei einem Schneider, der sehr gut Deutsch sprach und Fichte las, was ich wunderbar fand. Ich mietete ein Bett bei ihm und schlief hinter einem Vorhang. Und beim Frühstück erzählte er mir begeistert von Fichte, über den ich gar nichts wußte. So habe ich den Nachkriegsglanz von Rom erlebt, das noch einen ganz anderen Zauber hatte, auch hinsichtlich der Menschen und ihrer Lebensweise. Das gibt es heute gar nicht mehr. Im Rückblick hat diese Faszination mit dazu geführt, daß ich mich 1965 entschieden habe, nach Rom überzusiedeln. Damit begann das Sich-Einlassen auf Italien, auf die Luft, die Gerüche, die Dinge, ohne irgendwelche politischen oder sprachlichen Vorkenntnisse.
OPITZ/WIEMERS: Als Sie zum Treffen der Gruppe 47 nach Saulgau fuhren, kannten Sie Ingeborg Bachmann bereits. Wie war es dazu gekommen?
KOSCHEL: Das passierte im Oktober 1958, im Münchner Studio Fink in der Kaulbachstraße, einer privaten Villa, in der viele Lesungen stattfanden. Ingeborg Bachmann las »Was ich in Rom sah und hörte« – das wurde natürlich bedeutsam für mich – und sie las Gedichte aus ihrem Band »Anrufung des Großen Bären«. Ich war von dieser schönen jungen Frau und ihren Texten so fasziniert, daß ich zu meinem damaligen Freund sagte: Du, ich würde sie gerne kennenlernen. Und dieser Freund hat – ohne es mir zu sagen – die Bachmann angerufen, von meiner Begeisterung erzählt und gefragt, ob sie mir nicht ein Treffen gewähren würde. So hatte ich plötzlich eine Verabredung mit ihr in einem Café am Elisabethplatz. Wir haben uns zwei oder drei Stunden intensiv unterhalten und unsere Adressen ausgetauscht.
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- 4/2017 | »Ich könnt vielleicht ein Geheimnis haben«. Leben und Werk Christine Lavants
Opitz, Detlef
- 5/1981 | ... item, eine fast völlig erfundene Reportage
- 3/2002 | Eyeskladd. Eine Abmutung nachtragender Arts
Opitz, Michael, und Carola Opitz-Wiemers
- 5/2014 | »Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt«. Gespräch mit Christine Koschel, S. 638 Leseprobe
Opitz-Wiemers, Carola
»Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt» Gespräch mit Christine Koschel
MICHAEL OPITZ, CAROLA OPITZ-WIEMERS: Sie haben 1961, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit dem Lyrikband »Den Windschädel tragen« debütiert. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen?
CHRISTINE KOSCHEL: Mit etwa fünfzehn, als der alte Fürst von Thurn und Taxis starb. Ich besuchte in Regensburg eine Internats-Klosterschule, und wir mußten in der Kirche an dem aufgebahrten Fürsten vorbeidefilieren. Für uns Kinder war das ein schockierendes und berührendes Erlebnis. Aus dieser Begegnung mit dem Tod ist mein erstes Gedicht entstanden.
OPITZ/WIEMERS: Hat Sie jemand ermutigt, diese ersten Texte zu veröffentlichen?
KOSCHEL: In der »Zeit« wurde ganz früh etwas gedruckt, das habe ich neulich im digitalem Archiv wiedergefunden. Teilweise sehr lustige Texte, ich war erstaunt, daß ich das mal geschrieben haben soll. Diese ersten Veröffentlichungen verdanke ich Wolfgang Liebeneiner. Er war während der Nazizeit Produktionschef der UFA-Film. Eigentlich wollte ich ja Schauspielerin werden, und er hat mich zum Vorsprechen und danach zum Essen eingeladen. Dabei habe ich ihm wohl erzählt, daß ich Gedichte schreibe. Er hat sie dann an Rudolf Walter Leonhardt, den damaligen Feuilletonchef der »Zeit«, weitergegeben, der fünf oder sechs davon gedruckt und sogar ein Honorar gezahlt hat, worüber ich sehr glücklich war, da ich kaum Geld hatte.
OPITZ/WIEMERS: Wann war das?
