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Leseprobe aus Heft 5/2008

Bender, Peter

Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989


Vor zwölf Jahren legte der Althistoriker Christian Meier ein Forschungsergebnis vor, das einen Glaubenssatz der Bundesrepublik in Frage stellte. Allgemeine und unangefochtene Überzeugung ist: Um eine schlimme Vergangenheit zu »bewältigen«, muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Meier berichtete, nicht Erinnern, sondern Vergessen sei das Heilmittel, mit dem alle früheren Zeiten versuchten, mit einer bösen Erbschaft fertig zu werden. Der Historiker war die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung brauchten, um wieder zusammenleben zu können. Sein Befund war erstaunlich eindeutig. Allein die Juden schworen auf Erinnerung, und das nicht erst seit Hitlers Holocaust, sondern schon seit den Zeiten des Alten Testaments. Die übrige Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen: »Immer wieder wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Bösem aller Art.«
Manche Beschlüsse, die Meier anführt, beeindrucken schon durch die Kraft ihrer Worte, dahinter wird der Wille spürbar, eine Zeit des Schreckens zu beenden. So nach dem Dreißigjährigen Krieg: »Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben, alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Unkosten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei.« Normalerweise, schrieb Meier, gingen Friedensverträge einher mit »abolitio (Aufhebung), oblivio (Vergessen) oder remissio (Vergeben) des Geschehenen«.
Ganz ähnlich klingt es im Edikt von Nantes, mit dem Heinrich IV. 1598 die französischen Religionskämpfe beendete: Die Erinnerung an das Geschehene solle »ausgelöscht und eingeschläfert sein, wie wenn nichts geschehen wäre« - und das nach der Bartholomäusnacht mit Tausenden von Morden. Der König verbietet Erwähnung und Verfolgung der Untaten, untersagt Erneuerung der Erinnerung. Man solle sich zufriedengeben und friedlich zusammenleben »wie Brüder, Freunde und Mitbürger«. Wer zuwiderhandelt, sei als Friedensbrecher und Feind der öffentlichen Ordnung zu bestrafen.
Natürlich läßt sich Vergessen nicht befehlen und Erinnerung nicht verbieten. In der politischen Praxis ging es daher immer nur darum, tätige Erinnerung zu verhindern: Die Wunden nicht wieder aufreißen und die Täter, von den allerschlimmsten abgesehen, nicht verfolgen, also den Schmerz nicht verlängern und nicht Anlaß schaffen für neue Kämpfe. Auch das ließ sich meist schwer durchsetzen und war nur manchmal von Dauer - immerhin war erst einmal Ruhe geschaffen und die schlimmste Leidenschaft gebändigt. Später hatten sich die Gemüter meistens, wenn auch nicht immer, abgekühlt, und die Zeit tat das Ihre.
Was Meier als historische Erfahrung mitteilt, entspricht allgemeiner Lebenserfahrung. Schon im Alltag gilt: Wenn zwei sich nach großem Streit wieder vertragen sollen, dürfen sie nicht dauernd davon reden, was sie einander angetan haben. Auch wenn sie weder vergessen noch vergeben können, müssen sie schweigen davon, sonst gibt es keinen Neuanfang, keine Versöhnung, kein Zusammenleben. »Seid nicht nachtragend«, sagten schon unsere Mütter.
Meiers Untersuchung blieb ohne nennenswerte Resonanz. Er ist einer der bedeutendsten Historiker des Landes, wurde aber weder diskutiert noch kritisiert; niemand, soweit ich sehen kann, fragte, was seine Ergebnisse für uns Deutsche bedeuten. Zweimal im vergangenen halben Jahrhundert befanden wir uns in einer Lage, wie er sie mit vielen Beispielen beschrieb. Wir brauchten äußeren und inneren Frieden, mußten in ein normales, wo möglich gutes Verhältnis zu unseren Kriegsgegnern kommen und mit der Hinterlassenschaft zweier Fehlentwicklungen fertig werden, der nationalsozialistischen und der kommunistischen. Am schwersten wog die Last beispielloser Verbrechen. Bei der Bewältigung dieser Aufgaben taten wir das Gegenteil dessen, was frühere Zeiten empfahlen. Wir verdammten jegliches Vergessen und schwuren auf Erinnerung.
