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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-43-0

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Leseprobe aus Heft 5/2018

Różewicz, Janusz

Słowacki in Versailles. Eine wahre Begebenheit


Vorbemerkung: Janusz Różewicz – ein polnisches Leben (und Nachleben)

Vor fast einem Vierteljahrhundert veröffentlichte der 72jährige Tadeusz Różewicz ein Buch über seinen drei Jahre älteren Bruder Janusz, der im Zweiten Weltkrieg in der polnischen Heimatarmee gegen die deutschen Besatzer kämpfte und 1944 in Lodz von der Gestapo ermordet wurde ("Nasz starszy brat«, Unser älterer Bruder, Wrocław 1994). Der Band umfaßt dessen erhaltene Gedichte, Prosastücke, Briefe und Tagebucheinträge, Erinnerungen von Angehörigen und Wegbegleitern sowie dem Bruder gewidmete Gedichte von Tadeusz Różewicz. Die ungewöhnliche, weil auf den ersten Blick überaus heterogene Publikation zeichnet das bewegende, in vielen Aspekten durchaus repräsentative Bild eines Lebens in Polen vor und nach dem 1. September 1939.

Janusz Różewicz wurde am 25. Mai 1918 in Osjaków geboren, seine Kindheit und Schulzeit verbrachte er in Radomsko, einer Kleinstadt zwischen Lodz und Tschenstochau. In eigenen Tagebuchaufzeichnungen und Erinnerungen anderer erscheint er als aufgeweckter, lebenshungriger und abenteuerlustiger junger Mann mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Bezeichnend für das gesellschaftliche Klima in der polnischen Provinz, in der die Brüder aufwuchsen – neben Tadeusz noch der jüngere Stanisław, später ein bekannter Filmregisseur –, ist eine Episode aus der Schulzeit: Janusz, dessen Familie sich das Schulgeld fürs Privatgymnasium vom Mund absparte, schilderte in einem freien Aufsatz die Not vieler Mitschüler, die aus noch ärmeren Verhältnissen stammten. Sein Polnischlehrer bewertete ihn mit »sehr gut«, was beide in Schwierigkeiten brachte, weil das konservative Kollegium sowohl den Schüler als auch den jungen Kollegen sozialistischer Umtriebe verdächtigte.

Nach dem Abitur leistete Janusz seinen Wehrdienst, die Ausbildung wurde durch den Einmarsch der Wehrmacht unterbrochen. Er schloß sich in Lodz der Heimatarmee, dem militärischen Arm des polnischen Untergrundstaates, an. Wegen seiner guten Deutschkenntnisse wurde er zu Missionen ins Reich geschickt. Dieser Teil seiner Biographie trägt in den Erinnerungen von Weggefährten Züge einer Agentengeschichte. So berichtet eine Heimatarmee-Kameradin, daß sich Janusz 1943 in Berlin fast verraten hätte, als er im Überschwang in einem Restaurant ein zu hohes Trinkgeld geben wollte. Bei einer Gestapo-Razzia in Lodz wurde er am 10. Juni 1944 verhaftet. Am 7. November wurde er mit anderen Untergrundkämpfern von der Gestapo erschossen, die Leichen wurden in einem Massengrab auf dem jüdischen Friedhof verscharrt. Im Rahmen einer Exhumierung im Oktober 1946 wurden die sterblichen Überreste identifiziert und anschließend auf dem Rochusfriedhof in Lodz feierlich bestattet.

Seit seiner Jugend interessierte sich Janusz für Literatur. Er schrieb Gedichte und Erzählungen, erhielt Auszeichnungen bei Schreibwettbewerben und korrespondierte mit Józef Czechowicz, einem großen polnischen Dichter der Zwischenkriegszeit. Janusz war es, der seinen jüngeren Bruder Tadeusz in die Literatur einführte, ihm Lektürehinweise gab und ihn zum Schrei ben anregte. Und auch in anderer Hinsicht war sein Einfluß prägend. In »Nur soviel« (SINN UND FORM 5/2011) erinnert Tadeusz sich, wie Janusz ihn angesichts seiner Sympathien für die Linke warnte: »Paß bloß auf! Neben der braunen Diktatur gibt es auch noch eine rote … eine ist so schlimm wie die andere … vergiß das nie … beide wollen uns vernichten …"

Der Tod des älteren Bruders markierte für Tadeusz Różewicz eine tiefe Zäsur. An Januszs letzten Heimatbesuch Ostern 1943 erinnert er sich in »Nur soviel« als an »das letzte Fest, an dem unsere Familie noch heil und ganz war«. Einen großen Teil seines Spätwerks widmete er dem Versuch, diesen Bruch mittels Rekonstruktion der Familie wenigstens literarisch zu heilen. Einige Jahre nach »Nasz starszy brat« erschien »Matka odchodzi« (Mutter geht, 1999), ein ebenfalls aus Texten verschiedener Autoren kompiliertes Erinnerungsbuch an die Mutter, die den Verlust des Ältesten ebensowenig verwand wie Tadeusz und Stanisław den Verlust des Bruders (der Vater ist in beiden Büchern kaum präsent). Die Veröffentlichung dieser beiden Bücher in deutscher Sprache war bis zu seinem Tod 2014 ein großes Anliegen Tadeusz Różewiczs, das mit »Mutter geht« (2009) bislang nur halb erfüllt werden konnte.

Gerade das Buch über den Bruder sah er auch als Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung. Im Vorwort zur geplanten deutschen Ausgabe schreibt er: »In Radomsko lebten Deutsche und Polen zusammen, wir hatten deutsche Schulfreunde. Diese Freundschaften waren stärker als die Propaganda, die schon vor 1939 in der deutschen Minderheit Abneigung und Haß gegen alles Polnische schüren wollte. Mit Kriegsbeginn fanden wir uns auf unterschiedlichen Seiten wieder. Nach dem Krieg (…) erfuhren wir von der Weißen Rose (…). Hans Scholl wurde 1918 geboren, im selben Jahr wie mein Bruder Janusz, Sophie Scholl 1921, im selben Jahr wie ich. Hans und Sophie Scholl, Christian Probst, Alexander Schmorell und andere kämpften ebenso wie wir gegen Hitler und starben 1943 einen ähnlichen Tod wie mein Bruder Janusz. Die Weiße Rose, uns und alle Menschen unserer Generation, die Widerstand leisteten, einte der Kampf gegen den Nationalsozialismus. Wir waren, über Grenzen und Nationalitäten hinweg, Geschwister im Geiste.«

Wenngleich das komplette Buch noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegt, sind wichtige Teile inzwischen auch dem deutschsprachigen Leser zugänglich. Sinn und Form publizierte die erwähnte Erinnerung Tadeusz Różewiczs, in Radomsko erschien im Mai 2018 anläßlich von Januszs hundertstem Geburtstag eine Ausgabe seiner Gedichte in polnischer, englischer und deutscher Sprache. Nun kommen zwei weitere Texte hinzu: eine Erzählung von Janusz Różewicz, die sein großes literarisches Talent zeigt, sowie eine Erinnerung von Stanisław Różewicz, der den Bruder noch einmal aufleben läßt, zugleich aber auch den Schmerz schildert, den der Verlust für die Familie bedeutete.

Bernhard Hartmann

SINN UND FORM 5/2018, S. 651-655, hier S. 651-652