KOSCHEL: Das muß 1957/58 gewesen sein, vor meinem Kontakt mit Heinrich Ellermann. Ich lebte in München, und man hatte mir gesagt, daß es dort einen Verleger für neue Lyrik gebe, bei dem ich es versuchen solle. Ich bin also nach Schwabing in seinen Verlag gegangen und habe ihm meine Manuskripte gezeigt. Und er meinte: Schreiben Sie weiter und kommen Sie in einem Jahr noch mal zu mir. Nach einem Jahr habe ich ihm wieder etwas geschickt. Darauf bekam ich ein Telegramm von ihm, in dem stand: Ich drucke Sie. Das war der Vertrag. Ich durfte mitbestimmen, wie das Buch aussah, japanische Blockbuchheftung, und habe einhundert Freiexemplare bekommen sowie die Zusicherung, daß ich immer zu ihm kommen dürfe, wenn ich Geld brauche. Das habe ich zweimal gemacht. Das war Herr Ellermann, ein Traumverleger. Durch ihn ist auch die Beziehung zu Nelly Sachs zustande gekommen, denn er war der erste, der ihre Gedichte in Westdeutschland veröffentlichte. Er schickte ihr mein Buch, woraufhin sie mir sofort schrieb. Daraus ist unser Briefwechsel entstanden. Später, 1969, wollte sie mich auch in Rom besuchen – sie sollte in der Villa Sciarra lesen. Leider haben ihr die Ärzte die Reise verboten. So haben wir uns nicht persönlich kennengelernt.
OPITZ/WIEMERS: Aus dem Briefwechsel stammt auch Nelly Sachs‘ Formulierung, Sie hätten »viele Blitze aus den Nächtigkeiten der Worte geschlagen«, die im Nachwort Ihres jüngsten Bandes »Bis das Gedächtnis grünet« wieder auftaucht.
KOSCHEL: Das hat sie mir auf einer Briefkarte geschrieben. Es ist eine unmittelbare empathische Reaktion, die mir damals sehr half, denn ich war wahnsinnig unsicher und hatte keinerlei Rückendeckung. Meine Mutter hat immer gesagt, ich schreibe, wie es im Telefonbuch steht.
OPITZ/WIEMERS: Ein seltsamer Vergleich. Sie hatte also eine eher ablehnende Haltung?
KOSCHEL: Ja, eine zutiefst negative. Ich bin auch von zu Hause weggegangen, wir haben uns nie wiedergesehen. Sie hatte nur einen Maßstab, und der war Utta Danella.
OPITZ/WIEMERS: 1963, zwei Jahre nach Ihrem Debüt, waren Sie bei der Gruppe 47 eingeladen.
KOSCHEL: Ich war überhaupt nicht eingeladen. Aber ich kannte Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger und hoffte, daß sie mir helfen würden, eine Einladung zu bekommen. Ein Freund aus München meinte dann, fahr doch einfach hin, und packte mich ins Auto nach Saulgau. Weder die Bachmann noch die Aichinger waren da, dafür aber Alexander Kluge, den ich aus dem »Schwabinger Nest« kannte, einem Café, in dem sich damals alle trafen, die irgend etwas mit Kunst, Film und Theater zu tun hatten. Mit Kluge war ich ein bißchen befreundet, obwohl wir ganz unterschiedliche Menschen waren. Ich hatte meinen Ellermann-Band dabei und sagte: Alexander, ich bin jetzt hier und würde gerne lesen. Kannst du mir eine Lesung verschaffen? Er hat gesagt, ich solle warten, ist mit dem Buch ins Hotel zu Hans Werner Richter gegangen, hat mich dort eingeführt, und sofort habe ich die Einladung erhalten. Ich habe dann als Vorletzte gelesen, es gibt auch ein Bild von mir auf dem Stühlchen. Die Lesung wurde positiv aufgenommen, ich hatte nur gute Kritiken, von Walter Jens und Günter Grass und Johannes Bobrowski, der im Vorjahr den Preis der Gruppe bekommen hatte. Ich war damals furchtbar schüchtern. Bobrowski machte mir ständig Zeichen, ich solle doch mein Manuskript herzeigen, was ich schließlich auch tat. Am letzten Abend hat mich Unseld mit den Suhrkamp-Autoren an seinen Tisch geholt, aber ich bin mit meinem Buch schließlich zu Piper gegangen. Im Nachlaß von Ingeborg Bachmann habe ich einen Brief gefunden, in dem Piper ihr von meinem Auftritt in Saulgau berichtet. Er hat für mich votiert.
OPITZ/WIEMERS : Das war ja schon eine der letzten Tagungen der Gruppe 47. Haben Sie als Neuankömmling überhaupt bemerkt, daß Veränderungen im Gange waren?
