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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-32-4

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Leseprobe aus Heft 6/2016

Leetz, Michael

»Der erste, der wirklich alles verstanden hat«. Andrej Platonow, der Schriftsteller der Zukunft


Im Dezember 1934 bereitet den Redakteuren des Almanachs »Zwei Fünfjahrpläne« ein Beitrag großes Kopfzerbrechen. Er umfaßt nur wenige Seiten, doch sein Inhalt ist von großer Sprengkraft. Allein der Titel läßt den Text gefährlich erscheinen: »Über die erste sozialistische Tragödie«. Die Sowjetunion befindet sich in ihrem dreizehnten Jahr. Es ist die Zeit des Zweiten Fünfjahrplans, der einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen soll. Die Errichtung der ökonomischen Basis des Sozialismus steht offenbar kurz vor ihrem erfolgreichen Abschluß. Wie kann man angesichts dieser lichten Zukunft von der »Ersten sozialistischen Tragödie« sprechen? Gefährlich ist der Text aber vor allem durch seinen Verfasser, den fünfunddreißigjährigen Schriftsteller Andrej Platonow, der wenige Jahre zuvor als »Klassenfeind« in Verruf geraten war. Er hatte einen Roman geschrieben, »Tschewengur«. Dieser handelt von einer Ortschaft gleichen Namens in der südrussischen Steppe, deren Bewohner ohne technische Hilfe, gleichsam aus der Natur heraus den Kommunismus errichten. Platonow schaffte es, den konterrevolutionären Charakter des Werks zu verschleiern und den Verlag zu täuschen. Fast wäre der Roman erschienen. Die Druckfahnen existierten bereits, doch im letzten Augenblick stoppte die Zensurbehörde die Veröffentlichung. Kurz darauf gelang es dem Autor, die Redakteure einer Literaturzeitschrift zu überlisten. Ihnen jubelte er eine Novelle unter, die er als Diskussions beitrag zur Kollektivierung der Landwirtschaft ausgab. In Wirklichkeit aber propagierte er die Ideologie der Kollektivierungsfeinde, der Kulaken. Die Novelle erschien und der Skandal war perfekt: Stalin tobte. Er beschuldigte nicht nur den Schriftsteller, sondern auch die ahnungslosen Redakteure, »Agenten unserer Feinde« zu sein. Und nun also »Über die erste sozialistische Tragödie« …

Solche Gedanken müssen den Redakteuren von »Zwei Fünfjahrpläne« durch den Kopf gegangen sein, als der Text auf ihrem Schreibtisch lag. Verbürgt ist, daß sie den beunruhigenden Essay in den ersten Januartagen 1935 an Maxim Gorki sandten. Im beigefügten Brief baten sie den obersten Schriftsteller im Staate, zu entscheiden, was mit dem »politisch fremden, philosophisch feindlichen und melancholischen« Text geschehen soll, und auch mit seinem Verfasser.

Heute gilt der damals Verfemte als einer der wichtigsten russischen Autoren des 20. Jahrhunderts. Andrej Platonow (1899 –1951) war ein sowjetischer Schriftsteller, der sich dem in der Sowjetunion zur Norm erhobenen »sozialistischen Realismus« nie unterordnete. Künstlerisch ging er eigenständige, neue Wege. Er war ein Sozialist, der aufrichtig an den Aufbau einer gerechteren Gesellschaft glaubte. Gerade deshalb erfaßte er die inneren Widersprüche des ersten sozialistischen Staates besonders tief. Seine Kritik war so grundsätzlich, daß die meisten seiner Bücher erst während der Perestroika oder nach dem Ende der Sowjetunion in seiner Heimat erscheinen konnten.

Hierzulande ist Platonow heute fast ein Unbekannter. Über zwanzig Jahre liegt die letzte deutsche Veröffentlichung zurück: das 1993 im Verlag Volk und Welt publizierte Romanfragment »Die glückliche Moskwa«. Im Dezember dieses Jahres erscheint bei Suhrkamp sein Roman »Die Baugrube« in einer Neuübersetzung. Es ist an der Zeit, Platonow dem Vergessen zu entreißen. Er ist nicht nur ein Klassiker der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts, der noch der Entdeckung harrt, von seinem Werk geht auch ein Impuls aus, der hier und jetzt für uns wichtig werden könnte.

