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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-18-8

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Leseprobe aus Heft 4/2014

Knauf, Erich

DER UNBEKANNTE ZILLE


In der ersten Schwarz-Weiß-Ausstellung der Berliner Sezession 1901 war Zille mit einigen seiner besten Arbeiten vertreten. Er war damals noch im graphischen Gewerbe beschäftigt, Kunst war für ihn kein Broterwerb. Das Honorar, das der »Simplicissimus« und die »Jugend« – die ersten Zeitschriften, die ihn erkannten und schätzten – zahlten, wurde von Zille gern mitgenommen, denn seine »außerdienstliche« Tätigkeit hatte sich bis dahin im Haushaltsplan der Familie nur als Ausgabenposten bemerkbar gemacht.

Die Ausstellung wurde sehr beachtet. Viele, die sonst kaum in eine Bilderausstellung zu bringen waren, wurden von den Zillebildern und der öffentlichen Diskussion, die um diese Blätter entstanden war, angezogen. Das Aufsehen war so groß, daß unter den Mitausstellern neidische Gruppen entstanden, die sich gegen das Eindringliche und seine Lithographenarbeiten auflehnten. Vorher war ihnen der Zille als ulkiger Kauz erschienen, dem man stundenlang zuhören konnte, wenn er beim Bier in seiner ungeschminkten Weise von der Welt der armen Leute erzählte, die den meisten ja so fremd war wie ein ferner Planet. Jetzt aber fiel ihnen plötzlich ein, daß Zille und seine Zeichnungen »nichts mit Kunst zu tun« hatten. Sie besannen sich wieder auf ihre »reinen Grundsätze«, und sie sorgten dafür, daß der entrüstete Ausspruch eines älteren Herrn, der sich mit Schaudern von den Zille-Bildern abgewandt hatte, kolportiert wurde: »Der Kerl nimmt einem ja die ganze Lebensfreude!« Es war nicht schwer, einen solchen Ausspruch zu einem geflügelten Wort zu machen, galt doch bis weit hinein in die Kreise Linksstehender die Ansicht, Kunst habe nicht das Häßliche und Kranke darzustellen, sondern das Bedürfnis nach festlichem Lichterglanz zu erfüllen!

Max Liebermann war es, der sich lebhaft für Zille eingesetzt hatte. In einem Vorwort, das er später zu einem Zille-Buch des Carl-Reissner-Verlages, Dresden, schrieb, hat Liebermann sein Interesse für die Kunst Zilles mit ausgezeichneten Worten begründet. Gescheiter als hundert Maler seiner Zeit, ein Bahnbrecher nicht nur im Formal-Ästhetischen, erkannte Liebermann in Zille den Meister, einen Meister ganz im Sinne jener großen Kunstepochen, in denen die Künstler aus dem Handwerk hervorgingen und ihr Schaffen in einer stetigen Übereinstimmung mit dem Dasein und Empfinden des Volkes steigerten – oft über sich selbst und ihren handwerklichen Horizont hinaus. »Sie sind viel mehr als ein Humorist«, schrieb Liebermann an Zille, »Sie haben Humor«. Ein Wort, das charakteristisch für Max Liebermann ist, das eben nicht nur durch geistvolle Formulierungen überrascht, sondern das auch das Wesen Heinrich Zilles mit einem sicheren Strich umreißt, ein Porträt in einem Zuge.

Auch die zwei anderen Größen der Sezession, Lovis Corinth und Max Slevogt, waren mit Zille befreundet. Edvard Munch und Strindberg, Richard Dehmel, die Bildhauer Gaul und Krauss – Dichter, Maler, Kunsthändler, es war eine lebendige Gesellschaft, in die Zille hineingeraten war. Bei den meisten kam die Berühmtheit erst später, und der Mangel an Mammon sorgte für eine gewisse Gleichheit. Wer etwas im Portemonnaie hatte, wurde zum Futtermeister. Es waren schöne kameradschaftliche Zeiten, erregende und anregende Stunden, die unwiederbringlich dahin sind. Die Epoche der motorisierten Empfindungen hat sie überfahren und totgequetscht.