KOSCHEL: Nein, gar nicht, für mich war alles neu und interessant. Peter Weiss, der aus seinem Stück »Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats« las, fand ich sehr komisch, weil er sich immer als Schriftsteller und Maler vorgestellt und einem gleich die Hand gegeben hat. Ein wunderbarer Autor, was ich damals aber noch nicht wußte. Mir waren eigentlich all diese Leute unbekannt. Ich bin als junge Autorin, die auch mal lesen durfte, dort reingekommen und habe mich eigentlich ganz wohl gefühlt. Es gab auch einen Abschlußball, bei dem ich mit Günter Grass einen Tango getanzt habe. Er hat mich an sich gerissen und übers Parkett geschleudert, und ich glaube, ich habe es ganz gut hinbekommen.
OPITZ/WIEMERS: 1965 sind Sie von München, wo Sie als Regieassistentin für Film und Theater arbeiteten, nach Rom gegangen. Welche Gründe gab es für Sie, Deutschland zu verlassen?
KOSCHEL Das hing unmittelbar mit meiner Arbeit zusammen. Schauspielerin wollte ich nicht mehr werden, da mir das Schreiben wichtiger war. Ich hatte aber das Glück, eine Regieassistenz bei Kurt Hoffmann zu bekommen, der damals ein bekannter Filmregisseur war. Bei Theater und Film war ich Assistentin von Hans Dieter Schwarze. Ich wollte etwas ganz anderes. Einen Bruch mit dem traditionellen Theater. Das »Arme Theater« von Jerzy Grotowski aus Breslau, der später nach Berlin kam, wäre meine Richtung gewesen. Aber die Deutschen mochten ihn nicht, auch nicht nach seinem Tod. Die Italiener dagegen haben ihn gefeiert. Auch die geistige Atmosphäre in München hat mich nicht befriedigt. Obwohl ich damals noch nicht politisch gedacht habe, hat es mich doch gewundert, daß in den Gedichten der hofierten Autoren und Preisträger der Krieg kaum vorkam. Günter Eich war damals die bestimmende Figur, aber auch in seinen Gedichten ist von der Katastrophe des Dritten Reichs eigentlich nichts zu spüren. Als Regieassistentin habe ich seine Frau, Ilse Aichinger, kennengelernt. Ich habe sie verteidigt, als sie während einer Hörspielproduktion vom Dramaturgen und von Schwarze angegriffen wurde. Daraus entstand unsere langjährige Freundschaft. Sie lud mich nach Lenggries ein, wo ich auch Eich kennenlernte. Wir tauschten dann unsere Gedichte aus, und sie schrieb das Nachwort zu meinem Band »Pfahlfuga«. Aber Eich blieb mir ein Rätsel.
OPITZ/WIEMERS: Warum entschieden Sie sich für Italien, Sie hätten doch auch nach Frankreich oder Norwegen gehen können?
KOSCHEL: Meine erste Reise nach Italien machte ich 1959. Ich hatte kein Geld, aber man konnte damals in Rom ganz billig von Trauben und Brot leben. Ich wohnte bei einem Schneider, der sehr gut Deutsch sprach und Fichte las, was ich wunderbar fand. Ich mietete ein Bett bei ihm und schlief hinter einem Vorhang. Und beim Frühstück erzählte er mir begeistert von Fichte, über den ich gar nichts wußte. So habe ich den Nachkriegsglanz von Rom erlebt, das noch einen ganz anderen Zauber hatte, auch hinsichtlich der Menschen und ihrer Lebensweise. Das gibt es heute gar nicht mehr. Im Rückblick hat diese Faszination mit dazu geführt, daß ich mich 1965 entschieden habe, nach Rom überzusiedeln. Damit begann das Sich-Einlassen auf Italien, auf die Luft, die Gerüche, die Dinge, ohne irgendwelche politischen oder sprachlichen Vorkenntnisse.
OPITZ/WIEMERS: Als Sie zum Treffen der Gruppe 47 nach Saulgau fuhren, kannten Sie Ingeborg Bachmann bereits. Wie war es dazu gekommen?