Das nationale Interesse gebot es. Mit einer nazistischen Nation, einem Volk ganz ohne Einsicht in seine Untaten und ohne Willen zur Wandlung konnte kein Land, das unter den Deutschen gelitten hatte, ein normales Verhältnis schaffen. Umgekehrt stand auch die deutsche Außenpolitik unter dem Diktat der Erinnerung, sie mußte sich bewußt bleiben, daß es nach dieser Vergangenheit nicht das gleiche war, wenn Deutsche das gleiche taten wie andere.
Aber das Erinnern der Nachkriegszeit war nicht allein politisch begründet, sondern auch moralisch. Darin lag seine historische Besonderheit. Normalerweise ziehen Staaten und Völker nur politische Konsequenzen aus einer Niederlage, sie planen einen neuen Krieg oder suchen sich eine friedliche Zukunft, aber sie tun nicht Buße. Normalerweise leugnen und verdrängen Nationen ihre Untaten, die Deutschen aber bekannten sich zu den Verbrechen, die Deutsche zwischen 1933 und 1945 begangen hatten. Zugleich suchten Historiker nach Schuldigen in der deutschen Geschichte, die das Land auf einen Sonderweg geführt und Hitlerherrschaft und -gefolgschaft ermöglicht hätten. Die Politiker schufen eine Bundesrepublik, die frei ist von Machtwahn und Nationalismus und am liebsten nur noch dem Frieden dienen und die Menschenrechte fördern möchte. All das nicht allein aus politischer Erfahrung und Vernunft, sondern aus moralischer Verpflichtung. Vor allem konnte Auschwitz nicht vergessen werden. Für die Opfer war es unmöglich und das Volk der Täter konnte sich, je weiter die Untaten und deren Dimension bekannt wurden, der Verantwortung nicht entziehen. Erinnerung wurde Pflicht.
Die kritische Erinnerung an sich selbst und die praktischen Folgerungen daraus gehören zu den unbestrittenen Leistungen der Nachkriegszeit. Sie hatten kein Vorbild und werden in dieser Konsequenz kaum Nachahmer finden. Doch sie geben keinen Anlaß für »Sündenstolz«, denn sie waren das Ergebnis einmaliger Umstände. Nur die Beispiellosigkeit der Untaten und die Totalität der Niederlage machten Selbstbesinnung und Umkehr möglich und nötig. Wir waren 1945 nicht nur militärisch und politisch, sondern vor allem moralisch geschlagen und leben seitdem mit gebrochenem Kreuz: Vor der Einsicht war der Fall und vor der Moral die Schwäche.
Das deutsche Erinnern in der Nachkriegszeit ist ein historischer Sonderfall und ändert nichts an Christian Meiers grundlegender Erkenntnis, daß es nach schwerer Zeit kein Weiterleben gibt ohne Vergessen. Auch die Deutschen brauchten nach Hitler Vergessen, ohne Beschweigen ihrer Verbrechen wären sie außenpolitisch und ohne Verdrängen innenpolitisch nicht vorangekommen. Der Krieg war kaum zu Ende, als sie für den nächsten benötigt wurden, für den kalten Krieg der Systeme. Ost wie West wollten sie benutzen, mußten sich an sie gewöhnen, sich mit ihnen verbünden und allmählich versöhnen. Sie konnten nicht vergessen, was Deutsche getan hatten, aber durften es ihnen nicht dauernd vorhalten. So redeten die Westmächte immer seltener davon und schließlich kaum noch. So unterschied Stalin rigoros zwischen Deutschen und Faschisten und befahl den Völkern seines Imperiums, in der DDR nur noch Deutsche zu kennen. Im Geist der Versöhnung schrieben die polnischen Bischöfe 1965 ihren Amtsbrüdern in der Bundesrepublik: »Versuchen wir zu vergessen ... Wir vergeben und bitten um Vergebung.« Ohne Beschweigen der Untaten war ein Neubeginn nicht möglich. Historisch neu war jedoch, daß eine Seite, die Deutschen, sich erinnern mußte, damit die andere vergessen konnte. Ein Franzose brachte es auf die Formel: »Wir können vergessen, wenn ihr nicht vergeßt.«
Auch die innere Befriedung kam nicht ohne Vergessen aus, genauer: nicht ohne Vergessen-Machen. Als sich 1948 alle vier Besatzungsmächte aus der Entnazifizierung zurückzogen, standen die deutschen Politiker in West wie Ost einem Volk gegenüber, dessen große Mehrheit sich weigerte, Schuld oder auch nur Verantwortung für Krieg und Verbrechen anzuerkennen. Ohne Volk war kein Staat zu machen, Vorsicht war geboten, Kompromisse wurden nötig. Die Entnazifizierungsmaschinerie in den Westzonen begann leerzulaufen und produzierte schließlich fast nur noch Freisprüche. Die Kompromittierten durften, soweit es irgend ging, in ihre alten oder in gleichwertige Stellungen zurückkehren. Vergessen wurde nicht angeordnet, aber ermöglicht, geduldet und stillschweigend begünstigt. Von der Nazizeit und ihren Verstrickungen redete man möglichst wenig, weil es die Ruhe und den Aufbau störte. Nur engagierte Minderheiten störten noch, die Politiker mieden das Thema, auch Rundfunk und Zeitungen konzentrierten sich auf Tagesfragen, und die Geschichtsprofessoren und -lehrer hörten am liebsten mit Bismarck auf.
