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Heftarchiv – Leseproben

Leseprobe aus Heft 1/2009

Mosebach, Martin

Ein Winter in Shio Mghvime


I.
Das Kloster Shio Mghvime liegt in der Nähe der alten georgischen Königsstadt Mzcheta. Der heilige Einsiedler Shio, ein syrischer Mönch, hauste hier in einer Höhle und sammelte einen Kreis von Nachfolgern um sich, der nach seinem Tod beständig wuchs; im ersten nachchristlichen Jahrtausend haben in manchen Zeiten mehr als zweitausend Mönche in den Höhlen gelebt, die sie in die Steilhänge gruben. So darf Shio Mghvime, das heißt »Shios Höhle«, sich zu den frühesten Klöstern der Christenheit zählen. Und tatsächlich kommt die bergige Landschaft, in der das Kloster liegt, einer ägyptischen Thebais sehr nahe. Dies Gebirge besteht aus einem fest zusammengebackenen, steinhart gepreßten Geröll- und Sandgemisch, das sich Wasser und Wind zu beständiger Formung anbietet. In das Hochplateau hat der Fluß ein tiefes Tal gegraben. Steilwände begrenzen den Blick, zu ihren Füßen fällt das Gelände sanft hügelig ab, aber die Hügel sind von Schluchten durchschnitten, die hinunter zum urzeitlich schlangenhaft sich windenden Fluß führen. Das andere Ufer sieht weniger dramatisch aus, die Abstürze sind hier nicht so steil; in der Talsohle steht eine verlassene und verrostete Fabrik, in majestätisch leerer Mondlandschaft das Zeugnis eines gescheiterten Versuchs der Industrialisierung.
Vor den Steilwänden von Shio Mghvime leuchtete mir der Gedanke ein, alle monumentale Architektur sei im Grunde eine Nachahmung der Berge. Die konkave Riesenwand, die gleichsam über dem Kloster schwebte, glich einem monumentalen Sperriegel, hinter dem gewaltige Wassermassen hätten stehen können. Sie wirkte wie eine menschliche Schöpfung; in diese Wand Höhlen zu graben schien nur die Vervollständigung eines vorgefundenen Bauwerks zu sein. Hier verstand ich den Vers des Matthias Claudius: «... o, wie ist der Mann zu loben, der solch fürchterliches Toben / schon im Voraus hat bedacht / und die Häuser hohl gemacht«, als seien Häuser ursprünglich Skulpturen ohne Innenleben gewesen.
Neben der mächtigen Muschel, in die das winzig wirkende Kloster sich schmiegte, reihten sich hochragende felsige Festungsmauern mit runden Türmen und Bastionen. Die Erosion hatte Titanenburgen geschaffen, die von den Mönchen wie von Termiten durchlöchert worden waren. Die Felstürme blickten in eine weite, von Schneebergen begrenzte Ebene, die immer wieder Schauplatz großer Schlachten war. Meist hatten die Georgier verloren, dann wurden sie von Invasoren unterworfen, wie die Landschaft den Wettergewalten unterworfen war. Sie war von lehmig-staubigem Ockergrau, windflüchtende schwärzliche Pinien klammerten sich an Felsvorsprünge, ein Lieblingsmotiv chinesischer Rollbilder. Aber am Tag, nachdem der letzte Schnee getaut war, begannen sich die Hänge schon mit Zyklamenteppichen zu bedecken, über denen rostrote und hellgelbe Schmetterlinge flatterten, einer war so hellblau, daß er vor dem Himmel manchmal unsichtbar wurde.


II.
