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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-43-0

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Leseprobe aus Heft 5/2018

Ford, Ford Madox

Arbeiten mit Conrad


I

Ich möchte ein für allemal mit dem Mythos aufräumen, ich hätte Anteil daran gehabt, Conrad Englisch beizubringen, auch wenn es auf den ersten Blick plausibel scheinen mag, da er ein Ausländer war, der bis zu seinem Lebensende das Englisch eines Ausländers gesprochen hat. Doch was das Schrei ben betraf, war es anders. Wie ich vor kurzem andernorts bemerkte, konnte Conrad, sobald er einen Stift in die Hand bekam und nicht an eine Publikation dachte, so schnell, gewandt und fehlerfrei englisch schreiben, daß es mich jedes Mal erstaunte. Schrieb er jedoch für die Öffentlichkeit, lähmte ihn eine Art Lampenfieber, wodurch seine Konstruktionen häufig sehr unenglisch wurden.

In seinen Briefen ließ er sich gehen, ohne an den Sätzen zu feilen und ohne arrière pensée, verströmte sich in Bitten, Lästereien, endlosen und immergleichen Klagen, so daß der Eindruck einer schwachen, eher wehleidigen Persönlichkeit zurückblieb. Der Eindruck hätte verkehrter nicht sein können. Conrad war ein Mann, ein ganzer Kerl, wenn man so will, der sich mit unbeugsamem, beinahe unverwüstlichem Mut über enorme Widerstände hinwegsetzte. Und sein Mut war um so beeindruckender, als er von Geburt, Herkunft und Charakter ein unerschütterlicher Pessimist war. Seiner Ansicht nach war das Leben dazu bestimmt, tragisch oder in Banalität zu enden; Literatur war zum Scheitern verurteilt. Das waren seine choses données, seine einzigen Gewißheiten. Mit diesem Credo vor Augen mühte er sich unaufhörlich ab.

Und es war erstaunlich, welche Kleinigkeiten seine Lebenskraft wecken konnten. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal stundenlang mit »Romance« plagten und er völlig verzweifelt war und alles, was ich vorschlug, mit bitterstem Spott abtat, dazu war er krank, bis über beide Ohren verschuldet und ohne einen Penny. Und wir waren zum völligen Stillstand gekommen – einer dieser Momente, wenn die Seele zum Atmen innehalten und selbst die Liebe sich erholen muß. Und Mrs. Conrad kam herein und sagte, die Stute habe von Postling Vents nach Sandling nur fünf Minuten gebraucht – denk dir, zwölf Meilen pro Stunde! Mit einem Mal war Conrad ein Matrose auf Landgang! Die Welt war herrlich; aus jeder übers Fensterbrett ins ebenerdige Zimmer nickenden Rosenknospe strömte Hoffnung. Wir würden einen Wagen nehmen und nach Canterbury fahren; die Stute sollte ein brandneues Hintergeschirr bekommen. Und in unglaublich kurzer Zeit – sagen wir drei Stunden – war mindestens eine halbe Seite von »Romance« geschrieben.

So ging es tagein tagaus, jahrelang – die Verzweiflung, das stundenlange Gejammer, und dann diese plötzliche Arbeitswut – die Wut, aus der eine sagenhafte Vertiefung wurde. Wir schrieben ganze Tage, halbe Nächte, den halben Tag oder die ganze Nacht. Wir kritzelten Passagen auf Papierfetzen oder an die Ränder von Büchern, reichten einander jene oder tauschten diese. Wir lachten lauthals über Passagen, die niemand anderem witzig erschienen wären; Conrad heulte vor Wut und ich seufzte über manch eine, die vielleicht niemand für so schlecht erachtet hätte wie wir. Manchmal widerten wir uns an, und dann ging jeder in sein Cottage – damals waren unsere Cottages nie weiter voneinander entfernt, als eine alte Stute uns an einem Nachmittag ziehen konnte. In diesen Cottages bereiteten wir weitere Entwürfe vor, und so fuhren wir hin und her mit Manuskriptbündeln unter den Dog-cart-Bänken. Wir fuhren durch die Sommerhitze, durch herbstliche Regengüsse, geblendet von Schnee im Winter. Aber immer, immer mit Manuskripten. Mein Gott, meine Finger kribbeln heute noch beim Gedanken daran, wie ich lange nach Mitternacht das Geschirr des triefnassen Pferdes löse – es im Stall abtrockne und den Wagen rückwärts in den Schuppen schiebe. Und dabei immer irgendeine unfertige Passage im Hinterkopf, das Grübeln darüber, wie eine abgenutzte Formulierung zu vermeiden wäre, die doch auf hypnotische Weise unvermeidbar schien.

II

Oft kam er in den Morgenstunden und saß, nachdem er die vielen Stufen zu meinem kleinen, gräßlichen Arbeitszimmer heraufgestiegen war, stundenlang unbeweglich, benommen und mit völlig ausdruckslosem Gesicht da. Ab und zu sagte er dann:

»Ich schaff’s nicht. Es ist unmöglich. Je suis foutu!« Dann erging er sich in fürchterlichen Tiraden gegen die englische Sprache. Es sei eine Sprache für Hunde und Pferde. Ungeeignet, menschliche Gedanken auszudrücken. Er habe den Versuch aufgegeben. Endgültig. Die verdammte Zeitung müsse ohne ihren verdammten Roman auskommen. Wen schere es denn? Niemanden.