KOSCHEL: Das passierte im Oktober 1958, im Münchner Studio Fink in der Kaulbachstraße, einer privaten Villa, in der viele Lesungen stattfanden. Ingeborg Bachmann las »Was ich in Rom sah und hörte« – das wurde natürlich bedeutsam für mich – und sie las Gedichte aus ihrem Band »Anrufung des Großen Bären«. Ich war von dieser schönen jungen Frau und ihren Texten so fasziniert, daß ich zu meinem damaligen Freund sagte: Du, ich würde sie gerne kennenlernen. Und dieser Freund hat – ohne es mir zu sagen – die Bachmann angerufen, von meiner Begeisterung erzählt und gefragt, ob sie mir nicht ein Treffen gewähren würde. So hatte ich plötzlich eine Verabredung mit ihr in einem Café am Elisabethplatz. Wir haben uns zwei oder drei Stunden intensiv unterhalten und unsere Adressen ausgetauscht.
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SINN UND FORM, 5/2014, S. 638-646, hier S. 638-641
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Osten, Manfred
DAS GLÜCKLICHE OHR Ein Gespräch über Musik mit Peter Sloterdijk
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der Rehabilitierung des Hörens. Haben wir nicht das Ohr als Erkenntnisorgan allzu lange unterschätzt?
PETER SLOTERDIJK: Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Ohr wirklich so untreu geworden sind, wie es Ihre Worte nahelegen, denn unsere Kultur beruht vom ersten Tag an auf der Allianz zwischen dem Auditiven und dem Visuellen. Das hat unter anderem damit zu tun, daß die Europäer die ersten waren, die den von den Phöniziern und anderen Vorgängerkulturen übernommenen Alphabeten Vokale hinzugefügt haben. Also wären die Griechen, wenn sie sonst nichts geleistet hätten, trotzdem das bedeutendste Volk der Geistesgeschichte Europas, eben weil sie die orientalischen Konsonantenschriften um Vokale ergänzt und dadurch etwas möglich gemacht haben, worauf unsere ganze audiovisuelle Kultur beruht: das autodidaktische, das selbständige Lesen, die vollständige Vokalisierung des lesbaren Textes und damit die Entstehung einer psychoakustisch prägnanten Halluzination im inneren Ohr des lesenden Menschen, der glaubt, er höre den Autor sprechen. Wir haben eine Kultur des inneren Hörens, des betreuten Halluzinierens geschaffen, in der sich die Stimme des Autors gleichsam wie eine Hand auf die Schulter des Lesers legt und ihm erlaubt, sich ein Bild von dem zu machen, was er gesagt hätte, wenn ihn nicht jahrhundertelanges Totsein am unmittelbaren Verkehr mit seinem Fernschüler hindern würde. Die Griechen haben, wenn Sie so wollen, durch ihre Schrift die Teleakademie erfunden. So würde man das heute nennen. Und Teleakademien haben das besondere Merkmal, daß in ihnen Fernstimmenübertragungen stattfinden. Ich würde sagen, das ist die Basis unserer Kultur.
Die Griechen haben zudem eine Merkwürdigkeit an den Tag gelegt, über die wir heute noch staunen können, sie haben nämlich die Buchstaben zugleich für Zahlen und Musiknoten benutzt. Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, weil wir ja Zahlen und Notationen und Buchstaben haben. Der verstorbene Friedrich Kittler hat über diese Entdeckung in seinen reiferen Tagen fast den Verstand verloren, weil er zu verstehen versucht hat, was es bedeutet, wenn man gleichzeitig Mathematik, Musik und geschriebenes Denken praktiziert. Doch alles, was ich gesagt habe, ist nur eine Annäherung an den großen Satz von Thomas Mann, der in meinen Augen am Anfang jeder Besinnung über Fragen der Musik stehen könnte: »Die Musik ist dämonisches Gebiet.«
OSTEN: Die Rangerhöhung der Musik fand in der Spätromantik statt, etwa in Nietzsches berühmter »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Da wurde plötzlich das Ohr an die Herzkammer des Weltwillens gelegt. Der Gedanke, daß der Weltgrund musikalisch, daß Musik im Grunde eine metaphysische Tätigkeit ist, ist doch ungeheuer. Wie kommt man zu solchen Überlegungen?