Weil ich keine Übersetzungen der langen Lesungen während der Nachtwachen besaß, habe ich eine Weile, beim Schein einer kleinen Kerzenflamme, im Kirchendunkel Dante gelesen. Meine Ausgabe war sehr klein und hatte einen schwarzen Lederrücken und Lederecken. Sie sah wie ein Gebetbuch aus und erregte kein Mißtrauen. Ganz wohl war mir nicht in meinem Gewissen bei meiner Lektüre, die durch eine Reihe kreisrunder gelber Wachsflecken auf den Seiten dokumentiert ist. Nicht etwa weil Dante keine geistliche Literatur gewesen wäre - dafür mag er trotz der großen Freiheiten, die er sich nimmt, wohl durchgehen -, sondern weil er so ausgeprägt katholisch im lateinisch-konfessionellen Sinne war - als »katholisch« im Sinn des Credo versteht sich die georgische Orthodoxie natürlich ebenfalls. Bei Dante, der doch vorgeblich eine ganze Welt beschrieb, gähnte an der Stelle, wo die griechisch-orthodoxe Christenheit hingehört hätte, ein großes Loch, dem er sich noch nicht einmal zu nähern traute. Konstantins und Justinians Größe wird zwar gepriesen, aber Konstantinopel, jenes Wunder einer Stadt, das die beiden Kaiser hervorgebracht und beherrscht haben, findet keine Erwähnung, obwohl Dante ein Zeitgenosse der Kreuzfahrer war und auch die fatale Periode des lateinischen Kaiserreiches in seine Lebenszeit hineinragt. Der Prophet Mohammed, der Kalif Ali und der Philosoph Ibn Rushd sind in Dantes Jenseits bekannt, aber kein Byzantiner. Die für die Entwicklung des Christentums so prägenden Gestalten der östlichen Kirchenväter, die Heiligen Basilius, Johannes Chrysosthomos, Gregor von Nyssa und Gregor von Nazianz, fehlen genauso wie die für die Formulierung des Dogmas verantwortlichen Athanasios und Kyrill von Alexandrien. Nur Nikolaus von Myra und der Mönchsvater Antonius aus Ägypten kommen zu Fußnotenehren.
Und dabei ist Dante das Griechenland der Antike mit seinen Göttern, Halbgöttern und Heroen so gegenwärtig, als seien sie besonders ehrfürchtig zu betrachtende Florentiner - nein, eben nicht Florentiner, denn der Autor spricht kein Griechisch und weiß, daß er sich dafür zu schämen hat. Als er in der Hölle zwei Flammen ansprechen möchte, tritt Vergil dazwischen: „Sie könnten deine Rede wohl verachten, weil sie Griechen waren«, Odysseus und Diomedes nämlich.
Das ist der Verdacht, den Dantes auffälliges Schweigen über die griechischen Christen bei mir auslöst: hinderten ihn vielleicht eine ihm peinlich bewußte Unwissenheit und ein allzu großer Respekt daran, mit den christlichen Nachfahren der großen Griechen der Antike so unbekümmert ins Gericht zu gehen wie mit den Abendländern? Dante, der unübertroffene Verflucher und Beschimpfer, sagt kein einziges böses Wort gegen die orthodoxen Schismatiker. Die Verderber der Christenheit sind bei ihm vor allem die Päpste, die sich nicht mit ihrem Priesteramt, ihrer Binde- und Lösegewalt zufriedengeben, sondern weltliche Fürsten geworden sind. Und nichts anderes warfen die Orthodoxen den Päpsten vor. Oder sollte die Pointe am Ende darin liegen, daß Dante die Orthodoxen aus der »Commedia« heraushielt, weil er ihre Papstkritik so vollständig übernahm?
Die Sprachbarriere machte es mir unmöglich, den Mönchen von Shio Mghvime eine umfassende und gründliche Antwort zu geben, wenn sie mich fragten, warum ich nicht orthodox würde. Was ich ihnen hätte sagen müssen, das hätten sie nicht verstanden: ich könne nicht orthodox werden, weil ich es schon sei.
Ich gebe zu, daß es vielleicht sträfliche Sorglosigkeit verrät, sich als Katholik so selbstverständlich der Orthodoxie zuzurechnen. Womöglich verbirgt sich darin sogar jene rücksichtslose Vereinnahmung aus schierer Herrschsucht, wie sie die Orthodoxen von den Katholiken in den tausend Jahren der Trennung leidvoll erfahren haben. Wenn Orthodoxe stolz und kämpferisch auf die Eigenart ihrer Theologie verweisen, die mit der katholischen Theologie unvereinbar sei, dann hören sie ungläubig zu, wenn ein Katholik darauf antwortet, es gebe nichts in der orthodoxen Doktrin, was ein strenggläubiger römischer Katholik sich nicht zu eigen machen dürfte. Das betrifft sogar die Haltung zum Papsttum, dessen Ehrenprimat auch in der Orthodoxie unbestritten ist. Die dogmatisierte Unfehlbarkeit in Fragen des Glaubens und der Sitten begründet ja keine päpstliche Souveränität, sondern steht unter der Bedingung, daß der Papst in Übereinstimmung mit der gesamten kirchlichen Tradition spricht. Sie unterwirft den Papst der Tradition. Der von den Päpsten beanspruchte juridische Primat mit dem Recht, die Kirche zentralistisch zu führen, ist demgegenüber keine Glaubensfrage, sondern Ergebnis der Kirchengeschichte des Westens und steht, wie der gegenwärtig regierende Papst schon als Kardinal angedeutet hat, bei einer gemeinsamen Zukunft mit der Ostkirche durchaus zur Disposition.
