Background Image

Heftarchiv – Leseproben

Screenshot

[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-41-6

Printausgabe bestellen

Leseprobe aus Heft 3/2018

Bürger, Christa

Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball


»Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, daß ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand.« Als Emmy Hennings kurz vor dem Ersten Weltkrieg Hugo Ball kennenlernt, ist sie fast dreißig Jahre alt. 1885 in Flensburg geboren, großgeworden ohne Schul- und Ausbildung, ist sie Dienstmädchen gewesen, Schauspielerin in einer Wandertruppe, als Siebzehnjährige verheiratet, mit zwanzig Mutter. Nach der Scheidung führt sie ein unstetes Nomadendasein, als Hausiererin, Gelegenheitsprostituierte, Animierfräulein, vagabundierende Balladensängerin, Kabarettistin schließlich in Berlin und München, drogenabhängig, halt- und heimatlos, mit rasch wechselnden Liebesbeziehungen. 1911 tritt sie zum Katholizismus über. Nach einem Gefängnisaufenthalt im Frühjahr 1914, dessen Hintergründe ungeklärt sind, emigriert sie mit Ball in die Schweiz, wo das Paar, mit dessen Namen wir heute das Cabaret Voltaire, also die Gründung des Züricher Dadaismus verbinden, in äußerster Armut lebt. 1919 und 1920 schreibt Emmy Hennings ihre beiden Bekenntnisbücher, »Gefängnis« und »Das Brandmal. Ein Tagebuch«. Nach ihrer Heirat 1920 leben Emmy und Hugo Ball meistens im Tessin, freundschaftlich unterstützt von Hermann Hesse, aber immer am Rand des Existenzminimums. 1927 stirbt Hugo Ball an Darmkrebs, wohl infolge jahrelanger Entbehrungen. Emmy hatte noch einundzwanzig Jahre zu leben.

 

Dreimal begegnet Wolfram von Eschenbachs Parzival auf seinen Umwegen zum Gral der trauernden Sigune, seiner Mutter Schwesterkind, als Pietà mit dem toten Geliebten im Schoß, als Baumheilige mit dem einbalsamierten Toten, als Klausnerin an seinem Grab: »Er vant ein klôsnaerinne, / diu durch die gotes minne / ir magettuom unt ir freude gap. / wîplicher sorgen urhap / ûz ir herzen blüete alniuwe, / unt doch durch alte triuwe.«

Der Anblick der trauernden Frau, die ihre irdische Liebe in Gottesliebe umgewandelt hat, um dem Toten die Treue zu halten, löst in dem mit sich und der Welt unbekannten jungen Ritter ein ihm ganz neues Gefühl aus: Mitleid. Parzivals Mitleid, das dem Gralskönig endlich die langersehnte Erlösung bringen wird, hat seinen Ursprung in der Leidensfähigkeit der Frau.

 

Emmy Hennings nimmt nach Balls frühem Tod mit der Veröffentlichung des von ihr zusammengestellten Bandes »Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten« (1929) als Autorin den Namen Ball-Hennings an. Über Hugo Ball schreibt sie drei Bücher: »Rebellen und Bekenner« (1931 / 32), »Hugo Balls Weg zu Gott« (1931), »Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball« (1948, posthum veröffentlicht 1953). Es sind drei Versuche, die Trennung von dem geliebten anderen aufzuheben. Balls Tod hat sie ihrer genuinen Ausdrucksmöglichkeit beraubt. Sie könne »nicht mehr verspielt sprechen«, klagt sie 1927 in ihrem Tagebuch. Aber in dem Maße, wie sich von Buch zu Buch das Gewebe ihres Lebens mit Hugo Ball verdichtet, verwandelt sich ihre eigene Geschichte, so daß allmählich, rückwirkend, aus dem Irrweg ein Weg wird. »Wir leben das Leben der Toten, Seligen weiter, und es bewegt sich in uns«, schreibt sie in »Hugo Balls Weg zu Gott«. Wie die meisten Sätze Emmy Hennings’ ist auch dieser vieldeutig. Wenn wir der Beobachtung von Hans Richter trauen wollen, der sie sieben Jahre nach Balls Tod im Tessin besucht hat, drückt sich darin ein Gefühl des Selbstverlusts aus. »Sie führte mich in den Stockwerken herum, als lebte Ball noch. Alles war an seinem Platz. Balls Kleider hingen neben ihren, seine Bücher standen neben Emmys. Sie war, soweit wie möglich, hier ›in Gott mit ihm vereint‹, eine Eremitin.«

