Hartlaub, Felix
(1913–1945), Schriftsteller und Historiker.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2014 | Platon und der Staat. Mit einer Vorbemerkung von Karl Corino
- 3/2017 | »In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien
- 4/2017 | Neapolitaner Aufzeichnungen. Ediert von Nikola Herweg und Harald Tausch
- 2/2020 | »Ich stelle mir eine Stadt vor«. Ein rätselhaftes Fragment. Mit einer Vorbemerkung von Jannis Wagner
Vorbemerkung von Karl Corino Centenarfeiern für einen poeta absconditus wie Felix Hartlaub, der im Juni 2013 hundert geworden wäre, mögen in (...)
LeseprobeHartlaub, Felix
Platon und der Staat
Vorbemerkung von Karl Corino
Centenarfeiern für einen poeta absconditus wie Felix Hartlaub, der im Juni 2013 hundert geworden wäre, mögen in der breiten Öffentlichkeit ohne sichtbare Wirkung bleiben – für die literarhistorische Forschung können sie ein Anlaß sein, nach unbekannten Dokumenten zu suchen oder sich bislang unbeachteten Jugendwerken zuzuwenden, die in Archiven die Zeitläufte überdauert haben. Beides ist in seinem Fall geschehen: In den Beständen der Odenwaldschule wurde eine um 1932 entstandene umfangreiche Studie Hartlaubs über Platon entdeckt, und unter Materialien der Berliner Universität, die verblüffenderweise die Bombardements des Zweiten Weltkriegs überstanden haben, fanden sich die Promotionsakten des Doktoranden. Diese enthalten eine Reihe aufschlußreicher Zeugnisse, etwa diesen Lebenslauf:
»Ich, Gustav Adolf Felix Hartlaub, wurde am 17.6.1913 als Sohn des Kunsthistorikers Dr.G.F.Hartlaub und seiner Gattin Felicie geb. Meyer zu Bremen geboren. Meine Kindheit verbrachte ich in Mannheim, wo ich die Volksschule und das humanistische Gymnasium bis zur Obertertia besuchte. Aus Gesundheitsrücksichten trat ich dann in das Landerziehungsheim Odenwaldschule bei Heppenheim ein, wo ich im Herbst 1932 die Reifeprüfung ablegte. Im Wintersemester 1932/33 hörte ich an der Handelsschule in Mannheim nationalökonomische Vorlesungen. Mitte Februar 1933 besuchte ich Verwandte in Neapel, wo ich bis zum Juni blieb und archäologische, kunstgeschichtliche und Sprachstudien trieb. Im August erwarb ich das Sprachlehrerdiplom der Fremdenuniversität Perugia. Im Wintersemester 1933/34 und im Sommersemester 1934 studierte ich in Heidelberg romanische Philologie und genügte meiner studentischen Arbeitsdienstpflicht; im Anschluß daran nahm ich an einem Lehrgang der Geländesportschule Adelsheim teil. Im W.S.1934/ 35 bezog ich die Berliner Universität, nachdem ich meine Studienabsichten geändert und Geschichte als Hauptfach gewählt hatte. Im Sommer 1936 erhielt ich von Herrn Prof. Elze das Thema meiner Dissertation.«
So beschreibt Hartlaub am 7. Juni 1938 seinen Bildungsgang bis zur Arbeit über Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Dieser war offenbar von den Prinzipien des deutschen humanistischen Gymnasiums bestimmt – mit einem altsprachlichen Unterricht von erstaunlich hohem Niveau. In der Reformschule im Odenwald wurden die klassischen Texte auf ihren philosophischen Gehalt befragt und nicht bloß als Turnstangen für grammatische Übungen benutzt.