Es kann hier aber nicht darum gehen, und es ging mir auch in Shio Mghvime nicht darum, das Trennende und Verbindende zwischen katholischer und orthodoxer Kirche theologisch präzis und argumentativ gegeneinander abzuwägen und die Unterschiede kleinzureden. Es sei dahingestellt, ob der Papst, der im elften Jahrhundert in das niceo-konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis die berühmt-berüchtigte Formel des »filioque« einfügte und damit den Heiligen Geist nicht nur, wie es im Johannes-Evangelium heißt, vom Vater, sondern auch vom Sohne seinen Ausgang nehmen ließ, bloß in grober Weise seine Befugnisse überschritten oder ob er damit eine Häresie begründet hat. Denn der Hinweis auf die zahlreichen Schriftstellen, die der Papst zugunsten seiner Entscheidung hätte anführen können, auf die orthodoxen Väter, die bereits im ersten Jahrtausend eine dem »filioque« verwandte Formel gebrauchten, und auf moderne katholisch-orthodoxe Theologenkommissionen, die in den unterschiedlichen Formeln kein trennendes Element mehr erkennen wollten, hätte die Mönche von Shio Mghvime nicht in ihrer Überzeugung erschüttert, daß die katholische Kirche die Einheit des Christentums bis heute beschädigt habe.
Damit war eine wichtige Voraussetzung für meine Teilnahme an den »Mysterien« oder den »Sakramenten«, wie sie im Westen genannt werden, verlorengegangen. Nur in der Einheit des Glaubens war das Ereignis des »Mysteriums« möglich. Die Heiligenbilder, die die Innenwände einer orthodoxen Kirche bedecken, umgrenzten den Raum, innerhalb dessen nur Eingeweihte, und das heißt Getaufte, anwesend sein durften, um Zeugen der liturgischen Begegnung mit dem Erlöser zu werden. Aber wie konnte ein Mensch behaupten, getauft zu sein, wenn er in einem Irrtum über die Natur des Heiligen Geistes befangen war und Priestern anhing, die diesen Irrtum in das Herz des Glaubens, das Glaubensbekenntnis der großen frühen Konzile, gepflanzt hatten? Da half es wenig, daß inzwischen Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. gemeinsam mit dem Patriarchen von Konstantinopel das Glaubensbekenntnis ohne das inkriminierte »filioque« gesprochen hatten; das war in diese Berge nicht vorgedrungen. Es dauerte eine Weile, bis ich endlich verstand: in den Augen der Mönche von Shio Mghvime war ich gar nicht getauft.
Meiner Begriffsstutzigkeit wurde freilich aufgeholfen. Das erste nächtliche Stundengebet, das ich erlebte, war zu Ende gegangen; nun begann die eucharistische Liturgie. Die heiligen Türen der Ikonostase wurden geöffnet, der Priester trat in goldenem Mantel und mit langem, über den Rücken herabfallendem schwarzem Schleier an den Altar. Epistel und Evangelium wurden vorgetragen, das Glaubensbekenntnis gebetet, alles vielfach unterbrochen durch die langen Kyrie-eleison-Rufe. Die Seitentür tat sich auf und der Priester kam mit den hocherhobenen verhüllten Opfergaben heraus, um sie durch den dunklen Kirchenraum zu tragen. Zugleich trat ein Novize auf mich zu - gelbgesichtig wegen eines Leberleidens, ausgezehrt, mit harten Augen, er war früher Sportlehrer in London - und winkte mir, ihm zu folgen. Im Vorraum warf er sich vor mir auf den Boden und bat mich um Vergebung. »Als Ungetaufter ist es Ihnen verboten, an den heiligen Mysterien teilzunehmen. Lassen Sie sich taufen, dann dürfen Sie bleiben.«
Ich gebe zu, ich fühlte mich gekränkt. War ich nicht als vorbehaltloser Bewunderer der Orthodoxie hierhergekommen? Erklärte ich nicht jedermann, die westliche Kirche habe sich die Orthodoxie zum Vorbild zu nehmen, weil nur in ihr das authentische Christentum des ersten Jahrtausends, des Zeitalters der sieben ökumenischen Konzile, verwirklicht sei? Fühlte ich mich in meinem Katholizismus nicht längst selbst als Orthodoxer? Man sprach mir allen Ernstes die 1951 nach den Riten der Alten Kirche gespendete Taufe ab, während die katholische Kirche doch selbst die Taufe der Protestanten, von denen sie so viel trennt, ohne weiteres anerkennt und alle Sakramente der Orthodoxie als ebenso gültig betrachtet, als kämen sie aus den Händen eines katholischen Priesters. Hier stand ich nun vor einer Mauer.

