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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-31-7

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Leseprobe aus Heft 5/2016

Leggewie, Claus

Neue Briefe aus Paris.
Eine Wende im literarisch-politischen Grenzverkehr


Für Rupert Neudeck,
den Frankreichkenner und Menschenretter
(1939 – 2016)

Das Schmettern des gallischen Hahns

Frankreich zieht deutsche Kulturschaffende seit der Revolution von 1789 in seinen Bann. Zu den Frankophilen des »Jungen Deutschland«, einer Kongregation freiheitsliebender Literaten im Vormärz, zählte Carl Ludwig Börne, 1786 als Juda Löb Baruch in der Frankfurter Judengasse (am heutigen Börneplatz) geboren und 1837 in Paris gestorben. Aus dem Exil schrieb er seiner Muse Jeanette Wahl »Briefe aus Paris«, deren zweiter (von insgesamt 115) vom 7. September 1830 für den Sound zeitgenössischer Frankreichbegeisterung stehen mag. Schon der Grenzübertritt löst bei ihm Verzückung aus: »Die erste französische Kokarde sah ich an dem Hute eines Bauers, der, von Straßburg kommend, in Kehl an mir vorüberging. Mich entzückte der Anblick. Es erschien mir wie ein kleiner Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als das Friedenszeichen des versöhnten Gottes. Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte – ganz unbeschreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden, und nur Tränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern. (…) Die Fahne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft. Fragen Sie doch den ersten besten Legationssekretär, ob das nicht gegen das Völkerrecht sei. Es war nur der rote Farbenstreif der Fahne, der in unser Mutterland hineinflatterte. (…) Gott! könnte ich doch auch einmal unter dieser Fahne streiten, nur einen einzigen Tag mit roter Dinte schreiben, wie gern wollte ich meine gesammelten Schriften verbrennen, und selbst den unschuldigen achten Teil von ihnen, der noch im Mutterschoße meiner Phantasie ruht!«

Börne trifft am 16. September 1830 in Paris ein, mit ihm halten sich rund siebentausend deutsche Exilanten an der Seine auf. Er flaniert, besucht Kaffeehäuser, die Oper und das Vaudeville, den Jardin des Plantes und stürzt sich »jubelnd in das frische Wellengewühl«. Solche Euphorie ist mittlerweile nur noch schwer vorstellbar. Börne, der heute als Erfinder des politischen Journalismus gilt, wurde 1808 in Gießen zum Doktor der Philosophie promoviert und lebte eine exemplarische Existenz, ihm ging es um"die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Publikum, die Information der Öffentlichkeit durch eine allgemeinverständliche Darstellung von Ideen, das Zusammenführen der verschiedenen Lebenskreise« (Willi Jasper). Diese Tätigkeitsbeschreibung nimmt recht genau die Aufgaben vorweg, denen sich Ende des 19. Jahrhunderts »les intellectuels « stellen sollten und die von Paris aus für ganz Europa stilbildend wurden.

Von Börne und Heine, um nur einen Compagnon und Widersacher zu nennen, führt eine lange Spur zu teilweise schon vergessenen Deutschen, die aus dem französischen Geist Inspiration und Courage bezogen. Jean-Paul Sartre und Albert Camus werden seit den vierziger Jahren breit rezipiert, ebenso wie um 1968 die Nouvelle Gauche und in den Siebzigern die »Franzosentheorie« von Roland Barthes, Jacques Derrida und Michel Foucault, auch die »Neuen Philosophen« um André Glucksmann und Bernard Henri-Lévy. Zu erwähnen sind aber auch Friedrich Sieburg, konservativer Kulturkorrespondent der »Frankfurter Allgemeinen« in Paris, oder Armin Mohler, der Doyen der Konservativen Revolution, der für diverse Tages- und Wochenzeitungen aus der französischen Hauptstadt berichtete.

Vielen Generationen war Paris vor allem ein Leuchtturm der sozialen Emanzipation: »Wenn alle Bedingungen erfüllt sind, wird der deutsche Auferstehungstag verkündet werden durch das Schmettern des gallischen Hahns«, prophezeite Karl Marx im Januar 1844 von Paris aus den Deutschen, die ihre bürgerliche Revolution verpaßt hatten und nun gleich in die sozialistische Gesellschaft springen sollten. Die Pariser Kommune von 1871 nährte noch einmal die Hoffnungen der radikalen Linken, und bis heute erwarten sich Unbeirrbare ein neues Fanal aus Frankreich, wenn die Bewegung der »Nuit debout« die Nacht über aufrecht steht und Gewerkschaften gegen die französische Agenda 2010 mobil machen. Eines jedenfalls galt lange als ausgemacht: Der (französische) Geist steht links.