Die sorgfältig ausgefüllten Fragebogen des Promotionsakts zeigen aber auch, wie eifrig der neue Staat nach 1933 an der ideologischen Gleichschaltung der Studentenschaft arbeitete – die Instrumente waren der Arbeitsdienst, die Arbeitsgemeinschaften der Fachschaften (im Wintersemester 1933/34 und im Sommersemester 1934 nahm Hartlaub an zwei AGs zur politischen Erziehung teil) und die studentische SA, der Hartlaub vom 15. November 1933 bis zum 1. Januar 1935 angehörte. Unklar das Motiv und die offizielle Begründung seines Austritts; man konnte Arbeitsüberlastung vorschützen. Ganz ungefährlich war er nicht, aber mögliche Nachteile nahm Hartlaub in Kauf. So unbestreitbar sein Widerwille gegen die körperliche und geistige Uniformierung war – die Verbrennung der braunen Kluft, im Gespräch mit der Schwester erwogen, dürfte rebellisches Gedankenspiel geblieben sein. Der Doktorvater Walter Elze, George-Jünger und NSDAP-Mitglied, bescheinigte dem Kandidaten Hartlaub am 13. Juni 1938, die Dissertation sei in »kameradschaftlichem Arbeitsverhältnis« unter seiner Aufsicht entstanden. Entsprechend befriedigt zeigte er sich in seinem Gutachten vom 5. Juli:
»Als ich dem Verf. die Aufgabe stellte, lag mir daran, seine Kenntnis u. a. des Spanischen wie Italienischen für einen Gegenstand auszunutzen, der auch für die weitere deutsche Geschichte Bedeutung hat. So kam ich auf Don Juan d’Austria. Der sehr gut veranlagte und sehr genau arbeitende Verf. hat zu dieser Arbeit umfängliche Studien betrieben. Eine geplante Reise zu den Archiven wurde durch die polit. Ereignisse unmöglich. Trotzdem bietet die Arbeit durch Ausbeutung der span., ital. u.s.w. Literatur für die Erforschung Don Juan d’Austrias wichtige Ergebnisse.
Der Verf. richtet sein Hauptaugenmerk auf die Person Don Juans und seine persönl. Beteiligung an dem Sieg. In Exkursen bietet er reiche Beiträge für eine vollständige Lebensbeschreibung. (…) Die Frage nach den Folgen der Schlacht zeigt den Verf. Als unvoreingenommenen Betrachter, der sich den Blick über die unmittelbaren Ereignisse hinweg zu weltgeschichtlichen Zusammenhängen offenhält.«
Das Prädikat »sehr gut« ist nach solchem Lob nicht verwunderlich, es wurde durch das Rigorosum vom 16. Februar 1939 bestätigt. Es scheint, als habe der Doktorvater seinen in den Seminaren offenbar stillen, zurückhaltenden Schüler erst in der Prüfung richtig kennengelernt: »Dieser Hartlaub – ich dachte, Sie wären so ein verhutzelter Nußler – plötzlich können Sie reden, packen ganz groß aus.« So der Bericht des Kandidaten an seinen Vater. Die politischen Fragen, etwa nach dem Zusammenhang von »Staat. Partei, Rasse. Weltpolitik«, habe Elze »nur im Protokoll« behandelt, und augenscheinlich entwickelte er gegen den Sohn eines aus politischen Gründen schon 1933 entlassenen Museumsdirektors keinen soupçon, während der Dekan Koch, wohl wegen Hartlaubs südländischen Aussehens und seiner langen Nase, einen sozusagen physiognomischen Verdacht schöpfte, der Prüfling könne etwas Jüdisches haben. Dieser Spectabilität, einem »Mittelding zwischen Ober und Hausdetektiv«, habe sein Anblick »immer einen hörbaren Prell« gegeben, »den er auch am Schluß beim feierlichen Handschlag nicht zu unterdrücken vermochte«.
