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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-04-1

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Leseprobe aus Heft 2/2012

Wajsbrot, Cécile

Die Zeremonie


1

Die leere Straße setzt das Schweigen der Wege fort, Sonntag ist der schlimmste aller Tage und dieser Sonntag ist der schlimmste aller Sonntage, aus der Autobahn Chartres–Orléans wurde die Autobahn Nantes–Bordeaux, mehr hat sich nicht verändert, wie die Kilometer ziehen die Jahre vorüber, eines nach dem anderen, stumpfsinnig, der Frühling, wechselhaft, ohne Schatten, reicht in den Sommer hinein, bleibt im Winter stecken, man verläßt die Autobahn, und die Straße zieht sich schnurgerade, schneidet die monotone Landschaft entzwei, die flach und gnadenlos horizontal ist.
Ich bin unterwegs in einem Auto, das nicht existiert, der Tag hat ein Datum, eine Zahl, einen Monat, aber kein Jahr, die Ausdehnung der Zeit – die Ausdehnung meines Lebens – erscheint mir monoton, flach, gnadenlos horizontal. Natürlich steht ein Ortsname auf Schildern, die in eine Richtung weisen, aber ich fahre doch eher durch eine Wüste, diese Anreise hat mit anderen keine Ähnlichkeit.
Nun, so war das, erzählte meine Großmutter, deren Stimme mir abhanden gekommen ist, schon vor langer Zeit, auch wenn ich mir eine Ahnung von ihr bewahrt habe, abstrakt und doch eigen. Nun, so war das, erzählte meine Großmutter alljährlich im Auto, wenn wir uns dem Ort der Zeremonie näherten, den ich auch heute aufsuchen werde, und außerdem weiß ich nicht einmal, ob sie jemals »nun, so war das« gesagt hat, ob diese Wendung überhaupt zu ihrem Wortschatz gehörte, in ihr Französisch paßte.
Beaune-la-Rolande, ein seltsamer Name, wenn man es recht bedenkt. Aber wer bedenkt es recht? Jedes Jahr diese Erzählung – dabei bin ich außerhalb der Zeit, hier, wo es nichts als Erinnerung, Gedächtnis, Gedenken gibt.
Mein Großvater hatte eine Vorladung erhalten, er sollte sich eines Morgens zur Feststellung seiner Identität in der Kaserne einfinden, Boulevard des Maréchaux, gleich bei der Porte de Bagnolet – so hat es meine Großmutter natürlich nicht erzählt, sondern weniger präzise, es wurden auch keine Namen genannt, oder die Namen kamen mit den Jahren, erst nach zehn Jahren hatten wir ein Anrecht auf die Porte de Bagnolet, noch einmal fünf Jahre, bis wir erfahren durften, daß diese Vorladung »der grüne Brief« genannt wurde. Mein Großvater verarbeitete Leder, schnitt Kleider zu, er wollte der Vorladung zeitig nachkommen, um es möglichst schnell hinter sich zu haben und zur Arbeit gehen zu können. Er war ein gewissenhafter Mann mit Pflichtgefühl, mit Überzeugungen, er hatte sich 1939 zum Krieg gemeldet, obwohl er Ausländer war, er wollte Frankreich verteidigen. So gingen sie beide zusammen los – meine Großmutter begleitete ihn –, aber durch die Tür ging er allein. Andere waren bereits da, vielleicht unterhielten sie sich miteinander, tauschten Informationen aus, Zweifel, Befürchtungen.
Warten wir, ob welche rauskommen, sagte meine Großmutter. Sie werden uns sagen, was da drinnen vorgeht.
Sie hatte ein mißtrauisches Naturell, hätte wahrscheinlich gern etwas mehr gewußt, aber vielleicht ist es auch so, daß ihr Mißtrauen von damals kam; er dagegen wollte pünktlich sein und bald an seine Arbeit zurückkehren.
Er ging also durch das Portal, meine Großmutter wartete – wie lange, weiß ich nicht, das hat sie mir nie gesagt, ich habe sie auch nicht danach gefragt (die Fragen kommen später, lange nach dem Tod derer, denen man sie stellen wollte, denn anfangs, wenn sie noch da sind, will man es nicht wissen, weil jedes Wort ein Gewicht mehr ist, das sich auf die Waage legt, und später wüßte man gerne alles, als sollte die Geschichte, die man um jeden Preis abweisen und loswerden mußte, sich von nun an um jeden Preis selbst erzählen, müßte erkannt und angenommen werden, damit man endlich man selbst sein kann) –, meine Großmutter wartete wie die anderen, all die Frauen, die ihre Männer begleitet hatten, weiterhin gingen Leute hinein, aber es kam keiner heraus.
Plötzlich war eine Stimme im Lautsprecher zu hören. Meine Großmutter erzählte und ich sah die Bilder, Jahr um Jahr, im Auto, das uns nach Beaune-la- Rolande fuhr. Und ich hörte die Stimme aus dem Lautsprecher.
Gehen Sie nach Hause. Packen Sie einige Sachen für Ihre Männer zusammen. Sie werden an einen anderen Ort gebracht werden.
Wie war die Formulierung genau: Sie werden an einen anderen Ort gebracht? Wir nehmen sie mit? Sie werden in einem Lager arbeiten? Sie werden bis auf weiteres festgehalten, zurückbehalten, abtransportiert, deportiert, konzentriert? Wie haben sie sich ausgedrückt? Was sie auch immer gesagt haben mögen, nun begann das Schlimmste, das Schlimmste, das kommen sollte. Der Beginn einer langen Reise, die an dem Tag, als ich einmal mehr zum Treffen von Beaune-la-Rolande ging, vielleicht noch nicht zu Ende war.