SLOTERDIJK: Durch die Entdeckung der Mehrschichtigkeit der Audiovisualität als solcher. Ursprünglich hat die europäische Kultur die beiden Fernsinne Auge und Ohr gegenüber dem, was man die Nähesinne nennt, unendlich privilegiert, also gegenüber dem Geruchssinn, dem Tastsinn, dem atmosphärischen Spüren. Im Grunde genommen ist das Spüren der große Verlierer der Kulturgeschichte. Es wird jetzt unter verschiedenen Namen, unter anderem dem der Haptonomie, mühsam wieder in unser Weltbild integriert. Die Nähesinne mußten unter den Sinnen des Menschen zweitausend Jahre lang den Idioten der Familie spielen. Wir haben das Tasten, das Riechen, das Schmecken und das gesamte atmosphärische Empfinden, also den Umgang mit dem, was bei den Phänomenologen tertiäre Qualität heißt, am Eingang zur Akademie abgewiesen. Über diesem Eingang stand ja auch, die mathematisch Ungebildeten, diejenigen, die nicht bereit sind, die für die europäische Wissenschaftskultur konstitutiven Abstraktionen mitzumachen, mögen außen vor bleiben. Und wir haben bis zum Beginn der Renaissance, bis zum 14./15. Jahrhundert warten müssen, ehe die Künstler wieder von der Mathematik zur Sinnlichkeit zurückkehrten. Das ist das eigentliche Geheimnis der Renaissance, die Reinklusion der ausgeschlossenen Sinne – aber auch die müssen sich an das Idiom der Mathematik und an das Denken in Proportionen, die Lage im Raum und die Größenbestimmung halten. Das sind die sogenannten Primärqualitäten, auf sie allein stützt sich wahres Wissen. Musik hat im innersten Kreis der Wissenschaften zwar eine Rolle gespielt, aber nicht als hörbare, sondern als gedachte Musik. Es ist interessant, daß von Pythagoras bis ins hohe Mittelalter immer auch eine Musikologie betrieben worden ist, die so etwas wie die Wissenschaft von den mathematischen Proportionen beinhaltete, auf welchen Musik beruht, auch wenn man sie nicht hört. Die Wiederkehr des Hörens meint eigentlich die niedere Musik, die so etwas Schmutziges wie eine Klangfarbe hat – schon das Wort Farbe löst bei einem echten Platoniker ja Krämpfe des Unwohlseins aus, weil damit die Verschmutzung durch Empirie beginnt.
OSTEN: Ist es nicht so, daß die Metaphern, die wir aus der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte übernommen haben, zum Beispiel »sich ein Bild machen«, »Licht ins Dunkel bringen« oder »Aufklärung«, meist aus dem Bereich des Sehens kommen? Man könnte sich die Aufklärung ja auch als Aufklingung denken. Aber von Aufklingung haben wir keinen Begriff. Es scheint doch irgendwann zu einer Dominanz des Visuellen, zumindest bei Metaphern und Begriffsbildungen, gekommen zu sein.
SLOTERDIJK: Das liegt an Plato. Aber er ist nicht an allem schuld, er kann auf einen anonymen Urheber des Verhängnisses verweisen, denn er lebt in einer Kultur, in der die Alphabetisierung bereits stattgefunden hat. Sie liefert Plato seine Grundideen, denn die Idee der Idee ist der Buchstabe. Man hat aus den Vokalgallerten, die aus Menschenmündern hervorquellen und die man Sprachen nennt, durch geniale Sequenzierung die Elemente herauspräpariert, die eine phonetische und vokale Rekonstruktion des Lautes im Schriftbild begründen. Das ist ein grundstürzender Vorgang, und den hat die Philosophie als eine von ihr selber nicht verstehbare Prämisse bereits im Rücken. Als Plato mit seinem Eidos, seinem Urbild kommt, kann er sich auf zwei Urbilderfahrungen berufen, die zur Grundausstattung der griechischen Lebenswelt gehören. Die erste war die für jeden Griechen, ob alphabetisiert oder nicht, sichtbare Tatsache, daß an jeder Ecke Statuen nackter Männer standen. Ohne diese Grundgeste, ohne die in den Statuen zum Ausdruck kommende Genialität kann man die Griechen nicht verstehen. In der Statue wird das Göttliche aufgerichtet, und das Göttliche ist immer ein bißchen größer als der Mensch, aber nicht zu groß. Zehn Prozent mehr, und schon hat man einen Helden, einen Halbgott oder eine Epiphanie. So muß man sich auch die Statuen in Olympia und an anderen Orten des griechischen Siegerkults vorstellen. Zum olympischen Sieg gehört das Recht, Statuen aufzustellen. Wenn fremde Heere einfielen, verübten sie unter den Statuen einen regelrechten Völkermord. Aber wenn sie abzogen, konnten die Geschichtsschreiber sagen: Griechenland ist immer noch voller Statuen. Dieser Umstand hat Plato in gewisser Weise recht gegeben, weil er darauf verweisen konnte, daß es so etwas wie real existierende Ideen gibt. Zunächst als vergöttlichte Männerkörper in der gebundenen archaischen Gestalt des Kuros mit den am Oberschenkel angelegten Händen und später in der gelösteren Gestalt, die einen Schritt nach vorne tut. Und dann die sich vom Körper lösenden Arme – am Ende fast tänzerisch verklärte Körpererscheinungen, die im römischen Manierismus zu einer unglaublichen Höhe weitergebildet werden. Die zweite Voraussetzung des Platonismus ist noch viel unscheinbarer. Statuen springen ins Auge, werden aber in der Regel vom Betrachter nicht reflektiert, weil er sie nur als herumstehende Objekte wahrnimmt. Wir können die Statuen aufstellende Gebärde, also den Denkakt, der dazu führt, daß man einen menschlichen Körper auf solche Weise erhöht und sichtbar macht, heute nicht mehr recht nachvollziehen. Zumindest konnten wir es bis 1900 nicht, als die neue Kultur der Models aufkam und wir auch die Freude an der Körperpräsentation wieder entdeckten.