Eine Erinnerung aus diesen Tagen ist erhalten geblieben, in Marmor verewigt. Der Bildhauer Krauss hat sich den Spaß geleistet, seinen Bierfreund Zille als Modell für die Büste des Edlen Wedigo von Plotho zu nehmen, und so geschah es, daß der an allerhöchster Stelle dreimal verfemte Zille einen Ehrenplatz unter den Hohenzollern und ihren treuen Bannerträgern bekam, in der marmornen Ahnengalerie der Siegesallee im Tiergarten zu Berlin.

Dieser Ulk kennzeichnet den Zillekreis von damals. Die Leute hatten, was heute so rar ist, Humor. Und Humor ist oft, eben weil die anderen so vernagelt und darauf auch noch stolz sind, gleichzusetzen mit Rebellentum.

Zille hätte nicht in diese toll gemischte Kolonne gepaßt, wenn er ein Banause gewesen wäre, der sich etwas auf diesen »Umgang« eingebildet hätte. Er kam sich wahrhaftig nicht als Künstler vor, nicht einmal als einer, der sich in dem Glanz sonnen darf, den andere verbreiten. Zille blieb Lithograph, Arbeiter.

Die dreißig besten Jahre seines Lebens brachte er bei der Lithographischen Gesellschaft zu. Tag für Tag gab er seine Arbeitskraft voll her – für eine Tätigkeit, die auch im besten Falle doch eben nur reproduktiver Natur war. Die Firma hatte erst ihre Werkstatt am Dönhoffplatz, im Zentrum Berlins, gegenüber dem alten Abgeordnetenhaus. Von seinem Fensterplatz aus konnte Zille auf das bunte Marktleben herunterblicken. Die Geflügelstände, die Blumenverkäuferinnen und die Gemüseweiber, das lebhafte Kommen und Gehen der Käuferinnen und die herumstehenden Arbeitslosen interessierten ihn mehr als die Herren Minister und Abgeordneten, die – meist in großer Aufmachung – vor dem Parlament vorfuhren und sich und andere glauben machen wollten, daß sie tatsächlich die politischen Geschicke ihres Volkes leiteten. Zille nahm diese Art von Politik nie sehr ernst. Er sah nur allzu deutlich, wohin der Karren rollte. Auch später, als neue und größere Parlamentshäuser gebaut worden waren, als das Parteiengemisch bunter und die Reden hitziger wurden, blieb Zille bei seiner ironischen Skepsis politischen Dingen gegenüber. Ob Bismarck ging oder »gegangen wurde«, ob der junge Kaiser die militärische Rüstung Deutschlands bis zur akuten Kriegsgefahr steigerte, ob die radikale oder gemäßigte Richtung in der Arbeiterbewegung zum Durchbruch kam – Zille hielt auf einen gewissen Abstand, der es ihm freilich auch ermöglichte, leidenschaftslos und auf gute Sicht gestützt, den Ereignissen bis auf den Grund zu sehen. Was ihn vor allem interessierte, waren die Ergebnisse der Politik, die Wirkung auf die Menschen, und da mußte er zu der Feststellung kommen, daß der fünfte Stand, also sein Bezirk, nicht berührt wurde, was auch geschehen mochte. Der politisch aktive Arbeiter blieb stets außerhalb von Zilles Gesichtsfeld. Zille übersah ihn, weil er sich selbst nicht zur politischen Aktivität aufschwingen konnte. Er hatte darin durchaus die Wesenszüge des deutschen Kleinbürgers erkannt, der aus der Politik ausgeschaltet war und erst drei Jahrzehnte später noch einmal den letzten Versuch machte, ein Wort in politischen Machtfragen mitzureden.

Bei der Photographischen Gesellschaft wurden besonders die Reproduktionen großer Kunstwerke hergestellt. Die Paradestücke der Gemäldegalerien kamen in verhältnismäßig originalgetreuen und billigen Wiedergaben »ins Volk«. Heute sind diese Reproduktionen natürlich längst als veraltet beiseite geschoben, aber damals verlangte die photographische Vervielfältigung eine große handwerkliche Geschicklichkeit und ein feines Gefühl für das »gewisse Etwas«, das keiner erlernen kann, wenn er es im Keime nicht bereits mitbringt. Zille konnte hier sein Können einsetzen. Die Inhaber der Photographischen Gesellschaft schätzten ihn als tüchtige Kraft. Das schloß aber nicht aus, daß sie sich über seine Beschäftigung nach Feierabend äußerten: Er hätte es doch nicht nötig, bis in die Nacht hinein noch für sich zu arbeiten, er hätte doch sein Brot. Es gefiel ihnen wohl nicht, daß einer ihrer Arbeiter mit Zeichnungen hervortrat, in Zeitschriften, deren Mitarbeiter wegen Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung auf der Anklagebank saßen.