Schon vor seiner Doktorprüfung, während der Konferenz von München, war Hartlaub im Rahmen seiner Wehrpflicht Kanonier einer Luftsperrbatterie in Kaiserslautern, und es war abzusehen, daß er statt des Doktorhuts das Käppi des Flaksoldaten tragen werde. Doch bei seiner mangelnden militärischen Begabung und dem fehlendem Ehrgeiz, ja der Obstruktion gegen Beförderung waren die Aufstiegschancen äußerst gering.
Als Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselte, diente Hartlaub bei der wenig ruhmreichen Truppe, die den Luftraum über Norddeutschland und dem Ruhrgebiet schützen sollte – unfreiwilliger Helfer Görings, der bekanntlich Meier heißen wollte, falls feindliche Flugzeuge ins Reichsgebiet eindringen sollten. Hartlaub begann damals mit den Aufzeichnungen, die seine militärische ›Laufbahn‹ begleiteten und Teil seines klandestinen Werks wurden. Zur Verwunderung der Schwester Geno (Genoveva) gewann er selbst der langweiligsten, ödesten Umgebung eine farbige, pointierte Prosa ab. Der wirkliche Schriftsteller braucht eben keine Sensationen, ihm genügen petits faits.
Daß er die Gegend um Wilhelmshaven oder den Bannkreis des Luftgaupostamts Hannover gegen andere, prominentere Regionen tauschen würde, war damals nicht zu ahnen. Dazu kam es allerdings nach dem triumphalen Sieg der Wehrmacht über Frankreich. Eine Kommission sollte die Akten des Quai d’Orsay studieren, um die französische Außenpolitik rekonstruieren zu können, und Prof. Elze, dem man Beziehungen zu Himmler nachsagte, wurde offenbar gefragt, wen aus seiner Schülerschar man für diese heikle Aufgabe brauchen könne: Der Betreffende mußte natürlich ausgezeichnet französisch sprechen, Landeserfahrung haben und das Handwerk des Historikers beherrschen. All das traf auf Felix Hartlaub zu. Schon als Jugendlicher hatte er mit seinem Vater das Nachbarland bereist und Paris besucht. Nun wurde er als kleiner Gefreiter in die Hauptstadt des geschlagenen Feindes abkommandiert und beugte sich über die Papiere der geflohenen Diplomaten. Neben den Gutachten entstand eine Reihe geheimer privater Texte, die einen wichtigen Teil seines Œuvres ausmachen und deren eindrucksvollster gewiß der über den verwaisten Quai d’Orsay ist. Wäre der Begriff nicht für die Kunst von Manet, Monet, Renoir etc. reserviert, könnte man geradezu von einem Hartlaubschen Impressionismus sprechen. Mit ungemein feinem Pinsel zeichnet er Stadtlandschaften und menschliche Begegnungen – bis hin zur »Weltwende im Puff«, dem Überfall auf die Sowjetunion aus der Perspektive eines Bordellbesuchers in Lutetia.
Von ähnlicher Qualität sind seine Aufzeichnungen, nachdem er zum Verfassen des Kriegstagebuchs in die Führerhauptqartiere nach Winniza (Ukraine) und in die Wolfsschanze (Ostpreußen) abkommandiert wurde, oder seine Notizen über die Fahrt mit dem Sonderzug des FHQs nach Berchtesgaden. Sie machen einen bedeutenden Teil der Schubladenliteratur des Dritten Reiches aus, nicht quantitativ, wohl aber im Hinblick auf ihren dokumentarisch-zeitgeschichtlichen Wert und ihre stilistische Brillanz. Sollten eines Tages die militärhistorischen Schriften Hartlaubs – sprich: die von ihm stammenden Teile des Kriegstagebuchs – neu ediert werden, könnte man überlegen, sie im Paralleldruck mit diesen Texten wiederzugeben. Der Kontrast könnte nicht größer sein.
