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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-11-9

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Leseprobe aus Heft 4/2013

Becker, Jürgen

WAS WIR NOCH WISSEN
Journal der Augenblicke und Erinnerungen


Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.

Jetzt sitzt er auf einem Stuhl einer Bank gegenüber, die leer ist. Steht er auf und wechselt auf die Bank, sitzt er einem Stuhl gegenüber, der leer ist.

Überm Kopf ein Rauschen, wie von Flügelschlägen eines Kranichschwarms, der sich von den Wiesen am Bodden erhoben hat.

Dann wieder unterwegs auf der Straße, die hinauf ins Hügelland führt, unterwegs durch Vororte, denen man noch ansieht, daß es früher Dörfer waren, um den Stadtrand sich herumziehende Siedlungen, zwischen denen flaches Land lag mit Wäldern, Feldstücken, Bachläufen, Mühlen, Gutshöfen, Herrensitzen, alle ein paar hundert Jahre alt. Vertraute Gegenden, trotz fortwährender Veränderungen, trotz aller Vernichtung von etwas, das nur in der Erinnerung noch vorkommt. Es hat angefangen zu schneien, aber der Schnee bleibt nicht liegen.

Jörn Winter kennt man aus früheren Erzählungen. Er ist eine Person, die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild. In den Vorstellungen des Verfassers hat Jörn eine eigenständige Identität. Was er denkt und sagt, was er tut und wie er sich verhält, dafür hat der Verfasser keine Muster parat. Er korrespondiert mit Jörn, und wenn es mitunter so aussieht, als äußere sich Jörn im Sinne des Verfassers, dann weiß er im voraus doch nicht, was sein Korrespondent alles so mitzuteilen hat. Natürlich gibt es ein Netz von Spuren, aus denen Jörn nicht herauskommt, die biographischen Spuren des Verfassers. Jörn weiß das und richtet sich danach, indem er sich an die Möglichkeiten hält, die seiner Existenz, einer imaginären Existenz, gegeben sind.

Sätze, die dir bekannt vorkommen. Gib acht. Es könnten Zitate sein, die eigenen. Wenn es Wiederholungen sind, sind es absichtliche Wiederholungen, in der Annahme, daß etwas nicht angekommen oder begriffen worden ist, daß es nicht gewirkt hat, daß es um den Rest des Ungesagten geht.

Der Schnee bleibt nicht liegen, aber es schneit weiter und weiter, und irgendwann

bleibt er liegen.

Einen Film sehen, in dem man sich selber auf der Wiese am Rand des Wäldchens stehen sieht und hört, was man dem Mann hinter der Kamera sagt. Jörn weiß, wie der Film zustande gekommen ist, wie er darin mitgewirkt hat als Darsteller eines Verfassers, den der Film porträtiert. Als Rezensent würde Jörn über den Film rein Professionelles sagen, und er käme dabei gut weg. Als Beteiligter wundert er sich, daß er in diese Rolle überhaupt hineingeraten ist. Er sagt, mir ist alle Öffentlichkeit so fremd geworden, daß ich darin gar nicht mehr auftreten möchte, und nun mache ich doch mit wie ein altes Zirkuspferd, das gleich angetänzelt kommt, sobald die Manege ruft. Daß er so oft im Widerspruch mit sich selbst lebt, ist für Jörn nicht neu, aber eine Konsequenz ist ihm bislang nicht eingefallen. Jörn sagt auch, daß er Leute, die stets und eindeutig auf Spur bleiben, ebenso bewundert, wie er ihnen mißtraut, wenn er sie nicht gar fürchtet.

Gestern abend hat ein Schulfreund angerufen. Er schlägt ein Wiedersehen vor, vielleicht mit ein paar anderen aus der Klasse. Aber nicht unten in der Stadt, wo sie alle hingezogen sind, sondern oben hinter den Hügeln, zwischen den Dörfern, wo die Schule war.

Ein paar Jahre nach dem Krieg, als ich in die Klasse kam, bald nach der Thüringer Zeit. Ein großer Haufen Bauernjungens, die in der Frühe alle noch im Stall gestanden hatten. Neue Klamotten gab es noch keine, und so saßen alle in ihren alten Jungvolkuniformen da, braune Hemden, schwarze Blousons, Überfallhosen; einer, der Älteste, hatte Reitstiefel an.

Abgebrochene Stuhlbeine, zerkratzte Tische, zerbrochene Spiegel, eingedrückte Schranktüren. Viele der Möbel hatten die Flucht nicht gut überstanden.

Lastwagen, Fuhrwerke, Güterwaggons. Zuletzt, beim Ausladen im Fabrikhof des Onkels, ging Mutters Barocktisch aus dem Leim.

Wochentags Rübenkraut, sonntags Apfelkraut.

