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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-38-6

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Leseprobe aus Heft 6/2017

Bott, Marie-Luise

Ruhelos. Zwetajewa, von Wolfgang Hilbig in die europäische Moderne übersetzt


Aus dem Zyklus »Schlaflosigkeit« lagen 1988 wie heute nur Nr. 6 und Nr. 10 auf deutsch vor, übersetzt von Elke Erb ("Heut Nacht bin ich in dieser Nacht allein …«) und von Maria Razumovsky ("Aus dem Fenster dort / dringt noch Lampenschein …«). Dabei hat das Thema, beginnend 1830 mit Alexander Puschkins »Versen, in schlafloser Nach verfaßt«, in der russischen Lyrik eine große Tradition. Anna Achmatowa verbindet es 1912 in ihrem Gedicht »Schlaflosigkeit « mit der Liebesthematik und geht nach kurzer Vorrede des weiblichen »ich« unmittelbar in die Anrede der personifizierten Schlaflosigkeit über. Ossip Mandelstam nimmt das Thema von Liebe und Schlaflosigkeit in seinem Gedicht »Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken …« auf: »Homer, die Meere, beides: die Liebe, sie bewegt es« (in der Übersetzung von Celan). Es entstand im Sommer 1915, als Mandelstam, 25 Jahre alt, in Koktebel auf der Krim bei dem Dichter Maximilian Woloschin zu Gast war und dort zum ersten Mal Zwetajewa begegnete (Nadeschda Mandelstam sprach später geradezu von einem Befreiungserlebnis). Am 1. Januar 1916 traf er sie in Petersburg wieder. Die 23jährige Moskauerin feierte dort bei Michail Kusmin – Zwetajewa beschrieb es 1931 in »Ein Abend nicht von dieser Welt« – ihr glänzendes Debüt unter den Petersburger Dichtern. Mandelstam schenkte ihr eine Neuausgabe seines Gedichtbands »Der Stein«. Und in Erinnerung an die gemeinsamen Tage schrieb er das an Zwetajewa adressierte Gedicht »Nicht Laternen beglänzten uns, nein, Kerzen …« (Mai 1916), in dem die Angeredete beim Anblick der majestätischen Newa ihren Pelz abnimmt und um die Schultern des Begleiters legt.

Ende Januar besuchte Mandelstam Zwetajewa in Moskau. Auf gemeinsamen Spaziergängen schenkte sie ihm ihr Moskau, die alte Hauptstadt Rußlands mit dem Kreml und seinen Kirchen. Darauf antwortete im Februar sein Gedicht »Im Dissonieren eines Mädchenchores …«, dessen Bilder westeuropäische und russisch-orthodoxe Kultur miteinander verschränken. In den Bögen der Himmelfahrtskirche im Kreml sieht der Dichter die Brauen der Geliebten, die Kuppeln der Moskauer Kathedralen erinnern an das Erscheinen Auroras, »Doch mit russischem Namen und in Pelz gehüllt«, und im Gesang einer Nonne erlebt er »Florenz in Moskau« – ein Bild, in dem sich Zwetajewas Name – von cvetat’: blühen – verbirgt.

Im Februar hatte sie ihrerseits begonnen, Gedichte an Mandelstam zu schreiben, darunter »Woher solche Zärtlichkeit …?« mit den Zeilen: »Noch nie hörte ich solche Lieder / In dunkler Nacht«. Sie erkennt Mandelstams Begabung als die größere an ("Und niemand nahm etwas weg …«) und bekreuzigt den »jungen Derschawin« auf seinem adlergleichen »schrecklichen Flug«. Im Sommer nahm Mandelstam Abschied von Zwetajewa mit dem Liebesgedicht »Nicht an ein Auferstehungswunder glaubend …«, in dem noch einmal, jetzt aber »unklar« und kein Glück verheißend, die Figur der Nonne wiederkehrt.

Zur selben Zeit, von März bis August 1916, schrieb Zwetajewa neun »Gedichte über Moskau«, deren zweites an Mandelstam gerichtet ist: »Aus meinen Händen die nicht von Menschenhand geschaffene Stadt / Nimm, mein wunderlicher, schöner Bruder«, acht »Gedichte an Blok« (April / Mai 1916), deren fünftes bekennt: »Mit aller Schlaflosigkeit liebe ich dich, / Mit aller Schlaflosigkeit vernehme ich dich …«, und vier »Gedichte an Achmatowa« (Juni / Juli 1916), auch hier mit dem Gestus: »Und ich schenke dir meine Glockenstadt, / Achmatowa! – und mein Herz dazu.« In diesen Zyklen erfaßte Zwetajewa sich selbst und ihre Stadt im letzten Jahr der alten Welt, um beides den Repräsentanten der Petersburger Kultur – Mandelstam, Blok, Achmatowa – darzureichen. In diesen Kontext gehört auch der Zyklus »Schlaflosigkeit«, der Mandelstams Thema von Liebe und Schlaflosigkeit in einem Moskauer Rahmen fortschreibt und Motive seiner Gedichte an Zwetajewa aufgreift.

