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Heftarchiv – Leseproben

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[€ 11.00]  ISBN 978-3-943297-44-7

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Leseprobe aus Heft 6/2018

Schleef, Einar

Herzkammern. Gedichte


Vorbemerkung

1. »Stinkstiefel!« Mit diesem Ausdruck bedachte der zornige Jürgen Holtz einmal im Interview den Regisseur Einar Schleef. Die Wortwahl war drastisch, und sie brachte mich damals, als Lektor und dramaturgischer Berater an Schleefs Seite, gegen den Schauspieler auf; klar, ich nahm Partei. Dabei ließ sich so ein Ausbruch nachvollziehen. Der Regisseur konnte im Probenprozeß verbissen, kleinlich, ja gemein reagieren. Gentleman-Regie gehörte nicht zu seinen Möglichkeiten. Wenn etwas Sehenswertes entstehen sollte, mußte hart gearbeitet, mußten Konflikte (an denen es nie mangelte) durchgekämpft werden. Zum öffentlichen Bild des Regisseurs, Autors, Malers, Darstellers, Fotografen gehört das beeindruckende Volumen seiner Arbeiten, gehören Lautstärke und Eindringlichkeit. Im schärfsten Kontrast dazu nun der Ton dieser unveröffentlichten Gedichte. Die Haltung dessen, der hier von Sterben, Tod und Totenreich spricht, wirkt entspannt, gelöst, ja erlöst. Nachdem alles vorbei ist, läßt sich die Lage offenbar gelassen, leise, in einfachen Sätzen und Worten beschreiben. So, in dieser Verfassung, wäre der Künstler im wirklichen Leben gern gewesen, stelle ich mir vor. Aber – es ist gar nicht alles vorbei. Drüben, wie sich herausstellt, am anderen Ufer, geht es weiter, geht dasselbe von vorn los. Erlösung? Nicht mal im Tod ist sie vorgesehen.

2. Einige Wochen nach Schleefs Tod im Juli 2001 konnte ich seine Wohnung in der Nußbaumallee im Berliner Westend noch einmal besuchen. In der einen Ecke des großen Zimmers stand der Fernseher. Ihm gegenüber ein breiter, alter Holzstuhl mit Schnurbespannung und Armlehnen, davor auf dem Parkett eine Fernsehzeitschrift, aufgeschlagen der Tag vor dem Tod, meine ich, mit Anzeige einer Sendung über einen Frauenmörder, die mir auffiel, weil der Sangerhäuser Frauenmörder Fritz Schnubbe sozusagen zu Schleefs Inventar gehörte, nachzulesen im »Tagebuch«, und weil 1999 Thomas Braschs »Mädchenmörder Brunke« erschienen war; rechts und links vom Stuhl seine Schuhe, es waren wohl eher Schlappen. Er hätte gleich wieder, aus der Küche oder vom Klo, vom Telefon, aus dem Bett oder vom Computer kommend, Platz nehmen und hineinschlüpfen können. Ein einsames Ensemble – das vor meinen Augen auftauchte, als ich diese Gedichte las. In dreien ist von schwarzen Schuhen die Rede, die aufgegeben, aufs Wasser gesetzt werden und später, getrocknet, an Land erneut bereitstehen. Zu vernehmen ist eine bis dato unbekannte Stimme des Künstlers, elegisch, leise. In romantischer Tradition ist vom Ich und von dem anderen, »meinem Schatten«, die Rede, von fallenden Blättern, Abend, Mond, vom Sterben, von Charons Kahn und dem Land der Toten.

3. In Schleefs Welt sind Tote allgegenwärtig. 1971, kurz nachdem er in Ost-Berlin sein Bühnenbild-Studium abgeschlossen hat, stirbt der Vater. Über seinen Tod hinaus hält er die Mutter in Sangerhausen auf Trab. Nachzulesen im Romanmonolog »Gertrud« (sowie im Briefwechsel des Sohns mit der Mutter). Ihr Hadern, ihre Todes- und Grabphantasien – täglich läuft sie auf den Friedhof – sind, nachdem der Sohn schreibend in sie hineingekrochen ist, kaum mehr von dessen eigener Befindlichkeit zu unterscheiden. In West-Berlin seit 1976 wohnhaft, beschäftigen ihn die Toten an der Mauer, die Selbstmörder, die von der Autobahnbrücke in der Nähe seiner Wohnung springen, der Aids-Tod eines Freundes sowie der Tod der Alten in dem Heim, auf das er täglich aus seiner Küche blickt. (Ihnen ist das Kapitel »Altensilo« in dem Gedichtkonvolut gewidmet, aus dem die folgenden Gedichte stammen.) Nach seinem Zusammenbruch im Januar 2001 während der Proben zu Elfriede Jelineks »Macht nichts« übernimmt der drohende Tod in Schleefs Leben das Regiment, auch im »Tagebuch«, wo lange Einträge von ihm handeln.

4. Töten, Selbsttötung, Sterben haben viele seiner Werke infiziert, die Stücke »Mütter«, »Wezel«, »Salome«, seine Erzählungen, den Groß-Essay »Droge Faust Parsifal« – und eben auch die Sammlung »Herzkammern«, der die vorliegenden Gedichte entnommen sind. »Herzkammern« wurde nicht veröffentlicht. Schleef hat überhaupt keine Gedichte veröffentlicht. Einige frühe finden sich im zweiten Band des postum publizierten »Tagebuchs «, dem der Autor zugleich die Rolle einer Arche Noah verstreuter eigener Texte zugewiesen hatte. Um so erstaunlicher scheint mir, daß aus den »Herzkammern« auch dort nichts auftaucht. »Gertrud« kam 1980 heraus, »Zuhause« (mit hundert Fotos von Sangerhausen und Umgebung) 1981, der Erzählband »Die Bande« 1982, das Theaterstück »Wezel« 1983, »Gertrud 2« 1984. Offenbar fand Schleef in diesen Jahren auch noch Zeit für Gedichte. Oder waren sie früher entstanden? 1982 bewarb er sich mit den »Herzkammern« um einen Lyrikpreis. Gernot Krämer zog das Typoskript ans Licht. Von den 75 Gedichten wählte die Redaktion elf aus.

Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Vorbemerkung zu Einar Schleef, Herzkammern. Gedichte

SINN und FORM 6/2018, S. 775-776