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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 9.00]  ISBN 978-3-943297-19-5

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Leseprobe aus Heft 5/2014

Handke, Peter

Eine Ideal-Konkurrenz. Zum Briefwechsel zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon


Ist’s nicht etwas Merkwürdiges, daß die Gestalten, die Gestalter, die Menschen, die Gestalter-Menschen, welche mich in der letzten Zeit in einer, in ihrer Weise dahin begeistert haben, mich auf meine Weise über sie zu äußern, ein jedesmal mir als Paare vor’s Leser-Auge getreten sind?

So war’s vor einem Jahr mit dem gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1842, einem Paar, als Mann und Frau, wie’s nicht allein im Buche steht. So ist’s mir geschehen vor mehreren Monaten mit dem Briefwechselband, konzentriert auf die vier Jahre des Großen Kriegs 1914–1918, zwischen Romain Rolland und Stefan Zweig, einem Menschenkinderpaar wie nur je einem, anhand des geteilten Entsetzens und sanft-energischen Widersprechens. Und ebenso hab’ ich’s in den vergangenen Wochen erlebt mit der Korrespondenz – dieses Wort bekommt da wieder einen eigenen Klang –, der fast vier Jahrzehnte umfassenden, von 1959 bis 1997, zwischen Carlfriedrich Claus in Annaberg /Erzgebirge, während dreißig Jahren noch Deutsche Demokratische Republik, und Franz Mon in Frankfurt am Main, damals wie heute Bundesrepublik Deutschland. Und ist’s bei diesem dritten mich begeisternden Gespann, der »fast lautlose(n) Schwingungssymbiose«, wie Franz Mon den zweifachen Austausch über die Jahrzehnte in einem Brief einmal nennt, nicht auch schon merkwürdig, wenn es mich drängt, eingangs, in einer Andeutung von Reverenz, einerseits die ständigen, wohl des Rhythmus wegen, Apostrophe des Carlfriedrich Claus nachzubilden – »ist’s«, »so war’s«, »wie’s«, »so hab’ ich’s« –, und andrerseits, frei nach Franz Mon (dieser da im Gegensatz zu seinem Mitlebenden jenseits der Staatsgrenzen), das gesamtoder gar altdeutsche »scharfe ß« zu üben, als eine Art von, wenn vielleicht auch nur wenigen was bedeutendem, Weltkulturerbe.

Was ich versuchen möchte, zu Franz Mon und ebenso Carlfriedrich Claus, zu der beiden Schwingungssymbiose, zu äußern, soll nicht, zumindest nicht ausdrücklich, als eine Laudatio, ein Lobpreis, eine Preisschrift oder -rede, ertönen. (Sollte es antönen – recht so, vielleicht.) Meine Weise, in diesem Fall, da ich als Leser wie auch als Schreiber kein Mitstreiter oder dergleichen, vielmehr ein entschieden Außenstehender – »ich bin so frei!« – sein kann, hat, in erster und letzter Linie und Zeile, die des Zu-Wort-Kommenlassens der beiden, jetzt des Franz Mon, jetzt des Carlfriedrich Claus zu sein, des Ahnenlassens vom Wörtlich – wie Schriftbildlich – wie Laut – wie Lautloswerden der zwei Helden, ja doch, Helden des Gestaltens, und überdies, und wenn auch nur nebenbei, die Zeit, die Historie mit ihren Kalamitäten, ins Spiel zu bringen, welche das, wiederum ja, Heldentum des Paares Claus /Mon wider deren Natur, Struktur, geschweige denn Willen auf die Sprünge, auf die Expeditionen zu all den unentdeckten Formen, und sei es des scheint’s Bekanntesten, der Buchstaben, der Selbst- und Mitlaute, gebracht hat. »Zeit"? Franz Mon würde dieses Wort für die geschichtlichen Umstände und Unheile mißbraucht finden, wie jede gemessene, meßbare Zeit, er, der in einem seiner Briefe sich nach einer »maß-losen Zeit« sehnt und allein die Sekunde als real empfindet, siehe auch die vielen »plötzlich«, »unversehens«, »auf einmal«, »ruckhaft«, »abrupt« usw. in dieser Korrespondenz, evoziert, ausgerufen von den beiden Seiten, ohne Unterlaß, über die fast vier Jahrzehnte.