Auch wenn Hilbig biographisch im einzelnen nicht immer genau informiert war und von der Übersetzung des elften Gedichtes fehlgeleitet wurde, so frappiert, was er von Zwetajewas Schreibweise erfaßt hat und wie er sie interpretiert. Er beginnt mit dem nachträglich hinzugefügten letzten Gedicht des Zyklus. Zwetajewa stellte vor und nach ihrer Ankunft in Berlin 1922 die Gedichte der vergangenen acht Jahre für Publikationen in russischen Exilverlagen zusammen, um damit den Beginn ihres Emigrantenlebens zu finanzieren. Und so wie sie für ihren Band »Gedichte an Blok« (Berlin 1922) dem frühen Zyklus von 1916 noch weitere aus den Jahren 1920/21 anfügte, hielt sie es auch mit dem Zyklus »Schlaflosigkeit« in ihrem Gedichtband »Handwerk« (Berlin 1923). Das elfte Gedicht vom Mai 1921 trägt in dieser Publikation die Überschrift »Dem Andenken an T. F. Skrjabina, ein Gedicht, noch zu ihren Lebzeiten für sie geschrieben «. Tatjana Fjodorowna Schlözer war die zweite, nicht mit ihm verheiratete Frau des 1915 frühverstorbenen Komponisten Alexander Skrjabin und Mutter dreier Kinder von ihm. Zwetajewa nannte sie stets Skrjabina. Sie hatte sie im Juni 1920 als einen erschöpften, an Schlaflosigkeit leidenden Menschen kennengelernt und etliche Nächte bei ihr gewacht. Tatjana Fjodorowna starb im April 1922 mit 38 Jahren.

In seiner Form von 1916 endet der Zyklus »Schlaflosigkeit« nicht eigentlich »mit einer Anrufung zum Frieden (…) in einem fast religiösen Tonfall«, wie es Hilbig scheint, sondern spielerisch schlicht: »Bete, Freund, für das schlaflose Haus, / Für das Fenster mit Licht!« Aber dem späteren elften Gedicht ist tatsächlich der Zeitenwechsel von 1917 in Rhythmus und Thematik eingeschrieben. Und da setzt Hilbigs Interesse ein. Mit der Oktoberrevolution tat sich »ein Riß in der Welt auf«, der auch seine Biographie und die Geschichte seines Landes geprägt hat. Spaltung und Ruhelosigkeit waren die Folge.

Der russische Bürgerkrieg endete im November 1920. Seither wußte Zwetajewa nicht, ob ihr Mann Sergej Efron, Offizier der Weißen Armee, noch lebte. Er war mit Resten seiner Truppe von der Krim nach Konstantinopel evakuiert worden. Von dort gab er Ende Juni 1921 über Ilja Ehrenburg in Berlin Nachricht an seine Frau in Moskau. Im Herbst 1921 gelangte Efron nach Prag. Zwetajewa reiste im Mai 1922 mit ihrer Tochter Ariadna nach Berlin aus, wo sie als Dichterin erstmals öffentlich gefeiert wurde und wenig später ihren Mann wiedertraf. Am 31. Juli folgte sie ihm nach Prag. Hier lebte die Familie mit finanzieller Unterstützung des tschechischen Staates bis zum November 1925. Dann zogen sie nach Paris. Das elfte Gedicht ist nun weder »Liebesgedicht« noch Zwiegespräch der Autorin »mit ihrem von ihr getrennt lebenden Mann«, wie Hilbig der Übersetzung von Natascha Wodin folgend meint. Vielmehr ist es nach kurzer Rede des schlaflosen weiblichen »Ich« in der ersten Strophe eine einzige zum Tode verführende Rede der personifizierten Schlaflosigkeit an die Schlaflose. Wie Hilbig anmerkt, hat Zwetajewa diese Form – eine Umkehr der Redesituation von Achmatowas »Schlaflosigkeit« – auch schon für das Eingangsgedicht ihres Zyklus gewählt. Dort singt die Schlaflosigkeit die junge schlaflose Frau mit einem Wiegenlied aus dem Leben. Hier ist es der Redegestus einer Erlkönigin: Besser nicht sein, besser in meinem Reich sein, als so leben.

(…)

SINN UND FORM 6/2017, S. 743-748, hier S. 743-745