Editorische Fragen stellen sich nach Hartlaubs hundertstem Geburtstag in vielerlei Hinsicht. Es gibt keine Centenarausgabe wie bei Autoren, die bereits zu Lebzeiten Klassiker wurden. Eine Briefausgabe wäre fällig, ein Neudruck der Dissertation, aber auch seines Jugenddramas über den Bauernkrieg von 1525, das in der Odenwaldschule aufgeführt wurde. Zu den noch in toto zu edierenden Jugendschriften aus dem Archiv der Odenwaldschule gehört auch das rund achtzigseitige Typoskript über Platon und den Staat, das sich – wie auch der in Hartlaubs Einleitung erwähnte »Bericht von einem Platonkurs« – im Bestand des Lehrers Dr. Werner Meyer erhalten hat. Dieser Kurs legte offenbar das Fundament für Hartlaubs umfangreiche Hausarbeit – im Einklang mit dem pädagogischen Prinzip, durch den Unterricht die eigenständige geistige Tätigkeit des Schülers anzuregen (wenn auch gewiß nicht jeder den Stoff mit gleicher Denkkraft durchdringen und seine Thesen formulieren konnte).
Rechnet man die Leistung Hartlaubs auf spätere Lebensjahre hoch, so kann man guten Gewissens behaupten, eine Laufbahn als Philosophiehistoriker auf einem Universitätslehrstuhl wäre möglich gewesen. Ausgestattet mit einer profunden Kenntnis der platonischen Dialoge und wichtiger Forschungsliteratur, folgt er der Denkbewegung ihres Urhebers auf eine Weise, die über das Vermögen eines gewöhnlichen Pennälers weit hinausgeht. Akribisch registriert er, welch vielfältigen Einschränkungen die Dichtung und die Künste überhaupt, etwa die Musik, in Platons idealem Staat unterworfen sein sollten. Warum, beschreibt er so:
»Wenn das Maß, die Verfassung des Chorliedes verkehrt wird, wenn der Text sich zu einer Wiederholung eintöniger Rufe der Klage oder des Jubels auflöst, die Musik zu einem dröhnenden Wirbel aller Instrumente und die Körperbewegung, sonst ein beschwingtes Schreiten, zu einem Aufruhr aller Glieder wird, ist schwerster Schaden für die Seele zu befürchten. Platon hatte sicher einmal erlebt, wie vom dionysischen Taumeltanze des Chores ergriffen, alle Besucher des Theaters von ihren Sitzen aufsprangen, um sich gegenseitig zu zerfleischen, zu umarmen oder wie, bei Aufführung irgendeiner grausigen alten Sage, der Zuschauerraum außer sich in das Rufen der Mörder, das Wimmern der Erschlagenen mit einstimmte. Den Neuerungen der Kunst, der Erfindung immer neuen Gelärmes, der Einführung asiatischer Tonarten, atemloser Rhythmen schrieb Platon die größte Schuld am Niedergang des athenischen Staatswesens zu.«
In abenteuerlicher Monokausalität führte Platon die stete »Aufregung der Demokratie, die Angst, das gegenseitige Mißtrauen«, den lächerlichen »Redestrom der Rhetoren und die vor Begeisterung sich verschluckende Volksmenge« auf die Ausbreitung des Theaterlärms in Volksversammlung und Prytaneion zurück. Das machte bestimmte Verdikte im idealen Staat unausweichlich. Verbote und Gebote waren darin in einer spezifisch platonischen Weise kombiniert – Hartlaub erkennt in Platons »Nomoi« eine »Mischung von geschichtlicher Einfühlung und listiger Verwirklichung der eigenen Phantasie«. Im antiken Gedankenexperiment waren agrarstaatliche, sozialistische, antimonetaristische, demokratische und oligarchische Vorstellungen miteinander vereint, wobei Platons Modellbürger ganz selbstverständlich Sklavenhalter waren. Mochte sein utopischer Staat Anregungen für Gesellschaftsreformer aller Art bilden – ein Vorkämpfer der Menschenrechte, so möchte man Hartlaub ergänzen, war Platon nicht. In »Platon und der Staat« heißt es: »Der Staat ruht auf rein agrarischer Grundlage, jeder Bürger wohnt auf einem unveräußerlichen Grundstück, Größe und Zahl dieser Grundstücke ist für ewig festgelegt, sie werden von Sklaven bebaut, während fremde Handwerker die dazu nötigen Geräte herstellen und von den Grundbesitzern ernährt werden. Innerhalb des Staates gibt es keinen Geldverkehr, nur Austausch der Erzeugnisse und Kleinhandel, der nur allein auf öffentlichem Markte vor sich gehen darf. Dem Vermögen sind feste Grenzen gesetzt« usw.