Tagebuch

14. Mai 1991

Und ich dachte, richtig, Sonntag, Beaune-la-Rolande, zwar bin ich nicht dort, aber immerhin sitze ich in einem Zug.

 

18. Mai 1992

Gestern Beaune-la-Rolande, und ich fuhr zum ersten Mal ohne meine Großmutter hin. Einige Leute, vielleicht zweihundert Personen, schwer zu schätzen, die, die immer kommen, Jahr um Jahr, wie zu einer Verabredung, man kennt sie ein wenig, man kennt sie vom Sehen, es gibt auch die Generationenunterschiede in Verhalten und Kleidung, soziale Unterschiede, Unterschiede in der Integration. Und doch hat jeder sein Leben, geht seinen Weg, oder tut nur so, eine Strecke, auf der allerdings Beaune-la-Rolande liegt, und alle treffen sich dort, um sich wenigstens an einem Tag im Jahr einzugestehen, daß es eine Wunde gibt, die sich nicht schließen wird.

18. Mai 1993

Beaune-la-Rolande. Der Mann, der das organisiert und der Jahr für Jahr die gleichen Reden hält, war krank, also hat seine Enkelin den Text vorgelesen. Dann war Kafka an der Reihe, ein Überlebender, der einzige aus dem Lagerchor – es gab nämlich einen Lagerchor –, er hat dort unten ein Lied geschrieben, auf jiddisch, es geht um Hoffnung und Brüderlichkeit, um Bäume, die wieder blühen – denn sie sind im Frühling dort angekommen.

16. Mai 1994

Gestern Beaune-la-Rolande, eineinhalb Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Wieder dieselben Reden, der Mann, der das organisiert, war wieder da und Kafka hat sein Lied gesungen. Alles war wie immer, nur daß Großmutter nicht mehr da war. Obwohl sie ja schon einige Jahre nicht mehr dabeigewesen ist, gelähmt zu Hause lag, reglos und schweigend, war es jetzt doch ganz anders. Seit dreißig Jahren komme ich hierher, sehe Leute, und dann eines Tages sieht man sie nicht mehr, andere sind da, um sie zu ersetzen, oder niemand, und es vergeht die Zeit, in Richtung Tod.