Mit der Masse der kleinen Nazis verfuhren die Kommunisten der Ostzone wie die Demokraten der Westzonen. »Wir wissen«, sagte Walter Ulbricht 1946, »daß ihr Nazis wart, wir werden aber nicht weiter darüber sprechen, es kommt auf euch an, ehrlich mit uns zusammenzuarbeiten.« Später suchte die SED Entlastung noch auf andere Weise. Da sie die einst herrschenden Klassen, »Träger des Faschismus«, enteignet hatte, erklärte sie, die DDR sei von den Übeln der deutschen Geschichte gereinigt und gehöre nun zu den »Siegern der Geschichte«. Alte und neue Nazis gebe es nur noch in der Bundesrepublik. Die Ostdeutschen bekamen Ruhe vor den Irritationen der NS-Vergangenheit. Was die Faschisten verbrochen hatten, erfuhr jedes Kind schon in der Schule, aber die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatten damit nichts zu tun. Sie durften vergessen.
Die große Selbstbesinnung der Deutschen begann erst Mitte der sechziger Jahre, als Abstand gewonnen und die Nachkriegsnot überwunden war. Erinnern wurde möglich, als Vergessen nicht mehr nötig war. Erinnern konnte man fordern, als eine Generation erwachsen wurde, die nicht mehr sich selbst prüfen mußte, sondern nur noch ihre Väter zu befragen brauchte. Das geschah konsequent, gründlich, zuweilen allzu selbstgerecht, bis beinahe nichts und niemand unbefragt blieb. Keine Gesellschaftsschicht, keine Berufsgruppe, keine Institution, Organisation oder Konfession und nicht einmal die Wehrmacht, an der die ganze Nation teilgehabt hatte, konnte sich der Prüfung auf Verstrickung oder Duldung von Verbrechen entziehen. Vertuschen, Verdrängen, Vergessen wurde schwerer, großenteils unmöglich.
In der DDR vollzog sich seit Mitte der siebziger Jahre eine ähnliche Entwicklung, jedoch sehr viel schwächer. Wachsende Zweifel am System auch bei denen, die es trugen oder billigend hinnahmen, beschädigten das schöne Bild, das die SED von der Vergangenheit malte. So klar und einfach - böse Faschisten, heroische Kommunisten - konnte es nicht gewesen sein, und warum die Ostdeutschen weniger Nazis gewesen sein sollten als die Westdeutschen, war nicht einzusehen. So fragten Junge auch in der DDR die Alten, wie es damals wirklich gewesen sei und wie sie sich verhalten hätten.
Was bleibt als Bilanz? Erinnerung an die Nazi-Verbrechen war nötig, nützlich und verdienstvoll, aber die Lehre der Geschichte, daß Vergessen sein muß, wenn das Leben weitergehen soll, blieb davon unberührt. Gilt das auch für unser zweites Problem, die Hinterlassenschaft der DDR? Anscheinend nicht, denn als es um die Sünden der SED-Herrschaft ging, gab es keine Ruhepause des Vergessens. In der DDR drängten Feinde und Opfer des Regimes sogleich auf Entlarvung und Bestrafung aller Verantwortlichen. Viele Westdeutsche wollten es beim zweiten Mal besser machen als beim ersten, also schlimme Zeiten nicht beschweigen und Schuldige nicht schonen. Vergessen erschien ganz widersinnig, konnte nur der Versuch von Übeltätern sein, unerkannt zu bleiben. Tätige Erinnerung wurde Programm.
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SINN UND FORM 5/2008, S. 581-585