Aber es dauerte nicht lange, bis ich mich mit diesem Ausgeschlossenwerden abfinden und es sogar als einen bedeutenden Gewinn erleben konnte. Ich machte mir klar, wie tief meine Empörung in einer Haltung wurzelte, die ich bei andern Zeitgenossen widerwärtig fand: in dem Anspruch, überall und zu jeder Zeit zugelassen zu sein, keine Grenzen gelten zu lassen, jedes Phänomen selbstverständlich und aus Bildungsinteresse unter die Lupe nehmen zu dürfen. In Shio Mghvime, am Ende der Welt, war ich nun endlich auf ein »Nein!« gestoßen, und noch dazu auf einem Feld, auf dem ich mich als besonders kompetent empfand. Und es lagen ja nicht bloß Ausschluß und Abwehr in diesem Gebot, die Liturgie vor dem Beginn der Mysterien zu verlassen. Auch dies Hinausgehen und draußen im Dunkel Alleinbleiben - ganz dunkel war es auch gar nicht, eine einsame Glühbirne schaukelte im Schneesturm und erzeugte Riesenschatten, in denen die Nacht sich vertiefte -, dieser Aufenthalt im Narthex - der Vorhalle - war als geistliche Übung zu verstehen, als liturgisches Handeln durch Abwesenheit. Mein Hinausgehen trug dazu bei, den heiligen Raum und seine Grenzen sichtbar zu machen. Die Grenzziehung zwischen dem Heiligen und dem Profanen war eine religiöse Uraktion; wer die Liturgie verlassen mußte, erhielt einen Einblick in die Natur der Welt, in der beides voneinander geschieden ist, und durfte erkennen, wohin er selbst gehörte. War es nicht auch schön, daß auf den Ruf des Priesters »Ihr Ungetauften, entfernt euch! Die Türen! Achtet auf die Türen!« (nämlich daß sie geschlossen sind) nun endlich auch einmal einer den Raum verließ und der uralte Ruf nicht bloß ein Überbleibsel aus frühen Jahrhunderten der Erwachsenentaufe war, sondern konkrete Konsequenzen hatte? Wer Riten liebt, darf nicht an ihnen irre werden, wenn sie sich zu seinem Nachteil auswirken - und ob in meiner Entfernung ein Nachteil lag, dessen war ich mir, wie gesagt, bald gar nicht mehr so sicher.
Meine Lage in Shio Mghvime lernte ich aus Dantes »Commedia« zu begreifen. Vor mir, so lange ich im stockdunklen Kirchenschiff ausharren durfte, lag die Ikonostase, hinter deren geschlossenen Türen der siebenarmige Leuchter auf dem Altar brannte, nur ein schwacher Lichtschein drang nach außen, wie in der Kindheitserinnerung an den Türspalt, durch den der Christbaum leuchtete... Die Priester, die sich hinter den Türen bewegten, waren nur als Schatten zu erahnen. Durch die schwarzen Schleier wurden ihre Umrisse bis zur Unheimlichkeit vergrößert. Sie umkreisten den Altar, so stellte ich mir vor. Dieser Raum hinter den Türen und Vorhängen war der Himmel. Ich war mit meinem Kerzchen und mit den andern Mönchen in einem nächtlichen Purgatorium - stehend, stehend, stehend, bis ich die Beine nicht mehr spürte; gewiß, bei Dante herrscht im Purgatorium ein frostig- frisches Morgenlicht, eine Frühlingsstimmung, aber gemütlich wird es gleichfalls nicht. Und die Hölle? Auch die gab es, und zwar in Gestalt einer greulichen Latrine weit von der Kirche, wie Dante sie als Straflager der Schmeichler und Dirnen beschreibt. Während meines ganzen Aufenthalts in Shio Mghvime verlor ich nicht die Angst, in dies große, übel dampfende Loch hineinzufallen.
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SINN UND FORM 1/2009, S. 44-49