Der andere Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, daß die Griechen bereits diese mysteriösen 24 oder 25 Schriftzeichen hatten, die die gesamte Sprache mit lautbildlicher Präzision wiedergeben konnten. Wenn Plato nach dem Urbild eines Urbilds gesucht hätte, was er aufgrund seines Eingetauchtseins in die Schriftkultur nicht tat, wäre er unweigerlich beim Buchstaben gelandet, der auf griechisch Element heißt. Die eigentliche Elementarisierung, die Sequenzierung des Seienden in kleinste Teile, ist eine Nebenfolge des Umstands, daß die Griechen das in ihrer Schrift bereits getan hatten. Bis vor kurzem war es auch die einzige erfolgreiche Form der Sequenzierung des Seienden. Erst im späten 18. Jahrhundert tauchten Tafeln der chemischen Elemente auf, die wir bis auf den heutigen Tag weiterschreiben. Authentische Sequenzierungen des Seienden kann man daran erkennen, daß man mit den freigelegten Elementen Rekombinationen vornehmen und Existierendes exakt abbilden kann. Mit dem, was darüber hinaus geht, kann man wieder neue Kombinationen erzeugen. Aus dieser Kombinatorik entsteht die erste Form von Kreativität. Das heißt, wir erzeugen durch Kombinationen von Elementen etwas Neues. Insofern war die Kabbala gar keine so dumme Sache.
Die Kabbalisten nahmen die Kunst, aus Buchstaben Wirklichkeiten zu machen, so ernst, daß sie glaubten, sie könnten durch Buchstaben-Manipulationen die Schöpfung rekapitulieren und gewissermaßen daran mitarbeiten. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir schreiben den Dienstag der zweiten Schöpfungswoche, und in dieser geht man – was das Kombinieren und das Rekombinieren von Schöpfungsmaterie angeht – weit über die rudimentären Verfahren der ersten Woche hinaus.
[...]
SINN UND FORM 6/2013, S. 864-877
Osterkamp, Ernst
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- 4/2021 | Der Schmuckeremit. Jean-Jacques Rousseau und die exzentrische Betrachtung der Einsamkeit, S. 437 Leseprobe
Overhoff, Jürgen
Der Schmuckeremit. Jean-Jacques Rousseau und die exzentrische Betrachtung der Einsamkeit
Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei.
(Genesis, 2,18)Der menschliche Atem ist seinesgleichen tödlich;
das gilt im eigentlichen nicht weniger als im übertragenen Sinn.
(Jean-Jacques Rousseau, Emile)1
Seit es menschliche Aufzeichnungen gibt, wird an allen Orten und Enden der Welt von Einsiedlern berichtet, von freiwillig im Abseits lebenden Einzelgängern, die sich den verbindlichen Zusammenhängen von Gemeinschaft und Gesellschaft auf Dauer entziehen. In der Literaturgeschichte kommt diesen in selbstgewählter Abgeschiedenheit hausenden Gestalten sogar eine herausragende Bedeutung zu. Die ältesten Werke und Epen verdanken ihnen ihre Wirkung oder gar Entstehung. Das Grundbuch der altchinesischen Weisheitslehre, Lao Tses jahrtausendealte Spruchsammlung Tao-Te-King, kann erst niedergeschrieben werden, als sich ihr Verfasser im Alter in die Einsamkeit der Berge zurückzieht. Dort, an entlegener Stätte, wohnt er ganz allein bei dem Greis Yin Hsi, der ihn dazu drängt, seine Lebensweisheit in knappen Sentenzen zu bündeln. Erst die steinige und karge Einsiedelei des monastisch lebenden Gastgebers bietet ihm den nötigen Ruheraum, fernab vom Getümmel der Welt seine Gedanken schriftlich zu ordnen. »Zieh dich zurück, wenn die Arbeit getan ist«, lehrt Lao Tse, denn nur »Stille und Ruhe bringen die ganze Welt ins Maß zurück«.