Auch wenn Platon von der Idee der Gütergemeinschaft abgerückt war – ein Vergleich mit Sowjetrußland nach der Landreform hätte nahegelegen. Die Odenwaldschüler befaßten sich zwar, wie die Schwester Geno bezeugt, in privaten Zirkeln mit dem Marxismus, und Hartlaub ließ in einem langen Brief vom 17. Februar 1932 durchaus Kenntnisse der UdSSR erkennen, aber im Unterricht war offenbar Zurückhaltung angesagt. Ein Brückenschlag über die Zeiten hinweg fand jedenfalls nicht statt, er hätte aus dem gräzistischen Musterschüler einen Meisterschüler gemacht.
Wir wissen nicht, ob Hartlaub nach dem 30. Januar1933 noch in platonischen Kategorien dachte. Mitunter sprangen die Parallelen zwischen der Antike und der braunen Gegenwart ins Auge: »Erst am Ausgang der griechischen Geschichte«, schreibt der Gymnasiast in seiner hier nur ansatzweise referierbaren Hausarbeit, »findet sich das Streben nach Weltherrschaft, erst der Alexanderzug zieht vorbei an allen Staatenbildungen des Abend- und Morgenlandes, war auf Krieg und Besitz endloser Länderstrecken gestellt: erst damals wird der Krieg nicht mehr geführt vom Selbsterhaltungstrieb der einzelnen Städte, in dem jeder Krieger für seine Heimat als den Herd seines eigenen Lebens, für den Staat als seinen Vater und Lehrer kämpft, sondern vom Erobererdrange der barbarischen Persönlichkeit, die nach Menge und Weite trachtet und nicht die weise Beschränkung auf den gegebenen politischen Rahmen kennt, die Beschränkung, die nicht den Zahlenerfolg, sondern die politische Tüchtigkeit an sich bewertete.«
Erst kurz vor dem Ende seines jungen Lebens – er verschwand spurlos in den qualmenden Ruinen Berlins – und dem des angeblich tausendjährigen Reichs entwarf der Gefreite Hartlaub eine phantastische Szene mit jenem anderen Gefreiten, der für zwölf Jahre zum Tyrannen geworden und jämmerlich gescheitert war, nachdem er die halbe Welt ruiniert und Millionen Menschen in den Tod gestürzt hatte. Eine Art platonische Umkehr: Angesichts der totalen Katastrophe fragt der Täter den Denker um Rat: »Der Führerbunker, nichts Ausweis, nichts Durchsuchung. Tiefe Polstersessel, ein Strauß Gladiolen, das Bismarckbild mit den sprühenden Augenbrauen, den durchwachsenen Augenbällen, die Rute des Wolfshundes klopft den Teppich. ›Also, ich schaffe es nicht mehr, bin am Rande. Sagen Sie mir, wie Sie es sich denken …‹"
SINN UND FORM 1/2014, S. 48-52
Vorbemerkung Italien: Sehnsuchtsland der Deutschen. Nicht nur Touristen zieht es gen Süden, auch Schriftsteller konnten und können sich der Faszination des Landes nicht entziehen, wie sich an alpenähnlich hohen Bücherbergen zeigt. Während Goethe in Italiens Kunst und Landschaft noch Arkadien zu finden meinte, blickte mancher seiner Zeitgenossen schon kritisch auf das Land, wo die Zitronen blühn – zum Beispiel Johann Gottfried Seume, der auf seinem fast einjährigen »Spaziergang« durch Italien gerade auch dessen Schattenseiten beschreibt. Später setzte tatsächlich eine Art Italienverweigerung ein. Die Kritik entzündete sich unter anderem am Massentourismus, (...)
