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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-12-6

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Leseprobe aus Heft 3/2013

Aleksić, Dragan

Claudio Magris in Bela Crkva


Es ist leicht

Claudio Magris, Professor für deutschsprachige Literatur an der Universität Triest und Verfasser mehrerer Essays und Romane, verbrachte auf der Suche nach Material für sein Donau-Buch vier Tage in Bela Crkva.

Zusammen mit ihm kam in die Stadt, in der sie geboren war, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, viermal verheiratet und viermal verwitwet war (zwei ihrer Ehemänner hatte sie geliebt, die anderen beiden geduldig ertragen, Kinder hatte sie keine), die achtzigjährige Frau Anka, seit Jahrzehnten wohnhaft in Triest. Magris nannte sie Großmutter Anka und behandelte sie mit Sympathie und großem Respekt.

Diese feine, resolute und noch rüstige alte Dame, Tochter des reichen Kaufmanns Milan Vuković, der aus Liebe zu Ungarn seinen Namen Vukovics schrieb, erzählte Professor Magris (sie sprach ihn mit »lieber Claudio« und »lieber Professor« an) und mir ("junger Herr«) von den alten Zeiten in Bela Crkva. Sie tat es vor- und nachmittags von Donnerstag bis Sonntag, während wir durch die Stadt schlenderten und Sehenswürdigkeiten besichtigten. Professor Magris und ich hörten dabei aufmerksam zu und notierten alles eifrig. Nach dem Abendessen kommentierten wir beide bis spät in die laue Nacht im Garten des Restaurants »Klub« Großmutter Ankas Geschichten und tauschten unsere Eindrücke aus. Wir fragten uns, wer von uns beiden und in welcher Form aus ihnen »Literatur« machen würde.

Dem

Einmal saßen wir auf der Terrasse des Restaurants »Park« zwischen der Post und der Bank. Ich las die Zeitung und blickte hin und wieder zu dem in seiner Frühlingspracht schönen Park und zum Musikpavillon in seiner Mitte. Professor Magris bemerkte, er habe in Ungarn und Österreich viele solche Pavillons gesehen. Mit kleinen Buchstaben schrieb er eine Ansichtskarte an seine Frau:

Liebe Marisa,

ich schreibe Dir aus Bela Crkva, der Stadt, die auch Fehertemplom und Biserica Alba heißt und früher auch noch Weißkirchen genannt wurde. Von diesem »Früher« erzählt uns sehr schön Großmutter Anka. Sie ist ganz der Vergangenheit zugewandt (für sie hieß dieses Restaurant, in dem ich gerade an Dich denke, »Café Stadt Wien«). Ich hingegen bin ganz Dir zugewandt. Der junge Schriftsteller, mit dem mich Großmutter Anka bekannt gemacht hat ("damit er mir Gesellschaft leistet«), ist ein aufmerksamer Zuhörer und mir ein guter Führer. Mehrmals hat er mich zum nahegelegenen Dorf Stara Palanka gebracht, wo die Donau die größte Breite auf ihrem ganzen Lauf aufweist. Dort münden der Donau-Theiß-Kanal und ein Fluß mit dem schönen Namen Nera in sie. Dort befindet sich das Dreiländereck Banat–Serbien–Rumänien. An der Stelle weht ein schwerer Wind, schwer wie Schmerz.

Viele Küsse für Dich, Francesco und Paolo.

Euer Claudio

Etwas

Während eines Spaziergangs am Vormittag zeigte uns Großmutter Anka ein orangenfarbenes Haus, in dem Lazar Lungu gewohnt hatte, der größte Schweinehändler des Unteren Banats. Er wollte sie heiraten. »Willst du dein Leben mit Schweinen verbringen, Anka?« fragte ihr Vater sie. »Geld bedeutet viel, sehr viel, aber nicht alles. Such dir einen jungen Mann aus, der dir gefällt, und ich kauf ihn dir.«

In einer Nachbarstraße stand ein großes grünes Haus, in dem Rechtsanwalt Cimer mit seiner Frau gelebt hatte. Sie war die Geliebte von (Großmutter Anka zählt nachdenklich an den Fingern ab) Doktor Putnik, Rechtsanwalt Rajkov, Apotheker Schlezer, Oberst Nemet …

In einem ockerfarbenen Haus mit drei gewöhnlichen und zwei Erkerfenstern lebte früher der alte Tipovajler, Gemeinderatsmitglied und häufiger Gast in Oma Ankas Haus. – »Ein feiner Herr«, sagt sie. 1914, gleich nach dem Ausbruch des Kriegs mit Serbien, kamen eines Nachts führende Deutsche aus Bela Crkva zusammen, um über die Beseitigung der angesehensten Serben zu beratschlagen, die man daran erkennen konnte, daß an ihrer Haustür ein zum Johannestag geflochtener Kranz aus Nelken und gelben Blumen hing. Der Vorschlag fand schnell die Zustimmung der Mehrheit, dann aber ergriff der alte Tipovajler, bekannt für seinen gesunden Menschenverstand, das Wort. Auch er sei dafür und finde die Idee gut, sagte er, wies aber darauf hin, daß Bela Crkva nahe der serbischen Grenze liege. Im Falle, daß das serbische Heer die Stadt im Sturm erobere, müsse man damit rechnen, daß die dort lebenden Deutschen zur Vergeltung liquidiert würden. Daraufhin löste sich die nächtliche Versammlung friedlich auf.

