
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-15-7
Heft 1/2014 enthält:
Mosebach, Martin
Der Feind, S. 5
Ein junger Autor fragte einmal Ernst Jünger um Rat; er plane einen Essay mit dem Thema "Die Insel" – Jünger riet ab, das Thema sei nicht in den (...)
Mosebach, Martin
Der Feind
Ein junger Autor fragte einmal Ernst Jünger um Rat; er plane einen Essay mit dem Thema "Die Insel" – Jünger riet ab, das Thema sei nicht in den Griff zu bekommen, es sei zu groß. Für einen Aufsatz über den Feind müßte dasselbe gelten, schon gar in einer Kultur, in deren Grundfesten ein Bewußtsein von ewiger, unüberwindlicher Feindschaft eingemauert ist: der Glaube an den Satan, den Menschenmörder und Menschenfeind schlechthin. Große mythische Erzählungen berichten von seinem Aufstand gegen Gott, von der Eifersucht eines der ersten unter den Engeln, von seinem Sturz aus dem Himmel in die Bereiche, die von da an die Hölle sind, das Reich des Bösen. Er ist Fürst dieser Welt, Gott läßt ihn hier schalten und walten, und zugleich ist er schon gerichtet; während des Weltenlaufs darf er sich über immer neue Etappensiege freuen und hat aufs ganze gesehen doch schon jetzt verloren. Wie es einem Dämon entspricht, hat er viele Gesichter: Man kennt ihn als dummen und als armen Teufel, als schönen und als häßlichen, als Fratze und als Titan. Nur eines steht fest: Mit diesem Person gewordenen Mysterium iniquitatis gibt es keine Verhandlungen und keine Kompromisse, keinen Waffenstillstand und schon gar keinen Frieden. Und zugleich ist er notwendig – so wie es Gott gefallen hat, die Welt einzurichten, war ohne den Teufel nicht auszukommen. Der Teufel garantiert die Freiheit der Menschen, sich gegen Gott zu entscheiden, und an dieser Freiheit scheint dem Schöpfer alles gelegen. Und umgekehrt: Der Herr wünscht offenbar, daß sein menschliches Ebenbild angesichts des scheinbaren Sieges des bösen Feindes, im Eindruck der Übermacht des Bösen und der Vergeblichkeit, dagegen zu kämpfen, dennoch das Gute und damit Ihn wählt. Die christliche Religion spricht in vielfacher Weise vom Frieden, aber sie ist eine Religion des Kampfes; sie begreift die Welt als Kampfplatz und verleiht denen die Palme, die auf Erden diesen Kampf mit ihrem Leben bezahlen.
Carl Schmitt hat sich besonders mit dem eigentümlichen Prozeß beschäftigt, in dem sich theologische Begriffe und Auffassungen in den letzten dreihundert Jahren säkularisierten; mit der Krise des Glaubens verschwanden die theologischen Denkmuster nicht einfach, sondern wanderten ins Politische ab. Eine der gefährlichsten dieser Transformationen erlebte der böse Feind. An den Dämon, den Versucher, den aufständischen Engel wollte man nicht mehr glauben, dafür entdeckte man ihn nun unter den Menschen. Zum Satan erklärt wird der Feind, der nicht einfach besiegt, sondern ausgerottet werden muß. Es war ohnehin alarmierend, daß der Begriff der Feindschaft in der politischen Theorie eine Rolle spielen sollte, denn politisch sind solche Festlegungen eigentlich gerade nicht. Politisch ist das Offenhalten aller erdenklichen Optionen, im Feind von heute den Verbündeten von morgen, im Verbündeten von heute den künftigen Feind zu sehen. Die englische Devise sagt es am knappsten: "England hat keine Freunde und keine Feinde. England hat Interessen", was bekanntlich nicht pazifistisch gemeint ist. Politik ist ein Schachspiel, bei dem die geschlagenen Figuren meist auf dem Brett bleiben; Siege sind anstrengend, Niederlagen nicht aussichtslos – wer wüßte das besser als die Deutschen. Und doch hat auch in jüngster Vergangenheit noch der Begriff einer "Achse des Bösen" eine unheilvolle Rolle spielen dürfen. Nur das militärische und wirtschaftliche Scheitern hat die Verkündung der bedingungslosen Feindschaft verhindert, schmähliche Blamagen haben die Rückkehr zu einer maßvolleren Sprache erzwungen, wer weiß wie lange. Denn die Rede von der totalen Feindschaft ist ja eben nicht nur eine Entgleisung politischer Abenteurer, sie gehört zu den Gesetzmäßigkeiten einer vom Geist der Säkularisation bestimmten Öffentlichkeit. Ächten, An-den-Pranger-Stellen, Teeren und Federn, öffentliche Hinrichtungen gehörten seit jeher zur Domäne der Massen, deren Eintritt in die Geschichte dies Gesetz bestätigt hat.