LeseprobeHartlaub, Felix
»In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien 1933
Vorbemerkung
Italien: Sehnsuchtsland der Deutschen. Nicht nur Touristen zieht es gen Süden, auch Schriftsteller konnten und können sich der Faszination des Landes nicht entziehen, wie sich an alpenähnlich hohen Bücherbergen zeigt. Während Goethe in Italiens Kunst und Landschaft noch Arkadien zu finden meinte, blickte mancher seiner Zeitgenossen schon kritisch auf das Land, wo die Zitronen blühn – zum Beispiel Johann Gottfried Seume, der auf seinem fast einjährigen »Spaziergang« durch Italien gerade auch dessen Schattenseiten beschreibt. Später setzte tatsächlich eine Art Italienverweigerung ein. Die Kritik entzündete sich unter anderem am Massentourismus, der das Land verschlossen habe, statt es zu erschließen – glaubte jedenfalls Rudolf Borchardt. Wolfgang Koeppen schließlich konstatierte, Italien beziehungsweise Rom als Projektionsflächen hinterfragend: »Die Tradition, die Kultur hat sich in einen endgültig leeren Haufen Ruinen verwandelt, die niemanden mehr erschüttern.«
Warum sich also den Zeugnissen eines weiteren Vertreters dieser reisenden Literaten zuwenden, den, in Anbetracht seines schmalen OEuvres, erstaunlich zahlreichen Texten mit Italienbezug von Felix Hartlaub? Außer seiner einzigen vollendeten Novelle »Parthenope oder Das Abenteuer in Neapel« (die in der Zeit spielt, in der Seume seine Reise antrat, und in der Hartlaub sich ebenfalls der sozialen Verhältnisse des Landes annimmt) und dem posthum unter dem Titel »Italienische Reise« edierten Bericht von 1931 existieren vor allem substantielle Briefe, die der Student aus Italien an seine Familie schrieb und denen er selbst offenbar literarische Qualität zusprach.
Daß Felix Hartlaub Schriftsteller werden wollte und Italien als wichtige Bildungsetappe ansah, genügt nur bedingt, um ein tiefergehendes Interesse an jenen Briefen zu begründen, die der 1913 Geborene ins heimische Mannheim sandte. Zwar sieht man in diesem Briefwerk durchaus einen Schriftsteller am Werk, der die früh entdeckte eidetische Begabung, Wahrnehmungen fast überscharf wiederzugeben, an unvertrauten Landschaften und Städten erprobte – die Lust an der Ausbildung eines ganz eigenen Stils ist in jedem Brief spürbar. Doch die eigentliche Bedeutung der umfangreichen Nachrichten aus Italien ist eine andere.