»Die Baugrube« nahm bereits 1930 den Zusammenbruch des sowjetischen Systems visionär vorweg. Nach dem erstmaligen Erscheinen des Romans 1987 in der Moskauer Literaturzeitschrift »Nowy mir« (in Frankfurt am Main war er bereits 1969 im russischen Exilperiodikum »Grani« erschienen) sprach der Petersburger Schriftsteller Andrej Bitow von Platonows prophetischer Gabe: »Es ist Sache der Gegenwart, Platonows Texte wiederauferstehen zu lassen, weil er im eigentlichen Sinne ein Schriftsteller der Zukunft ist. Platonow wird sich als ein merkwürdig uneinfacher Schriftsteller erweisen, weil er der erste war, der wirklich alles verstanden hat.«

Dieses Alles-Verstehen weist weit über die sowjetische Epoche hinaus, denn Platonow war auch ein ökologischer Prophet. Bereits in den frühen zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts setzte er sich für die Nutzung erneuerbarer Energien ein, vor allem der Solarkraft. Er war von der Notwendigkeit einer neuen Wirtschaft überzeugt, die die natürlichen Ressourcen schont. Eine ökologische Katastrophe ließe sich nur verhindern, wenn fossile Brennstoffe durch regenerative Energien ersetzt würden und der Mensch ein neues Bewußtsein erlangte, das ihn dazu befähigt, im Einklang mit der Natur zu leben. Platonow hat die gewaltigen ökologischen Probleme, vor denen wir im 21. Jahrhundert stehen, genau vorhergesehen und erstaunlich aktuelle Ansätze zu ihrer Überwindung aufgezeigt.

Sein ökologisches Denken war durch seinen zweiten Beruf, den des Ingenieurs, geprägt: Anfang der zwanziger Jahre organisierte er in Zentralrußland als Elektrotechniker die Elektrifizierung der Landwirtschaft und kämpfte als Meliorator, d. h. als Bewässerungs-Ingenieur, gegen die katastrophale Dürre an, die zum Hungertod von Millionen führte. Er selbst nannte dies den »Kampf gegen die Wüste«. Unter Wüsten verstand Platonow keine natürlichen Landschaften; sie waren für ihn vielmehr das Resultat menschlicher Geschichte, Gräber einst blühender Kulturen, die untergingen, weil sie durch unvernünftiges Wirtschaften ihre Lebensgrundlagen zerstört hatten. Als Meliorator strebte er danach, die der Natur vom Menschen zugefügten Wunden zu heilen, als Leiter der Elektrifizierung suchte er nach neuen Wegen der Energiegewinnung, die den Raubbau an der Natur grundsätzlich beenden sollten. Diese Bestrebungen fielen bei Platonow mit der Verwirklichung des sozialistischen Ideals zusammen. Bereits 1922 schrieb er in seinem Aufsatz »Licht und Sozialismus« über die Nutzung der Sonnenenergie: »Denn das Licht soll die Grundlage der sozialistischen Wirtschaft sein – oder es wird niemals Sozialismus geben, sondern nur eine ›ewige Übergangsepoche'.«

Ein bedeutendes Zeugnis für Platonows ökologisches Denken ist jener hier erstmals in deutscher Übersetzung vorliegende Essay »Über die erste sozialistische Tragödie« (1934), ein Schlüsseltext nicht nur für Platonows literarisches Werk, sondern auch für das 20. Jahrhundert. Selten zuvor ist so vorausschauend das Problem der Begrenztheit der Ressourcen beschrieben, so deutlich vor der Gefahr einer durch den Menschen verursachten globalen ökologischen Katastrophe gewarnt worden. Platonow unterstreicht, daß die Menschen früherer Jahrhunderte nicht die technischen Möglichkeiten besessen hätten, die Natur bis in ihre tiefsten Tiefen auszubeuten: »Das ist auch gut so, ansonsten hätten die Menschen die gesamte Natur – in der historischen Zeit – längst ausgeplündert, verbraucht, sich an ihr berauscht, sie ausgesogen bis auf die Knochen: An Appetit hätte es nie gemangelt.« Nun aber sei der Mensch mit seiner Technik fähig, ins Innere der Welt einzudringen, ohne allerdings die seelische Reife zu besitzen, mit der Natur verantwortungsvoll umzugehen. »Doch der Mensch ändert sich langsamer, als er die Welt verändert. Genau darin besteht das Zentrum der Tragödie.«

Die »Grenzen des Wachstums«, die der Club of Rome 1972 benannte, hatte der Schriftsteller bereits vierzig Jahre zuvor erkannt.
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SINN UND FORM 6/2016, S. 790-799, hier S. 790-792