15. Mai 1995

Beaune-la-Rolande, gestern. Freitag abend, ich habe es nicht ausgehalten, ich wollte eigentlich nicht hingehen, oder es sollte das letzte Mal sein, weil sich wieder etwas in mir auflehnte, von dem ich dachte, es hätte sich gelegt. Warum muß denn die Geschichte noch immer auf uns lasten? Endlich angekommen, fühlte ich mich besser, oder vielmehr hatte ich das Gefühl, daß es richtig war, hier zu sein. Als ich dann an meine Großmutter dachte, sah ich sie am Fuß des Mahnmals in ihrem schwarzen Mantel, reglos, wartend, dann, bei den Reden, war sie ganz Ohr, schaute auf, weinte beim Totengesang. An ihrem Platz stand eine alte Dame, die Tochter und der Schwiegersohn kamen mit einem Klappstuhl, damit sie sich setzen konnte, und sie bekam jenen Blick der freudigen Überraschung, den auch meine Großmutter manchmal hatte, als sie sich wegen ihrer Krankheit nur noch durch die Augen mitteilen konnte. Ich fragte mich, was sie wohl erlebt hat und woran sie jetzt dachte, vielleicht daran, daß sie bei ihr und für sie da sind.
Über meinen Großvater weiß ich nichts, außer daß er in Auschwitz gestorben ist. Dieser Tod definiert ihn, dieses Schicksal. Alles wäre anders gekommen, wenn er dagewesen wäre, sagte Großmutter immer wieder, aber nun ja, sie hat dieses Leben geführt und nicht ein anderes, und wir sind ihr nachgefolgt, eine, zwei Generationen später, ein schwieriges Leben, das auf einem lastet, unmöglich, sich zu integrieren, aber doch auch ein Ereignis, das etwas begründet – eine Herkunft, anstatt der Leere so vieler anderer Leben.

14. Mai 1996

Beaune-la-Rolande in der Kälte, Sonntag. Der ehemalige Bürgermeister, der letztes Jahr abgetreten ist, stand jetzt unter uns, aber schweigend und anonym, während der Neue technokratische Worte von sich gab. Er sagte »Sie«, wenn er uns ansprach, »Ihr Schmerz« – ihn geht das nichts an.

12. Mai 1997

Dasselbe bei prasselndem Regen.

17. Mai 1999

Beaune-la-Rolande, gestern, und ich dachte mir, jetzt ist alles geschafft, die Erinnerungsarbeit, wie sie das nennen. Früher hatten wir das Schlimmste hinter uns – die Katastrophe – und jetzt haben wir es vor uns. Nicht mit der Vergangenheit müssen wir uns konfrontieren, sondern mit der Gegenwart, der Zukunft.

Paris, 12. September 1990

Ich wurde 1954 geboren – der Krieg war seit neun Jahren vorbei. Der Mann meiner Großmutter starb als Deportierter in Auschwitz. Bevor er dorthin kam, war er ein Jahr im Lager von Beaune-la-Rolande, das in der Nähe von Pithiviers liegt. Ich habe diesen Großvater nicht gekannt, aber meine Großmutter erzählte sehr ausführlich, und zweifellos recht früh, von den Gaskammern, den Lagern, der Verhaftung, davon, wie die Polizei kam, um sie mit ihren zwei Kindern zu holen, wie sie die Demarkationslinie überschritten hat, all das, und ich trage an diesen Bildern aus einer anderen Zeit, einem anderen Leben, ohne mich von ihnen lösen zu können. Seit 1964 gehen wir alle jedes Jahr nach Beaune-la-Rolande, um immer dieselben Reden zu hören von denselben Vereinen und denselben Amtspersonen, die absurde Wiederholung eines pietätvollen Nie-Wieder, und gleichzeitig sind das alles in allem sechsundzwanzig Jahre, wobei ich an den Fingern einer Hand abzählen kann, wann ich nicht dabei war, und jedesmal würde ich alles geben, nur um nicht hinzumüssen, aber es ist nichts zu machen, also gehe ich wieder hin, warte, bis es vorbei ist – doch in Wirklichkeit ist es nie vorbei. Dieses Jahr war ich nicht dort, aber ich war in Auschwitz.
Ich habe das Gefühl, ein Gewicht hinter mir herzuziehen, das nicht meines ist, ein Leben, das nicht meines ist, dessen Schatten sich aber je nach der Tageszeit verändert. Ich nehme an, daß es auch anderen so geht, ich weiß, wir sind viele, ich nehme an, diese Katastrophe war übergroß, als Ganzes nicht zu ertragen, und deshalb mußte man sie aufteilen unter den Generationen.

 

[...]


SINN UND FORM 2/2012, S. 195-212