Aus dem Riesenkomplex der "Feindschaft" möchte ich auf höchst impressionistische Weise einzelne Bilder herausgreifen, wie es sich für mich gehört als Erzähler, dem alle Theorie fremd ist, wenn sie nicht theoria – Anschauung – wird. Und ich möchte dabei vor allem Zusammenhänge betrachten, in denen Feindschaft fruchtbar war. Als Europäer stammt man von einem Kontinent, der seine spezifische, in der ganzen Welt unübertroffene Vielgestalt der Feindschaft unter seinen Völkern verdankt. Die europäische Geschichte bietet ein Schauspiel ohnegleichen. An ihrem Anfang steht das Römische Reich, das viel mehr als ein zusammengerafftes Imperium war. Goethe hat es in den "Zahmen Xenien" in einem Kurzdialog auf den Punkt gebracht: "Jesus: Und unser Pakt, er gilt für alle Zeit? / Rom: Jetzt heiß ich Rom, dann heiß ich Menschlichkeit. " Das war die Verwandlung eines Staates in ein zivilisatorisch-religiöses, in ein nationenübergreifendes Ideal, das bestehen blieb, als das Reich zerfiel. Ob es wirklich aufhörte zu bestehen, war übrigens bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts umstritten. Aber dies war nicht die einzige Verwandlung. Wie in einer Kelter wurde die Substanz dieses Großreichs zerstampft und dann einer Gärung unterzogen. So entstand der köstliche Wein der europäischen Nationen. Was diese Völker aber auszeichnete, war, daß sie sich allesamt als legitime Erben Roms betrachteten und andern diese Erbschaft eifersüchtig absprachen. Rom lebte in vielen Töchtern weiter – nicht nur in der römischen Kirche mit dem Papst, der die Stelle des römischen Kaisers einnahm und Anspruch auf die Universalität seiner Herrschaft erhob, sondern auch in Deutschland mit seiner translatio imperii, in Frankreich, dessen König kaiserliche Würde behauptete (noch Joseph II. konnte mit seinem Schwager Ludwig XVI. nicht öffentlich zusammentreffen, weil die Frage des Vortritts nicht geklärt war), und in England, dessen Herrscher Heinrich VIII. erklärte: In England ist der König Kaiser. Alle diese Ansprüche bestanden durchaus zu Recht und lösten einen Wettstreit aus, der oft blutig, oft zerstörerisch bis zum Selbstmord war, der aber zugleich die Eigentümlichkeit der Volkscharaktere zu skulpturaler Deutlichkeit steigerte. Es kam schließlich zur Überspitzung des Nationalen, das sich mit dem imperialen Prinzip verband. Im neunzehnten Jahrhundert war fast jede europäische Nation ein Kaiserreich: England, Deutschland, die Donaumonarchie, Rußland, Frankreich, den türkischen Kaiser zu Stambul nicht zu vergessen, Portugal mit Brasilien – im zwanzigsten gelangte selbst Italien noch kurzzeitig zu einer Kaiserkrone. Jetzt schlug die agonale Tradition in Selbstvernichtung um, wie sie das einst auch im antiken Griechenland getan hatte – aber sprach das in allen Epochen gegen sie? Nachdem sich von Deutschland aus ein Kreis von Catilinariern aus der europäischen Konkursmasse ein Verbrecherreich erobert hatte, wurde der Agon geächtet, begreiflich genug, es war auch keine Kraft mehr da. Ein post-histoire gibt es freilich nicht. Die Zeit, die keine nationalen Interessen mehr kennen wollte, scheint an ihr Ende gelangt zu sein, nur daß der neue Nationalismus sich nicht mehr aus gewaltigen historischen Träumen speist, sondern ohne auf Vergangenheit und Zukunft zu blicken an Wagenburgen für eine Notgemeinschaft baut. Prophezeiungen für die weitere Entwicklung werde ich mir versagen. Statt dessen richte ich den Blick zurück, denn die Vergangenheit ist die Utopie des Romantikers.
Die Feindschaft der Brahmanen
Der Nachfahre der Herrscher eines kleinen indischen Königreiches, das seit 1947 im Bundesstaat Rajastan aufgegangen ist, führte mich durch sein Staatsarchiv. Auf vielen Regalen lagen Aktenstapel, die in großzügig verknotete Baumwolltücher eingeschlagen waren. Die Einnahmen und Ausgaben des Staates, die Kosten für die Armee, die Gerichtsurteile, die Aufwendungen für die Hofhaltung bis hin zum Schmuck der Frauen des fürstlichen Harems sowie das Futter für die Elefanten waren hier dokumentiert, in Kalligraphien, die jede Seite der Buchführung zum Kunstwerk machten. Nur eines ließ mich stutzen: Die Herrscherfamilie führte ihren Ursprung auf den Mond zurück, auf unvordenkliche Zeiten also, die ältesten Dokumente des Archivs reichten hingegen nur bis ins frühe neunzehnte Jahrhundert, bis zum Eintreffen der Engländer also, die durch ihren Agenten die Außenpolitik des Königreichs zu lenken begannen. Was mit den älteren Teilen des Archivs geschehen sei? "In den Jahrhunderten vor der indirekten Herrschaft der Engländer haben wir uns unablässig im Krieg mit unseren Nachbarn befunden", sagte der Maharaj Kumar. Alle paar Jahre sei alles zerstört worden. Die Kriege hatten die Vergangenheit abgeschafft und für ein andauerndes Jetzt gesorgt. Dabei wurden sie keineswegs als Unglück empfunden – hier gab es keinen Raum für Klagen à la "Wir sind doch nunmehr gantz / ja mehr den gantz verheret!", keinen bitteren Blick auf die unerhörten Verluste à la "Das hat der Feind getan!" Wechselseitige Zerstörung, Belagerung, Überfälle, Beutezüge hatten zum Lebensrhythmus dieser Reiche gehört, die Fürsten nahmen einen Krieg wie die Fortsetzung einer Tigerjagd, die ja gleichfalls nicht völlig ungefährlich war. Die Rajputen, die Kaste, der die Fürsten angehörten, waren für den Krieg geschaffen, so wie die Vaishas für den Handel und die Shudras für die Feldarbeit.
Gewisse Gesten aus dieser Vergangenheit lebten noch in den Gewohnheiten des Maharaj Kumar: Nachdem er mir die meisterlich geschmiedete Klinge seines Säbels gezeigt hatte, fügte er sich damit einen kleinen Schnitt auf dem Handrücken zu – "Ein gezogener Säbel darf erst wieder in die Scheide gesteckt werden, nachdem er Blut geschmeckt hat". Zum Rajputen Dharma gehörte das Töten; sie erfüllten ein ihnen innewohnendes Gesetz, wenn sie zu Felde zogen. Erst als die erzwungene Pax britannica begann, stieg aus der Stille der verwaisten Schlachtfelder die Geschichte empor. Der erste englische Resident, der legendäre Colonel Tod, sammelte, was es an Überlieferung noch gab, in seinem Werk "Annals and Antiquities of Rajastan", das zu den großen Historienbüchern des neunzehnten Jahrhunderts gehört, und gab den in unwirklichen Frieden gesunkenen Kriegern ihre Vergangenheit zurück, die in bunter Einförmigkeit eine nicht abreißende Folge von Kämpfen gewesen war. Fruchtbar wird man diese Jahrhunderte nur mit Einschränkung nennen dürfen, aber der Frieden war gleichfalls wenig fruchtbar. Aus den Hauptstädten streitsüchtiger Königreiche wurden graue, armselige Provinzstädte.