Ein einsam und in einer felsigen Höhle lebender Mann spielt auch beim gewaltigen Auftakt der altgriechischen Literatur eine gewichtige Rolle. Hier ist es der riesenhafte Polyphemos, ein Kyklop, der gleich am Beginn der europäischen Dichtung von Homer in seiner Odyssee als archetypischer Einzelgänger geschildert wird. Anders als der legendäre Chinese, dessen entrückte Zuflucht im Gebirge als Winkel kontemplativ-schöpferischer Muße gepriesen wird, ist der griechische Hüne ein abstoßender Outcast, den Homer in den widerwärtigsten Farben malt. Die Einsamkeit des Polyphemos ist gekennzeichnet durch Wildheit und Willkür, er ist ein Mann, dem Gesetze nichts gelten und der weder willens noch fähig ist, durch Kultur zu glänzen. Ackerbau, Technik, Wissenschaft oder Literatur bedeuten ihm nichts, in seinem Alleinsein ist er ganz roh. Nur über ein einziges Auge verfügend, ist er mit einem Tunnelblick ausgestattet, der ihn einzig auf die Befriedigung der basalen körperlichen Bedürfnisse schauen läßt. »Er kümmert sich nicht um den andern«, heißt es lakonisch im neunten Gesang der Odyssee, und damit ist zugleich gesagt, daß der asoziale Kyklop nicht einmal über sich selbst und seine eigene dürftige Existenz reflektiert. Ohne Teilnahme an einer wie auch immer gearteten öffentlichen Versammlung, auch ohne den stillen Dialog mit sich selbst, bewegt sich der einsame Polyphemos in einem Zustand gefräßiger Lethargie und Stumpfheit. Bei Homer entbehrt die Einsamkeit jeder Verheißung. Die selbstgewählte Isolation ist hier der genaue Gegenentwurf zur Zivilisation.
Wieder anders stellt sich die Lage in den ältesten Passagen der heiligen Schriften Israels dar. Der Prototyp und Inbegriff eines Einsiedlers ist hier der Prophet Elia. Er begibt sich für lange Zeit in ein abgelegenes Tal, wo er auf eine Eingebung seines Gottes JHWH wartet. Nahrung bieten ihm dort nur die wenigen Brotreste und Fleischbrocken, welche die Wüstenraben hinterlassen. Erst nach langem Ausharren in einem vollständig ausgetrockneten Flußbett kommt »das Wort des HERRN« zu ihm, dem darbenden Propheten, der den göttlichen Zuspruch als Signal zum Aufbruch aus der Einsamkeit versteht. Doch wiederholt Elia zu späterer Zeit noch einmal seinen Weg in die Stille. Er geht »in die Wüste« – ἐν τῇ ἐρήµῳ [en te eremo] heißt es im griechischen Text der Septuaginta – und haust dort als Eremit, also als ein einsamer Bewohner dieser Ödnis und Wüstenei. Schutz bietet ihm allein eine Höhle auf dem Berg Horeb. Auch jetzt wird ihm die Rückkehr in die Gemeinschaft der Menschen erst gestattet, als er nach aufmerksamem Hören das Wort seines Gottes wie »ein stilles, sanftes Säuseln« vernimmt.