Zille ließ sich aber nicht abhalten, seine künstlerischen Arbeiten fortzusetzen. Er sah, wie die Inhaber der Firma Villenbesitzer wurden in Charlottenburg, wohin auch die Werkstatt verlegt wurde, durch Grundstücksspekulationen mehr verdienten als ein begabter Arbeiter. Und dann mußte er daran denken, daß die Angestellten immer noch auf die bescheidenen Eigenhäuser warteten, die ihnen versprochen worden waren. Zille erlebte die Erfüllung dieser Träume nicht mehr, er wurde gekündigt. Der Schlag traf ihn unerwartet und hart. Von seinen Zeichnungen für Witzblätter hielt er wenig. Davon konnte er nach seiner Meinung nicht leben. Würde es ihm gelingen, wieder eine Arbeitsstelle zu finden? Ein Arbeiter über Fünfundvierzig ist schon zu alt. Die jüngeren Kräfte stoßen nach, wollen auch »mal ran«, und sie haben Chancen, denn sie sind billiger. Ein Achtzigjähriger ist das ideale Aufsichtsratsmitglied, aber ein fünfzigjähriger Arbeiter gehört auf den Schuttabladeplatz.

»Zwei Tage lang lag ich auf der alten Pritsche und stierte die Stubendecke an. Was nun?«

Seiner Frau wagte er es gar nicht zu erzählen, daß er die Kündigung in der Tasche hatte, das Freibillet ins graue Nichts.

Dazu hatte er sich nun abgerackert und geplagt! Er mußte an die Arbeitslosen denken, die auf den Straßen und Plätzen herumstanden und von jedem Schutzmann schief angesehen wurden, an die Arbeitslosen, die Unter den Linden und in den Anlagen auf den Bänken nächtigten, bis sie der Frost jagte oder die »Polente« kam und die Schläfer kopfüber von den Bänken warf.

Die Gesellschaft müsse sich umstellen, hatte der Prokurist zu ihm gesagt, als er die Kündigung ausgesprochen hatte. Eine solche Umstellung fängt eben stets bei den Arbeitern an. Wie, wenn sich nun die Arbeiter einmal umstellten, was dann? Aber damit hat es noch lange Weile. Die Kollegen waren froh, daß die Kündigung nicht sie betroffen hatte. Es war ihnen unbehaglich gewesen, als der eine seinen Werkplatz verlassen mußte.

»Kann dir die Hand nicht geben, derweil ich eben lad’« – das ist die alte Geschichte. Solange sich jeder selbst der Nächste ist, wird das auch immer so sein. Und Zille konnte sich von dieser Schuld nicht freisprechen.

Wie hieß doch der Kollege, der in seiner Verzweiflung Zyankali nehmen wollte? In einem Loch von Kellerwohnung hauste er. Die Rente war zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Kopf hoch, Junge! Aber wer draußen steht, hat ja immer gut reden; hier drinnen, wo das alte Herz so einsam und wie von ferne pocht, ist jeder Mensch allein. Es gibt keine größere Einsamkeit als die Arbeitslosigkeit.

Die Hand hatte ihm der Prokurist zum Abschied geben wollen! Aber da hatte Zille seine Hände angesehen, er hatte sie der Gewohnheit folgend schon hinreichen wollen, seine Hände hatte er angeschaut, mit denen er gearbeitet hatte, seit er sie gebrauchen konnte, und dreißig Jahre davon für die Leute, die ihn jetzt aufs Pflaster setzten! Er hatte dann seine Hände auf dem Rücken verschränkt und dem Prokuristen gesagt: »Nee, sie sind dreckig«. Und der hatte sich nun sein Teil denken können. […]

 

SINN UND FORM 4/2014 S. 437-463, hier S. 437-440