Mehr noch als in Tods Geschichtswerk wurde die Vergangenheit mir aber durch ein dickes, aus dem Leim gegangenes Buch aus der königlichen Bibliothek lebendig. Auf meinem Nachttisch lag eine der großen brahmanischen Enzyklopädien, die im ersten nachchristlichen Jahrtausend zusammengetragen worden sind, vor den muslimischen Eroberungen also, als die Kriege noch nicht religiös motiviert waren und die Aggression noch reine, man möchte sagen, begründungsunabhängige Grundfigur der Reiche war. Mein Purana war das Agnipurana, in den zwanziger Jahren ins Englische übersetzt, ein Fürstenspiegel, ein Ritenkompendium, eine Rhetorikschule, eine Lehre der Götter und der Sterne, des Hausbaus und der Behandlung der Frauen, aber eben auch ein Lehrbuch über Feindschaft und Krieg. Im zweihundertvierzigsten Kapitel wird dem König geraten, stets einen Kreis von zwölf ihn umgebenden Königen im Auge zu behalten: den Feind, den Freund, den Verbündeten des Feindes, den Verbündeten des eigenen Verbündeten, den Verbündeten eines Verbündeten des Feindes – sie liegen vor dem Eroberer. Die hinter ihm liegenden Heere werden gleichfalls in die durch ihre Lage zur Feindschaft verurteilten, die durch ihre Lage zur Freundschaft befähigten und die neutralen differenziert. Zwanzig Kategorien werden aufgezählt für die Mächte, mit denen kein Vertrag möglich ist; fünf Klassen von Feindschaft existieren; vier Voraussetzungen werden genannt, die einen Krieg ratsam erscheinen lassen. Aber es wird auch zu bedenken gegeben: Niemand ist nur aus sich heraus Freund oder Feind. Es gibt immer einen Grund; auch ein Verbündeter kann zum Feind werden. Das Agnipurana war ein ganz auf die Liturgie praktischer Gottesverehrung ausgerichtetes Buch; deshalb berührte es sonderbar, daß Priester, heilige Asketen und Astrologen beim Kampf gegen den Feind im Sinne der lächelnden römischen Auguren hinzuzuziehen waren, mit erdichteten Weissagungen, die den Feind entmutigen sollten. Es lag nahe, die Muster dieser Sammlung auch auf die europäischen Verhältnisse anzuwenden; die Kämpfe des Abendlands, in denen es für unser Verständnis immer auch um die Durchsetzung kultureller Prinzipien ging, erschienen unversehens in kälterem Licht, wurden zu physikalischen Vorgängen, Dynamiken zwischen Kräften und Gegenkräften – Feindschaft ohne Haß, beinahe ohne Emotion, Krieg und Frieden gleichsam als Ein- und Ausatmen. Ein fahles Element der Ehrsucht brachte nur das Schicksal der Frauen ins Kriegstheater; es mochte sich aber erst in den Kämpfen mit den islamischen Moguln so verschlimmert haben. Mein Gastgeber sprach stolz von den Hunderten Frauen, die vor Eroberung der Festung Chittorgharh auf einen riesigen Scheiterhaufen gesprungen waren, um sich dem Zugriff der Eroberer zu entziehen. Und auch das mit Miniaturen im persischen Stil erlesen geschmückte Empfangszimmer seiner eigenen Festung besaß ein grausiges Geheimnis. Hinter der Marmorwand war die Ehefrau eines Monarchen, vom Feind geraubt, in einen fremden Harem verschleppt und schließlich daraus wieder befreit, bei lebendigem Leibe eingemauert worden.
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SINN UND FORM 1/2014, S. 5-9
Bürger, Peter
Die Lust am gemeinsamen Erkennen. Lou Andreas-Salomés Antwort auf Rilkes Kriegsgesänge, S. 21
Grünbein, Durs
Der kluge Hans, S. 28
Petrow, Wsewolod
Erinnerungen an Charms. Mit einer Vorbemerkung von Oleg Jurjew, S. 36
Hartlaub, Felix
Platon und der Staat. Mit einer Vorbemerkung von Karl Corino, S. 48
Vorbemerkung von Karl Corino Centenarfeiern für einen poeta absconditus wie Felix Hartlaub, der im Juni 2013 hundert geworden wäre, mögen in (...)
Hartlaub, Felix
Platon und der Staat
Vorbemerkung von Karl Corino
Centenarfeiern für einen poeta absconditus wie Felix Hartlaub, der im Juni 2013 hundert geworden wäre, mögen in der breiten Öffentlichkeit ohne sichtbare Wirkung bleiben – für die literarhistorische Forschung können sie ein Anlaß sein, nach unbekannten Dokumenten zu suchen oder sich bislang unbeachteten Jugendwerken zuzuwenden, die in Archiven die Zeitläufte überdauert haben. Beides ist in seinem Fall geschehen: In den Beständen der Odenwaldschule wurde eine um 1932 entstandene umfangreiche Studie Hartlaubs über Platon entdeckt, und unter Materialien der Berliner Universität, die verblüffenderweise die Bombardements des Zweiten Weltkriegs überstanden haben, fanden sich die Promotionsakten des Doktoranden. Diese enthalten eine Reihe aufschlußreicher Zeugnisse, etwa diesen Lebenslauf:
"Ich, Gustav Adolf Felix Hartlaub, wurde am 17.6.1913 als Sohn des Kunsthistorikers Dr.G.F.Hartlaub und seiner Gattin Felicie geb. Meyer zu Bremen geboren. Meine Kindheit verbrachte ich in Mannheim, wo ich die Volksschule und das humanistische Gymnasium bis zur Obertertia besuchte. Aus Gesundheitsrücksichten trat ich dann in das Landerziehungsheim Odenwaldschule bei Heppenheim ein, wo ich im Herbst 1932 die Reifeprüfung ablegte. Im Wintersemester 1932/33 hörte ich an der Handelsschule in Mannheim nationalökonomische Vorlesungen. Mitte Februar 1933 besuchte ich Verwandte in Neapel, wo ich bis zum Juni blieb und archäologische, kunstgeschichtliche und Sprachstudien trieb. Im August erwarb ich das Sprachlehrerdiplom der Fremdenuniversität Perugia. Im Wintersemester 1933/34 und im Sommersemester 1934 studierte ich in Heidelberg romanische Philologie und genügte meiner studentischen Arbeitsdienstpflicht; im Anschluß daran nahm ich an einem Lehrgang der Geländesportschule Adelsheim teil. Im W.S.1934/ 35 bezog ich die Berliner Universität, nachdem ich meine Studienabsichten geändert und Geschichte als Hauptfach gewählt hatte. Im Sommer 1936 erhielt ich von Herrn Prof. Elze das Thema meiner Dissertation."