Nun konnte Richter schon in der Epoche des Züricher Dadaismus Hennings »ihre mystische Kindlichkeit so wenig glauben wie Ball seine abbéhafte Ernsthaftigkeit «. Jetzt, zwanzig Jahre später, ist er einer Trauernden begegnet, deren Trauer aber von einer anderen Ordnung war als der ihm zugänglichen. Das Leben Hugo Balls, das diese freiwillige Eremitin schreibend in sich bewegt, erfährt durch sie eine Verwandlung, deren Richtung die Schreibende selbst vielleicht noch nicht kennt, diese Trauernde, die keine Gewißheit hat außer dem Grund ihrer Liebe zu Hugo Ball und ihres Schreibens über ihn. Es war Mitleid mit einem Menschen, dessen furchtbare Armut, dessen äußeres Leben in einem unerträglichen Widerspruch zu seinem geistigen stand. »Hätte er nie eine Zeile geschrieben, auch dann wäre seine einmalige Existenz, gerade wie er sie geführt, bewundernswert.« ("Hugo Balls Weg zu Gott«) Indem sie schreibend das alte Gefühl des Mitleids in sich wachhält, wîplicher sorgen urhap, bekommt Balls Existenz einen Namen: Askese.

Man hat, nicht zu Unrecht, Emmy Ball-Hennings die »religiöse Überhöhung« ihrer Beziehung vorgeworfen, und die Asymmetrie in ihrer Darstellung ist in der Tat nicht zu übersehen. Die beiden 1938 und 1940 veröffentlichten autobiographischen Bücher, »Blume und Flamme« und »Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau«, lassen ihr Leben als einen Weg zu Ball erscheinen, dem Mann, dem sie sich vollkommen anvertraut, weil sie bei ihrer ersten Begegnung schon geahnt hat, daß sie »mit ihm beten konnte« ("Das flüchtige Spiel«). Die Frau, die auf ihr Leben mit Hugo Ball zurückblickt, weiß freilich selbst, daß sie dieses schönt. Die »Erinnerung ist eine rührende Dichterin, die alles Nebensächliche, Trübe möglichst unberührt läßt. Die Erinnerung hat recht, so vorzugehen, denn von mancher Qual, die das Dasein mit sich bringt, bleibt einmal nur die Frucht des Leidens, die Liebe. Alles andere ist nichts und wird einmal sein, als wäre es nie gewesen« ("Ruf und Echo«). Erinnerndes Dichten, das sich um biographische Genauigkeit nicht kümmert: Ball hätte darin Emmys Grazie erkannt. In der »Flucht aus der Zeit« hat er einen Satz aus einem Gespräch mit ihr festgehalten: »Die unverdaulichen Vorkommnisse in jedem Moment mit der Illusion konfrontieren: das ist der Triumph der Grazie.«

Wenn man aus einer anderen Perspektive als der der Wirklichkeitstreue diese Erinnerungsbücher liest, wenn man nicht wissen will, wie es eigentlich gewesen, sondern wie es erfahren worden ist, wird man ihnen einen eigenen Formwillen nicht absprechen. Es ist die Legende, eine »einfache Form«, der eine bestimmte »Geistesbeschäftigung« zugrunde liegt, die Imitatio, ein Erzählen, das Menschlichkeit und Heiligkeit miteinander verwebt.

Die Geistesbeschäftigung der Imitatio war Emmy Ball lieb und vertraut. Viele Monate lang hatte sie sich mit Hugo in die Acta Sanctorum versenkt, in der Stille ihres kleinen Hauses in Agnuzzo mit seinem verwunschenen Garten. Auf den Granitstufen ihrer Treppe, »vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien«, lesen sie zusammen in ihrem »paradiesischen Bilderbuch, dem die Heiligen entstiegen« ("Ruf und Echo«). »Das Bekanntwerden mit den Heiligengestalten (…) wirkte wie ein Lichtsturz auf uns ein.« Hermann Hesse, der den toten Freund als »einen schönen hageren Heiligen« beschrieben hat, beglaubigt in einem offenen Brief in einer umfassenden Geste die Erinnerung der Witwe. »Euer Leben, das Ihre und Hugos, wird bald zur Legende werden, man wird von ihm und von Ihnen wunderliche und tröstliche Sachen erzählen (…) und alles wird wahr und mehr als wahr sein.« Daß Hesse in diesem Brief Emmy Hennings mit Bettina von Arnim vergleicht, geschieht wohl nicht ohne Absicht. Beide Frauen stehen ihm für ein gleichsam überliterarisches Schrei ben. Indem sie sich selbst als Zeuginnen eines exemplarischen Lebens verstehen, nehmen sie ihre Marginalisierung in Kauf. Aber ihre Schriften, die nicht Werke sind, werden gebraucht – als Texte einer heimlichen ecclesia.

[…]

SINN UND FORM 3/2018, S. 322-332, hier S. 322-324