Die Urschriften des Christentums, die für das Verständnis der Einsiedelei in Europa bis in die Neuzeit maßgeblich sind, orientieren sich ausdrücklich und wiederholt am Propheten Elia als Vorbild des alleinlebenden Gottsuchers. Im Lukasevangelium wird auch der Messias Jesus von Nazareth in die Tradition des Elia gestellt: Im vierten Kapitel verbringt Jesus vierzig Tage allein in der Wüste – auch im neutestamentlichen Koine-Dialekt heißt es im Griechischen hier ἐν τῇἐρήµῳ –, bis er erst im unbedingten Vertrauen auf Gottes Wort die Kraft des Geistes verspürt, die es ihm ermöglicht, wieder die Gemeinschaft der Menschen aufzusuchen, denen er sogleich von den nachahmenswerten Taten des großen Elia berichtet, mit dem er sich ausdrücklich und vorbehaltlos identifiziert. In der Übertragung der Vulgata prägen diese Geschichten dann die gesamte lateinische Christenheit und ermuntern asketisch gesinnte Menschen dazu, es Elia und Jesus gleichzutun, um in einer Einöde – dem klassischen desertus locus – als einsame Gottsucher auszuharren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß der Verfasser der Vulgata, der heilige Hieronymus, in seiner Jugend zunächst einsam in der Wüste Syriens lebt, bevor er bereit ist, sich in Bethlehem seinem umfassenden schriftstellerischen Werk zu widmen. Die syrische Wüste ist dann auch der Ort, an dem sich in der Nachfolge des Hieronymus der Eremit Symeon aufhält, um dort als Stylit, also als ein auf einem hohen steinernen Turm lebender, langbärtiger Anachoret, als sogenannter Säulenheiliger, ein besonders extremes Einsiedlerdasein zu führen, das in den spätantiken und mittelalterlichen christlichen Hagiographien eine vielbeachtete Rolle spielt.
Bis weit ins 18. Jahrhundert – ein Zeitalter, in dem sich Aufklärer und Dichter gleichermaßen von der altchinesischen Philosophie, Homer, der Bibel oder auch den Schriften der Kirchenväter inspirieren lassen – ändert sich in Europa das auch in der Literatur festgehaltene Bild vom Einsiedler kaum. Der Eremit gilt als radikaler Einzelgänger, der über einen langen Zeitraum hinweg fernab der Menschen siedelt und sich zu einem solchen Lebensentwurf auch bewußt entschlossen hat. Er kann zwar, wie Polyphemos, entweder ein dumpfer und kulturloser Rohling sein oder, ganz im Gegenteil, wie Lao Tse, Elia, Jesus, Hieronymus und Symeon ein schöpferischer Sucher der stillen Einsamkeit, die als konzentrierter Raum dichterischer Inspiration oder göttlicher Erkenntnis geschätzt wird. Doch immer ist es ein klarer und fester Vorsatz, der dazu führt, daß der Einsiedler der Welt für eine lange Weile entsagt: Entweder ist man Eremit oder man ist Weltmensch, es gibt kein halbherziges Dazwischen, kein Sowohl-Als-auch. Für die Dauer des Aufenthalts in der Einsamkeit hat das Resultat der persönlichen Entscheidungsfindung einen fest umrissenen Ort.
Erst im Jahrhundert der Aufklärung, einem so innovativen wie extravaganten Säkulum, das durch vielfältige innere Spannungen und offenkundige seelische Zerrissenheit gekennzeichnet ist, taucht unvermutet eine neue, seltsame und geradezu bizarre Einsiedlergestalt auf, die es so zuvor noch nirgends gab und die symptomatisch ist für den Beginn der Moderne. Diese ganz und gar ungewöhnliche Figur ist eine Erfindung der englischen Aristokratie, deren Spleen sie entspringt, wobei sie sich dann rasch auf dem europäischen Kontinent verbreitet, um dort nicht nur die Imaginationskraft des Adels zu beflügeln. Diese genuin neuzeitliche Erscheinungsform des Einsiedlers steht für das aufkeimende Gefühl einer prinzipiellen Unentschiedenheit, für das durchaus beklemmende emotionale Dilemma, es weder in der Gesellschaft noch in der Einsamkeit ganz aushalten zu können. Sie ist der Versuch einer spielerischen Flucht aus einer Kalamität, der man nur mit den Mitteln der Skurrilität entkommt. Die Rede ist von jenen sich zuerst in den Landschaftsparks der Nobilität verdingenden Einsiedlern, deren Vertreter man in England als Garden Hermit kennenlernt und in Frankreich dann als Ermite de Jardin bewundern kann. Seinen vielleicht schönsten Namen erhält dieser sonderbare Typus des Einsiedlers jedoch in Deutschland. In einer entzückenden Wortkreation heißt er dort »Schmuckeremit«.
SINN UND FORM 4/2021, S. 437-452, hier S. 437-440
Owsepjan, Ruben
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