Hinzuzufügen

Ich führte Professor Magris zu den Drei Kreuzen, damit er von dort Bela Crkva, die blauen Karpaten in der Ferne und den schmalen Silberstreifen auf der Donau sah; zu der russischen, der rumänischen, der evangelischen, der katholischen und der orthodoxen Kirche; zum katholischen Friedhof, wo ich ihm die Grüfte der italienischen Familien Testeroni, Gaudencio, Duranti, Morone zeigte, die man im letzten und vorletzten Jahrhundert aus Triest nach Bela Crkva geholt hatte, um die Seidenproduktion voranzutreiben.

Wir suchten das Grab der Dichterin Maria Eugenia delle Grazie auf, der traurigen und einsamen Nachtigall der »kleinen weißen Stadt« im Banat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besang diese zurückgezogene und neurotische, zur völligen und beinahe pathologischen Einsamkeit verurteilte Lyrikerin ihre kleine Heimat, den Eisenbahner, der den Namen der Station in verschiedenen Sprachen ausrief, die Konditorei »Turoczi«, für die sie in ihrer Kindheit schwärmte, den mürrischen Herrn Bosić, Inhaber der Gemischtwarenhandlung »Der schwarze Hund«, Frau Radulović, eine bildschöne Serbin, die bei ihren Kutschfahrten durch den Ort allgemeine Bewunderung hervorrief, die berittenen Hajduken, die auf dem Berg begrabenen Janitscharen, die Eisdecke auf der Donau, die zu Frühlingsanfang Risse bekam.

Großmutter Anka zeigte uns das orientalisch anmutende Mausoleum von Präsident Popescu, die prachtvolle Gruft des steinreichen Boboroni, der Müttern Geld gab, damit er deren Töchter entjungfern durfte, und der mit 23 Messerstichen getötet wurde, sowie die Kapelle, die der Apotheker Schmitz jeden Abend aufsuchte, um seiner dort beigesetzten Frau von Ereignissen des Tages zu berichten und sie um Rat zu fragen.

Was

Šešerko war sehr reich, seine Villa stand am Hauptplatz, dort, wo sich der Palast des Präsidenten Popescu mit seiner prachtvollen Kuppel, der Pavillon des ungarischen Garnisonskommandeurs, der Offiziersklub und das Realgymnasium, eines der besten im Königreich Ungarn, befanden. In dieser Villa lebte in einem zimmergroßen Käfig ein Papagei, der singen konnte. Wenn Kinder ihn auf Deutsch baten, etwas zu sagen, schlug er das ebenfalls in deutscher Sprache mit schwäbischem Akzent zunächst ab, lenkte aber am Ende ein und sang auf Ungarisch ein Stück aus der »Csárdásfürstin«. Wenn man ihn um eine Zugabe bat, weigerte er sich zunächst, wieder auf Deutsch, um dann dieselbe Arie auf Ungarisch zu wiederholen. Wenn man ihn jedoch zum dritten Mal aufforderte, wurde er ungehalten und antwortete mit dem Götz-Zitat.

Bereits

An einem Nachmittag führte ich Magris in das nahegelegene Dorf Grebenac, wo Vasko Popa geboren wurde. Wir spazierten auf bunten und staubigen Straßen und unterhielten uns über Popas Poesie, über seine Beschwörung barbarischer Winter und uralter Wölfe.

Am Ausgang des Dorfes, hinter dem Hügel Ćitaće, an der Drum mare genannten Straße aßen wir süße weiße und schwarze Maulbeeren von alten, hohlen Bäumen (aus der Zeit, als jedes Haus zehn Maulbeerbäume pflanzen mußte, damit die Nahrung für Seidenraupen gesichert war, als an Straßenrändern nur Maulbeerbäume wuchsen, als das Banat voller Maulbeergärten war, als man die Saat dazu aus Italien und Japan importierte).

Später saßen wir auf dem steilen Ufer des Kanals unter zitternden Espen und betrachteten das schlammige Wasser, das träge in die Donau mündete, und die darin schwimmenden Gänse, deren Hälse grün, blau, rot waren. Unter dem ständigen, unschuldigen, schnellen Flüstern der hellgrünen Blätter trug ich dem Professor das Gedicht über das Banat von Miloš Crnjanski vor.

Erfunden wurde

Drei Monate, nachdem Claudio Magris und Großmutter Anka Bela Crkva verlassen hatten, schickte ich dem Professor einige Erzählungen, zu denen mich Großmutter Ankas Geschichten inspiriert hatten.

Im Frühjahr des nächsten Jahres traf aus Triest ein Päckchen ein. Darin ein Füllfederhalter von Großmutter Anka und folgender Text: »Lieber junger Mann, ich schicke Ihnen diesen über fünf Jahrzehnte alten Füllfederhalter, auf daß Sie mit ihm noch viele schöne Erzählungen schreiben mögen. Da Sie Linkshänder sind, schreiben Sie langsam und warten geduldig, bis die Tinte getrocknet ist. Sie werden bestimmt alles notieren, was Ihnen nachts im Traum zugeflüstert wird.«

Darin war auch das Buch »Donau« von Claudio Magris. Am Ende der langen und herzlichen Widmung stand: Facile est inventis addere.

Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann

SINN UND FORM 3/2013, S. 428-431