So beschreibt Hartlaub am 7. Juni 1938 seinen Bildungsgang bis zur Arbeit über Don Juan d’Austria und die Schlacht bei Lepanto. Dieser war offenbar von den Prinzipien des deutschen humanistischen Gymnasiums bestimmt – mit einem altsprachlichen Unterricht von erstaunlich hohem Niveau. In der Reformschule im Odenwald wurden die klassischen Texte auf ihren philosophischen Gehalt befragt und nicht bloß als Turnstangen für grammatische Übungen benutzt.
Die sorgfältig ausgefüllten Fragebogen des Promotionsakts zeigen aber auch, wie eifrig der neue Staat nach 1933 an der ideologischen Gleichschaltung der Studentenschaft arbeitete – die Instrumente waren der Arbeitsdienst, die Arbeitsgemeinschaften der Fachschaften (im Wintersemester 1933/34 und im Sommersemester 1934 nahm Hartlaub an zwei AGs zur politischen Erziehung teil) und die studentische SA, der Hartlaub vom 15. November 1933 bis zum 1. Januar 1935 angehörte. Unklar das Motiv und die offizielle Begründung seines Austritts; man konnte Arbeitsüberlastung vorschützen. Ganz ungefährlich war er nicht, aber mögliche Nachteile nahm Hartlaub in Kauf. So unbestreitbar sein Widerwille gegen die körperliche und geistige Uniformierung war – die Verbrennung der braunen Kluft, im Gespräch mit der Schwester erwogen, dürfte rebellisches Gedankenspiel geblieben sein. Der Doktorvater Walter Elze, George-Jünger und NSDAP-Mitglied, bescheinigte dem Kandidaten Hartlaub am 13. Juni 1938, die Dissertation sei in "kameradschaftlichem Arbeitsverhältnis" unter seiner Aufsicht entstanden. Entsprechend befriedigt zeigte er sich in seinem Gutachten vom 5. Juli:
"Als ich dem Verf. die Aufgabe stellte, lag mir daran, seine Kenntnis u. a. des Spanischen wie Italienischen für einen Gegenstand auszunutzen, der auch für die weitere deutsche Geschichte Bedeutung hat. So kam ich auf Don Juan d’Austria. Der sehr gut veranlagte und sehr genau arbeitende Verf. hat zu dieser Arbeit umfängliche Studien betrieben. Eine geplante Reise zu den Archiven wurde durch die polit. Ereignisse unmöglich. Trotzdem bietet die Arbeit durch Ausbeutung der span., ital. u.s.w. Literatur für die Erforschung Don Juan d’Austrias wichtige Ergebnisse.
Der Verf. richtet sein Hauptaugenmerk auf die Person Don Juans und seine persönl. Beteiligung an dem Sieg. In Exkursen bietet er reiche Beiträge für eine vollständige Lebensbeschreibung. (…) Die Frage nach den Folgen der Schlacht zeigt den Verf. Als unvoreingenommenen Betrachter, der sich den Blick über die unmittelbaren Ereignisse hinweg zu weltgeschichtlichen Zusammenhängen offenhält."
Das Prädikat "sehr gut" ist nach solchem Lob nicht verwunderlich, es wurde durch das Rigorosum vom 16. Februar 1939 bestätigt. Es scheint, als habe der Doktorvater seinen in den Seminaren offenbar stillen, zurückhaltenden Schüler erst in der Prüfung richtig kennengelernt: "Dieser Hartlaub – ich dachte, Sie wären so ein verhutzelter Nußler – plötzlich können Sie reden, packen ganz groß aus." So der Bericht des Kandidaten an seinen Vater. Die politischen Fragen, etwa nach dem Zusammenhang von "Staat. Partei, Rasse. Weltpolitik", habe Elze "nur im Protokoll" behandelt, und augenscheinlich entwickelte er gegen den Sohn eines aus politischen Gründen schon 1933 entlassenen Museumsdirektors keinen soupçon, während der Dekan Koch, wohl wegen Hartlaubs südländischen Aussehens und seiner langen Nase, einen sozusagen physiognomischen Verdacht schöpfte, der Prüfling könne etwas Jüdisches haben. Dieser Spectabilität, einem "Mittelding zwischen Ober und Hausdetektiv", habe sein Anblick "immer einen hörbaren Prell" gegeben, "den er auch am Schluß beim feierlichen Handschlag nicht zu unterdrücken vermochte".
Schon vor seiner Doktorprüfung, während der Konferenz von München, war Hartlaub im Rahmen seiner Wehrpflicht Kanonier einer Luftsperrbatterie in Kaiserslautern, und es war abzusehen, daß er statt des Doktorhuts das Käppi des Flaksoldaten tragen werde. Doch bei seiner mangelnden militärischen Begabung und dem fehlendem Ehrgeiz, ja der Obstruktion gegen Beförderung waren die Aufstiegschancen äußerst gering.
Als Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselte, diente Hartlaub bei der wenig ruhmreichen Truppe, die den Luftraum über Norddeutschland und dem Ruhrgebiet schützen sollte – unfreiwilliger Helfer Görings, der bekanntlich Meier heißen wollte, falls feindliche Flugzeuge ins Reichsgebiet eindringen sollten. Hartlaub begann damals mit den Aufzeichnungen, die seine militärische ›Laufbahn‹ begleiteten und Teil seines klandestinen Werks wurden. Zur Verwunderung der Schwester Geno (Genoveva) gewann er selbst der langweiligsten, ödesten Umgebung eine farbige, pointierte Prosa ab. Der wirkliche Schriftsteller braucht eben keine Sensationen, ihm genügen petits faits.