Noch vor dem Abitur war es zu einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem Land gekommen. Die Odenwaldschule hatte in dem nicht nur für sie finanziell schwierigen Jahr 1931 das Projekt des Lehrers Werner Meyer genehmigt, mit einem guten Dutzend Zöglingen in Italien zu wandern – und zwar nicht etwa in der lieblichen Landschaft um die oberitalienischen Seen, die man natürlich auch nicht ausließ, sondern in den touristisch noch kaum erschlossenen Cinque Terre, jenen nur vom Wasser oder eben zu Fuß zugänglichen fünf Städtchen an der Steilküste südlich von Genua. Hartlaub führte ein Skizzenbuch mit sich, in dem er immer wieder zeichnete, vor allem aber das Gesehene mit Worten festhielt. Dieses frühe Wandertagebuch, das wir 2013 in der Bibliothek Suhrkamp veröffentlicht haben, enthält neben einigen Kuriosa, etwa der Reaktion der Italiener auf das gemeinsame Campieren der männlichen und weiblichen Odenwald-Sprößlinge im Schatten des Schiefen Turms von Pisa, deutliche Hinweise darauf, daß Hartlaub sich hier an Schreibverfahren wagte, die seine zeichnerische Begabung gleichsam in einem anderen Medium fortsetzten. Nicht die Briefe aus Florenz und anderen Orten der Toskana waren das wichtigste Medium zur Erprobung seines Stils, sondern das tagebuchartige Skizzenbuch. Zudem bestritt die Odenwaldschule eine Ausgabe ihrer Schülerzeitung »Neuer Waldkauz« weitgehend mit Berichten von dieser sogenannten Homerwanderung: Hartlaubs Notate stechen vom Geschreibsel der übrigen Schüler deutlich ab. Zwei Jahre später, als er unter ganz anderen Bedingungen nach Italien zurückkehrte und auch viel länger blieb, wurden die Briefe zum Experimentierfeld, in dem etliches erprobt, wieder aufgegriffen und variiert werden konnte.
Doch warum zog es Hartlaub abermals in den Süden? Da war zunächst der Wunsch des Abiturienten und seines Vaters, die Grundlage für eine Karriere als Romanist zu schaffen. Hartlaub hatte unmittelbar nach dem Abitur zu studieren begonnen, sich von dem eher kaufmännisch orientierten Mannheimer Lehrbetrieb aber bald wieder abgewandt. Nun strebte er eine akademische Laufbahn an, etwa als Lehrer für Romanistik und Geschichte. 1933 war es allerdings keine leichte Entscheidung, in den Staatsdienst einzutreten – vor allem, wenn man die Moderne, die französische Literatur und die italienische Landschaft so sehr liebte wie Hartlaub. Noch dazu war Italien seit 1922 ein faschistisches Land, wo man mit dem, was Deutschland bevorstand, bereits konfrontiert wurde. Möglich, daß Hartlaub deshalb die Hauptstadt mied und lieber nach Neapel ging. Natürlich war auch Neapel keine Exklave, in der man vom Faschismus unbehelligt blieb. Wie die Briefe zeigen, war die dortige Archäologie – eine Modewissenschaft des Faschismus, wie Hartlaub feststellte – von Parteigrößen infiltriert. Dennoch bot das Institut Andersdenkenden Unterschlupf und Freiräume für Gespräche. Zudem war Neapel die Stadt des verfemten Benedetto Croce, in dessen unmittelbarer Nähe Hartlaub sein Quartier aufschlug – dank der Kontakte seines Vaters zu Hilda Ferraro, einer gebürtigen Österreicherin und entfernten Verwandten von Gustav Hartlaubs Mutter. Auch zog die Stadt viele Denker an, die man später der Kritischen Theorie zurechnete und von denen einige, wie Theodor W. Adorno, mit den Hartlaubs in Kontakt kamen. Sie alle beschrieben Neapel als Stadt des Porösen, Durchlässigen, Hybriden.