 

Energischsein

In Frankreich können freilich auch Republikaner den Aristokraten geben. Männer (und Frauen) der Linken pflegen Marotten und Spleens, die sie vom einfachen Volk abheben, ganz selbstverständlich benehmen sie sich als Angehörige der Elite. Dazu gehört finanzielle Unabhängigkeit – eine Erbschaft, ein Familienbetrieb oder eine Apanage im Hintergrund, Tantiemen aus der Schriftstellerei. Man spricht ein etwas altmodisches Französisch, unverdorben vom plebejischen oder migrantischen Patois, aber nicht ohne drastisches Vokabular und stets etwas pathosschwanger. Eine katholische Erziehung stört ebensowenig wie Freimaurerei, man bedient sich toter Sprachen und bissiger Aperçus. Und kann im Alter von Abenteuerreisen in koloniale Gebiete berichten, deren Verlust milde bedauert wird.

Um derlei rechts zu überholen und sich wahrhaft Elite nennen zu können, muß man schon Monarchist sein, die Ermordung Ludwigs XVI. unter der Guillotine als Urkatastrophe des modernen Frankreich ansehen, die Messe auf Latein hören, eventuell okkulten und esoterischen Neigungen frönen. Und offen reaktionär sein, die Revolution für einen welthistorischen Fehler und Maréchal Pétain, der mit Hitler kollaborierte, für eine honorige Person halten. Mit der Familie Le Pen, die dem Front National in quasi-dynastischer Erbfolge vorsteht, macht man sich nicht direkt gemein, liefert aber der rachgierigen Bourgeoisie die Stichworte und verachtet den Plebs, der früher der KP, nun Le Pen folgt, als auswechselbare Masse.

Als Inkarnation dieses état d’âme, einer Seelenlage zwischen Dandytum, Rebellion und Melancholie, darf der über neunzigjährige Schriftsteller Jean Raspail gelten. Die meisten Deutschen kennen den Mann nicht, dem die FAZ schwärmerische Elogen widmet und jüngst einen Abgesandten in die Pariser Wohnung, selbstverständlich Rive droite, schickte, zum »letzten ausführlichen Gespräch (…), das der reaktionäre Einzelgänger der Öffentlichkeit zu geben gedenkt« (6. April 2016). Das Resümee war der Sektion »Geisteswissenschaften« fast eine ganze Seite wert.

Die Homestory war eine Art Kassiber an Raspails anschwellende Lesergemeinde in Deutschland. Drei Werke sind soeben zum Teil neu übersetzt erschienen, zwei davon im Verlag Antaios, dem nach Ernst Jüngers Zeitschrift benannten Verlag im Rittergut Schnellroda in Sachsen-Anhalt, einer Kaderschmiede der »Alternative für Deutschland« und der Pegida-Bewegung. Deren Ambitionen ließen sich gut in eine markige Losung Jean Raspails fassen: »Gewalt ist nicht zwangsläufig ein Töten, sondern zunächst eine Attitüde eminenten Energischseins.« Das klingt nach Aufruhr und Rebellion, aber sicher nicht nach links. Exakt solche jüngerhaften Sätze festigen Raspails Status als »Kultautor« der völkisch-autoritären Rechten. Nicht daß man ihn gegen seine Liebhaber diesseits und jenseits des Rheins verteidigen müßte (er macht seinem Image als »archéo-réac« alle Ehre), aber versuchen wir zunächst, seinem früheren Werk gerecht zu werden.

Für Kindheit und Jugend des 1925 geborenen Autors trifft grosso modo zu, was über ähnliche Geistesaristokraten schon gesagt wurde: Abkunft von einem Militärattaché und Bergwerksdirektor aus einer lupenrein französischen Familie, katholische Gymnasien, eine gewisse Sympathie für Deutsche in Uniform (1935 an der besetzten Saar und 1940 im okkupierten Frankreich), Antipathie gegen ein Amerika, das Frankreich 1945 von ihnen befreit. Raspail pflegt seine Gattin zu siezen (die Burschen vom Rittergut tun es ihm nach) und blickt auf ein aufregendes Leben als Freigeist und Abenteurer zurück. Zwischen 1952 und 1972 legte er ein Dutzend Reiseberichte über selbstorganisierte Expeditionen vor: 4500 Kilometer mit dem Kanu durch »Französisch-Nordamerika«, von Québec bis New Orleans, diverse Reisen ums Kap Hoorn, im Auto durch Alaska, auf den Spuren der Inka und Abstecher zu den Ureinwohnern Patagoniens, Raspails Arkadien an der Südspitze Lateinamerikas. Damals entdeckte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss die traurigen Tropen, deren Völker im Strudel der Modernisierung untergehen; Raspail übertrug deren Schicksal auf den in seinen Augen unaufhaltsamen Niedergang der Franzosen: »reif für den finalen Schlag«.