Daß er die Gegend um Wilhelmshaven oder den Bannkreis des Luftgaupostamts Hannover gegen andere, prominentere Regionen tauschen würde, war damals nicht zu ahnen. Dazu kam es allerdings nach dem triumphalen Sieg der Wehrmacht über Frankreich. Eine Kommission sollte die Akten des Quai d’Orsay studieren, um die französische Außenpolitik rekonstruieren zu können, und Prof. Elze, dem man Beziehungen zu Himmler nachsagte, wurde offenbar gefragt, wen aus seiner Schülerschar man für diese heikle Aufgabe brauchen könne: Der Betreffende mußte natürlich ausgezeichnet französisch sprechen, Landeserfahrung haben und das Handwerk des Historikers beherrschen. All das traf auf Felix Hartlaub zu. Schon als Jugendlicher hatte er mit seinem Vater das Nachbarland bereist und Paris besucht. Nun wurde er als kleiner Gefreiter in die Hauptstadt des geschlagenen Feindes abkommandiert und beugte sich über die Papiere der geflohenen Diplomaten. Neben den Gutachten entstand eine Reihe geheimer privater Texte, die einen wichtigen Teil seines Œuvres ausmachen und deren eindrucksvollster gewiß der über den verwaisten Quai d’Orsay ist. Wäre der Begriff nicht für die Kunst von Manet, Monet, Renoir etc. reserviert, könnte man geradezu von einem Hartlaubschen Impressionismus sprechen. Mit ungemein feinem Pinsel zeichnet er Stadtlandschaften und menschliche Begegnungen – bis hin zur "Weltwende im Puff", dem Überfall auf die Sowjetunion aus der Perspektive eines Bordellbesuchers in Lutetia.
Von ähnlicher Qualität sind seine Aufzeichnungen, nachdem er zum Verfassen des Kriegstagebuchs in die Führerhauptqartiere nach Winniza (Ukraine) und in die Wolfsschanze (Ostpreußen) abkommandiert wurde, oder seine Notizen über die Fahrt mit dem Sonderzug des FHQs nach Berchtesgaden. Sie machen einen bedeutenden Teil der Schubladenliteratur des Dritten Reiches aus, nicht quantitativ, wohl aber im Hinblick auf ihren dokumentarisch-zeitgeschichtlichen Wert und ihre stilistische Brillanz. Sollten eines Tages die militärhistorischen Schriften Hartlaubs – sprich: die von ihm stammenden Teile des Kriegstagebuchs – neu ediert werden, könnte man überlegen, sie im Paralleldruck mit diesen Texten wiederzugeben. Der Kontrast könnte nicht größer sein.
Editorische Fragen stellen sich nach Hartlaubs hundertstem Geburtstag in vielerlei Hinsicht. Es gibt keine Centenarausgabe wie bei Autoren, die bereits zu Lebzeiten Klassiker wurden. Eine Briefausgabe wäre fällig, ein Neudruck der Dissertation, aber auch seines Jugenddramas über den Bauernkrieg von 1525, das in der Odenwaldschule aufgeführt wurde. Zu den noch in toto zu edierenden Jugendschriften aus dem Archiv der Odenwaldschule gehört auch das rund achtzigseitige Typoskript über Platon und den Staat, das sich – wie auch der in Hartlaubs Einleitung erwähnte "Bericht von einem Platonkurs" – im Bestand des Lehrers Dr. Werner Meyer erhalten hat. Dieser Kurs legte offenbar das Fundament für Hartlaubs umfangreiche Hausarbeit – im Einklang mit dem pädagogischen Prinzip, durch den Unterricht die eigenständige geistige Tätigkeit des Schülers anzuregen (wenn auch gewiß nicht jeder den Stoff mit gleicher Denkkraft durchdringen und seine Thesen formulieren konnte).
Rechnet man die Leistung Hartlaubs auf spätere Lebensjahre hoch, so kann man guten Gewissens behaupten, eine Laufbahn als Philosophiehistoriker auf einem Universitätslehrstuhl wäre möglich gewesen. Ausgestattet mit einer profunden Kenntnis der platonischen Dialoge und wichtiger Forschungsliteratur, folgt er der Denkbewegung ihres Urhebers auf eine Weise, die über das Vermögen eines gewöhnlichen Pennälers weit hinausgeht. Akribisch registriert er, welch vielfältigen Einschränkungen die Dichtung und die Künste überhaupt, etwa die Musik, in Platons idealem Staat unterworfen sein sollten. Warum, beschreibt er so:
"Wenn das Maß, die Verfassung des Chorliedes verkehrt wird, wenn der Text sich zu einer Wiederholung eintöniger Rufe der Klage oder des Jubels auflöst, die Musik zu einem dröhnenden Wirbel aller Instrumente und die Körperbewegung, sonst ein beschwingtes Schreiten, zu einem Aufruhr aller Glieder wird, ist schwerster Schaden für die Seele zu befürchten. Platon hatte sicher einmal erlebt, wie vom dionysischen Taumeltanze des Chores ergriffen, alle Besucher des Theaters von ihren Sitzen aufsprangen, um sich gegenseitig zu zerfleischen, zu umarmen oder wie, bei Aufführung irgendeiner grausigen alten Sage, der Zuschauerraum außer sich in das Rufen der Mörder, das Wimmern der Erschlagenen mit einstimmte. Den Neuerungen der Kunst, der Erfindung immer neuen Gelärmes, der Einführung asiatischer Tonarten, atemloser Rhythmen schrieb Platon die größte Schuld am Niedergang des athenischen Staatswesens zu."