Ich stand am Fenster und blickte auf London: eine graue Weite mit funkelnden Punkten. Von dort – im Westen der Stadt – konnte man das Greenwich Observatorium ganz im Osten sehen. Mit diesem Panorama vor Augen habe ich Conrad zum ersten Mal die Geschichte erzählt, aus der er den »Geheimagenten« machte.

Doch in jenen Momenten war mein Kopf ganz leer. Ich hörte einfach auf zu denken. Es gab wirklich nichts zu sagen. Englisch ist keine gute Sprache für Prosa. In literarischem Englisch läßt sich keine klare Aussage treffen. Damals zumindest ging es nicht, und ich bezweifle, daß es heute geht – in englischem Englisch. In amerikanischem Englisch geht es einigermaßen, aber nicht ohne vornehme Ohren zu schockieren. Conrads Englisch war allerdings literarisch. Ich hatte nichts, um ihn zu trösten.

Er behauptete, das letzte Wort des Fortsetzungsromans geschrieben zu haben. Ich brachte ihn zum Weiterschreiben, wie der Erpel die brütende Ente wieder zum Nest bringt, wenn sie die Eier verläßt. Ich las ihm seinen letzten Satz vor. Wenn das nicht half, nahm ich seinen Platz am Schreibtisch ein und schrieb einen oder zwei Sätze. Es gibt fünf Worte, die mich schaudern machen: The Silver of the Mine. Das ist der Titel des Teils von »Nostromo«, mit dem wir damals rangen.

Er stöhnte: »Nein, es hat keinen Sinn. Ich gehe nach Frankreich. Ich sag dir, ich werde mich als französischer Schriftsteller etablieren. Französisch ist eine Sprache, keine Ansammlung von Grunzlauten.«

Ich sagte: »›Nostromo‹ würde sich auf französisch wunderbar machen. Laß es uns skizzieren. Dann kannst du es ganz leicht ins Französische übertragen.« Die Krankenschwester kam herein: »Also wirklich, Mr. Ford, es ist Zeit für Sie, wieder ins Bett zu gehen.« Ich war erst eine Stunde auf.

Conrad mochte die Gesellschaft dieser Schwester. Aus unerforschlichen Gründen. Sie war flegelhaft. Sie sprach Cockney und hatte ein Gesicht wie ein Kamel. Unablässig entströmten ihm Worte, die ich kaum verstand. Conrad jedoch verstand sie. Er hatte auf dem Vorschiff mit Cockney-Deckarbeitern gedient. Er fragte sie nach ihren anderen Patienten. Das bot ihr einen Vorwand, um richtig loszulegen.

»Letzte Patient, den ich ’atte, war Lord Northcliffe. Hoff’, der is’ auf’n Beinen! ’At immer im Bett gelegen mi’m Telefon auf der Brust. Geflucht ’at er ins Telefon. Geflucht … scheußliches Zeuch … ’at er geflucht, wenn ich’n angezogen ’ab … ach, furchtbar. ’At die Schmerzen und’s Telefon verflucht. Und die ›Dily Mile‹. Diese Sprache – schrecklich. Dann als er starb: ›Schwester‹, sacht er zu mir, ›Schwester … wann immer Sie jemanden schlecht über mich reden hören, sagen Sie: ›Er ertrug seine Krankheit wie ein Christ und Gentleman.‹ … Patientin davor war ’ne alte Magd … vor ihr ’am se Schwingtüren ge’abt. Zwischen dem Treppenhaus von die ’Errschaften und’m Dienstaufgang … grüner Filz … Sie ’atte auf’m obersten Absatz gestanden. Ein Diener knallte ihr die grüne Filztür ins Gesicht. Da flog se mehrere Steinstufen hinab. Sie lag unten mit zerdeppertem Schädel und ’ervortretendem Gehirn. Die Diener legten ihr Zeitungspapier unter’n Kopf. Sie wollten die Treppe der Herrin schützen. Als der Wundarzt kam, konnte er auf ihrem Hirn den Abdruck der Zeitung lesen – ’nen Bericht über die Auflösung der Kunstsammlung des Ehrenwerten Matthew L. Oldroyd.«

Das war ihre Geschichte – eine von Hunderten. Oder vielleicht Tausenden. Ihr Erscheinen trieb mich jedesmal zur Verzweiflung. Es bedeutete, daß Conrad für Stunden nicht arbeiten würde. Und ich konnte es auch nicht. Ich brauche eine Weile Ruhe und Sammlung, ehe die Worte kommen.

Ich schlich nach unten und aß im Speisezimmer zu Mittag. Wenn ich zurückkam, arbeitete Conrad zufrieden an meinem Schreibtisch. Die Schwester mit den glanzlosen Augen und den ungekämmten Strähnen, die ihr aus der Haube hingen, war allen Patienten unliebsam. Conrad aber schien sie anzuregen. Er lauschte ihren sonderbaren Flunkereien stundenlang mit dem Ausdruck größter Anteilnahme und Ehrerbietung. Ohne sie wäre »Nostromo« vielleicht nie geschrieben worden. Oder Conrads nächstes Buch wäre in einem Pariser Verlag erschienen.

Aus dem Englischen von Laetitia Lenel

SINN UND FORM 5/2018, S. 674-677