Von hier aus erlebte der neunzehnjährige Hartlaub, der kurz zuvor seine Mutter verloren hatte, eine weitere Familienkatastrophe mit: die Entlassung des Vaters aus dem Amt des Direktors der Kunsthalle Mannheim und seine Verleumdung als Kulturbolschewist. Gustav Friedrich Hartlaub hatte sich den Ruf eines bedeutenden Förderers moderner Kunst erworben. Ausgebildet bei Gustav Pauli in Bremen, dann unter Fritz Wichert in Mannheim tätig, hatte er eine Fülle überregional beachteter Kunstausstellungen initiiert und kuratiert. Diese erregten nicht nur das Mißtrauen der Berliner Behörden, sondern weckten auch die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen, darunter Walter Benjamin, der Hartlaubs auf seiner wohl berühmtesten Ausstellung beruhendes Buch »Der Genius im Kinde« begeistert rezensierte. Bereits in der Endphase der Weimarer Republik war es zu Kulturkämpfen zwischen Rechten und Linksbürgerlichen wie Hartlaub senior gekommen, die ahnen ließen, was nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten folgen sollte. In Mannheim erfolgte gleichsam der Probelauf für die 1937 zuerst in München gezeigte Propagandaausstellung »Entartete Kunst«. Der Direktor der Kunsthalle wurde mit Gefängnis bedroht und seine jüngst angekauften Werke – insbesondere Marc Chagalls »Rabbiner« – an den Pranger gestellt.
Darüber hinaus hatte Felix Hartlaub allen Grund, sich aus der Ferne auch um die eben erst »neugestaltete« Familie, wie er mit einer eigentümlichen Wendung sagt, Sorgen zu machen. Der Vater hatte unmittelbar nach der einjährigen Trauerzeit die Bankierstochter und Kunsthallenpraktikantin Erika Schellenberg geheiratet, die Schwester Geno weilte noch auf der nun als Kommunistenschule verunglimpften Odenwaldschule und versuchte vergeblich, ihre Zulassung zum Studium zu erwirken, und auch die Zukunft des kleinen Michael war ungewiß. Dies wie auch die bange Frage, was aus der Rente des auf Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entlassenen fünfzigjährigen Vaters werden und wie es überhaupt finanziell weitergehen würde, klingt in vielen Passagen der Briefe an. Zu große Deutlichkeit mußte Felix Hartlaub aus politischen Gründen vermeiden, aber er meinte wohl auch, als ältester Sohn den Vater eher aufmuntern als belasten zu sollen. Die Eindringlichkeit, mit der Hartlaub Neapel beobachtet und beschreibt, entsteht sicher auch aus dem Wunsch, das frühere Sehnsuchtsland des Vaters, über dessen Kunst dieser promoviert wurde und das er oft bereist hatte, auf trostspendende Weise zu vergegenwärtigen.
Im Chaos der Jahre 1933/34 konnte Italien sogar als möglicher Exilort ins Auge gefaßt werden, wenn man die Ballungszentren der Macht mied oder »poröse« Orte wie Neapel und Perugia aussuchte. Zwar war das Land faschistisch, doch gab es, wie Klaus Voigt in seiner grundlegenden Studie »Zuflucht auf Widerruf« gezeigt hat, Inseln, auf die sich zumindest eine kleine Zahl »Schiffbrüchiger« retten konnte, deren Namen nicht ganz oben auf den schwarzen Listen standen. Daß Felix Hartlaub und vor allem seinem Vater das bewußt war, belegt eine Reihe von Formulierungen in den Briefen. Offenbar überlegte die Familie, den Sohn auf Dauer oder zumindest auf unbestimmte Zeit in Italien zu belassen. Da kein Geld mehr vorhanden war, hätte ein solches Exil auf Probe aber mit Erwerbsmöglichkeiten verbunden sein müssen. Doch Hartlaub entschied sich, fast gegen den Willen seiner Familie und vielleicht aufgrund seiner schärferen Wahrnehmung der politischen Situation, zur Rückkehr; nicht weil er sich einfügen wollte, sondern weil er wohl nur in Deutschland jenen Beobachtungsposten vermutete, auf dem er zum Historiker seiner Zeit werden konnte: als Schriftsteller, der in seinen Aufzeichnungen Erfahrungen eines Lebens bewahrt, das sich täglich radikal änderte. Ein gesellschaftlicher Umbruch, wie er in der Geschichte nur selten vorkommt.
Nikola Herweg und Harald Tausch
SINN UND FORM 3/2017, S.293-317, hier S. 293-295