In abenteuerlicher Monokausalität führte Platon die stete "Aufregung der Demokratie, die Angst, das gegenseitige Mißtrauen", den lächerlichen "Redestrom der Rhetoren und die vor Begeisterung sich verschluckende Volksmenge" auf die Ausbreitung des Theaterlärms in Volksversammlung und Prytaneion zurück. Das machte bestimmte Verdikte im idealen Staat unausweichlich. Verbote und Gebote waren darin in einer spezifisch platonischen Weise kombiniert – Hartlaub erkennt in Platons "Nomoi" eine "Mischung von geschichtlicher Einfühlung und listiger Verwirklichung der eigenen Phantasie". Im antiken Gedankenexperiment waren agrarstaatliche, sozialistische, antimonetaristische, demokratische und oligarchische Vorstellungen miteinander vereint, wobei Platons Modellbürger ganz selbstverständlich Sklavenhalter waren. Mochte sein utopischer Staat Anregungen für Gesellschaftsreformer aller Art bilden – ein Vorkämpfer der Menschenrechte, so möchte man Hartlaub ergänzen, war Platon nicht. In "Platon und der Staat" heißt es: "Der Staat ruht auf rein agrarischer Grundlage, jeder Bürger wohnt auf einem unveräußerlichen Grundstück, Größe und Zahl dieser Grundstücke ist für ewig festgelegt, sie werden von Sklaven bebaut, während fremde Handwerker die dazu nötigen Geräte herstellen und von den Grundbesitzern ernährt werden. Innerhalb des Staates gibt es keinen Geldverkehr, nur Austausch der Erzeugnisse und Kleinhandel, der nur allein auf öffentlichem Markte vor sich gehen darf. Dem Vermögen sind feste Grenzen gesetzt" usw.
Auch wenn Platon von der Idee der Gütergemeinschaft abgerückt war – ein Vergleich mit Sowjetrußland nach der Landreform hätte nahegelegen. Die Odenwaldschüler befaßten sich zwar, wie die Schwester Geno bezeugt, in privaten Zirkeln mit dem Marxismus, und Hartlaub ließ in einem langen Brief vom 17. Februar 1932 durchaus Kenntnisse der UdSSR erkennen, aber im Unterricht war offenbar Zurückhaltung angesagt. Ein Brückenschlag über die Zeiten hinweg fand jedenfalls nicht statt, er hätte aus dem gräzistischen Musterschüler einen Meisterschüler gemacht.
Wir wissen nicht, ob Hartlaub nach dem 30. Januar1933 noch in platonischen Kategorien dachte. Mitunter sprangen die Parallelen zwischen der Antike und der braunen Gegenwart ins Auge: "Erst am Ausgang der griechischen Geschichte", schreibt der Gymnasiast in seiner hier nur ansatzweise referierbaren Hausarbeit, "findet sich das Streben nach Weltherrschaft, erst der Alexanderzug zieht vorbei an allen Staatenbildungen des Abend- und Morgenlandes, war auf Krieg und Besitz endloser Länderstrecken gestellt: erst damals wird der Krieg nicht mehr geführt vom Selbsterhaltungstrieb der einzelnen Städte, in dem jeder Krieger für seine Heimat als den Herd seines eigenen Lebens, für den Staat als seinen Vater und Lehrer kämpft, sondern vom Erobererdrange der barbarischen Persönlichkeit, die nach Menge und Weite trachtet und nicht die weise Beschränkung auf den gegebenen politischen Rahmen kennt, die Beschränkung, die nicht den Zahlenerfolg, sondern die politische Tüchtigkeit an sich bewertete."
Erst kurz vor dem Ende seines jungen Lebens – er verschwand spurlos in den qualmenden Ruinen Berlins – und dem des angeblich tausendjährigen Reichs entwarf der Gefreite Hartlaub eine phantastische Szene mit jenem anderen Gefreiten, der für zwölf Jahre zum Tyrannen geworden und jämmerlich gescheitert war, nachdem er die halbe Welt ruiniert und Millionen Menschen in den Tod gestürzt hatte. Eine Art platonische Umkehr: Angesichts der totalen Katastrophe fragt der Täter den Denker um Rat: "Der Führerbunker, nichts Ausweis, nichts Durchsuchung. Tiefe Polstersessel, ein Strauß Gladiolen, das Bismarckbild mit den sprühenden Augenbrauen, den durchwachsenen Augenbällen, die Rute des Wolfshundes klopft den Teppich. ›Also, ich schaffe es nicht mehr, bin am Rande. Sagen Sie mir, wie Sie es sich denken …‹"
SINN UND FORM 1/2014, S. 48-52
Corino, Karl
"Felix war ein Meister der Tarnung". Gespräch mit Geno Hartlaub (1986), S. 63
Wagner, Jan
Nach Canaletto, S. 74
Schlösser, Anton
Der alte Maler in seinem Haus. Gedichte, S. 77
Krier, Jean
Die Bilder, die niemand hört. Gedichte, S. 79
Simon, Claude
Novelli oder Das Problem der Sprache. Mit einer Vorbemerkung von Irene Albers, S. 82
Vorbemerkung von Irene Albers Was Claude Simon von anderen Autoren des Nouveau Roman unterscheidet, wird in kaum einem Text so deutlich wie in (...)