Es ist nicht meine Sache, die Poetik, die poetische Methode der beiden zu umreißen, gar zu definieren. Im übrigen könnte ich es auch nicht, habe zwar momentan, unversehens, ruckhaft einen Blick dafür, mehr noch ein Gehör, und, in der unmittelbaren Folge, ein Gefühl dafür, ein umfassendes, ein umgreifendes, etwas wie eine Hörvision. Doch es fehlen mir die Worte, und mehr noch die Begriffe. (Michael Lentz, der bei S. Fischer 2013 das Franz-Mon-Lesebuch »Zuflucht bei Fliegen« herausgegeben und kommentiert hat, verfügt über das eine wie das andere, und das ist, wie man einmal gesagt hat, »verdienstvoll «, hilfreich beim Einordnen – sofern einem Leser dergleichen nottut, und ist, zum Glück, auch noch ein anderes, und mehr.) Das einzig Wörtliche, das mir Leser-Betrachter-Hörer zur Poetik des Carlfriedrich Claus und des Franz Mon je in den Sinn gekommen ist, war, und zwar zu wiederholten Malen, was ich als ein Zeichen von Stichhaltigkeit nahm, ein Vergleich: Der mit dem »Wohltemperierten Klavier« von Johann Sebastian Bach, insofern als Bach da, wenn ich das richtig verstanden habe, ausschließlich ausgeht von den verschiedenen Tonarten und deren Entwicklungsmöglichkeiten auf diesem bestimmten Instrument und dessen besonderer Klangmaterie und einzig und allein auf diesem Weg, des Experimentierens mit dem Material, jeweils ins Spielen gerät, ein Spielen freilich, das ganz und gar nicht »so ohne« ist. Und solcherart Spielen und Experimentieren mit dem Material, mit dem »Motiv im Material«, wie Franz Mon das 1959 in einem der ersten Briefe an Claus einmal nennt, ist mir unversehens auch als Vergleich der Poetik Mon / Claus mit den Fingerund-Ohr-Expeditionen des »Wohltemperierten Klaviers« erschienen. Erschienen? Kann ein Vergleich »erscheinen"? Ja doch: Nur so, kommt mir vor, ist er am Platz und es ist zumindest was dran an ihm.

»Poetik«, habe ich gemeint, im Singular, so als ob die zwei, Franz Mon wie Carlfriedrich Claus, und umgekehrt, ein und dieselbe Poetik praktizierten. Das trifft einerseits zu für den gemeinsamen Ausgangspunkt, oder eher Aufbruchsmoment, siehe das »Motiv im Material« aufsuchen und weiterspielen. Andrerseits sind die beiden grundverschiedene Gestalten wie Gestalter, und solche Grundverschiedenheiten können nicht umhin, mitten in der Material-Expedition jeweils voneinander abzuzweigen, ein jeder auf seinem Form-Weg, ein jeder anhand seiner dem anderen Expeditionsmitglied vielleicht sogar entgegengesetzten Poetik. Es handelt sich also, aus dem Briefwechsel noch um einiges klarer als aus Claus’ und Mons Werken herauszulesen, zwar in der ersten Bewegung um eine einzige, gemeinsame Poetik, welche im Verlauf aber unversehens, wie ein einziger Fluß, aus dem – Bifurkation – plötzlich zwei werden, zu zwei Poetiken »bifurkieren« und in ganz verschiedene Richtungen, womöglich gar Ozeane tendieren. Ahnbar wird das schon in einem der ersten Briefe Mons an Claus, worin der leise ermahnt wird, die »Neoromantik« aus dem Spiel, d.i. aus dem Text, aus den Texten und Schriftbildern zu lassen, und gleichsam klipp und klar, wenn auch inzwischen ohne jede Kritik an dem, der inzwischen längst ein oder überhaupt der Text-Bild-Abenteuer-Partner schlechthin geworden ist, schreibt das Franz Mon in einem der letzten Briefe an Claus vor dessen Tod und sagt es zugleich sich selber lautlos vor: Seine Arbeit, sein lebenslanges Tun sei nicht »kontemplativ« (oder heißt es »meditativ »?), sondern »diskursiv«, also auf Dialog, Gespräch, Antwort aus. Eine Poetik, die mitten im Flußlauf auseinanderdriftet zu zweien, wie der Orinoco in Südamerika, und zuletzt, anders als der Orinoco, zur Einzahl, zum Einssein zurückfindet.

Wie das geschieht, ist nachzulesen als eine Art von Wunder, freilich als ein »natürliches«, von dem wir einst im Religionsunterricht gelernt haben, das Wunderbare daran sei einzig, daß es sich, als natürliches, der Vernunft zugängliches Geschehen, in dem einen besonderen Moment, unversehens, plötzlich, ereignet. Und auch dafür, für das Wunder dieser Korrespondenz, das selbst heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Ausklingen, weiter seinen Moment hat, seine Plötzlichkeit, stärker vielleicht als zuvor, fehlen mir die Worte. Das heißt, sie fehlen ganz und gar nicht, denn sie steigen einem, mir nichts, dir nichts, auf und entgegen aus der Folge der Briefsätze, welche ab jetzt ohne Kommentar, höchstens da und dort mit einem Ausruf, das Lebensexperiment, das experimentelle Leben des Franz Mon wie des Carlfriedrich Claus nachvollziehbar und vor allem miterlebbar machen.
[…]

SINN UND FORM 5/2014, S. 581-592, hier S. 581-583.