Reif für den Knockout, diese Art von Niedergang ist Thema des ersten großen Romans, auf den Raspail selbst den Beginn seiner Karriere datiert: »Le Camp des Saints«, zu deutsch »Das Heerlager der Heiligen«. Er erschien 1973 im renommierten Pariser Verlag Robert Laffont, erlebte bis 2013 mehrere Neuauflagen und Übersetzungen in diverse Sprachen und soll in Frankreich bis zu 200 000 Mal verkauft worden sein. Der fromme Titel geht auf Abschnitt 20/7 in der Johannes-Offenbarung zum Tausendjährigen Reich zurück: »Und wenn die tausend Jahre vollendet sind, wird der Satan losgelassen werden aus seinem Gefängnisse, und er wird ausgehen und verführen die Völker in den vier Ecken der Erde, und er wird sie versammeln zum Streite, deren Zahl ist wie der Sand des Meeres. Und sie zogen herauf auf die Breite der Erde und umringten das Heerlager der Heiligen und die geliebte Stadt. Und es fiel Feuer von Gott aus dem Himmel und verzehrte sie.«

Diese »Apokalypse nach Jean« ist die dramatische Geschichte einer Masseninvasion elender und hungernder Inder, die zu Hunderttausenden am Ganges aufbrechen und nach vierzigtägiger Fahrt über die Weltmeere mit ihren abgetakelten Schiffen an der Côte d’Azur landen. Eine »Armada der letzten Chance« nennt ein französischer Starjournalist die Flotte, und es fehlt nicht an anspielungsreichen Bekundungen der Solidarität. Im Pariser Mai wurde gegen die von de Gaulle und der KPF erwirkte (und klar judenfeindliche) Ausweisung von Daniel Cohn-Bendit der kosmopolitische Slogan »Wir sind alle deutsche Juden!« angestimmt, analog erschallt der anreisenden Schar multikulturell entgegen: »Wir sind alle Menschen vom Ganges!« Deren Reise auf hundert überfüllten Schiffen verfolgt der Roman in Rückblenden und prangert die Verblendung derjenigen an, die sich der Invasion nicht entgegenstemmen (wie es die Regierungen von Australien, Ägypten und Südafrika tun). Im Mittelmeer zunächst voller Mitleid empfangen, werden sich die Menschen vom Ganges dafür nicht erkenntlich zeigen, sondern Frankreich fast widerstandslos übernehmen.

Diese Eroberung durch schiere Zahl spielt sich, in klassischer Einheit von Zeit, Ort und Handlung, zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt (sagen wir: heute) rund um ein Osterfest ab und enthält wunderbar bösartige Beobachtungen über das Gemunkel und Geplapper von Menschen in Notsituationen, mit denen sie nicht gerechnet haben und die sie sich schönreden: Das sind die Opportunisten an der Staatsspitze, das ist die intellektuelle Schickeria, das sind namentlich kirchliche Würdenträger unter einem Papst namens Benedikt XVI. (1973!), der eher dem Nachfolger Franziskus gleicht. Den Klerus nimmt Raspail besonders aufs Korn, auch die linksliberale Presse (deutlich erkennbar ist als Vorbild die Wochenzeitung »Le Nouvel Observateur«), die sich zu beweisen bemüht, »wie sehr die Menschen vom Ganges schon immer unsere Kultur bereichert haben«.

»Mitleid!« bricht es aus einem Protagonisten heraus. »Immer dieses erbärmliche, widerliche, hassenswerte Mitleid. Ich weiß, Sie nennen es Nächstenliebe, Solidarität, Weltgewissen und so weiter. (…) Bedenken Sie doch die Konsequenzen Ihres allzu willfährigen Mitleids! Das ist doch geradezu kriminell! Nur ein Wahnsinniger oder ein Verzweifelter kann so blind sein wie Sie!« Ungerührt lassen (ausgeschriebene) »zweiunddreißigtausendsiebenhundertzweiundvierzig Lehrer« ihre Schüler Aufsätze schreiben, wie man die Fremdlinge willkommen heißen kann … Natürlich geht die Sache schief: »Das Tier«, wie die Million Inder bei Raspail heißen, wird eine einstmals blühende, aber moralisch verrottete Zivilisation vandalisieren. Sie kopulieren wild und vergewaltigen, es kommt zu Plünderungen, die Gefängnisse werden geöffnet, der Präsident ruft den Kriegszustand aus. Doch seine Armee will nicht schießen, die stolzen Fregatten und Flugzeugträger der Grande Nation im Mittelmeer bleiben stumm. Die Franzosen machen sich feige aus dem Staub und hauen in die Schweiz ab, die dann als nächste überrannt wird. Nur eine kleine Gruppe von Desperados stellt sich dem Desaster entgegen, doch die Auflösung von allem, was Frankreichs Zivilisation einmal ausgemacht hat, können sie nicht abwenden. So ungefähr geht der Untergang des Abendlands.

[…]

 

SINN UND FORM 5/2016, S. 639-654, hier S. 639-643