Simon, Claude
Novelli oder Das Problem der Sprache
Vorbemerkung von Irene Albers
Was Claude Simon von anderen Autoren des Nouveau Roman unterscheidet, wird in kaum einem Text so deutlich wie in dem lange weitgehend unbeachteten Essay über Gastone Novelli (1962), der nun erstmals auf deutsch erscheint. Auch in Frankreich mußte er erst wiederentdeckt werden. Anlaß dafür war Simons später Roman "Jardin des Plantes" von 1997. Dieses explizit autobiographische "Porträt eines Gedächtnisses" enthält Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche, bei denen es immer wieder um das Verhältnis von Leben und Kunst geht. Die Literatur dient hier nicht der Darstellung von Erfahrungen, sondern der Suche nach einer Sprache für das "formlose Magma" der Erinnerungen. Simon schreibt in "Jardin des Plantes" über Brodsky, Picasso und Leiris, kommt aber auch immer wieder auf Novelli zurück, montiert die italienischen Titel von dessen Werken – "Ora zero", "Vuole dire caos", "Archivo per la memoria" – in seinen Text, beschreibt einzelne dieser Bilder, erinnert sich an gemeinsame Begegnungen und erzählt in einer für ihn ungewöhnlich zusammenhängenden Weise eine zentrale Episode dieses Lebens: die Flucht vor der Barbarei einer Zivilisation, die "sowohl Philosophen als auch Schlächter hervorzubringen vermochte wie jene, die ihn in Dachau gefoltert hatten", nach Brasilien, zu den Amazonasindianern, und die Entdeckung ihrer aus unendlichen Varianten des Vokals "A" bestehenden Sprache. Man könne, sagt die Literaturwissenschaftlerin Brigitte Ferrato-Combe, "Novelli (nicht die reale Person, sondern das Bild, das Simon von ihm entwirft) als ein tragisches Double des Autors verstehen, der die gleichen Erfahrungen (Krieg, Gefangenschaft, Schmerz, Gewißheit des bevorstehenden Todes) in einer gesteigerten Form mit ihm teilte". Ferrato-Combe ist es zu verdanken, daß Simons Novelli-Essay, von dem es nur eine englische und eine italienische Fassung gab, 2005 auf französisch in "Les Temps modernes" erschien. Die Übersetzung der italienischen Version hat Simon noch selbst durchgesehen.
Gastone Novelli (1925–1968) wurde in Wien geboren und wuchs in Italien auf. Mit achtzehn schloß er sich der Resistenza an, im Oktober 1943 wurde er von der SS verhaftet, zum Tode verurteilt und gefoltert. Dank der Intervention der Mutter wurde die Todes- in eine Gefängnisstrafe verwandelt; im Juli 1944 wurde er befreit. Nach dem Krieg studierte Novelli Sozialwissenschaften in Zürich, traf dort Max Bill und begann zu malen. 1948 reiste er zum ersten Mal nach Brasilien und befaßte sich mit der Sprache und Kultur der Amazonasindianer; 1950 bis 1954 lehrte er als Dozent in São Paulo und plante dort auch ein Wörterbuch des Guarani. Prägend für ihn waren die Auffassung von Kunst als einer eigenen Sprache und die Beschäftigung mit Paul Klee. Ab 1955 lebte er wieder in Rom, setzte sich mit Jackson Pollock, Robert Rauschenberg und Cy Twombly auseinander und reiste immer wieder nach Paris, wo er sich mit Malern wie André Masson, Hans Arp, Man Ray und Schriftstellern wie Tristan Tzara, Georges Bataille, Pierre Klossowski, Samuel Beckett, René de Solier und auch Claude Simon anfreundete. Er illustrierte Texte von Bataille ("Geschichte des Auges"), Beckett ("Wie es ist") und Klossowski ("Das Bad der Diana"). Bei einer Ausstellung 1961 in der Pariser Galerie du Fleuve, die ihn in Frankreich bekannt machte, begegnete er Simon zum ersten Mal. Im Mai 1962 besuchte dieser ihn in seinem Atelier in Rom. In "Jardin des Plantes" gibt es die Erinnerung an eine Szene am Strand von Ostia, in welcher sich der Ich-Erzähler von Novelli einen Katalogtext erklären läßt: "Nach dem Vorwort hat er angefangen mir auch die Titel seiner Gemälde zu übersetzen. Ich habe ihm gesagt, das hätte ich verstanden, aber er hat trotzdem weitergelesen und plötzlich, als er gerade Vuole dire caos und Paura clandestina gesagt hatte, hörte er auf. Er hatte noch immer den aufgeschlagenen Katalog in Händen und schien die Titel für sich selbst zu lesen als er auf einmal sagte in Dachau habe man ihn an den Handgelenken aufgehängt bis er in Ohnmacht fiel. Vielleicht hätte er weitergesprochen aber in diesem Augenblick sind die beiden jungen Frauen, die Griechin und die Spanierin, aus den Wellen gestiegen und sich die Haare auswringend zu uns zurück gekommen. (…) Danach hat er mir gegenüber nie wieder seine Verhaftung, das Gefängnis erwähnt und was er im Lager durchgemacht hatte."
Indem Simon Novellis Verstummen zum Thema macht, wird deutlich, daß seine biographischen Texte über den Maler als fiktionale Ergänzungen des Verschwiegenen zu lesen sind, daher vielleicht die unzutreffende Referenz auf Dachau oder (im Essay) auf Mauthausen sowie die mythische Stilisierung der Amazonasepisode als Begegnung mit einer elementaren "Ursprache". Die Prägnanz, die Novellis Biographie und Ästhetik in Simons Bearbeitung gewinnen, zeigt sich besonders bei seinem Leser W. G. Sebald. Diesen haben die Passagen aus "Jardin des Plantes", das er zu seinen Lieblingsbüchern zählte, so fasziniert, daß er sie in seinem Roman "Austerlitz" (2001) als Lektüreerinnerung des Erzählers beim Besuch der Festung von Berendonk zitierte (wo die Deutschen während des Kriegs Jean Améry folterten). Auf diesem Wege dürften sie mehr Leser gefunden haben als im Original, wobei die bei Simon vielfach gebrochene und gespiegelte Lebensgeschichte Novellis auf die Foltererfahrung in Dachau und den Aufenthalt am Amazonas reduziert wird; sein vielgestaltiges Werk wird auf die Bilder mit den "AAAA"-Reihen verkürzt, mit denen Novelli seinem Schmerz in einem lang anhaltenden Schrei Ausdruck verliehen habe.