Die Mädchen in der Klasse hatten Zöpfe. Einige drehten sie zu Schnecken oder zu einem Haarkranz.

In der Schlafkammer zwei Betten und vier Kinder.

Spät, wenn wir uns was zu erzählen hatten, schüttete die Tante noch einmal eine Kanne Kaffee auf.

Einer aus der Verwandtschaft kam aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Seine Haut war gelb, er hatte im Afrikakorps gekämpft. Um das Abitur nachzumachen, ging er noch mal in unsere Schule mit. Als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz, und jetzt, eine Art von Wüstentrauma vielleicht.

Wenn hier einer ich sagt, sagt Jörn, dann bin ich es.

Die Rückenschmerzen. Im Sommer hatte es wieder angefangen. Kaltes Meer, harter Sand; es wurde schlimmer. Nach der Operation die Wochen in der Klinik, schön gelegen zwischen Bodden und Meer. Herbststürme, Spazierwege. Die Stellen am Strand, wo wir im Sommer gelegen hatten, von der Brandung überrollt. Möwen, ohne die Flügel zu bewegen, lassen sich treiben vom Wind. Einzelne Kormorane flattern aufs Meer hinaus.

Berliner Flaksoldaten. Das wäre ein Zitat, oder eher eine Anspielung, die nicht aus dem eigenen Repertoire kommt. Wo Jörn sie hergenommen hat … er sagt, wer will, kann ja im Internet danach suchen. Das Entstehen, der Verlauf von Assoziationen folgt Signalen, die man so bewußt nicht wahrnimmt. Sicher ist, daß unterhalb des Hohen Ufers im Strandgeröll zwei Betonkolosse liegen, Reste von Geschützbunkern, die zu den Stellungen der Küstenbatterie gehörten; Ende der dreißiger Jahre sind sie auf dem Kliff angelegt worden. Jörn, als er mit Lene Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal aufs Fischland kam, entdeckte die von der Dünung umspülten Relikte bei seinen Erkundungen einer Gegend, die ihn Jahr für Jahr aufs neue anzieht und beschäftigt. Sicher ist auch, daß in den alten Fischerdörfern viele Berliner ein Zuhause haben, für immer, für die Ferien, fürs Wochenende. Jörn seufzt ein bißchen, wenn er sagt, lebten wir in Berlin, zum Wochenende kämen wir auch hierher. Wie alle die Freunde, die er in Käthe Miethes Haus besucht, mit denen er sich im Dünenhaus, im Baltischen Hof, bei Saatmann oder oben in der Buhne 12 trifft. Manchmal findet er in Lenes Collagen Motive aus der Gegend wieder, und einmal ist zu einem dieser Bilder ein Text entstanden mit Wörtern, die aus dem Tagebuch von Felix Hartlaub stammen, seit Kriegsende verschollen in Berlin, im September 39 in der Nähe hier bei der Flak.

Alte Leute danach fragen, ob sie aus der Kindheit noch die Häschenschule kennen. Nachdem in einer Berliner Bombennacht Wohnung und Atelier ausgebrannt waren, siedelte Fritz Koch-Gotha, der Urheber unserer Kinderfibel, endgültig über in seine Büdnerei an der Fulge. Dora Koch-Stetter, seine Frau, malte Bilder, die nicht nur besser waren … im Grunde, sagt Jörn, überragen sie alles, was die ganze Ahrenshooper Künstlerkolonie an Bilderwerk hervorgebracht hat. Aber unter den Malweibern war sie ja eine Verheiratete, und so kam sie wegen Haus und Hof, Kind und Mann nur wenig zum Malen. Jörn kommt alle paar Tage an der Fulge vorbei und bringt einen Packen Zeitungen mit. Der Enkelsohn und seine Frau haben sich einen Namen als Keramiker gemacht, und die junge Frau Klünder ist immer ganz glücklich, wenn Jörn die überregionale Presse in der Werkstatt ablädt. Zum Einwickeln taugen die großen Formate besonders gut, und so kommt es, daß sich in seiner Ferienbleibe die Zeitungsknäuel wieder häufen, wenn Jörn reihenweise Becher, Schalen, Teller und Teetassen mitgenommen hat.

Jörn versucht sich zu erinnern. Aber es gibt für ihn keine Erinnerung an Jahre und Tage, als Gesine Cresspahl, ein paar Häuser weiter, in den Ferien hier war. Wir waren ja als Flüchtlinge gekommen, sagte die alte Dame, aber das durften wir nicht laut sagen, weil es immer hieß, daß wir als Umgesiedelte gekommen waren.

Abends flattern die Kormorane, einzeln oder zu zweit, landeinwärts zurück.

[...]

SINN UND FORM 4/2013, S. 591-602