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Heftarchiv – Leseproben

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Printausgabe vergriffen

Leseprobe aus Heft 2/2009

Matt, Peter von

Selbstvorstellung. Akademie der Künste


Meine Damen und Herren,

 

in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, andererseits die größte Einheit in einem Werk. Nach vielen Jahrzehnten professionellen Lesens bin ich zur Überzeugung gelangt, daß sich die Literatur wesentlich im einzelnen Satz verwirklicht. Das zeigt sich an einem merkwürdigen Phänomen. Wenn ein Buch etwas taugt, stößt man in ihm von Zeit zu Zeit auf einen Satz, der den Zusammenhang, in dem er steht, übersteigt. Aus dem Schreiben eines größeren Ganzen heraus geboren, ist er doch ein Ding für sich, ein philosophisches und poetisches Ereignis, das man erlebt und untersuchen kann, als stünde es ganz allein zwischen zwei Buchdeckeln. Ich notiere mir das jeweils auf dem hinteren Schutzblatt: »S. 127 Satz«. Und wenn ich das Buch später wieder in die Hand nehme, schlage ich zuerst diese Sätze nach und freue mich über die Wiederbegegnung. In einem solchen Satz kann sich das Denken und Erfahren des Autors beispielhaft verdichten. Es kann aber auch sein, daß der Satz dieses ganze Denken und Erfahren zischend übersteigt, als würde eine Rakete aus der Prosa fahren. In Rezensionen werden solche Sätze nie erwähnt. Die Rezensionen schauen immer auf das Ganze, beschreiben das Ganze, bewerten das Ganze, als ob nur das Ganze die Wahrheit wäre. Es ist aber ein Aspekt unter andern.

Wissenschaftlich sind diese Sätze heikel. Ich erlebe sie als Solitäre. Darf ich sie aber von der Figur trennen, die sie ausspricht, vom erzählten Moment, in dem sie fallen? Natürlich darf ich. Ob ich die Teile eines Romans für so miteinander verwachsen halte wie die Organe eines Körpers oder aber für so zufällig zusammengeschüttelt wie die Glassplitter im Kaleidoskop, das ist je eine Optik, die zu wählen ich frei bin, und je nachdem sieht das Werk anders aus.

Das Paradebeispiel ist für mich der Satz, den die schöne Philine gegenüber Wilhelm Meister äußert, als dieser sie auffordert, zu ihm auf größere Distanz zu gehen. Wilhelm erklärt feierlich: »Ihre Gegenwart beunruhigt mich mehr, als Sie glauben.« Sie lacht ihm ins Gesicht, meint, sie denke nicht daran, und sagt dann: »Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«

»Und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?« – Natürlich kann ich diesen Satz benützen, um eine der zauberhaftesten Frauen der deutschen Literatur psychologisch zu ergründen. Aber er reicht über ein Charaktersymptom weit hinaus. In den zehn Worten steckt eine ganze Liebestheorie. Die zehn Worte antworten auf die Menschheitsfrage, was die Liebe sei, in der vielleicht verblüffendsten Weise. Und sie sind Literatur, ein aufstrahlendes Ereignis der Literatur. Inwiefern? Sie lösen ein Rätsel mit einem neuen Rätsel. Das nämlich macht die Literatur aus, und das hat sie heute noch mit den ältesten Orakeln gemein.

Gerne hätte ich jetzt in meiner Bibliothek gewühlt und wahllos Stellen zusammengetragen, zu denen ich einmal hinten ins Buch geschrieben habe: »Satz!« Auch wäre es wohl aufschlußreich, wem von Ihnen welche Sätze bekannt und vertraut sind, wem sie ebenfalls einmal aus dem Text heraus entgegengesprungen sind. Aber zu solchen Spielen sind Sie nicht hergekommen.

Ganz konnte ich es allerdings doch nicht lassen. Zwei, drei Fälle wollte ich doch den Zufall finden lassen. Ich griff mir einen Roman von Jeremias Gotthelf heraus, aus Trotz, weil den gewaltigen Erzähler in Deutschland niemand lesen will. Da stand tatsächlich auf dem Innendeckel: »S. 310 Satz!«. Ich blätterte und las: »Wir hätten eine Saunatur, sagte er, es verleide einem, Mensch zu sein.« »Wir hätten eine Saunatur «, das kann jeder sagen; das andere aber, »es verleide einem, Mensch zu sein«, dazu braucht es mehr, einen Kopf von Rang und gefährlichem Witz. Man glaubt, es habe von fern gedonnert. Und wenn man darüber nachdenkt, werden die paar Worte immer unheimlicher.

Darauf griff ich zu Gottfried Keller, [...]

 

SINN UND FORM 2/2009, S. 282-284