Als der spätere Nobelpreisträger seinen Essay für den Katalog zur ersten Novelli-Einzelausstellung in Amerika – in der Alan Gallery in New York – schrieb, hatte er schon vier Romane veröffentlicht: "Der Wind", "Das Gras", "Die Straße in Flandern" und "Der Palast". War er für die französischen Kritiker vor allem der Vertreter eines auf die Selbstreflexion der narrativen Form ausgerichteten Nouveau Roman, so erkannte man in Deutschland bereits, wie sehr "die Zeit, in der er steht und stand", in seinem Werk "gegenwärtig" ist (so Jean Améry 1971). Der für "Die Straße in Flandern" vorgesehene Titel "Fragmentarische Beschreibung einer Katastrophe" könnte über fast allen Romanen Simons stehen. Immer wieder lassen sie den Leser teilhaben an der Suche nicht nach einem Sinn, sondern nach einer Sprache und einer Form für die körperliche und emotionale Erfahrung des Kavalleristen, der am 17.Mai1940 in einen Hinterhalt gerät und dem sicheren Tod entgegenreitet, sowie der des Kriegsgefangenen im Stalag IVB in Mühlberg an der Elbe oder einer verlustreichen Familiengeschichte. Das Material seiner Romane ist autobiographisch, aber er hat gesagt, daß weniger er dieses Material bearbeite, als daß es ihn bearbeite. Simons Experimente mit der Form des Romans und der Materialität der Sprache dienten nicht dazu, den "traditionellen" Roman zu überbieten: Ihm ging es viel grundsätzlicher um die Literatur nach der Katastrophe.
"Die Straße in Flandern" enthält eine vielzitierte Szene, in der die Hauptfigur Georges auf einen Brief des Vaters antwortet, der pathetisch die Zerstörung der Leipziger Bibliothek beklagt: "worauf ich sogleich geantwortet habe daß wenn der Inhalt der Tausende von Schmökern dieser unersetzlichen Bibliothek außerstande gewesen sei zu verhindern daß Dinge wie die Bombardierung die sie zerstört hatte geschehen, ich nicht einsähe inwiefern die Vernichtung durch Phosphorbomben dieser Tausenden von Schmökern und Papieren die offenkundig nicht den geringsten Nutzen gehabt hätten einen Verlust für die Menschheit bedeute. Folgt die detaillierte Liste der sicheren Werte, der absolut notwendigen Dinge die wir hier viel dringender brauchen als den gesamten Inhalt der berühmten Bibliothek von Leipzig, nämlich: Socken, Unterhosen, Wollsachen, Seife, Zigaretten, Wurst, Schokolade, Zucker, Konserven Fla…" (übersetzt von Eva Moldenhauer).
Novelli erscheint in dem nur wenig später entstandenen Essay als emblematische Figur einer solchen durch die Erfahrung des Krieges und des Lagers notwendig gewordenen "Rückkehr zum Konkreten". Simon stellt seine Malerei in den für ihn zentralen Zusammenhang mit dem "Bankrott der westlichen Kultur". 1977 kommt er in einem Gespräch mit Claud DuVerlie darauf zurück. Und er erinnert sich an ein Treffen deutscher und französischer Autoren 1976 im Literarischen Colloquium Berlin. Dort hätten die Deutschen von der sie prägenden Erfahrung der "Stunde Null" gesprochen, worauf er erwiderte, daß es diese Erfahrung nicht nur in Deutschland gab, "jeder in der westlichen Welt war mit der gleichen Situation konfrontiert, dem totalen Bankrott von zweitausend Jahren ›humanistischen‹ Denkens in den nationalsozialistischen Lagern auf der einen und in den Gulags auf der anderen Seite".
Die Bedeutung von Simons Essay über Novelli besteht darin, daß er an diesem Nullpunkt "das Problem der Sprache" in den Mittelpunkt seiner Reflexionen stellt und dazu einlädt, seine Romane so zu lesen, wie er die Bilder des Malers liest. Das wird besonders deutlich, wo er die Phasen von Novellis Schaffen rekonstruiert. Nachdem dieser zuerst "große Flächen" gemalt habe, "auf die er einfache farbige, annähernd rechteckige oder quadratische Flecken verteilt(e)", glichen seine späteren Bilder "Mauern, von denen der Kalk abbröckelt, auf denen Graffiti, einfache Hieroglyphen, Inschriften, Kritzeleien in anarchischer Unordnung ineinander übergehen, sich überlagern, sich verflüchtigen", so daß piktorale Objekte entstehen, konkret und fleischlich. Simon stellt eine Verbindung zur Literatur her, indem er Novellis Erkundungen der Sprache mit Beckett, Barthes und Joyce in Verbindung bringt. Das Bild "Seconda sala del museo" von 1960 ("Zweiter Museumssaal") stellt aus Simons Sicht eine Synthese dieser Verfahren dar. Es ist zweigeteilt: Auf der rechten Seite ist in der Spachtelmasse kaum etwas zu erkennen, während sich auf der linken Seite ein (an Klee erinnerndes) farbiges Schachbrettmuster befindet. Dessen Felder enthalten ein "Alphabet" aus abstrakten Körperformen, Buchstaben und Zeichen, ein "Inventar der sinnlichen Welt". Novelli habe versucht, die Welt "anhand dieser Sammlung von Zeichen, diesem Alphabet ›geliebter Dinge‹ einzufangen", die sich im anderen Teil des Bildes noch in einem formlosen Zustand befinden. Wer Simons Romane kennt, weiß, wie sehr der Gegensatz von Ordnung und Chaos, von Form und Formlosigkeit seine Texte prägt, und ist zugleich überrascht von dem, was er hier am Beispiel des Wortes "SEINS" ("Brüste") entgegen den strukturalistischen Dogmen über Magie und Eigenleben der Sprache, über Einheit von Zeichen und Bezeichnetem auf der Ebene der konkreten lautlichen und graphischen Gestalt sagt. Simons Neuer Roman steht der konkreten Poesie des "langen Romans", als den Novelli seine Bilder bezeichnete, vielleicht näher als gedacht.
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SINN UND FORM 1/2014, S. 82-90
Beyer, Marcel
Blatt, Baracke, Borke, Bordell. Claude Simon in Mühlberg an der Elbe, S. 91
Woolf, Virginia
Im Flug über London, S. 101
Barnes, Julian
Hinter der Glaslaterne. Félix Fénéon, der Unsichtbare, S. 107
Fénéon, Félix
Die Bäuche, S. 117
Lepenies, Wolf
Von der notwendigen Untreue der Übersetzungen. Laudatio auf Eva Moldenhauer und Bernd Lortholary, S. 125
Flügge, Manfred
Ein unverlierbarer Traum. Heinrich Manns Frankreichbild, S. 129
Menasse, Robert
Anerkennung und Haltung. Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis 2013, S. 132